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74823 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fender%20Telecaster | Fender Telecaster | Die Telecaster ist eine E-Gitarre, die seit 1950 von der US-amerikanischen Firma Fender hergestellt wird. Sie gilt als erste in Massenfertigung produzierte Massivkorpus-E-Gitarre. Ursprünglich in zwei Modelllinien unter den Namen Esquire und Broadcaster vorgestellt, musste letztere aus namensrechtlichen Gründen bald in Telecaster umbenannt werden. Die Telecaster, kurz auch Tele genannt, wird seit ihrem Erscheinen von vielen namhaften Musikern gespielt und gilt heute neben der Fender Stratocaster und der Gibson Les Paul als Klassiker unter den E-Gitarren.
Geschichte
Leo Fender, der ursprünglich ein kleines Radiogeschäft in Fullerton, Kalifornien, besaß, begann schon früh mit der Konstruktion und Reparatur von Musikverstärkern. In den 1940er Jahren startete er zusammen mit Clayton Orr „Doc“ Kauffman unter dem Namen „K&F Manufacturing Corporation“ (K&F als Abkürzung von Kauffman und Fender) die Produktion von Lapsteel-Gitarren. Da Kauffman nur herkömmliche Gitarre spielte und Fender Saiteninstrumente gar nicht beherrschte, stellten die beiden im Jahr 1943 zu Testzwecken eine primitive E-Gitarre her. Diese war im Kern eine Lapsteel, welche mit einem normal spielbaren Gitarrenhals ausgestattet wurde. Das Griffbrett mit den Bünden wurde aus einem Katalog geordert und passte nicht ganz zur Mensur der Gitarre, weshalb das Instrument nach Angaben von Zeitzeugen immer leicht verstimmt klang. Dieses Instrument sollte ursprünglich von Kauffman zum Testen neuer Tonabnehmer benutzt werden, wurde jedoch auch an Musiker verliehen, die ihre Gitarren bei Fender zur Reparatur abgaben.
Im Laufe der 1940er Jahre kam bei Musikern und Herstellern von Instrumenten die Idee auf, Gitarren mit massivem Korpus zu bauen (englisch: Solidbody). Diese sollten sowohl unerwünschte Rückkopplungen des hohlen Korpus der Akustikgitarre überwinden, als auch einen klaren elektrischen Ton erzeugen. Bereits in den 1930er-Jahren hatte „Doc“ Kauffman zusammen mit der Firma Rickenbacker eine E-Gitarre aus massivem Bakelit entwickelt. Diese war mit einem elektromechanischen Vibrato ausgestattet und so schwer, dass sie nur auf einen Ständer montiert gespielt werden konnte. Im Jahr 1931 entwarf George Beauchamp gemeinsam mit Rickenbacker die erste in Serie produzierte Gitarre mit elektromagnetischem Tonabnehmer, das Lapsteel-Modell Rickenbacker Frying Pan. Der Musiker Les Paul stellte um 1940 eine scherzhaft „The Log“ („Holzklotz“) genannte E-Gitarre her, indem er eine akustische Jazzgitarre auseinandersägte und einen massiven Holzklotz als neuen Mittelteil montierte. Der Motorradmechaniker Paul Bigsby konstruierte 1948 zusammen mit dem Musiker Merle Travis eine teilweise massive E-Gitarre, die Bigsby/Travis-Gitarre, die von Bigsby als Kleinserie gebaut wurde, und die in der Folgezeit besonders bei kalifornischen Countrymusikern bescheidene Erfolge erzielte. Leo Fender, der bei vielen Konzerten in Kalifornien als Techniker anwesend war, beobachtete diese Entwicklungen genau und lieh sich von Travis dessen Gitarre zur Begutachtung aus.
Inspiriert von den verschiedenen Ideen und Ansätzen entwickelte Fender zum Ende der 1940er Jahre seine eigene Gitarre. Schon zu Beginn der Überlegungen stand für Fender fest, dass die Gitarre leicht und billig herzustellen sein musste. Folglich stammten Elektronik und Metallteile aus der Produktion der Lapsteels, der Korpus des ersten Prototyps bestand aus günstigem Sperrholz. Der Hals aus Ahornholz war im Gegensatz zur traditionellen Bauweise nicht mit dem Korpus verleimt, sondern verschraubt. Dieses Konstruktionsmerkmal übernahm Fender von Kauffmans Bakelit-Gitarre, bei der der Hals ebenfalls geschraubt war. Vorteil dieser Konstruktion ist neben der vereinfachten Produktion die leichte Austauschbarkeit des Halses zu Reparaturzwecken. Fender ging sogar so weit, dass er bei der Konstruktion des Halses auf einen eingelegten Stahlstab verzichtete. Dieser 1921 für Gibson patentgeschützte (US1446758) Halsspannstab verhindert bei herkömmlichen Hälsen ein Verbiegen durch den Saitenzug und ist auf Gitarren mit Stahlsaiten nahezu unverzichtbar. Fender war jedoch der Meinung, dass Gitarristen defekte und verzogene Hälse der Telecaster einfach durch einen neuen ersetzen würden. Der provisorisch weiß lackierte Prototyp wurde an verschiedene Musiker ausgeliehen, um deren Reaktion auf das neue Instrument festzustellen. Nach ersten positiven Rückmeldungen bereitete Fender sich auf eine Serienproduktion vor.
Die erste Serienproduktion besaß im Gegensatz zu dem Prototyp einen Korpus aus massivem Eschenholz (ein Holz, das leicht und billig in großen Mengen zu beschaffen war). Zudem waren nun auf einer schmalen asymmetrischen Kopfplatte die sechs Stimmmechaniken in einer Reihe versetzt hintereinander angebracht. Dieses Detail übernahm Fender von der Bigsby/Travis-Gitarre, und es wurde zu einem Kennzeichen von Fenderinstrumenten. Die Erfindung dieses Konstruktionsprinzips für Gitarren-Kopfplatten wird dem österreichischen Gitarrenbauer Johann Georg Stauffer zugeschrieben, der es im Jahr 1825 in Wien erstmals angewendet hatte. Durch die zwar längere jedoch schmalere Form der Kopfplatte, die zudem nicht nach hinten abgeknickt ist, reichen ebenso kompakte Rohlinge für den Hals aus, der Holzverschnitt bleibt gering. Zudem werden die Saiten geradeaus zu den Stimmmechaniken geführt, und nicht am Sattel seitlich geknickt wie bei konventionellen symmetrischen Kopfplatten.
Es wurde zunächst nur ein Tonabnehmer aus der Lapsteelproduktion am Steg eingebaut, unter einer Chrom-Abdeckplatte, auf die später verzichtet wurde. Dieses Serienmodell wurde – zunächst ohne Halsstab – im Sommer 1950 unter dem Namen Esquire vorgestellt. Nachdem sich einige Hälse bereits bei Auslieferung verzogen, drängten die Händler darauf, die Instrumente mit einem Halsstab auszustatten, zumal das Patent auslief. Da die Produktion der Hälse bereits lief, konnte der Halsstab nicht ohne großen Aufwand nach der traditionellen Methode eingesetzt werden. Bei dieser Konstruktion verläuft der Stahlstab unter dem Griffbrett, welches separat auf den Hals aufgeleimt wird. Bei der Telecaster wurden die Bünde direkt in den Hals eingesetzt, weshalb sie kein separates Griffbrett besaß. Daher erdachte Fender ein Verfahren, bei der der Halsstab durch eine Fräsung an der Rückseite des Halses eingesetzt wird. Die so entstandene Spalte wird später mit einem dunklen Holzstreifen verschlossen (Skunkstripe).
Im Winter des Jahres 1950 erschien neben der überarbeiteten Esquire die Broadcaster. Diese wies nun serienmäßig den Einstellstab im Hals auf und hatte zudem einen zweiten Tonabnehmer im Lipstick-Format am Halsansatz. Der Name „Broadcaster“ spielte auf die zu der Zeit beliebten Radioübertragungen (broadcast, englisch für „Rundfunk“) an und sollte der Gitarre ein modernes Image geben. Allerdings hatte die Firma Gretsch schon ein Schlagzeug mit dem Namen „Broadkaster“ (mit k) im Programm, und nach einer Mitteilung von Gretsch musste Fender die Bezeichnung bereits im Februar 1951 zurückziehen. Um die Produktion nicht zu stoppen, wählte Fender eine pragmatische Lösung und verkaufte sein Topmodell zunächst ohne Modellbezeichnung. Dafür wurden bei den Abziehbild-Logos vor dem Anbringen die Aufschrift „Broadcaster“ mit einer Schere abgeschnitten, so dass auf der Kopfplatte lediglich „Fender“ zu lesen war. Sammler bezeichnen Gitarren dieser Phase heute als Nocaster. In Anspielung auf die damals neue Technologie des Fernsehens wurde die Gitarre im Sommer 1951 nach gründlicher Recherche durch Fenders Rechtsanwälte in Telecaster (telecast, englische Kurzform für „Fernsehsendung“) umbenannt. Unter dieser Bezeichnung wird sie bis heute gebaut.
Leo Fender stellte 1951 den Fender Precision Bass vor, der zunächst noch der Telecaster ähnlich war, mit einem kantigen Korpus, einem großflächigen Schlagbrett, sowie einem kleinen rechtwinkligen Aufnahmeblech für die zwei Regler (ohne Umschalter). Da der Bass mit längerem Hals und schwerer Kopfplatte noch kopflastiger war als die Telecaster wurde der obere Gurtabnahmepunkt gemäß form follows function an einem Hornfortsatz angebracht, der ähnlich geformt war wie der untere Korpusausschnitt, aber wesentlich weiter Richtung Kopf reichte. Diese „zweifach gehörnte“ Korpusform, später mit abgerundeten Kanten und Abschrägungen an der Oberseite, war Grundlage für die Entwicklung der Stratocaster. Er begann damit im Jahr 1952 in der Annahme, dass dieses mit drei Tonabnehmern sowie Vibrato-Mechanik aufwendigere Modell die Telecaster, zu deren ersten Spielern Jimmy Bryant (1925–1980) gehörte, komplett ersetzen werde. Da die günstige Telecaster jedoch besonders bei Country-, Blues- und Rockmusikern sehr beliebt war, 1966 galt sie als „the most wanted guitar in Britain“, übertraf sie noch über Jahre hinaus die Verkaufszahlen der Stratocaster. Aus diesem Grund blieb die einfache Telecaster im Programm des Herstellers und wird bis heute nahezu unverändert hergestellt. Zum 70. Geburtstag des Instrumentes brachte Fender 2020 eine hochpreisige Jubiläums-Broadcaster heraus. Da die Marke Gretsch mittlerweile zum Fender-Konzern gehört, konnte der ursprüngliche Name nun wieder verwendet werden.
Konstruktion
Die Telecaster ist eine E-Gitarre mit einer Mensur von 648 mm. Ihre Korpus-Form ist dem Umriss herkömmlicher, akustischer Gitarre mit Resonanzkörper nachempfunden, jedoch in massiver Solidbody-Bauweise ausgeführt und daher wesentlich flacher. Der Korpus besteht aus einem oder mehreren massiven Teilen Holz, wobei für die Telecaster anfangs nur Eschenholz verwendet wurde, inzwischen werden viele Exemplare auch mit einem Korpus aus Erlenholz gefertigt. Der Hals besteht aus Ahorn. Am Übergang vom Korpus zum Hals gibt es an der Unterseite eine Aussparung, das so genannte Cutaway, wodurch ein komfortables Spiel auch in den hohen Lagen ermöglicht wird.
Bestanden bei den ersten Modellen Hals und Griffbrett aus einem Stück Ahorn (One-Piece-Mapleneck), wurde bei einigen späteren Modellen ein Griffbrett aus Palisander aufgeleimt. Ursprünglich hatte das Griffbrett der Telecaster 21 Bünde, was bei späteren Modellen auf 22 erweitert wurde. Leo Fender wählte die Hölzer nicht vorwiegend nach klanglichen Aspekten aus, sondern orientierte sich bereits in der Prototypphase an der einfachen industriellen Herstellung. Esche für den großen Korpus war günstig und in großen Mengen zu beschaffen, Ahorn für den Hals war stabil und hatte bei der Produktion von Bowlingpins und Baseballschlägern bewiesen, dass es mit industriellen Maschinen einfach zu bearbeiten war.
In der ursprünglichen und auch in der heutigen Grundversion ist die Telecaster mit zwei Single-Coil-Tonabnehmern () ausgestattet. Der seit den 1940er Jahren nahezu unverändert hergestellte Stegtonabnehmer stammt von Fenders frühen Lapsteels und ist mit drei Schrauben an der Grundplatte des Steges befestigt. Durch die schräge Einbauposition – die Magnetpole unter den Diskantseiten liegen näher am Steg – werden die Höhen-Anteile des Klangs leicht verstärkt. Steg und Tonabnehmer sind ab Werk mit einer großen, verchromten Blechkappe abgedeckt, um magnetische Einstreuungen und damit unerwünschtes Brummen zu minimieren. Schon früh haben Musiker diese Blechkappe, in Musikerkreisen gelegentlich als „Aschenbecher“ () bezeichnet, zum Spielen abgenommen, da verschiedene Dämpfungstechniken mit dem Handballen der Schlaghand sonst nicht möglich sind. Der kleinere Halstonabnehmer, mit einer passgenauen, ebenfalls verchromten Metallkappe versehen, ist am unteren Ende des Griffbretts direkt ins Korpusholz geschraubt. Verwaltet werden die Tonabnehmer von einem Wahlschalter, einem Ton- und einem Lautstärkeregler, die in einer separaten Reglereinheit im rechten Unterbug des Korpus untergebracht sind.
Nicht zuletzt die relativ einfache Konstruktion führte und führt immer wieder zu Weiterentwicklungen, die sich in unterschiedlichen Modellen und individuellen Modifikationen von Serienproduktionen zeigen.
Modelle
Telecasters der Firma Fender
Fender hat in seiner Firmengeschichte eine nahezu unüberschaubare Vielzahl von Modellen unter dem Namen „Telecaster“ herausgebracht, die sich in Konstruktion und Ausstattung zum Teil stark voneinander unterscheiden. Einige sind wegen ihrer Kurzlebigkeit zum Teil nur noch Sammlern und Experten bekannt. Modellreihen, die zumindest eine gewisse Verbreitung fanden sind:
Esquire – Einsteigermodell mit einem Tonabnehmer. Als erste Gitarre 1950 vorgestellt (zunächst war sie auch mit zwei Tonabnehmern erhältlich), ist die Esquire mit Unterbrechungen nach wie vor im Programm des Herstellers.
Custom – Unter dem Namen „Custom“ wurden verschiedene Sondermodelle angeboten, die die serienmäßige Telecaster in der Ausstattung übertreffen sollten. War das erste 1959 unter dem Namen „Custom Telecaster“ eingeführte Modell abgesehen vom Korpus aus Erle (im Gegensatz zum Standardmodell aus Esche) lediglich optisch aufgewertet (cremefarbene Einfassung des Korpus, Palisandergriffbrett, teilweise vergoldete Metallteile, meist Sunburst-Lackierung), wurden ab 1972 verschiedene Modelle unter dem Namen „Telecaster Custom“ vorgestellt, die sich zum Teil erheblich vom ursprünglichen Modell unterschieden. Zu den Änderungen gehörten unter anderem die Ausstattung mit einem oder zwei von Seth Lover entwickelten Humbuckern, eine der Gibson Les Paul entsprechenden Elektronik, die größere Kopfplatte der Stratocaster, geleimte Hälse etc.
Thinline – Die „Thinline,“ vorgestellt etwa 1968, besitzt einen teilweise ausgehöhlten Korpus mit F-Loch und Klangkammern. Je nach Modell ist die „Thinline“ entweder mit den herkömmlichen Singlecoil-Tonabnehmern oder speziell für dieses Modell entwickelten Humbuckern ausgerüstet. Besonders letzteres Modell war als direkte Konkurrenz zur Gibson ES-335 gedacht, welche ebenfalls einen teilweise hohlen Korpus aufweist.
Deluxe – Die Telecaster Deluxe wurde von 1972 bis 1981 angeboten und wurde seit dem mehrfach wieder aufgelegt. Es handelt sich hier um eine mit zwei von Fender produzierten Humbuckern ausgestattete Telecaster mit konturiertem Korpus. Beide Humbucker verfügen über eigene Lautstärkepotentiometer und Höhenblenden. Der Hals ist aus Ahorn. Die Kopfplattenform weicht von der bekannten Telecasterkopfplatte ab und zeigt Ähnlichkeiten mit der Kopfplatte einer Stratocaster. Einzelne Modelle der Telecaster Deluxe wurden mit Tremolobrücke hergestellt. Bei der Black Dove Deluxe handelt es sich um ein 2009 vorgestelltes Model mit P-90 Tonabnehmern. Bei der Modern Player Thinline Deluxe handelt es sich um eine in China gefertigte Black Dove Deluxe mit einem F-Loch-Korpus aus Mahagoni.
Nashville Tele – Die Telecasters aus der „Nashville“-Serie besitzen mit drei Singlecoil-Tonabnehmern und der Elektronik der Stratocaster erweiterte Klangmöglichkeiten. Der Name spielt auf die unzähligen in Nashville heimischen Tonstudios an, die hauptsächlich Aufnahmen für Countrymusik produzieren. Obwohl die Telecaster in ihrer ursprünglichen Form bei Country-Gitarristen sehr beliebt ist, müssen die Musiker im Tonstudio je nach Auftraggeber auch andere Klänge einspielen. Um auf die Telecaster nicht verzichten zu müssen, wurde die „Nashville Tele“ mit der zusätzlichen Elektronik ausgestattet.
B-Bender Tele – Die B-Bender Telecaster verfügt im Innern des Korpus über einen mit dem oberen Gurtknopf verbundenen Mechanismus, der durch das Herunterdrücken der Gitarre erlaubt, die Stimmung der H-Saite (englisch b) während des Spielens um bis zu einem Ganzton zu erhöhen. Geschickte Gitarristen können so Lapsteel-ähnliche schwebende Klänge erzeugen. Pioniere dieser Technik waren Gene Parsons und Clarence White von der Gruppe The Byrds, die erstmals 1968 eine Telecaster entsprechend umrüsteten und unter dem Namen Parsons/White B-Bender bekannt machten.
Telecaster HH – Diese Variante wurde zwischen 2003 und 2007 von Fender USA produziert. Sie war mit zwei Enforcer-Humbuckern ausgestattet. Darüber hinaus besaß sie einen so genannten S-1-Schalter, mit dem Coil Split möglich war – die Hälfte des Humbuckers wird dann wie ein Single Coil verwendet.
Cabronita – Die Cabronita wurde 2009 vorgestellt. Bei dem Namen handelt es sich um ein Kunstwort, welches als „kleine Bastardin“ gedeutet werden kann. Die Cabronita ist eine Thinline Telecaster mit einem, ähnlich dem Prototyp der Broadcaster, deutlich verkleinertem Schlagbrett. Anders als bei den meisten Telecaster-Gitarren ist das Elektronikfach von der Rückseite der Gitarre zugänglich. Sie konnte ursprünglich mit ein bis drei TV Classic Pickups von TV Jones ausschließlich im Fender Custom Shop bestellt werden. Von 2011 an wurde die Cabronita als Serienprodukt mit zwei Pickups in den USA gefertigt. Auf einen Tonregler wurde verzichtet, so dass die Elektronik nur über einen Dreiwegeschalter zur Auswahl der Tonabnehmer und einen Lautstärkeregler verfügt. Ab 2012 wurden Cabronitas in Mexiko und China (Squier) hergestellt. Diese verfügten über Fidelitron-Pickups aus Fenders eigener Fertigung unterschieden sich aber sonst nicht von dem US-Model. Kurzzeitig gab es auch eine in Indonesien hergestellte Cabronita, die neben dem Fidelitron-Pickup in der Halsposition über einen Singlecoil-Tonabnehmer in der Stegposition verfügte und zusätzlich mit einem Bigsby B5 ausgestattet war.
Telecaster Bass – Der „Telecaster Bass“ war ein E-Bass, der konstruktiv eine Neuauflage der frühen Modelle des Fender Precision Bass darstellte. Da man bei Fender vermeiden wollte, zwei unterschiedliche Instrumente unter demselben Namen zu vertreiben, wurde die Neuauflage des alten Basses in Anlehnung an die Ähnlichkeiten mit der Telecaster kurzerhand „Telecaster Bass“ genannt.
Acoustasonic Telecaster – Bei den Gitarren der Acoustasonic-Reihen handelt es sich um Hybrid-Gitarren, die Eigenschaften von E-Gitarren mit solchen von elektroakustischen Gitarren verbinden. Dies geschieht sowohl durch die Kombination von magnetischen und piezoelektronischen Tonabnehmern, als auch durch Anpassung der Korpuskonstruktion. Die im Jahr 2010 vorgestellte Acoustasonic Telecaster verfügt über einen hohlen Telecaster-Korpus aus Esche mit einem Mittelblock aus Fichte. An der Halsposition befindet sich ein Twisted Tele Singlecoil-Tonabnehmer. Bei der Brücke handelt es sich um eine Holzbrücke mit einem Piezoelektrischen-Tonabnehmer. Durch Verwendung einer dreipoligen Buchse können die Signale der beiden Tonabnehmersysteme wahlweise gemischt oder getrennt ausgegeben werden. Diese erste Reihe der Acoustasonic Telecaster wurde in Mexiko hergestellt und war in den Farben Sunburst und Olympic White erhältlich. Die 2019 vorgestellte Acoustasonic Telecaster zitiert noch den klassischen Telecaster-Körper, verfügt allerdings über einen sich noch stärker am akustischen Gitarrenbau bedienenden Aufbau aus einer Fichtendecke mit Schallloch und Mahagonikorpus bei gleichzeitiger Verwendung von Modeling-Technologie für die Tonabnehmer. Die in Corona gebauten Instrumente verfügen neben einem Singlecoil- und der Piezobrücke über einen zusätzlichen Korpussensor. Seit 2022 ist auch eine in Mexiko gebaute Acoustasonic Player Telecaster erhältlich. Diese verzichtet auf den Korpussensor und bietet weniger Klangvariationen an. Während die amerikanische Version einen fest verbauten Akku besitzt, der mit Hilfe eines USB-Kabels geladen wird, bezieht die mexikanische Version ihrem Strom aus einer 9-Volt-Batterie. Beide Versionen geben das Signal über eine konventionelle zweipolige Klinkenbuchse aus. Eine getrennte Ausgabe der einzelnen Tonabnehmersysteme wie bei der 2010er Acoustasonic Telecaster ist somit nicht mehr möglich.
Telecoustic – Die „Telecoustic“ ist eine Akustikgitarre, deren hohler Korpus die Form der Telecaster zitiert. Obwohl konstruktiv eine vollwertige Akustikgitarre, ist die „Telecoustic“ aufgrund des kleinen Korpus sehr leise und wird auf der Bühne meist durch einen Piezo-Tonabnehmer elektrisch verstärkt.
Telecasters der Marke Squier
Die Telecaster ist eines der meistkopierten Gitarrenmodelle. Die simple Konstruktion und einfachen Formen machen es leicht, Nachbauten der Telecaster zu produzieren. Obwohl Fender versucht, dies mit gerichtlicher Hilfe zu unterbinden, wurde und wird die Telecaster nachgeahmt. Um der Flut von Kopien und Plagiaten entgegenzutreten, bedient Fender seit den 1980er-Jahren das untere Marktsegment mit Produkten, die von der Tochterfirma Squier in Asien produziert werden. Dabei reicht die Produktpalette von günstigen Einsteigerinstrumenten bis hin zu Kopien bestimmter Instrumente aus der Geschichte Fenders. Vereinzelt tauchen auch Eigenentwicklungen auf, die an bestimmte Fendermodelle lediglich angelehnt sind. Bemerkenswert war, dass die Squier-Instrumente bei ihrer Markteinführung teilweise eine bessere Qualität aufwiesen als die originalen USA-Modelle jener Zeit.
Produktionsstätten der Telecasters der Marken Fender und Squier
USA
Bis 1985 wurden in Fullerton, Northern Orange County, California Telecaster gebaut. Seit 1985 findet die Produktion in Corona, California statt. Neben der USA-Produktion baut Fender auch in anderen Ländern Modelle der Telecaster.
Mexiko
Etwas mehr als 300 km südlich von Corona baute die FMIC 1987 das Werk in Ensenada in Mexiko. Dort werden bis heute die meisten Telecaster gebaut. Sie tragen die Kennzeichnung "Made in Mexico" und werden häufig als MiM bzw. MIM abgekürzt.
Japan
Von 1982 bis 1997 ließ die FMIC basierend auf eine OEM-Vertrag Instrumente bei FujiGen Gakki, Matsumoto, Nagano sowohl für den japanischen Markt, wie auch für den Export herstellen. Von 1997 an fand diese Produktion, ebenfalls auf Grundlage von OEM-Verträgen, bei Tökai Gakki und Dyna Gakki statt. 1982 begann die FMIC auch eine Kooperation mit den japanischen Unternehmen Kanda Shokai und Yamano Gakki. Man produzierte unter der Marke Fender Japan, Ltd. Ausschließlich für den japanischen Markt. Diese Kooperation endete 2015. Seitdem übernahm die FMIC die japanische Produktion unter dem Namen Fender Music Corporation (Japan) und führt diese bis heute selbst. Modelle aus Japan können die Kennzeichnungen "Made in Japan" bzw. "Crafted in Japan" tragen.
Korea und Indonesien
Seit 1988 ließ Fender Gitarren, hauptsächlich für die Tochtermarke Squier, in Korea herstellen. Dies zunächst bei Cort Guitars und später bei Samick, einem der größten Produzenten von Saiteninstrumenten weltweit. Mit der Verlagerung der Produktionsstätten von Cort und Samick zwischen 1993 und 1998 kam es zur Produktion in Indonesien. Bis in die späten 90er Jahre ließ FMIC auch bei Young Chang und Sung-Eum in Korea produzieren.
China
1994 begann die FMIC bei Yako Musical Instruments Co. in Zhangzhou in China produzieren zu lassen. Seit 2009 wird auch bei AXL Musical Instruments für die FMIC produziert.
Leo Fenders ASAT
Leo Fenders 1980 zusammen mit George Fullerton gegründete Firma G&L Musical Instruments stellt ebenfalls Telecaster-ähnliche E-Gitarren her. Besonders das Modell „ASAT“ besitzt eine stark an die Telecaster angelehnte Form und Konstruktion, wurde jedoch in entscheidenden Details wie Tonabnehmer und Saitenhalter von Leo Fender weiterentwickelt. Der Name „ASAT“ bezieht sich – ganz der Tradition verpflichtet, auf neue Technologien anzuspielen – auf einen Satelliten des damals neuen Raketenabwehrsystems SDI. Fans von Fender interpretierten dies jedoch als ironischen Seitenhieb auf Fenders ursprüngliche, 1965 an den Medienkonzern CBS verkaufte Firma und lasen in dem Namen „ASAT“ „after the Strat, after the Tele“ (Nach der Stratocaster, nach der Telecaster).
Modelle anderer Hersteller
Während einige Hersteller sich darauf spezialisiert haben, auf der Basis der Telecaster unter wechselnden Namen günstige Einsteigerinstrumente herzustellen, gehen andere den Weg des so genannten „Customizing“. Dabei steht meist eine Veredelung der ursprünglichen Konstruktion im Vordergrund, um das Großserien-Image des Instruments abzustreifen. Folglich wird bei diesen Instrumenten großer Wert auf Details wie hochwertige Holzauswahl, aufwändige Elektronik, geleimte Hälse und eine edle Optik gelegt. Bekannte Hersteller dieser Instrumente sind u. a. Sadowsky und Valley Arts. Ein prominentes Beispiel eines Telecaster-Nachbaus aus den 70er Jahren ist die von Prince verwendete Hohner/Anderson Mad Cat. Allen Nachbauten ist gemeinsam, dass sie leichte Veränderungen im Design aufweisen (z. B. größere Kopfplatte, leicht geänderte Korpusform). Damit soll vermieden werden, sich Plagiatsvorwürfen von Fenders Anwälten stellen zu müssen.
Die Telecaster in der Musik
Von Beginn der Produktion in den 1950er-Jahren an ist die Telecaster vor allem bei Countrymusikern sehr beliebt. Zum einen machte die Telecaster als eine der ersten vollwertigen E-Gitarren überhaupt elektrische Verstärkung auch in hohen Lautstärken möglich. Zum anderen können geschickte Musiker durch den hellen, höhenreichen Klang der Gitarre auch Lapsteels imitieren oder schnelle, banjoartige Melodien spielen. Pioniere dieser neuen Spieltechnik waren Countrygitarristen wie Jimmy Bryant. Letzterer wurde von Leo Fender scherzhaft „unser Versuchskaninchen“ genannt, da er häufig Prototypen der Telecaster und Stratocaster erhielt und durch seine Anregungen entscheidend zur Entwicklung der Gitarren beigetragen hat. Beispiele des schnellen, an das Banjo angelehnten Spielstils finden sich bei Musikern wie Danny Gatton, Merle Haggard, Albert Lee oder James Burton. Luther Perkins, Gitarrist von Johnny Cash und Mitbegründer der Tennessee Three, prägte den Rockabilly durch seinen typischen „Boom-Chicka-Boom“-Telecaster-Sound. Selbst in der dance-orientierten Hitsingle „Livin La Vida Loca“ von Ricky Martin ist eine Telecaster zu hören, die dem Song ein „country-eskes“ Klangbild gibt.
Im Blues wird die Telecaster von Musikern wie Muddy Waters oder dem „Master of the Telecaster“, Albert Collins, gespielt, obwohl sie hier neben den Instrumenten von Gibson eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Bluesrocker Roy Buchanan erhielt wegen seines stark vom Klang der Telecaster geprägten Spielstils ebenfalls, wie Collins, den Spitznamen „Master of the Telecaster“. Im Jazz wird die Telecaster unter anderem von Mike Stern und Bill Frisell eingesetzt. Die Gitarristen Frank Diez, Karl Ratzer, Tom Principato und Dieter Übler widmeten dem Instrument unter dem Titel Telecats I eine komplette CD-Produktion.
Da sich der höhenreiche, scharfe Ton der Telecaster gut für verzerrte Klänge eignet, wurde die Telecaster seit den 1960ern auch bei Rockmusikern beliebt. Keith Richards und Ron Wood von den Rolling Stones, Bob Dylan, Steve Cropper von Booker T. & the M.G.’s, Francis Rossi und Rick Parfitt von Status Quo bis hin zu Richie Sambora, Bruce Springsteen, John Frusciante, Sheryl Crow oder Avril Lavigne setzten die Telecaster in diesem Kontext ein.
Obwohl Jimmy Page großer Fan der wärmer und druckvoller klingenden Gibson Les Paul ist, setzte er bei Plattenaufnahmen von Led Zeppelin häufig Telecasters ein: Der höhenreiche Ton der Telecaster ließ sich im Tonstudio einfacher aufnehmen und abmischen. So wurde etwa das Gitarrensolo des Songs „Stairway to Heaven“ mit einer Telecaster eingespielt, wie auch das erste Album von Led Zeppelin. Aus ähnlichen Gründen benutzten Syd Barrett und David Gilmour häufig Telecasters bei Aufnahmen und Konzerten von Pink Floyd: Der höhenreiche Ton setzte sich im Klangbild der Band trotz Synthesizern und schweren Effekten gegen die anderen Instrumente durch. Der höhenreiche Klang der Telecaster ist unter anderem in dem frühen Stück „Astronomy Domine“ zu hören. In dem Blues-Spielfilm Crossroads – Pakt mit dem Teufel von 1986 spielt der Hauptdarsteller Ralph Macchio eine beigefarbene Telecaster als zentraler Gegenstand der Handlung.
Auch im Britpop hat die Telecaster ihren festen Platz, so spielt beispielsweise Jonny Buckland, Gitarrist von Coldplay, auf für ihn speziell angefertigten „Thinline Telecasters“.
Vereinzelt taucht die Telecaster auch in Stilen wie Punk und Heavy Metal auf. El Hefe von NOFX spielt ebenso Telecasters wie John 5. Auch Joe Strummer von The Clash benutzte dieses Instrument. Peter Koppes von der australischen Band The Church verwendet den höhenreichen, schneidenden Klang der Telecaster, um in Verbindung mit einem Leslie und zahlreichen Effekten eine „Wall of Sound“ zu erreichen. Eine mit einem siebensaitigen Satz bestückte Telecaster, bauartbedingt jedoch ohne hohe E-Saite (also vom tiefen H bis zum hohen h), nutzt Pro-Pain-Gitarrist Eric Klinger, um den genretypisch „fetten“ Hardcore-Sound zu spielen.
James Root, Gitarrist bei Slipknot und Stone Sour, entwickelte im Jahr 2007 in Zusammenarbeit mit der Firma Fender seine „Telecaster Signature Jim Root“. Die für Fender untypische Verwendung von Mahagoni als Korpusholz bewirkt in Kombination mit EMG-Tonabnehmern, dass die Gitarre einen druckvolleren, fetteren Klang bekommt. Die beiden Gitarristen, Russel Lissack und Kele Okereke, der Post-Punk-/Indie-Band Bloc Party setzen ebenfalls auf den scharfen Sound der Telecaster, der den Stil ihrer Musik unterstreicht. In so gut wie allen Stücken wird hier auf eine Vielzahl an Effekten gesetzt, die übereinander gelagert werden. Im Zusammenspiel mit der Telecaster ergibt sich hier ein ganz eigener Sound. Auch der Sound anderer Indie-Bands ist durch den Sound der Telecaster stark beeinflusst.
Literatur
Richard R. Smith: Fender – Ein Sound schreibt Geschichte. Nikol-Verl.-Ges., Hamburg 2003, ISBN 3-937872-18-3
Peter Bertges: The Fender Reference. Bomots, Saarbrücken 2007, ISBN 978-3-939316-38-1
Tony Bacon: Gitarren – Alle Modelle und Hersteller. London-Wien 1991, ISBN 3-552-05073-6
George Gruhn, Walter Carter: Elektrische Gitarren & Bässe – Die Geschichte von Elektro-Gitarren und Bässen. PPV Presse Project Verlag, Bergkirchen 1999, ISBN 3-932275-04-7
Tony Bacon, Dave Hunter: Totally Guitar – The definitive guide. Backbeat Books, London 2004, ISBN 3-86150-732-3
Gitarre & Bass. Das Musiker-Fachmagazin. Sonderheft Fender. MM Musikverlag, Köln-Ulm 2001,
Carlo May: Vintage – Gitarren und ihre Geschichten. MM-Musik-Media-Verlag, Augsburg 1994. ISBN 3-927954-10-1, S. 2–6 (Vom Champion zum Bestseller. Die Fender Broadcaster).
Tony Bacon: Six Decades of the Fender Telecaster: The Story of the World’s First Solidbody Electric Guitar. Backbeat Books, London 2006, ISBN 978-3-937872-18-6
Paul Balmer: Fender Telecaster Manual. Haynes Publishing, Somerset (UK) 2009, ISBN 978-1-78521-056-3
Paul Balmer: Fender Telecaster – Mythos & Technik. PPVMEDIEN, Bergkirchen 2011, ISBN 978-3-941531-58-1.
Helmuth Lemme: Elektrogitarren – Technik und Sound. Elektor-Verlag Aachen, ISBN 978-3-89576-111-9.
Weblinks
Offizielle Website von Fender USA (englisch)
Offizielle Website von Fender UK (englisch, mit Foto des Prototyps bei den „Fender Files“)
Offizielle Website von Fender Germany
FENDER Catalogs guitars, basses, amplifiers & more (Zugriff auf Fender-Kataloge und Preislisten seit 1953)
Offizielle Website von G&L (englisch)
Fanseite für Sammler (Details früher Esquire und Telecaster Gitarren)
Andreas Kühn: Schaltungen der / für die Telecaster mit Schaltdiagrammen und Lötplänen (PDF; 6,1 MB)
Offizielle Website vom Erfinder des String-(B-)Benders (englisch)
Einzelnachweise
Telecaster |
79270 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hartmann%20von%20Aue | Hartmann von Aue | Hartmann von Aue, auch Hartmann von Ouwe († vermutlich zwischen 1210 und 1220) gilt neben Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg als der bedeutendste Epiker der mittelhochdeutschen Klassik um 1200. Gemeinsam mit Heinrich von Veldeke steht er am Beginn des aus Frankreich übernommenen höfischen Romans. Von ihm sind die Verserzählungen Erec, Gregorius oder Der gute Sünder, Der arme Heinrich, Iwein, ein unter dem Namen Das Klagebüchlein bekanntes allegorisches Streitgespräch, sowie einige Minne- und Kreuzlieder überliefert.
Leben und zeitliche Einordnung des Werks
Hartmann von Aue ist urkundlich nicht bezeugt, so dass die Rekonstruktion seiner Lebensumstände auf eigene Äußerungen in seinen Werken und Nennungen durch andere Autoren angewiesen ist; mögliche Lebensdaten sind aus der erschlossenen zeitlichen Einordnung des Werkes abgeleitet und bleiben letztlich spekulativ.
Chrétiens de Troyes Erec et Enide und Yvain, die altfranzösischen Quellen für Hartmanns Erec und Iwein, entstanden mutmaßlich um 1165 und um 1177. Deshalb geht man davon aus, dass Hartmann nach 1180 als Dichter in Erscheinung trat. Spätestens 1205/10 waren alle Versromane Hartmanns bekannt, denn Wolfram von Eschenbach nimmt im Parzival auf den Iwein Bezug (253,10–14; 436,4–10), der aus stilistischen Gründen als letzter der vier Romane Hartmanns gilt.
Hartmanns Kreuzlieder spielen entweder auf den Dritten Kreuzzug (1189) oder den von Heinrich VI. vorbereiteten sogenannten Deutschen Kreuzzug (1197) an, der wegen Heinrichs Tod nicht zur Ausführung kam. Eine eigene Teilnahme Hartmanns an einem Kreuzzug ist umstritten. Der Tod eines Gönners, der in den Kreuzliedern zweimal angesprochen wird (V,4 und XVII,2), ist als Tod des Zähringers Berthold IV. 1186 interpretierbar.
Eine Erwähnung Saladins († 1193) im dritten Kreuzlied (XVII,2) galt früher als zentraler Bezugspunkt für die Werkchronologie. Aus dem überlieferten Text im Codex Manesse, dem einzigen Überlieferungsträger, kann man jedoch nicht eindeutig bestimmen, ob auf Saladin noch als Lebenden Bezug genommen wird.
Um 1210 benennt Gottfried von Straßburg in seinem Literaturexkurs im Tristan Hartmann als lebenden Dichter (V. 4621–4635). Heinrich von dem Türlin beklagt dagegen nach 1220 in seinem Gawain-Roman Der Âventiure Crône seinen Tod (V. 2372–2437).
Stand, Bildung und Herkunft
Schon die Erkenntnis, dass Hartmann von Aue seine Werke schriftlich verfasst hat, zeugt zumindest von einer, auf den ersten Blick, banalen Eigenschaft: Er konnte lesen und schreiben. Dies war im Mittelalter nicht selbstverständlich und nur einem relativ geringen Personenkreis vergönnt.
Die meisten Informationen über Hartmanns Lebensumstände liefern die Prologe und Epiloge seiner Werke. Besonders in den Prologen des Armen Heinrich und in kaum abgewandelter Form des Iwein macht Hartmann Aussagen über sich selbst.
Hartmann benennt sich als Ritter (genauer dem unfreien Stand der Ministerialen zugehörig) und betont zugleich seine Bildung, die er noch immer weiter durch das Lesen von Büchern ausbaut. Im Verständnis der Zeit meint gelêret eine Bildung anhand von lateinischen Werken an einer von geistlich ausgebildeten Lehrern geleiteten Schule.
Was Hartmann im Prolog benennt, ist für einen Ritter um 1200 ungewöhnlich und könnte – unabhängig vom tatsächlichen Stand Hartmanns und seiner persönlichen Bildung – dem Bedürfnis entspringen, sich literarisch zu stilisieren und sich seinem Publikum zu empfehlen: Hartmann sagt aus, dass er als Ritter dem gleichen (erstrebenswerten) Stand wie sein Publikum angehört und dass er zudem durch seine Bildung eine besondere Kompetenz hat, das Werk zu erzählen. Die legendenhaften Werke Gregorius und Armer Heinrich sowie die Klage zeigen allerdings tatsächlich philosophische, theologische und rhetorische Grundkenntnisse, die eine Ausbildung an einer Domschule wahrscheinlich machen. Eine Klosterschule wie die in Reichenau hätte ihm dagegen wohl nicht offengestanden. Da Erec und Iwein aus schriftlichen französischen Vorlagen übertragen wurden, muss Hartmann auch über ausgezeichnete Französischkenntnisse verfügt haben.
Weder Hartmanns Herkunft noch seine Wirkungsstätte lassen sich sicher lokalisieren. Er schrieb in einer mittelhochdeutschen Literatursprache, die starke Dialekteigenheiten möglichst vermied und so eine überregionale Verbreitung seiner Werke erlaubte. Seine Reime weisen jedoch auf eine Herkunft aus dem alemannischen Raum. Dazu passt die Beschreibung Hartmanns als von der Swâben lande bei Heinrich von dem Türlin (Crône, V. 2353). So lässt sich insgesamt seine Herkunft auf das Herzogtum Schwaben eingrenzen.
Aue ist ein so häufiger Ortsname, dass sich der genaue Herkunftsort Hartmanns nicht festmachen lässt. Zu den diskutierten Orten namens Aue oder Au gehören Au bei Ravensburg (Kloster Weißenau), Au bei Freiburg, Eglisau (im Kanton Zürich) und Obernau am Neckar (in der Nähe von Rottenburg bei Tübingen). Dort lässt sich seit 1112 ein Ministerialengeschlecht im Dienst der Zähringer nachweisen, zu den urkundenden Mitgliedern dieser bis heute blühenden Adelsfamilie von Ow, zählt auch ein Henricus de Owon oder de Owen.
Auffallend ist die Namensgleichheit mit dem Helden des Armen Heinrich: Heinrich von Ouwe (V. 49) der den vürsten gelîch (V. 43) ze Swâben gesezzen (V. 31). Als Interpretation bietet sich an, hier entweder die poetisch verklärte eigene Familiengeschichte Hartmanns oder eine Huldigung an die Familie des Auftraggebers zu sehen. Da die Nachkommen des reichsfürstlichen Heinrich durch dessen Ehe mit einem bäuerlichen Mädchen den Adelsstand verloren haben müssten, scheint die zweite Erklärung wenig plausibel zu sein. Dagegen hätte Hartmann den Stand seiner eigenen Familie in der unfreien Ministerialität durch eine fürstliche Abkunft verklären können.
Mögliche Mäzene Hartmanns
Anders als Chrétien de Troyes hat Hartmann seine Gönner nicht genannt, so dass man in dieser Frage auf Spekulationen angewiesen bleibt. Als mögliche Mäzene, ohne die ein mittelalterlicher Dichter nicht hätte arbeiten können, kommen im Fall Hartmanns in erster Linie die Zähringer, die Welfen und die Staufer in Betracht. Zu keinem Geschlecht lässt sich aber eine Verbindung nachweisen.
Meist wird heute die Anschauung vertreten, dass Hartmann am ehesten für den Hof der Zähringer gewirkt haben dürfte. Dies könnte erklären, auf welchem Wege Hartmann zu seinen Vorlagen für Erec und Iwein gelangte, denn das Adelsgeschlecht unterhielt enge Kontakte nach Frankreich, die bis in den Wirkungskreis Chrétiens de Troyes reichten. Auch das Wappen, das den Autorenbildern Hartmanns in den Liederhandschriften Anfang des 14. Jahrhunderts beigegeben wird, lässt sich als Abwandlung des Zähringer-Wappens deuten: Weiße Adlerköpfe auf blauem oder schwarzem Grund. Unter den welfischen Fürsten kommt nur Welf VI. als Gönner in Betracht. In diesem Fall wäre Hartmanns Heimat wahrscheinlich Weißenau bei Ravensburg.
Werke
Chronologie
Aus stilistischen Gründen lässt sich eine innere Chronologie der Werke erschließen, der zufolge das Klagebüchlein am Anfang steht. Erec ist der erste Versroman Hartmanns, gefolgt vom Gregorius, dem Armen Heinrich und Iwein. Obwohl diese Reihenfolge fast ausschließlich auf Sprachuntersuchungen basiert, ist sie in der Forschung weitgehend anerkannt. Möglich wäre allerdings auch die Entstehung des Armen Heinrich nach oder parallel zum Iwein. Der Beginn des Iwein (etwa 1000 Verse) könnte in zeitlicher Nähe zum Erec entstanden und der Roman erst später vollendet worden sein. Die Stellung der Klage als erstes Werk ist nicht ganz deutlich, doch der Autor bezeichnet sich darin selbst als jungelinc (V. 7).
Eine Reihenfolge der Lieder muss hypothetisch bleiben. Unklar ist schon, ob die erhaltenen Lieder annähernd das vollständige lyrische Œuvre Hartmanns überliefern. Auch über die Aufführungspraxis wissen wir wenig. Sollten sie im Ganzen eine Geschichte erzählen, ließe sich eine Dramaturgie erschließen, die dann auch auf Selbsterlebtes zurückgreifen könnte. Doch ein solcher Zyklus bleibt Spekulation und gilt als eher unwahrscheinlich, so dass nur die Kreuzlieder an historische Ereignisse angebunden werden können – aber selbst das bleibt umstritten.
In der früheren Forschung wurde eine Persönlichkeitsentwicklung Hartmanns angenommen und daraus eine frühe Schaffensphase mit den weltlichen arthurischen Epen Erec und Iwein abgeleitet, auf die dann, nach einer persönlichen Krise, die religiös gefärbten Erzählungen Gregorius und Armer Heinrich gefolgt seien. Diese Sicht stützte sich einerseits auf den Gegensatz zwischen den weltlichen Minneliedern und den Kreuzzugsliedern und andererseits auf den Prolog des Gregorius. Hier erteilt der Autor den eitlen Worten seiner Jugend eine Absage, mit denen er in der Vergangenheit den Beifall der Welt gesucht habe; nun aber wolle er mit einer religiösen Erzählung diese Sündenlast mildern. Eine solche autorpsychologische Interpretation wird heute aber wegen des topischen Charakters der Prologaussagen für Hartmann wie für die meisten mittelalterlichen Autoren weitgehend abgelehnt.
Lieder
Insgesamt sind 18 Töne (zu denen jeweils eine eigene, nicht überlieferte Melodie gehörte) mit zusammen 60 Strophen unter Hartmanns Namen überliefert. Thematisch stehen die Minnelieder dem didaktischen Text des Klagebüchleins nahe. Hier wie dort werden die subjektiv-erotischen und die gesellschaftlich-ethischen Aspekte der Geschlechterliebe im Sinne der höfischen Minne diskutiert. Die drei Kreuzlieder füllen thematisch eine Subgattung der Minnelyrik, die in den Jahrzehnten um 1200 eine große Bedeutung besaß und die Verpflichtung des Ritters zum Dienst an Gott gegen seine Verpflichtung zum Minnedienst abwägt. Formal unterscheiden sie sich nicht von Minneliedern.
Charakteristisch für Hartmann ist ein ernster, nüchterner und rationaler Stil, der sich argumentierend im höfischen Minnediskurs und in der Auseinandersetzung mit der Kreuzzugsthematik bewegt. In der deutschsprachigen Kreuzzugslyrik nehmen die Lieder Hartmanns eine Sonderstellung ein. Kein anderer volkssprachiger Dichter, ausgenommen Walther von der Vogelweide mit seiner Elegie, greift mit solchem Ernst ethische Grundfragen auf.
Im Urteil der Literaturhistoriker, die Hartmann als Lyriker lange Zeit keinen besonderen Rang eingeräumt hatten, werden die Minnelieder etwa seit den 1960er Jahren zunehmend positiv bewertet. Lediglich den Kreuzliedern war schon immer ein hoher literarischer Wert zuerkannt worden.
Das größte interpretatorische Problem höfischer Lyrik ist ihr biografischer Gehalt. In der älteren Forschung wurde das Werk Hartmanns autorpsychologisch gedeutet, eine reale unerfüllte Minnebeziehung angenommen und eine Kreuzzugsteilnahme als Abschluss einer persönlichen Entwicklung betrachtet. Seine Kreuzzugsdichtung wurde demzufolge als Absage an die irdische zugunsten der Gottesminne verstanden. Als Auslöser für eine persönliche Sinnkrise wurde der zweifach erwähnte Tod seines Gönners angesehen. Die Minneklage wird heute allgemein als topisch angesehen; ob Hartmann tatsächlich an einem Kreuzzug teilgenommen hat, muss hypothetisch bleiben.
Das Klagebüchlein
Als erstes erzählerisches Werk Hartmanns gilt Das Klagebüchlein, auch Die Klage oder Das Büchlein genannt. Wie die Romane ist das Klagebüchlein in vierhebigen Paarreimen geschrieben. Es umfasst 1914 Verse und ist wie der Erec lediglich im Ambraser Heldenbuch überliefert (um 1510). Das allegorische Streitgespräch ist in der Form einer gelehrten Disputation verfasst. Gesprächspartner sind das herze als geistiges Zentrum und der lîp als körperlich-sinnlicher Teil des Menschen. Thema ist der Sinn der hohen Minne und das richtige Verhalten des Mannes bei der Werbung um eine Frau.
Das literarische Muster des Streits zwischen Seele und Leib war in der religiösen mittelalterlichen Dichtung weit verbreitet, die Übertragung in die weltliche Sphäre durch Hartmann hatte dagegen keine direkten Vorläufer oder Nachfolger im deutschsprachigen Raum. Erst im 14. Jahrhundert sind vergleichbare Minnereden zahlreich überliefert – Hartmanns Werk war zu dieser Zeit aber wohl schon vergessen. Diskutiert wird eine mögliche französische oder provenzalische Vorlage, da die Minnelehre die modernste Minnekonzeption aus Frankreich adaptiert. Auf französische Quellen deutet auch eine Textstelle, in der davon gesprochen wird, das herze habe den Kräuterzauber aus Frankreich gebracht (V. 1280). Die Suche nach überlieferten französischen Texten, die für eine solche Vorlage in Frage kommen könnten, blieb allerdings erfolglos.
Artusepik: Erec und Iwein
Erec und Iwein gehören dem Sagenkreis vom König Artus an. Der Erec gilt als erster Roman Hartmanns, zugleich war er der erste Artusroman im deutschsprachigen Raum und nach dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke der erste Roman, der die aktuelle Minnekonzeption aus Frankreich aufnahm. Nach literaturgeschichtlichen Konventionen gelten der Eneasroman und der Erec daher als erste im eigentlichen Sinn höfische Romane in deutscher Sprache. Da der Prolog im Ambraser Heldenbuch (um 1510), der einzigen (fast) vollständig erhaltenen Handschrift, fehlt, gibt es keine Anhaltspunkte auf die Umstände der Entstehung dieses ersten deutschen Artusromans.
Beiden Artusepen Hartmanns liegen französische Epen von Chrétien de Troyes zu Grunde. Hartmann übertrug den Erec sehr frei in die deutsche Sprache und nahm dabei Rücksicht auf seine literarisch weniger vorgebildeten Hörer in einem anderen kulturellen Umfeld, indem er seine Vorlage um erläuternde Exkurse erweiterte. Vereinzelt wurde erwogen, dass Hartmann für den Erec nicht den altfranzösischen Chrétien-Roman, sondern eine niederrheinisch-niederländische Vorlage genutzt habe. Diese Theorie kann sich nur auf wenige Anhaltspunkte stützen, Nebenquellen sind aber denkbar.
Bei der Übertragung des Iwein hielt sich Hartmann, bei aller künstlerischen Souveränität, enger an seine Vorlage. Da der neue Literaturtyp des höfischen Romans inzwischen in Deutschland etabliert war, konnte er nun auf ausführliche Erklärungen weitgehend verzichten. Auffällig sind in beiden Artusepen, vor allem aber im Iwein, märchenhafte Erzählmotive, die wesentlich auf die Herkunft des literarischen Stoffes zurückgehen. Der Themenkreis um König Artus gehört der Matière de Bretagne an, ursprünglich mündlich überlieferten keltischen Stoffen, die mit den Bearbeitungen Chrètiens in die europäische Literatur eingegangen waren.
Strukturell ist beiden Artusepen ein sogenannter Doppelweg gemeinsam: Der Held gewinnt durch âventiure gesellschaftliche Anerkennung am Hofe König Artus' und die Hand einer schönen Dame (die Leitbegriffe sind hier êre und minne) und gelangt so aus der Namenlosigkeit zum Gipfel des Ruhms. Durch eigene Schuld gerät er aber in Konflikt mit der Umwelt und verliert die Gunst seiner Dame wieder. Erst in einem zweiten Durchgang kann er sich durch erneute ritterliche Taten und einen Lernprozess rehabilitieren und das soziale Ansehen und die Zuneigung der Dame zurückgewinnen.
Legendenhafte Erzählungen: Gregorius und Der arme Heinrich
Die beiden Erzählungen Gregorius und Armer Heinrich einer Gattung zuzuweisen, bereitet Schwierigkeiten: Beide behandeln religiös grundierte Themen um Schuld und göttliche Gnade und nutzen Formen des Erzähltyps Legende; der Gregorius ist eine Papstvita, der Arme Heinrich steht auch dem Märe nahe. Gleichzeitig handelt es sich aber um romanhafte höfische Erzählungen, die bis zu einem gewissen Grad als fiktional gelten können. Die Forschung behilft sich deshalb mit der Bezeichnung höfische Legenden.
Der Gregorius greift das Inzest-Motiv doppelt auf. Weitgehend dem Publikum überlassen bleibt die Interpretation, wie schwer die unverschuldete Sünde der Geburt aus einem Inzest und die ungewusste Sünde des eigenen Inzests wiegen.
Der Arme Heinrich ist mehr auf die Reflexion und die subjektive Reaktion der handelnden Figuren konzentriert als auf die äußere Handlung. Interessant ist der mögliche Bezug zur eigenen Familiengeschichte Hartmanns. Der Prolog spricht von Quellensuche in (lateinischen) Büchern, eine entsprechende Vorlage hat sich aber nicht nachweisen lassen.
Rezeption
Überlieferung
Vom Erec sind nur rätselhaft wenige Textzeugen erhalten: Nur eine annähernd vollständige Handschrift aus dem 16. Jahrhundert (Ambraser Heldenbuch) und drei Fragmente aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind bekannt. Das entspricht nicht der Wirkung, die der Erec-Stoff nachweislich hatte. Über die Gründe der spärlichen Überlieferung lässt sich nur spekulieren.
In jüngster Zeit haben Fragmentfunde neue Fragen zur Überlieferungsgeschichte aufgeworfen. Das sogenannte Zwettler Fragment aus dem Stift Zwettl (Niederösterreich) stellte sich als Erec-Bruchstück aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts heraus. Der mitteldeutsche Text scheint eine von Hartmann unabhängige Übersetzung aus dem Französischen zu überliefern und wird als Mitteldeutscher Erec bezeichnet. Bereits früher hatte das Wolfenbütteler Fragment aus der Mitte oder dem 3. Viertel des 13. Jahrhunderts eine zweite Übertragung möglich erscheinen lassen, die dem Roman Chrétiens näher stand als der Text des Ambraser Heldenbuches. Die Stellung dieser mutmaßlich mitteldeutschen Übertragung zum oberdeutschen Erec Hartmanns (ob Vorläufer, unabhängige Parallelversion oder Rezeptionszeugnis) ist noch nicht geklärt.
Der Iwein gehört dagegen zu den am stärksten überlieferten Romanen aus der Zeit um 1200: Mit 15 vollständigen Handschriften und 17 Fragmenten von Anfang des 13. bis ins 16. Jahrhundert sind mehr Handschriften erhalten als beispielsweise von Gottfrieds Tristan. Nur die Romane Wolframs von Eschenbach (Parzival, Willehalm) sind noch häufiger als der Iwein abgeschrieben worden. Gregorius und Armer Heinrich sind mit sechs und drei vollständigen Handschriften sowie fünf und drei Fragmenten überliefert. Der Gregorius wurde dreimal, der Arme Heinrich einmal ins Lateinische übersetzt. Beide Texte sind darüber hinaus anonymisiert in weit verbreitete Kompilationen, wie Legendensammlungen, historische Werke oder Volksbücher, eingeflossen.
Alle 60 Strophen der Lieder Hartmanns sind im Codex Manesse überliefert, in der Weingartner Liederhandschrift 28 und in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift 10, dazu kommt vereinzelt Streuüberlieferung. Die drei Kreuzlieder Hartmanns sind im Codex Manesse enthalten, eines davon auch in der Weingartner Liederhandschrift.
Bearbeitungen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit
Die offene Textform der legendenhaften Erzählungen Hartmanns erleichterte die Aufnahme in Legenden- und Exempelsammlungen, durch die die anonymisierten Stoffe weit verbreitet wurden. Der Gregorius wurde bis 1450 in drei lateinischen und zwei deutschen Adaptionen verarbeitet. Durch die Aufnahme in die in ganz Europa verbreitete lateinische Exempelsammlung Gesta Romanorum und in die populärste deutsche Legendensammlung Der Heiligen Leben wurde der Gregoriusstoff in Prosaauflösungen sehr bekannt. Der Arme Heinrich wurde bis ins 15. Jahrhundert tradiert und in zwei lateinische Exempelsammlungen aufgenommen.
Ulrich Fuetrer dichtet nach 1480 eine stark gekürzte Neufassung des Iwein. Der Iban in 297 Titurelstrophen ist der vierte von sieben Artusromanen in seinem Buch der Abenteuer. Die Überlieferung der Artusepen findet mit dem Traditionsbruch der Reformationszeit im 16. Jahrhundert ein Ende. Wie die meisten höfischen Romane werden auch Iwein und Erec nicht in Prosaversionen aufgelöst und in gedruckte Volksbücher übernommen. Dieser Medienwechsel gelingt nur einigen mittelhochdeutschen Epen von geringerem literarischem Anspruch.
Erwähnungen Hartmanns durch andere Dichter
Bereits von den Zeitgenossen wurde Hartmann als führender Dichter angesehen, dessen Bedeutung einerseits in der formalen und sinnhaften Klarheit seiner Romane liege, andererseits in seiner gattungsbegründenden Rolle innerhalb der deutschen Dichtung. Gottfried von Straßburg preist ihn im Tristan (um 1210) für seine kristallînen wortelîn (Vers 4627) und spricht ihm in einem Literaturexkurs den ersten Rang unter den Epikern zu.
Dichterkataloge, in denen Hartmann in ähnlicher Weise als stilbildend gelobt wird, finden sich in der Folge in Rudolfs von Ems Alexander (nach 1230) und Willehalm von Orlens (um 1240, mit einer Erwähnung des Erec). Heinrich von dem Türlin widmet Hartmann in der Crône (nach 1220) eine bewegte Totenklage und stellt ihn auch als Lyriker als normsetzenden Ausgangs- und Mittelpunkt heraus. Auch hier wird auf die Handlung des Erec Bezug genommen, die bei den Zuhörern als bekannt vorausgesetzt wird. Heinrich von dem Türlin greift bei Zitaten jedoch auch auf eine französische Erec-Handschrift zurück.
Ähnliche Nennungen, jetzt schon kanonisiert, finden sich später im Meleranz des Pleiers (um 1270), in Konrads von Stoffeln Gauriel (um 1270), in Albrechts Jüngerem Titurel (um 1270) und in der Steirischen Reimchronik Ottokars aus der Gaal (um 1310). Während diese Dichter Hartmanns Artusepen hervorheben, rühmt der von Gliers, ein Lyriker aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, ihn als Minnesänger. Trotz ihrer breiten Überlieferung und zahlreicher Bearbeitungen werden Hartmanns religiös gefärbte Werke nirgends erwähnt.
Unter den Einzelberufungen stechen diejenigen im Parzival Wolframs von Eschenbach hervor. Da in dem gegen 1205 entstandenen Werk sowohl auf den Erec als auch auf den Iwein angespielt wird, bietet der Parzival auch den wertvollsten Hinweis für die Datierung der Hartmannschen Epen (terminus ante quem). Der Tenor von Wolframs Anspielungen ist im Gegensatz zu den späteren Namensnennungen eher scherzhaft-spöttelnd bis kritisch. Später werden in die Handlung integrierte Anspielungen auf die arthurischen Romane Hartmanns üblich, so im Wigalois Wirnts von Grafenberg, im Garel des Pleiers und im Jüngeren Titurel. Solche Referenzen finden sich sogar in einem Werk nicht-arthurischer Thematik, der Reimlegende vom Hl. Georg Reinbots von Durne.
Bildrezeption
Der Iwein wurde mehrmals Gegenstand bildlicher Darstellung, und dies schon sehr rasch nachdem der Roman bekannt wurde. Auffällig ist, dass das Medium dafür nicht Buchillustrationen, sondern vor allem Wandmalerei und -teppiche sind. Die Gebrauchsform der monumentalen Darstellungen in Wohnräumen ('Trinkstuben') ist die gesellschaftliche Repräsentation.
Die künstlerisch anspruchsvollsten Illustrationen sind die Iwein-Wandbilder auf Burg Rodenegg bei Brixen (Südtirol). Umstritten ist, ob sie nach kunsthistorischen Kriterien unmittelbar nach 1200 oder zwischen 1220 und 1230 zu datieren sind. Der erst 1972 freigelegte Zyklus besteht aus elf Bildern, die nur Szenen aus dem ersten Teil des Iwein darstellen. Im Hessenhof in Schmalkalden, ebenfalls aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, sind in einem Wohnraum ('Trinkstube') Wandbilder mit 23 Szenen von ursprünglich 26 erhalten.
Um 1400 entstanden weitere Wandbilder mit exemplarischen Helden der höfischen Dichtung in der Burg Runkelstein bei Bozen (Südtirol). Dort bilden Iwein, Parzival und Gawein eine Trias der besten und vorbildlichsten Ritter. Iwein und Laudine (daneben Lunete als Assistenzfigur) erscheinen als eines der exemplarischen Paare auf dem sogenannten Maltererteppich, der um 1320/1330 entstand (heute: Augustinermuseum Freiburg im Breisgau). In den Medaillons des Teppichs sind 'Minnesklaven' dargestellt – Männer, die in Abhängigkeit von einer Frau geraten sind. Neben Iwein sind dies Samson, Aristoteles und Vergil. Nach neueren Untersuchungen ist der Erec-Stoff Gegenstand plastischer Darstellung auf dem Krakauer Kronenkreuz.
Moderne Rezeption
1780 setzte mit Johann Jakob Bodmers Fabel von Laudine die neuzeitliche Hartmann-Rezeption ein. Sein Schüler Christoph Heinrich Myller veröffentlichte 1784 eine erste Textedition des Armen Heinrich und des Twein (= Iwein) nach mittelalterlichen Handschriften. 1786 folgt Karl Michaeler mit einer zweisprachigen Iwein-Ausgabe. Auf der Grundlage von Myllers Edition beruhte Gerhard Anton von Halems Rokoko-Adaption Ritter Twein (1789). Die Iwein-Edition von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann von 1827 blieb bis heute in verschiedenen Neubearbeitungen die maßgebliche Textedition. Der Erec wurde 1839 von Moriz Haupt ediert.
1815 veröffentlichten die Brüder Grimm eine kommentierte Ausgabe des Armen Heinrich mit einer Nacherzählung. Den Gregorius brachte zum ersten Mal Karl Simrock 1839 für 'jeden gefühlvollen Leser' heraus und hatte dabei den Anspruch, mit einer Nachdichtung die Echtheit des Textes wiederherzustellen. Literarisch wurde besonders häufig der Arme Heinrich bearbeitet, unter anderem von Adelbert von Chamisso (1839), Ricarda Huch (1899) und Gerhart Hauptmann (1902). Auch die erste Oper Hans Pfitzners ist eine Vertonung des Armen Heinrich nach einem Libretto von James Grun (1895). August Klughardt komponierte in der Nachfolge Richard Wagners 1879 eine erfolglose Iwein-Oper. Der spätromantische Komponist Richard Wetz vertonte ein Kreuzfahrerlied für gemischten Chor nach Hartmann in einer neuhochdeutschen Nachdichtung von Will Vesper.
Die freie Gregorius-Adaption Der Erwählte von Thomas Mann (1951) sticht unter allen modernen Bearbeitungen der Werke Hartmanns hervor. Zuletzt griffen Markus Werner (Bis bald, 1995), der Dramatiker Tankred Dorst (1997) und der Lyriker Rainer Malkowski (1997) den Armen Heinrich auf. Felicitas Hoppe hat mit Iwein Löwenritter (2008) die Iwein-Geschichte für Kinder nacherzählt.
Literatur
Ausgaben
Das Klagebüchlein. Hartmanns von Aue und das zweite Büchlein. Hrsg. Ludwig Wolff. Wilhelm Fink, München 1972.
Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übers. Siegfried Grosse, Hg. Ursula Rautenberg, Reclam, Stuttgart 1993; durchg. und bibliographisch erg. Ausgabe 2005 u. ö. (zuerst: Reclams Universalbibliothek RUB 456 in der Prosa der Brüder Grimm, Einführung Friedrich Neumann).
Übertragung Jürgen Wolf, Nathanael Busch. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-019131-6.
Erec. Mittelhochdeutscher Text. Nhd. Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt 1972, 25. Auflage 2003.
Gregorius. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Neumann neu hrsg., übers. und kommentiert von Waltraud Fritsch-Rößler, Stuttgart 2011.
Iwein. Text und Übersetzung. Text der 7. Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übers. und Anmerkungen von Thomas Cramer, Berlin 1968, 4. überarbeitete Auflage 2001.
Iwein. zweisprachig Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch von Rüdiger Krohn und Mireille Schnyder. Reclam, Stuttgart 2012.
Büchlein. Hg. Moriz Haupt. 2. Aufl. Leipzig 1871.
Minne- und Kreuz-Lyrik. In: Des Minnesangs Frühling. Zuerst 1888. Neu bearb. von Carl von Kraus. 31. Aufl. Zürich 1954; zuletzt i.d. Bearb. d. Hugo Moser, Helmut Tervooren. 38. Aufl. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2007.
Minnelyrik. In: Hennig Brinkmann (Hrsg.): Liebeslyrik der deutschen Frühe in zeitlicher Folge. Schwann, Düsseldorf 1952.
Die Klage. Hrsg. von Kurt Gärtner (= Altdeutsche Textbibliothek. 123). De Gruyter, Berlin/Boston 2015, ISBN 978-3-11-040430-2.
Lieder. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ernst von Reusner (= Reclams Universalbibliothek. 8082). Reclam, Stuttgart 1985, ISBN 3-15-008082-7.
Forschungs- und Unterrichts-Literatur
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Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche, Werk, Wirkung. 2., überarbeitete Auflage. Beck, München 1998, ISBN 3-406-30309-9.
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Hans Eggers: Symmetrie und Proportion epischen Erzählens. Studien zur Kunstform Hartmanns von Aue. Klett, Stuttgart 1956.
Werner Fechter: Über den „Armen Heinrich“. In: Euphorion. Band 49, 1955, S. 1–28.
Jean Fourquet: Zum Aufbau des „Armen Heinrich“. In: Hennig Brinkmann zur Vollendung des 60. Lebensjahres: eine Freundesgabe (= Wirkendes Wort, Sonderheft 3). Düsseldorf 1961, S. 12–24.
Hans Harter: Die Grafen von Hohenberg und die ritterlich-höfische Kultur um 1190. Ein Beitrag zur Gönnerfrage Hartmanns von Aue. In: Sönke Lorenz, Stephan Molitor (Hrsg.): Herrschaft und Legitimation. Hochmittelalterlicher Adel in Südwestdeutschland (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde. Band 36). Leinfelden-Echterdingen 2002, S. 99–129.
Hans Harter: Hartmann von Aue – „auch ferner heimatlos“? Ein Forschungsbericht aus lokal- und landesgeschichtlicher Sicht. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. 147 (2018), S. 437–462.
Hermann Henne: Herrschaftsstruktur, historischer Prozeß und epische Handlung. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zum „Gregorius“ und „Armen Heinrich“ Hartmanns von Aue. Göppingen 1982 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Band 340).
Ulrich Hoffmann: Arbeit an der Literatur. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue. Akademie, Berlin 2012, ISBN 978-3-05-005859-7.
Hugo Kuhn, Christoph Cormeau (Hrsg.): Hartmann von Aue (= Wege der Forschung. Band 359). Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-05745-7 (Sammlung wichtiger älterer Aufsätze, darunter: Kuhn: HvA als Dichter. Aus: Der Deutschunterricht, 1953, Heft 2).
Friedrich Maurer: Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den grossen Epen der staufischen Zeit. Francke, Bern 1951, 4. Aufl. 1969.
T. McFarland, Silvia Ranawake: Hartmann von Aue: Changing Perspectives. London Hartmann Symposion 1985 (= Göppinge Arbeiten zur Germanistik. Band 486). Kümmerle Verlag, Göppingen 1988, ISBN 3-87452-722-0.
Volker Mertens: Hartmann von Aue. In: Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Bd. 1: Mittelalter. Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-008611-6, S. 164–179.
Bert Nagel: Der „Arme Heinrich“ Hartmanns von Aue. Eine Interpretation (= Handbücherei der Deutschkunde. 6). Max Niemeyer, Tübingen 1952.
Brigitte Porzberg: Hartmann von Aue. Erec: Studien zur Überlieferung und Rezeption (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Band 557), Kümmerle Verlag, Göppingen 1994, ISBN 3-87452-797-2.
Arno Schirokauer: Die Legende vom „Armen Heinrich“. In: Germanisch-romanische Monatsschrift. 33, 1951/1952.
Arno Schirokauer: Zur Interpretation des „Armen Heinrich“. In: Zeitschrift für deutsches Altertum. Band 83, 1951.
Anette Sosna: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: „Erec, Iwein, Parzival, Tristan“. S. Hirzel, Stuttgart 2003.
Hugo Stopp: Erläuterungen zu: Armer Heinrich, Büchlein, Erek, Minnelyrik, Kreuzzugslyrik, Gregorius, Iwein (= Königs Erläuterungen zu den Klassikern. Band 290). C. Bange, Hollfeld o. J. (1962, 1970).
Peter Wapnewski: Hartmann von Aue. Metzler, Stuttgart 1962, 1979 (7. Auflage), ISBN 3-476-17017-9.
Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue (= Einführungen Germanistik). Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-19079-9.
Bibliografien
Petra Hörner (Hrsg.): Hartmann von Aue. Mit einer Bibliographie 1976–1997 (= Information und Interpretation. Bd. 8). Lang, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-631-33292-0.
Elfriede Neubuhr: Bibliographie zu Harmann von Aue (= Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Bd. 5). Erich Schmidt, Berlin 1977, ISBN 3-503-00575-7.
Irmgard Klemt: Hartmann von Aue. Eine Zusammenstellung der über ihn und sein Werk 1927 bis 1965 erschienenen Literatur. Greven, Köln 1968.
Weblinks
Texte Hartmanns online in der Bibliotheca Augustana (Lieder vollständig; Erec, Armer Heinrich und Iwein in Auszügen)
Roy Boggs: Hartmann-von-Aue-Portal (E-Texte und Abbildungen der Handschriften, Konkordanzen, Wörterbücher, Reimindices, Namensregister)
Handschriftencensus (zur Handschriftenüberlieferung)
(Ulrich Goerdten)
Ältere Literatur bei google-Büchersuche
Artusbibliographie (aktuelle Forschungsliteratur)
Digitale Gesamtedition der Lieder bei Lyrik des deutschen Mittelalters (www.ldm-digital.de)
Einzelnachweise
Autor
Literatur des Mittelalters
Literatur (12. Jahrhundert)
Literatur (13. Jahrhundert)
Literatur (Mittelhochdeutsch)
Artusepik
Lyrik
Sage, Legende
Minnerede
Minnesang
Historische Person (Baden-Württemberg)
Deutscher
Geboren im 12. Jahrhundert
Gestorben im 13. Jahrhundert
Mann
Ministeriale |
79642 | https://de.wikipedia.org/wiki/Andrew%20Johnson | Andrew Johnson | Andrew Johnson (* 29. Dezember 1808 in Raleigh, North Carolina; † 31. Juli 1875 in Carter Station, Tennessee) war ein US-amerikanischer Politiker und von 1865 bis 1869 der 17. Präsident der Vereinigten Staaten. Er trat sein Amt am 15. April 1865 an, am Tag nach dem tödlichen Attentat auf seinen Vorgänger Abraham Lincoln, als dessen Vizepräsident Johnson von März bis April dieses Jahres amtiert hatte. Obwohl Johnson Südstaatler war und der oppositionellen Demokratischen Partei angehörte, hatte Lincoln ihn für dieses Amt ausgewählt, da er die Anhänger der Konföderation nach dem Ende des Bürgerkriegs mit der Union versöhnen wollte. Johnsons Amtszeit als Präsident war jedoch von anhaltenden Konflikten mit dem Kongress geprägt und gilt unter Historikern als eine der schwächsten der US-Geschichte. Johnson war der erste US-Präsident, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt wurde.
Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte Johnson wenig reguläre Schulbildung genossen. Er arbeitete zunächst als Schneider und begann seine politische Laufbahn als Bürgermeister einer Kleinstadt. Später wurde er ins Parlament von Tennessee und ins US-Repräsentantenhaus gewählt. Von 1853 bis 1857 bekleidete Johnson das Amt des Gouverneurs von Tennessee, bevor er diesen Bundesstaat zwischen 1857 und 1862 im US-Senat vertrat. Während des Sezessionskriegs trat er als einziger namhafter Politiker aus den Südstaaten gegen deren Abspaltung von der Union auf. Daher wurde er 1862 zum Militärgouverneur seines von Unionstruppen besetzten Heimatstaates Tennessee ernannt. Zudem nominierte der Republikaner Lincoln ihn vor der Präsidentschaftswahl von 1864 im Rahmen der National Union Party zu seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Dieses Amt übte Andrew Johnson vor Lincolns Ermordung nur sechs Wochen lang aus.
Seine Jahre im Weißen Haus waren geprägt von der sogenannten Reconstruction (der Wiedereingliederung der im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten) sowie einem Zurückdrehen von Lincolns Politik der Gleichbehandlung von Bürgern schwarzer und weißer Hautfarbe: Johnson war der Meinung, dass die Weißen in intellektueller und moralischer Hinsicht die „überlegene Rasse“ seien. Die Frage, ob die ehemaligen Konföderierten unter harten oder milden Bedingungen wieder vollwertig in die USA aufgenommen werden sollten, führte zu erheblichen politischen Spannungen. Senatoren und Abgeordnete der Republikaner, die den Kongress dominierten, traten für eine harte Bestrafung der Südstaaten-Anführer sowie umfassende Bürgerrechte für die ehemaligen afroamerikanischen Sklaven ein, was der Präsident aufgrund seiner rassistischen Weltanschauung bekämpfte. Seine Blockadehaltung gegenüber dem Kongress, vor allem bei weitreichenden Rechten für Schwarze, gipfelte Anfang 1868 in einem nur knapp gescheiterten Amtsenthebungsverfahren. Daher hatte Johnson im Herbst 1868 keine Chance, wiedergewählt zu werden. Im März 1869 löste ihn der Republikaner Ulysses S. Grant ab. Außenpolitisch konnte Johnson jedoch 1867 mit dem Ankauf Alaskas einen Erfolg verzeichnen.
Aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegenüber dem Kongress, vor allem in Fragen der Bürgerrechte für Afroamerikaner, wird seine Amtsführung heute von den meisten Historikern und US-Bürgern in Umfragen regelmäßig als eine der schlechtesten aller Zeiten bewertet. Nach dem Ende seiner Präsidentschaft blieb Johnson politisch aktiv; 1875 wurde er wenige Monate vor seinem Tod nochmals zum US-Senator gewählt, nachdem zwei vorige Bewerbungen für den Kongress gescheitert waren. Bis heute ist er der einzige Präsident, der nach seiner Amtszeit in den Senat gewählt wurde.
Leben bis zur Präsidentschaft
Kindheit und Jugend
Johnson wurde in Raleigh, North Carolina, als jüngstes von drei Kindern von Jacob Johnson (1778–1812) und Mary Johnson, geb. McDonough (1783–1856), geboren. Jacob Johnson war Konstabler in der Ortsmiliz und Portier bei der State Bank of North Carolina. Als Andrew drei Jahre alt war, starb sein Vater an einem Herzinfarkt, einige Stunden, nachdem er drei Männer vor dem Ertrinken gerettet hatte. Die Familie blieb in Armut zurück. Mary sorgte mit Spinn- und Webearbeiten für den Familienunterhalt und heiratete später den ebenso mittellosen Turner Doughtry. Da die Versorgung der Familie immer prekärer wurde, folgte Johnson mit zehn Jahren seinem Bruder in die Lehre zu dem Schneider John Selby. Er besuchte während dieser Ausbildung keine Schule, erlernte das Lesen durch einen Mitarbeiter in der Schneiderei und brachte sich erst als junger Erwachsener das Schreiben bei. Im Alter von 15 Jahren riss er mit seinem älteren Bruder vor Selby aus und lebte zwei Jahre lang in Laurens im benachbarten South Carolina, wo er in seinem Beruf arbeitete und einem Mädchen im Ort erfolglos einen Heiratsantrag machte. Kurz darauf kehrte er nach Raleigh zurück. Da es ihm nicht gelang, sich aus dem Ausbildungsverhältnis mit Selby freizukaufen, und er somit vertraglich an ihn gebunden blieb, verließ Johnson den Bundesstaat, um eine andere Arbeit zu finden.
Über Knoxville, Tennessee, gelangte er nach Mooresville, Alabama und Columbia, Tennessee, und arbeitete weiter als Schneider. Im Jahr 1826 kehrte er zu Mutter und Stiefvater nach Raleigh zurück. Diese sahen dort keine Zukunft mehr und wollten mit Johnson zu seinem Bruder und mütterlichen Verwandten in das östliche Tennessee umsiedeln. Auf dem Weg durch die Blue Ridge Mountains machten ihnen Pumas und Bären zu schaffen, sodass sie in Greeneville stoppten, wo sie mehrere Jahre blieben. Erst kampierten sie außerhalb der Stadt nahe Farnsworth Mill, da sie sonst keine Bleibe hatten. Nachdem er Arbeit bei einem örtlichen Schneider gefunden hatte, mieteten sie Zimmer in einer Taverne. In Greeneville lernte Johnson die Tochter eines Schusters, Eliza McCardle (1810–1876), kennen, seine spätere Frau. Aus beruflichen Gründen zog Johnson nach Rutledge, Tennessee, weiter, kehrte aber bald nach Greeneville zurück und heiratete am 17. Mai 1827 Eliza in Warrensburg, Tennessee, ihrer Heimatstadt. Sie blieben bis zu seinem Tod verheiratet und hatten fünf Kinder. In Greeneville, in der heutigen Andrew Johnson National Historic Site, eröffneten sie eine eigene Schneiderei, mit der sie großen geschäftlichen Erfolg erzielen konnten, während seine Frau ihm besseres Lesen und Rechnen beibrachte.
Einstieg in die Politik und Kongressabgeordneter
Über sein Interesse an Debatten – er gründete eine entsprechende Gesellschaft und nahm am Tusculum College an Disputen teil – gelangte Johnson in die Politik. Während seiner Jugend machte vor allem der damalige US-Präsident Andrew Jackson (1829–1837) großen Eindruck auf Johnson. Jackson war sowohl der erste demokratische als auch der erste nicht aus der gesellschaftlichen Elite stammende Präsident. Jackson präsentierte sich stets als Vertreter der „einfachen (weißen) Leute“, was sich auch Johnson in seiner politischen Karriere zu eigen machte. In den 1830er Jahren wurde er Bürgermeister von Greeneville. Ab 1835 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Tennessee; im Jahr 1841 gelang ihm der Sprung in den Senat des Staates, vom 4. März 1843 bis zum 3. März 1853 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Im Herbst 1844 war er im Präsidentschaftswahlkampf aktiv, bei dem er den demokratischen Bewerber James K. Polk unterstützte. Nach dem Wahlsieg wurde das Verhältnis zwischen Präsident Polk und Johnson belastet, da sich die Hoffnungen des letzteren auf einen Regierungsposten nicht erfüllten. Im Kongress präsentierte sich Johnson wie auch schon in früheren Jahren als Vertreter des einfachen Bürgertums. Seine starke Abneigung gegen die Oberschicht führte er auf seine ärmliche Herkunft zurück, wie er in öffentlichen Ansprachen über seine gesamte politische Laufbahn vortrug. Wie der Biograf Paul H. Bergeron festhält, profitierte Johnsons politische Karriere erheblich von seinen rhetorischen Fähigkeiten: In seinen Reden richtete er sich an die einfache Bevölkerung, deren Stimmen ihm oft zum Sieg verhalfen. Vor allem bei der weißen Unterschicht konnte er sich auf großen Rückhalt stützen. Johnson war der Auffassung, jeder Amtsträger verdanke seine demokratisch legitimierte Stellung allein der einfachen Bevölkerung. Sich selbst betrachtete Johnson dabei als Paradebeispiel, da er nicht aus einem privilegierten Umfeld stamme.
Während seiner Abgeordnetenzeit spitzen sich die politischen Differenzen zwischen den sklavenfreien Nordstaaten und den die Sklaverei befürwortenden Südstaaten immer weiter zu. Insbesondere durch die enormen territorialen Zugewinne, die sich aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846–1848) ergaben, drohte das Gleichgewicht zwischen den Landesteilen aus der Balance zu geraten. Strittig war insbesondere, wie in den neuen Gebieten mit der Sklaverei verfahren werden sollte. Johnson, in dessen Haushalt selbst Sklaven beschäftigt waren, sprach sich damals für die Sklaverei aus; das 1846 eingebrachte Wilmot Proviso, das ein komplettes Verbot der Sklaverei in den hinzugewonnenen Gebieten vorsah, fand nicht seine Zustimmung. Letztlich lehnte der Senat den kontrovers diskutierten Entwurf ab. Den vom Whig-Senator Henry Clay verfassten und von Präsident Millard Fillmore vorangetriebenen Kompromiss von 1850, der einen Ausgleich zwischen Nord und Süd vorsah, befürwortete Johnson. Auch der Aufnahme Kaliforniens als sklavenfreiem Bundesstaat stimmte er zu. Johnson votierte im Rahmen dieses Gesetzespakets lediglich gegen das Verbot des Sklavenhandels in der Hauptstadt Washington (das dennoch verabschiedet wurde).
Innerparteiliche Konflikte führten Ende 1850 dazu, dass die Demokraten für die nächste Wahl zum Repräsentantenhaus mit Landon Carter Haynes einen Gegenkandidaten zu Johnson aufstellten. Die Whigs sahen darin die Chance, Johnson abzulösen und stellten keinen eigenen Bewerber auf. Dennoch konnte Johnson die Wahl für eine fünfte (zweijährige) Wahlperiode knapp für sich entscheiden. Nach seinem überraschenden Sieg spielte er bereits mit dem Gedanken, für den US-Senat zu kandidieren. Da jedoch die Whigs die Mehrheit in der State Legislature von Tennessee errangen, erwies sich dieses Vorhaben als unmöglich (bis 1914 wurden die Bundessenatoren nicht von den Bürgern, sondern den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt). Die bundesstaatlichen Legislativen entschieden auch über den Zuschnitt der Kongresswahlbezirke; das Parlament Tennessees hatte nach der Volkszählung 1850 die Wahlkreise so gegliedert, dass das demokratische Wählerpotential in Johnsons Bezirk stark verringert wurde. 1852 erklärte er daraufhin: „I don't have a political future [deutsch: Ich habe keine politische Zukunft]“, verzichtete auf eine weitere Bewerbung und schied Anfang März 1853 aus dem Kongress aus.
Gouverneur von Tennessee (1853–1857)
Da er auf einen nicht unerheblichen Rückhalt bei demokratischen Politikern seines Staates zählen konnte, nominierte ihn seine Partei im Frühjahr 1853 für das Amt des Gouverneurs von Tennessee. Während des Wahlkampfes im folgenden Sommer fanden in mehreren County Seats Rededuelle zwischen Johnson und dem Whig-Kandidaten Gustavus Adolphus Henry statt. Bei der Gouverneurswahl im August 1853 siegte Johnson dann mit 63.413 gegen 61.163 Stimmen. Um sich auch Stimmen aus dem gegnerischen Lager zu sichern, unterstützte Johnson die Wahl des Whig-Politikers Nathaniel Green Taylor ins US-Repräsentantenhaus.
Nach seiner Vereidigung zum Gouverneur im Oktober 1853 konnte Johnson einige politische Erfolge verzeichnen, obwohl eine Reihe seiner Vorschläge (wie die Abschaffung der bundesstaatlichen Bank) nicht umgesetzt wurden. Im Gesetzgebungsprozess hatte er im Vergleich zu anderen Gouverneuren wenig Einfluss, da Tennessees Regierungschef Mitte des 19. Jahrhunderts noch über kein Vetorecht verfügte. In seiner Amtszeit favorisierte Johnson eine bessere finanzielle Ausstattung von Bildungseinrichtungen. Dieses Ziel wollte er vor allem durch Steuererhöhungen sowohl auf bundesstaatlicher als auch lokaler Ebene erreichen. Die Legislative stimmte diesem Vorhaben zu. Die nächste Gouverneurswahl 1855 gewann er knapp, was angesichts der starken Whig-Konkurrenz Aufsehen erregte. Obgleich die Whig Party auf nationaler Bühne wegen des Streits um die Sklaverei des Niedergangs begriffen war, konnte sie sich in Tennessee länger halten. Johnson erhoffte sich von seiner Wiederwahl vor allem weitere Profilierung, um für nationale Ämter mehr politisches Gewicht zu erlangen.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1856 versprach er sich, als Kompromisskandidat nominiert zu werden, nachdem der demokratische Amtsinhaber Franklin Pierce nicht mehr aufgestellt wurde. Johnson betrieb jedoch keinen aktiven Wahlkampf, obwohl er auf lokaler Ebene in Tennessee sehr populär war, und sprach sich für den Kandidaten James Buchanan aus, der dann auch gewählt wurde.
US-Senator (1857–1862)
Im Sommer 1857 trat Johnson nicht für eine dritte Amtsperiode als Gouverneur an, sondern wollte sich in den US-Senat wählen lassen. Dennoch war er aktiv in die Wahlkampagne für seine Nachfolge involviert. Nachdem die Demokraten mit Isham G. Harris nicht nur den Gouverneursposten halten konnten, sondern auch die Mehrheit in der State Legislature errangen, wurde der scheidende Gouverneur im Oktober 1857 zum Senator gewählt. Kurz darauf trat er dieses Amt an. Seine Familie blieb in Tennessee wohnhaft, während der neue Senator sich meist in der Hauptstadt aufhielt.
Als Senator setzte sich Johnson, wie schon als Abgeordneter im Repräsentantenhaus, für ein Besiedlungsgesetz ähnlich dem später von Abraham Lincoln unterzeichneten Homestead Act ein. Mehrere Entwürfe des Senators wurden nicht angenommen oder von Präsident Buchanan mit einem Veto blockiert. Ende der 1850er-Jahre trat er weiterhin als Befürworter der Sklaverei in den Südstaaten auf und erklärte, der in der Unabhängigkeitserklärung enthaltene Satz „Alle Menschen sind gleich geschaffen“, beziehe sich nicht auf Afroamerikaner, sondern „Mr. Jefferson meinte die weiße Rasse“. Mit dieser Auffassung unterschied er sich aber nicht wesentlich von vielen Zeitgenossen.
Vor der Präsidentschaftswahl 1860 hoffte Johnson erneut auf seine Chance, als Kompromisskandidat für die Demokraten antreten zu können. Obwohl der demokratische Nominierungsparteitag im Sommer des Jahres schnell festgefahren war, da kein Bewerber die nötige Zweidrittelmehrheit auf sich vereinen konnte, wurde Johnson von führenden Politikern seiner Partei nicht als Kandidat erwogen. Da sich in den zurückliegenden Jahren die Spannungen zwischen Nord und Süd weiter zugespitzt hatten, konnten sich die Demokraten nicht auf einen Präsidentschaftsanwärter für die Nachfolge des nicht mehr kandidierenden James Buchanan einigen. Die Partei stellte schließlich zwei Kandidaten auf; Senator Stephen A. Douglas für die Nord-Demokraten und Vizepräsident John C. Breckinridge für die Süd-Demokraten. Johnson unterstützte im Wahlkampf letzteren, der für die Interessen des Südens eintrat. Als Wahlsieger ging jedoch Abraham Lincoln hervor, der für die neu gegründete Republikanische Partei antrat und als (zu dieser Zeit noch) gemäßigter Gegner der Sklaverei auftrat. Lincolns Wahl ins Weiße Haus wurde von vielen Südstaaten als grundlegende Bedrohung ihrer Interessen angesehen; noch vor der Vereidigung des neuen Staatsoberhauptes erklärten im Winter 1860/61 mehrere Staaten ihren Austritt aus den USA. Obwohl zahlreiche Senatoren und Abgeordnete aus den Südstaaten für die Abspaltung eintraten, sprach sich Johnson vehement für die Einheit des Landes aus. Als sämtliche Senatoren aus den Südstaaten ihre Mandatsniederlegung für den Fall einer Sezession ihres jeweiligen Staates ankündigten, appellierte Johnson an seine Kollegen (vor allem gerichtet an den späteren Präsidenten der Konföderierten Staaten Jefferson Davis), sich nicht aus dem Kongress zurückzuziehen. Johnson verwies darauf, dass dadurch die demokratische Mehrheit verlorengehe, was Präsident Lincoln von einer Zusammenarbeit mit den Demokraten entbinde. Da sich viele Demokraten als Vertreter der Südstaaten sahen, ja dort die führende politische Kraft waren, würden dann die Interessen der Südstaaten im Kongress nicht mehr vertreten. Johnsons Appelle blieben jedoch ungehört. Obwohl sich auch Tennessee den Konföderierten anschloss, blieb Johnson im Senat und trat gegen die Sezession auf, was Politiker der Nordstaaten sehr begrüßten. So erklärte Johnson im Senat:
Militärgouverneur (1862–1865)
Im Sezessionskrieg, der im April 1861 begann, brachten die Nordstaaten Teile von Tennessee unter ihre Kontrolle, woraufhin Johnson von Präsident Lincoln im März 1862 zum Militärgouverneur seines Heimatstaates ernannt wurde. Der Senat bestätigte die Nominierung binnen kurzer Zeit mit großer Mehrheit. Durch seine Fürsprache für die Einheit des Landes hatte er auch in den Reihen der die Sezession entschieden ablehnenden Republikaner Rückhalt. Als Konsequenz konfiszierte die Regierung der Konföderation weite Teile von Johnsons Eigentum wie sein Haus und seine Sklaven. Während seiner Zeit als Militärgouverneur ging er entschieden gegen Sympathisanten der Konföderation vor; besonders in den östlichen Gebieten des Staates, die weitestgehend noch bis 1863 von Konföderierten kontrolliert wurden.
Angesichts des verlustreich ausgetragenen Krieges änderte Johnson seine ursprünglich zustimmende Haltung zur Sklaverei. Johnson erklärte: „Wenn die Institution der Sklaverei zu einem Sturz der Regierung führt, dann sollte die Regierung das Recht haben, sie zu zerstören“. Die zuvor von Lincoln erlassene Emanzipations-Proklamation verstärke die Debatte um die Sklaverei, deren Abschaffung Lincoln nun neben der Bewahrung der Einheit mehr und mehr zum eigentlichen Ziel des Konflikts machte. Als Militärgouverneur trieb Johnson, zunächst widerwillig, die Rekrutierung afroamerikanischer Kämpfer voran. Diese Unterstützung an Truppen war für die Nordstaaten sehr wichtig. Es zeichnete sich schon zu Beginn des Jahres 1864, trotz einiger militärischer Rückschläge für die Union in der ersten Jahreshälfte, ein Sieg des industrialisierten und logistisch deutlicher besser aufgestellten Nordens ab.
Wahl von 1864 und Vizepräsidentschaft (1865)
Im Wahlkampf 1864 lehnten es die Republikaner unter Präsident Lincoln ab, Verhandlungen mit der Konföderation über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Nach Ansicht Lincolns und vieler seiner Parteifreunde würden solche Verhandlungen eine faktische Anerkennung der Sezession bedeuten, wodurch der seit drei Jahren andauernde Krieg umsonst geführt worden wäre. Sie plädierten daher für eine Fortsetzung der Kämpfe bis zum endgültigen Sieg des Nordens. Die meisten Demokraten sprachen sich für Friedensverhandlungen aus, einige jedoch schlossen sich wie Andrew Johnson Lincolns Positionen an (War Democrats). Daher entschied man sich für die anstehende Wahl gemeinsam als National Union Party („Partei der nationalen Einheit“) anzutreten.
Im Juni wurde in Baltimore der Parteikonvent der National Union Party abgehalten, in deren Verlauf Abraham Lincoln für eine zweite Amtszeit zur Wiederwahl aufgestellt wurde. Aus wahltaktischen Gründen entschied man sich für das Amt des Vizepräsidenten einen Demokraten aus dem Süden aufstellen zu lassen. Damit sollte auch die Absicht deutlich gemacht werden, die abtrünnigen Staaten unter milden Bedingungen wieder in die Union aufzunehmen. Da Lincolns bisheriger Stellvertreter Hannibal Hamlin ohnehin keine wichtige Rolle in der Regierung einnahm, stimmte der Präsident einer Neubesetzung des Postens zu. Er beauftragte den General Daniel E. Sickles mit der Suche nach einem potentiellen Kandidaten. Johnson, der von Beginn an zum engeren Kreis der Bewerber gehörte, machte in Öffentlichkeit deutlich, sich für den Posten zu interessieren. Im Hintergrund sprachen bereits Vertraute des Militärgouverneurs mit dem Lincoln-Team, um Johnsons Kandidatur zu sichern. Von dem neuen Amt erhoffte er sich sowohl Repräsentation der Südstaaten-Demokraten in der Regierung als auch einen Schub für seine politische Karriere. Im Sommer nominierte die National Union Party schließlich Lincoln und Johnson; Vizepräsident Hamlins Versuch, erneut aufgestellt zu werden, scheiterte auf dem Parteikonvent.
Im Wahlkampf absolvierte Johnson sogar mehrere öffentliche Auftritte, wo er für die Fortführung des Krieges bis zur Wiedervereinigung des Landes warb. Die Präsidentschaftswahl im November 1864 fiel klar zu Lincolns Gunsten aus: Er besiegte den Kandidaten der Demokraten, George B. McClellan, mit 55 gegen 45 Prozent der Wählerstimmen. Da die demokratisch dominierten Staaten des Südens größtenteils der Konföderation angehörten, setzte sich das Gespann aus Lincoln und Johnson im Wahlmännergremium mit 212 gegen 21 überlegen durch. Besonderen Anteil an diesem deutlichen Sieg hatte der Kriegsverlauf in den Sommer- und Herbstmonaten 1864, als sich das Blatt entscheidend zu Gunsten des Nordens wendete (wie beispielsweise die Einnahme Atlantas durch die Unionsarmee).
Nach der Wahl ging der Krieg einem raschen Ende entgegen. Noch vor Johnsons Vereidigung zum Vizepräsidenten konnte Lincoln den 13. Verfassungszusatz durch den Kongress bringen, der die Sklaverei auf dem gesamten US-Staatsgebiet für unzulässig erklärte. In Tennessee trat Anfang 1865 eine neue bundesstaatliche Verfassung in Kraft, mit der die Sklaverei verboten wurde. Deren Ausfertigung war eine von Johnsons letzten Amtshandlungen als Militärgouverneur. Am 4. März 1865 wurde Lincoln für seine zweite Amtszeit vereidigt, Andrew Johnson legte vor dem Senatsplenum den Eid zum neuen Vizepräsidenten ab. Bei seiner Amtseinführung sorgte der neue Vizepräsident für öffentliches Aufsehen, da er betrunken zu den Feierlichkeiten erschienen war. Lincoln wies Kritik an Johnsons Verhalten daraufhin zurück und betonte, Johnson sei kein Trunkenbold. Als Vizepräsident spielte Johnson keine wichtige Rolle innerhalb der Regierung; kraft seines Amtes übte er den Vorsitz im Senat aus, wo er mehrere Sitzungen ohne signifikante Beschlüsse leitete, da zu Beginn der Wahlperiode eher Organisatorisches auf der Tagesordnung stand.
Präsidentschaft (1865–1869)
Amtsübernahme nach Lincolns Tod
Am 14. April 1865, dem Karfreitag, traf Johnson den Präsidenten erstmals seit der Vereidigung wieder persönlich. Wenige Tage zuvor hatte die Konföderation kapituliert. Gegenüber Lincoln sprach er sich für eine harte Bestrafung der Anführer der Südstaaten aus. „Treason is a crime and must be made odious“ („Verrat ist ein Verbrechen und muss verhasst gemacht werden“), so der Vizepräsident. Lincoln hatte seinen Stellvertreter an diesem Tag zu einer abendlichen Theatervorstellung eingeladen, was der Vizepräsident jedoch nicht annahm. Während dieser Vorstellung im Ford’s Theater wurde dem Präsidenten vom fanatischen Südstaaten-Sympathisanten John Wilkes Booth in den Kopf geschossen. Am nächsten Morgen wurde Lincoln für tot erklärt. Wie von der Verfassung zwar nicht vorgesehen (das geschah erst mit dem 25. Amendment von 1967), aber seit 1841 durch den Präzedenzfall beim Tod Präsident Harrisons sanktioniert, ging damit das Präsidentenamt für den Rest der Amtszeit auf den Vizepräsidenten über, und Johnson wurde am Vormittag des 15. April 1865 von Chief Justice Salmon P. Chase zum 17. Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt. Johnson stand so unter Schock, dass er sich vor seinem ersten öffentlichen Auftritt als Präsident stark betrank. Noch am selben Tag bat er die bisherigen Minister Lincolns, weiterhin in seinem Kabinett zu bleiben. Außenminister William H. Seward und einige andere Minister blieben bis zum Ende von Johnsons Amtszeit im März 1869 auf ihren Posten. Johnson war nach John Tyler 1841 und Millard Fillmore 1850 der dritte Vizepräsident, der durch den Tod des Präsidenten dessen Nachfolge für den Rest der Amtszeit antreten musste. Außerdem war er der erste von insgesamt vier Präsidenten, die durch ein tödliches Attentat auf ihren Vorgänger ins Amt kamen.
Booth hatte geplant, nicht nur Lincoln, sondern mit Hilfe einiger Komplizen auch Johnson, Außenminister William H. Seward und General Ulysses S. Grant zu töten. Während Seward den Angriff schwer verletzt überlebte, entgingen Grant und Johnson den auf sie geplanten Anschlägen. Der auf Johnson angesetzte Attentäter, der aus Thüringen stammende George Atzerodt, war vor der Tat zurückgeschreckt, wurde im Juli 1865 aber dennoch als Mitverschwörer zum Tode verurteilt und gehenkt. Johnson begnadigte Anfang 1869 lediglich den Arzt Samuel Mudd, der Booth auf dessen Flucht medizinisch versorgt und dafür eine Haftstrafe erhalten hatte.
Beginn der Reconstruction
Hauptaufgabe von Johnsons Präsidentschaft war die sogenannte Reconstruction, also die Wiederaufnahme der ehemaligen Konföderation in die Vereinigten Staaten. Die politischen Auseinandersetzungen darüber prägten seine Amtszeit. Dabei ging es um die Bedingungen, unter denen die Südstaaten wieder vollwertig in die USA integriert, und die Rechte, die den befreiten Sklaven zuteilwerden sollten.
Da der Kongress nach Vereidigung des Präsidenten erst im Dezember 1865 wieder zusammentrat (damals tagte die Legislative deutlich seltener als heute), bot sich Johnson in den kommenden Monaten die Chance, viele seiner Vorstellungen zur Reconstruction mittels präsidialer Verfügungen umzusetzen. Zunächst verfügte er, dass die ehemaligen Führer der Konföderation und reiche Südstaatler den Eid auf die Treue zur Union nur nach einem vom Präsidenten stattgegebenen Gnadengesuch ablegen durften. Bis Sommer 1865 begnadigte Johnson dann mehr als 13.000 wohlhabende Südstaatler. Wie die Historikerin Vera Nünning schreibt, habe Johnson es genossen, dass die südstaatliche Oberschicht, von der er sich vor allem in früheren Jahren unterdrückt gefühlt habe, nun auf seine Gnade angewiesen sei.
Zu ersten Spannungen zwischen dem Präsidenten und den Radikalen Republikanern kam es, als er während der ersten Monaten seiner Amtszeit in den besetzten Südstaaten eine Reihe von Militärgouverneuren ernannte, die der ehemaligen Südstaaten-Elite entstammten und zum Teil enge Verbindungen zu den Anführern der Rebellion hatten. Darüber hinaus erteilte er den südlichen Bundesstaaten keine Auflagen für die Ausarbeitung neuer (republikanischer) Staatsverfassungen. Selbst die Ratifikation des Sklavereiverbots machte er nur in Hintergrundgesprächen zur Bedingung. Die Radikalen Republikaner, die 1865 noch in der Unterzahl im Kongress waren, waren neben den konservativen Republikanern und den in der Minderheit befindlichen Demokraten eine Gruppe von Senatoren und Abgeordneten, die für eine harte Bestrafung der ehemaligen Konföderierten eintraten. Auch sprachen sie sich für weitgehende Bürgerrechte für die einstigen Sklaven aus; männliche Schwarze sollten beispielsweise auch das Wahlrecht zugesprochen bekommen. Ferner traten sie dafür ein, die Staaten der ehemaligen Konföderation als besetzte Gebiete zu behandeln. Johnson hingegen wollte die Südstaaten schnellstmöglich und ohne weitgehende Auflagen wieder vollwertig in die Union aufnehmen. Durch milde Aufnahmebedingungen mit Ausnahme des Sklavereiverbots bezweckte er, die alten gesellschaftlichen Strukturen wiederherzustellen und damit auch die Stellung der Demokratischen Partei im Süden zu sichern (anders als heute, da Afroamerikaner überwiegend demokratisch wählen, stimmten damals Schwarze für die Republikaner als die Partei, die die Sklaverei abgeschafft hatte). Darüber hinaus vertrat Johnson, wie er in seiner Jahresbotschaft an den Kongress im Dezember 1865 klarstellte, die Auffassung, die Südstaaten seien niemals legal aus den USA ausgetreten. Durch die Ernennung demokratischer Militärgouverneure aus den Südstaaten-Eliten begrenzte der Präsident zudem das Wahlrecht auf diejenigen, die bereits vor dem Bürgerkrieg ein Stimmrecht hatten. Durch die Einführung von Black Codes, die den früheren Slave Codes sehr ähnlich waren, blieb vielen Afroamerikanern die Teilnahme an Wahlen und damit politischer Einfluss verwehrt. Vor allem die Radikalen Republikaner kritisierten diese Politik scharf, während sich Johnson durch Milde gegenüber dem Süden in der Tradition Lincolns sah. Tatsächlich hatten die Radikalen Republikaner auch Lincolns Reconstruction-Pläne als zu nachgiebig angesehen.
Zu weiteren Beeinträchtigungen für die Afroamerikaner kam es durch Johnsons Obstruktionspolitik gegenüber dem Freedmen’s Bureau. Dieses stand unter Aufsicht des Kriegsministeriums und sollte den ehemaligen Sklaven durch konfisziertes Land aus dem Besitz der Pflanzer eine Existenzgrundlage außerhalb der Plantagen verschaffen. Der Präsident bestimmte jedoch, dass dieses Land nicht an Schwarze verpachtet werden durfte, sondern den einstigen Sklavenhaltern zurückgegeben werden musste. Durch die faktischen Einschränkungen im Wahlrecht und die provisorischen, von Johnson eingesetzten Regierungen erfuhren Schwarze weiterhin erhebliche Nachteile. Da vielen Schwarzen somit die Gründung einer eigenen Existenz verwehrt war, arbeiteten sie weiterhin oft unter ähnlichen Bedingungen wie vor dem Krieg auf den Baumwollplantagen.
Zuspitzung des Reconstruction-Konflikts
Viele republikanische Kongressmitglieder sprachen sich nach Kriegsende zugunsten von weitreichenden Bürgerrechten für die befreiten Sklaven aus. Johnson, der wie viele seiner Zeitgenossen eine rassistische Weltanschauung hatte, betrachtete die Schwarzen nicht nur als der weißen Rasse intellektuell und moralisch unterlegen, auch bezweifelte er, dass ein friedfertiges Zusammenleben überhaupt möglich sei. Lediglich ihre Physis sei stärker, um harte und niedere Arbeiten ausführen zu können. Johnson sagte zu Thomas Clement Fletcher, dem Gouverneur von Missouri: „Dies ist ein Land für Weiße, und bei Gott, so lange ich Präsident bin, soll das auch eine Regierung für Weiße sein“. Ein weiterer Konflikt zwischen Kongressmehrheit und Präsident ergab sich aus der Frage, wer überhaupt für die Wahrung der Bürgerrechte und des Wahlrechts genau zuständig sei. Während Johnson im Wahlrecht die einzelnen Bundesstaaten als zuständig ansah, waren die Republikaner der Auffassung, die Bundesregierung habe Kompetenzen das Wahlrecht langfristig zu schützen. Auf Kritik erwiderte Johnson, es sei eine Machtanmaßung des Weißen Hauses, den Afroamerikanern in den Südstaaten das Wahlrecht zuzusprechen. Dieses falle allein in die Verantwortung der jeweiligen bundesstaatlichen Regierungen. Dies wird auch daran deutlich, dass er sich im Sommer und Herbst 1866 nach tödlichen Übergriffen auf Schwarze und auch Republikaner im Süden weigerte, mit der Autorität der Nationalregierung einzugreifen; beispielsweise durch gesetzliche Maßnahmen oder der Entsendung von Truppen zum Schutz der Minderheit. Radikale wie gemäßigte Republikaner verurteilten Johnsons Politik diesbezüglich scharf. Der Präsident hingegen gab die Schuld an den sich häufenden Ausschreitungen den Republikanern, die durch ihren Kurs die Afroamerikaner gezielt aufgestachelt hätten.
Da Johnson sich aber insofern kompromissbereit äußerte, als dass er zusagte, den ehemaligen Sklaven „das Recht auf Freiheit und auf eine entlohnte Arbeit“ zu sichern, arbeiteten die Republikaner im Kongress unter Leitung von Senator Lyman Trumbull einen Kompromiss aus. Ergebnis war der Civil Rights Act von 1866, ein Gesetz zum Schutz jener Rechte von Afroamerikanern, deren Billigung Johnson zuvor angedeutet hatte. Die Einschätzung der Senatoren um Trumbull, der Präsident werde der Vorlage zustimmen, erwies sich als falsch; er legte am 27. März 1866 sein Veto ein. Für Johnson stand die Forderung der Radikalen Republikaner, den Afroamerikanern gesetzlich das Wahlrecht voll einzuräumen, auf gleicher Stufe wie ihnen durch den Civil Rights Act natürliche Rechte zuzugestehen. Wie die Historikerin Vera Nünning ausführt, habe Johnson nach dem Civil Rights Act den Kongress als fast ausschließlich aus Radikalen bestehend gesehen, die sich zum Ziel gesetzt hätten, seine bisherige Reconstruction-Politik durch ein weitgehendes Stimmrecht für Afroamerikaner zunichtezumachen. Damit habe der Präsident jedoch die Kompromissbereitschaft der Senatoren und Abgeordneten vor dem Gesetz fatal verkannt. Auch der Historiker Paul H. Bergeron schreibt, Johnson habe über seine gesamte Amtszeit den Kongress durch seine persönliche Kompromisslosigkeit gegen sich aufgebracht. Denn der Kongress, so auch die Johnson-Biografin Annette Gordon-Reed, sei anfangs durchaus zu Zugeständnissen gegenüber dem Weißen Haus bereit gewesen, um so mit dem Präsidenten zusammenarbeiten zu können. Durch sein Veto brachte Johnson nicht nur die Radikalen gegen sich auf, auch gemäßigte Republikaner betrachteten sein Verhalten, das der Bundesregierung faktisch jedes Einschreiten zum Schutz der schwarzen Minderheit versagte, als Affront. Johnsons Agieren hatte weitreichende politische Folgen, da Radikale und gemäßigte Republikaner fortan weitaus enger kooperierten. Eine Koalition aus beiden Blöcken konnte wenige Wochen später das präsidiale Veto gegen den Civil Rights Act mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit überstimmen, womit die Vorlage auch ohne die Zustimmung des Präsidenten in Kraft trat.
Eine weitere Reaktion auf Johnsons Kurs war die Durchsetzung des 14. Verfassungszusatzes, der Schwarze zu Bürgern der Vereinigten Staaten erklärte, was eine formale Gleichbehandlung vor dem Gesetz verfassungsrechtlich garantierte (auch wenn die praktische Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht war). Johnson sprach sich vehement gegen den Zusatz aus, den er als Racheakt des Kongresses gegen den Süden betrachtete. Obwohl der Präsident keine Mittel hat, die Verabschiedung eines Verfassungszusatzes im Kongress zu verhindern, versuchte er letztlich vergeblich, die Bundesstaaten, die den Zusatz noch ratifizieren mussten, zu einer Ablehnung zu bewegen.
Kongresswahlen 1866 und Erstarken der Radikalen Republikaner ab 1867
Im Spätherbst 1866 standen zur Mitte der präsidialen Amtszeit Kongresswahlen an. Und obwohl der Präsident nicht zur Abstimmung stand, betrachteten damalige politische Beobachter diese Wahlen faktisch als Referendum über Johnsons bisherige Regierungsarbeit. Johnson hatte durch sein kompromissloses Vorgehen in seiner Reconstruction-Politik die Unterstützung der Republikaner im Kongress weitestgehend verloren. Daher entschied er sich, selbst in den Wahlkampf einzugreifen, um die Bevölkerung von seinem Kurs zu überzeugen. Er hoffte darauf, ein neuer Kongress mit mehr Demokraten werde sein Vorgehen künftig mittragen. Ab Ende August 1866 bereiste er persönlich das ganze Land, was damals als Verstoß gegen die von einem Präsidenten einzuhaltenden Regeln galt. Er „erfand“ dabei den Wahlkampfsonderzug, eine Einrichtung, die in US-Wahlkämpfen für weit über 100 Jahre prägend sein sollte. In Dutzenden Reden versuchte er, gegen die Radikalen Republikaner Stimmung zu machen. So erklärte er bei einer Rede am 3. September 1866 in Cleveland:
Johnson hoffte bei diesem sogenannten Swing around the circle trip die Bevölkerung mit seinen rhetorischen Fähigkeiten zu überzeugen, wie er es in früheren Jahren vermocht hatte. Doch dieses Mal stieß er mit seinen zum Teil äußerst provokanten Auftritten mehrheitlich auf Ablehnung. Auch sein Versuch, den sehr populären Bürgerkriegsgeneral Ulysses S. Grant einzubinden, schlug fehl, da Grant – privat wenig überzeugt von Johnson – den Kurs des Weißen Hauses allenfalls halbherzig zu unterstützen schien. Die Radikalen Republikaner ihrerseits verurteilten nicht nur die bisherige Politik des Präsidenten, sondern bezeichneten seine damals für ein Staatsoberhaupt unüblichen Auftritte als unwürdig.
Am Ende erwiesen sich die Kongresswahlen 1866 als Katastrophe für Johnson. Die Radikalen Republikaner konnten massive Zugewinne verbuchen, sie erreichten in beiden legislativen Kammern eine Zweidrittelmehrheit. Ein Journalist aus den Nordstaaten schrieb später, Johnson habe durch seine Wahlkampfauftritte etwa eine Million Stimmen an die Radikalen in den nördlichen Staaten verloren. Johnsons heftige Attacken auf die Republikaner bestärkten diese darin, auf Konfrontationskurs mit dem Weißen Haus zu gehen, indem sie künftig ihre politischen Ziele noch energischer vorantrieben.
Noch bevor sich der neu gewählte Kongress im März 1867 konstituierte, hatte sich der Konflikt zwischen Parlament und Präsident weiter zugespitzt: Im Januar 1867 erließ noch der bisherige Kongress ein Gesetz zum Schutz des Wahlrechts für Afroamerikaner in Washington, D.C. Der Präsident machte umgehend von seinem Vetorecht Gebrauch. In seiner Vetobotschaft führte er aus, ein Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten sei allein schon deshalb verfassungswidrig, da noch gar nicht alle Bundesstaaten aus dem Süden in die Union aufgenommen worden seien. Noch am selben Tag setzte sich der Kongress mit den notwendigen Mehrheiten über das Veto hinweg. In den folgenden Monaten brachten die Parlamentarier dann die Reconstruction Acts auf den Weg, welche die bisherige Politik den Weißen Hauses rückgängig machten, wobei sie Johnsons Vetos erneut überstimmten. Mit dem Gesetzesbündel wurden die ehemaligen Konföderierten Staaten in fünf Bezirke untergliedert, die Militärgouverneure durch Generäle aus den Nordstaaten ersetzt. Diesen war es notfalls möglich, das Kriegsrecht auszurufen, um den 14. Verfassungszusatz durchzusetzen. Außerdem wurde festgelegt, dass die Südstaaten nur nach dessen Ratifizierung vollwertig in die Union aufgenommen werden konnten. Dies erfolgte unter diesen Bedingungen zwischen 1867 und 1870. Johnson wehrte sich über den Sommer 1867 hinweg gegen diese Maßnahmen, indem er den Generälen im Rahmen seiner exekutiven Vollmachten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Befehle erteilte, um die Ausführung ihm missfallender Gesetze zu verhindern. Nach und nach ersetzte er die Generäle durch ihm genehmere Persönlichkeiten. Bis Herbst 1867 glaubte er, sein Ziel weitestgehend erreicht zu haben.
Über die Reconstruction Acts hinaus verabschiedete der Kongress im Frühjahr 1867, wieder gegen ein präsidiales Veto, den Tenure of Office Act. Dieser war eine Reaktion auf Johnsons Andeutung, er werde Minister entlassen, die in der Reconstruction-Politik nicht seiner Meinung seien. Das neue Gesetz schrieb die Zustimmung des Senats bei der Entlassung von Kabinettsmitgliedern vor. Bisher hatte der Präsident nur zur Berufung, nicht aber zur Entlassung eines Ministers die Zustimmung der Kongresskammer benötigt. Damit sollte aus Sicht der Republikaner insbesondere die Entlassung von Ministern verhindert werden, die noch Lincoln berufen hatte. Johnsons Auffassung, der Tenure of Office Act sei verfassungswidrig, wurde 1926 durch den Obersten Gerichtshof bestätigt, der ein ähnliches Gesetz aufhob (der Tenure of Office Act selbst wurde bereits 1887 durch den Kongress wieder zurückgenommen, nachdem alle folgenden Präsidenten dieses Gesetz ebenfalls kritisiert hatten). Ein vermeintlicher Verstoß Johnsons gegen dieses Gesetz wurde im folgenden Jahr als Hauptgrund für seine angestrebte Amtsenthebung angeführt.
Amtsenthebungsverfahren 1868
Bereits über den Sommer und Herbst 1867 gelangten einige Republikaner im Kongress zu der Auffassung, die Lösung der anhaltenden Konflikte mit dem Präsidenten liege in der Amtsenthebung Johnsons. Viele Radikale Republikaner äußerten, „die Reconstruction könne am Widerstand eines starrsinnigen Präsidenten scheitern“. Daher begann man, in den entsprechenden Parlamentsausschüssen nach Beweisen für ein rechtswidriges Handeln Johnsons zu suchen, die eine Absetzung rechtfertigen würden (anders als in parlamentarischen Demokratien kann im Präsidialsystem der USA der Regierungschef nicht aus politischen Gründen, sondern nur bei illegalen Handlungen des Amtes enthoben werden). Als Johnson gegen den Willen der Abgeordneten zwei weitere, ihm unliebsame Generäle im Süden entließ, verhärteten sich die Fronten zwischen ihm und der Kongressmehrheit weiter.
Im Spätsommer 1867, während der Senat nicht tagte, versuchte Johnson, aufgrund politischer Differenzen Kriegsminister Edwin M. Stanton, der schon unter Lincoln gedient hatte, aus dem Amt zu entlassen. Als der sich weigerte, zurückzutreten, setzte Johnson General Grant als geschäftsführenden Minister ein. Grant folgte der Aufforderung des Präsidenten, äußerte jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des präsidialen Handelns. Das war der Wendepunkt: Nachdem der Kongress im November 1867 wieder zusammengetreten war, brachte der Justizausschuss eine Resolution ins Repräsentantenhaus ein, dem Senat die Amtsenthebung des Präsidenten vorzuschlagen. Dieser erste Entwurf wurde jedoch am 7. Dezember 1867 mit klarer Mehrheit abgelehnt (57 gegen 108). Vorausgegangen waren lange Debatten im Kongress, ob Johnson tatsächlich illegale Aktivitäten oder „schwerste Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten“ vorzuwerfen seien, wie es die Verfassung als Voraussetzung eines Impeachments vorschrieb.
Da Kriegsminister Stanton formal immer noch im Amt war, ersuchte Johnson im Januar 1868 den Senat um die Entlassung des Ministers. Außerdem unterrichtete er die Senatoren, er habe Grant als Interims-Minister eingesetzt. Der Senat wies den Antrag des Präsidenten zurück und erklärte, Stanton und nicht Grant sei mit der Leitung des Kriegsministeriums betraut. Obwohl Johnson sich weigerte, dies anzuerkennen, zog sich Grant mit Verweis auf den Senatsbeschluss zurück. Der im Volk beliebte General wurde ohnehin bereits als republikanischer Präsidentschaftskandidat für die Wahl Ende des Jahres gehandelt. Nach Grants Rückzug setzte sich Johnson dennoch über den Senat hinweg, indem er Stanton für entlassen erklärte und den Bürgerkriegsgeneral Lorenzo Thomas zum neuen Kriegsminister ernannte. Stanton blieb jedoch faktisch auf seinem Posten, da das Vorgehen des Präsidenten ohne Billigung des Senats formal unwirksam war.
Mit seinem Vorgehen erreichte die Konfrontation zwischen Johnson und dem Kongress einen neuen Höhepunkt; am 24. Februar 1868 stimmte das Repräsentantenhaus mit 128 gegen 47 für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten. Es war das erste Impeachment gegen einen amerikanischen Präsidenten überhaupt (derartige Pläne hatte es schon gegen John Tyler 1842 gegeben, allerdings waren sie aufgrund ihrer Substanzlosigkeit bereits in den Ausschüssen verworfen worden). Medial fand das Verfahren sehr hohe Resonanz. Hauptanklagepunkt war die Verletzung des Tenure of Office Acts: Johnson habe sich mit Stantons Entlassung und der Berufung von Thomas ohne Senatsbilligung rechtswidrig verhalten. Nach Verabschiedung der Resolution im Repräsentantenhaus begann der Senat mit den Beratungen. Ihm kommt in dem Verfahren die Rolle eines Gerichts zu, das mit Zweidrittelmehrheit den Präsidenten absetzen kann. Während der rund dreimonatigen Beratungen äußerte sich Johnson auf Rat seiner Berater öffentlich weder zu den Anschuldigungen noch zum Impeachment selbst. Hinter den Kulissen jedoch sprach er mit gemäßigten Republikanern und sicherte diverse Zugeständnisse bei seiner künftigen Amtsführung zu, sollte er der Absetzung entgehen. So erklärte er gegenüber Senator James W. Grimes, er werde künftig die Reconstruction-Politik des Kongresses nicht mehr aktiv behindern. Als am 16. Mai 1868 über den weitestgehenden Antrag, Punkt 11, abgestimmt wurde, votierten 35 Senatoren für schuldig, 19 für nicht schuldig. Eine erneute Abstimmung am 26. Mai über zwei weitere Anklagepunkte brachte das gleiche Ergebnis. Damit wurde die zur Absetzung notwendige Zweidrittelmehrheit mit einer Stimme verfehlt, sieben Republikaner hatten sich gegen die Parteilinie gestellt.
Neben den Zugeständnissen, die Johnson machte, erklärt der Historiker David O. Steward Johnsons letztendlichen Freispruch mit dem noch geringeren Vertrauen in seinen potentiellen Nachfolger. Da durch Johnsons Aufrücken ins höchste Staatsamt nach Lincolns Ableben das Amt des Vizepräsidenten für den Rest der Amtszeit unbesetzt blieb (die gesetzliche Regelung zur nachträglichen Ernennung eines Vizepräsidenten wurde erst 1967 mit dem 25. Verfassungszusatz geschaffen), hätte gemäß der damals gültigen Fassung des Presidential Succession Act der Präsident pro tempore des Senats die Amtsgeschäfte übernehmen müssen. 1868 war das Benjamin Wade, ein Radikaler Republikaner, dem auch von gemäßigten Republikanern ein allzu harter Wille zur Bestrafung des Südens bescheinigt wurde. Wade wurden auch Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt, und als kommissarischer Präsident hätte er bei der Wahl im November 1868 eine deutlich bessere Ausgangsposition gehabt. Ein Zeitungsartikel aus dieser Zeit formulierte: „Andrew Johnson ist unschuldig, weil Ben Wade schuldig ist, sein Nachfolger zu sein“.
Historiker erklären das Zögern einiger Senatoren, für eine Amtsenthebung Johnsons zu votieren, auch mit der signifikanten verfassungsrechtlichen Bedeutung, da im Falle einer Absetzung ein Präzedenzfall geschaffen worden wäre. Aus dem Freispruch wurden folgend überaus restriktive Rechtsmaßstäbe abgeleitet, womit das Impeachment künftig als rein politische Waffe gegen den Präsidenten ausfiel. Das nächste Amtsenthebungsverfahren wurde erst mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 1974 gegen Richard Nixon aufgrund der Watergate-Affäre, eingeleitet. Sowohl beim Watergate-Skandal als auch der gescheiterten Amtsenthebung von Bill Clinton 1999 wurden medial Parallelen zu Johnson 1868 gezogen.
Außenpolitik
Johnson behielt nach seinem Amtsantritt Lincolns Außenminister William H. Seward bis zum Ende seiner Amtszeit 1869 bei. Beide Politiker kamen überein, dass es keine Neuausrichtung der Außenpolitik geben werde. Damals spielten aufgrund der starken Fokussierung auf die Reconstruction auswärtige Angelegenheiten nur eine untergeordnete Rolle. Zur Zeit von Johnsons Amtsübernahme hatte Frankreich bereits in Mexiko interveniert, mit dem Ziel, den Konservativen in Mexiko nach dem bereits verlorenen Bürgerkrieg nachträglich zur Macht zu verhelfen und eine von Frankreich abhängige Monarchie zu installieren. Die US-Regierung verurteilte dieses Vorgehen entschieden und forderte Frankreich zum Abzug seiner Truppen auf. Die Präsenz der europäischen Macht in einem Nachbarland der USA wurde gemäß der Monroe-Doktrin als unzulässige Einmischung in die amerikanische Hemisphäre angesehen. Johnson konnte sich zunächst eine harte, sogar eine gewaltsame Reaktion auf das französische Vorgehen vorstellen, doch Seward trat mehr für Diplomatie hinter den Kulissen ein. Damit konnte er auch den Präsidenten überzeugen, der ihm bei den Gesprächen freie Hand ließ. Sewards Bemühungen zeigten insofern Wirkung, als sich die französische Regierung zum schrittweisen Abzug ihrer Soldaten bereit erklärte, was bis November 1867 vollzogen wurde.
Wichtigstes außenpolitisches Ereignis von Johnsons Präsidentschaft war der Kauf Alaskas von Russland zu einem Preis von 7,2 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft Millionen Dollar). Dieses Vorhaben trieb Seward sehr aktiv voran, wobei ihm der Präsident große Freiheit einräumte. Neben dem amerikanischen Expansionsstreben nach der Ideologie des Manifest Destiny begründete der Außenminister den Ankauf auch mit einem Dienst an Russland. Während des Bürgerkrieges war Russland, anders als das Vereinigte Königreich, als Verbündeter der Nordstaaten aufgetreten, befand sich jedoch 1867 in akuter Geldnot. Damit war der Verkauf des rund 1,7 Millionen Quadratkilometer umfassenden Territoriums eine willkommene Einnahmequelle für das Zarenreich. Der Senat der Vereinigten Staaten ratifizierte den Vertrag am 9. April 1867. Jedoch wurde die Bewilligung der zum Kauf Alaskas benötigten Geldmenge aufgrund des Widerstandes innerhalb des Repräsentantenhauses um über ein Jahr verzögert.
Indianerpolitik
Johnson verfolgte Fragen der Indianerpolitik recht genau und griff mehrfach an wichtigen Stellen ein. Sein Innenminister James Harlan, zunächst für Indianerangelegenheiten von erheblicher Bedeutung, strebte an, die Einrichtung eines entsprechenden Territoriums unter Bundesaufsicht durchzusetzen, indem er das Indianerterritorium mit der Harlan Bill (Senate Bill No. 459) dem Eisenbahnbau und der wirtschaftlichen Nutzung zu öffnen versuchte. Der Senat lehnte dieses Vorhaben, das dem Gebiet einen beinahe kolonialen Status verliehen hätte, jedoch ab.
Präsident Johnson setzte im Juli 1865 einen Freund des Innenministers, Dennis Nelson Cooley, als Commissioner für indianische Angelegenheiten ein. Dieser verhandelte mit den beiden zerstrittenen Cherokee-Gruppen im Indianerterritorium, wobei er mit der südlichen Gruppe eine Einigung erzielte. Doch lehnte es der Präsident ab, den Vertrag dem Senat vorzulegen. Der Commissioner musste erneut verhandeln, was letztlich dazu führte, dass ein beide Gruppen umfassender, einheitlicher Vertrag unterzeichnet und vom Senat angenommen wurde. Dies wiederum verhinderte das Auseinanderbrechen des Stammes, der heute den größten Nordamerikas darstellt.
Im November 1868 schloss die Bundesregierung den Vertrag von Fort Laramie 1868, der das Gebiet des gesamten heutigen Bundesstaates South Dakota westlich des Missouri einschließlich der Black Hills als Indianerland zur uneingeschränkten und unbehelligten Nutzung und Besiedlung durch die Great Sioux Nation auswies. Aufgrund eines in den 1870er-Jahren einsetzendes Goldrauschs hatte diese Vereinbarung de facto jedoch keine dauerhafte Gültigkeit. Da die Indianer eine ihnen zugesprochene Geldentschädigung nicht akzeptieren und das Land zurückfordern, ergeben sich daraus bis heute Streitigkeiten zwischen den Stämmen und der Bundesregierung.
Relevant in Bezug auf die Indianerpolitik war außerdem, dass der 14. Verfassungszusatz in Reservaten lebende Indianer nicht zu amerikanischen Staatsbürgern machte. Da dies jedoch, anders bei Afroamerikanern, nicht strittig war, ergaben sich hieraus keine Differenzen zwischen dem Kongress und der Johnson-Regierung.
Wahl 1868 und Beendigung der Amtszeit
Anfang Juli 1868 hielt die Demokratische Partei ihren Nominierungsparteitag für die im November anstehende Präsidentschaftswahl ab, bei der Johnson antreten wollte. Im ersten Wahlgang erhielt er 65 Delegiertenstimmen und erreichte damit nach George H. Pendleton, der von Beginn an als Favorit angesehen wurde, nur das zweitbeste Ergebnis. Dessen 105 Stimmen reichten indes ebenfalls nicht zur Nominierung aus. Mit jedem weiteren Abstimmungsdurchlauf verlor der Amtsinhaber kontinuierlich an Unterstützung, zuletzt stand nur noch die Delegation aus Tennessee hinter ihm. Im 23. Durchlauf wurde schließlich der New Yorker Gouverneur Horatio Seymour aufgestellt. Besonders Delegierte aus dem Norden hatten Johnsons Kandidatur vereitelt. Aber auch Delegierte aus dem Süden waren zu der Erkenntnis gelangt, dass angesichts der heftigen politischen Konflikte in den zurückliegenden Jahren eine Wiederwahl Johnsons ein aussichtsloses Unterfangen war.
Nach seiner Niederlage auf dem Parteitag waren auch die letzten acht Monate von Johnsons Präsidentschaft von Konflikten mit dem Kongress geprägt. Obwohl er sich nicht mehr aktiv der Reconstruction-Politik der Legislative in den Weg stellte, machte er weiterhin rege von seinem Vetorecht Gebrauch, etwa gegen ein Gesetz, das ihn verpflichtete, die Ratifizierung des 14. Verfassungszusatzes von einigen Südstaaten schneller dem Kongress zu übermitteln (was Johnson absichtlich verzögerte). Auch dieses Gesetz wurde gegen das Veto des Präsidenten erlassen. Im Herbst 1868 übermittelte er dem Kongress mehrere Vorschläge, etwa die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre zu verlängern und eine Wiederwahl auszuschließen. Auch forderte er eine Amtszeitbegrenzung für Bundesrichter. Die Abgeordneten ignorierten jedoch diese Vorschläge.
Im Wahlkampf zwischen Seymour und General Grant, der von den Republikanern aufgestellt worden war, spielte der scheidende Präsident praktisch keine Rolle. Obwohl sich Seymour seine Fürsprache erhofft hatte, erwähnte der Präsident den demokratischen Bewerber nur einmal im Oktober gegen Ende des Wahlkampfes. Eine offizielle Unterstützungserklärung erfolgte nicht. Die Präsidentschaftswahl am 3. November 1868 konnte der politisch unerfahrene, aber aufgrund seiner Leistungen als Befehlshaber im Bürgerkrieg sehr populäre Grant für sich entscheiden. In den verbleibenden vier Monaten bis zur Amtsübergabe im März 1869 erließ Johnson noch mehrere Begnadigungen für ehemalige Konföderierte. So begnadigte er zu Weihnachten 1868 auch den früheren Südstaaten-Präsident Jefferson Davis. In seiner letzten Jahresbotschaft an den Kongress im Dezember 1868 sprach er sich nochmals eindringlich für die Rücknahme des Tenure of Office Act aus.
Johnsons Amtszeit als Präsident endete turnusgemäß am 4. März 1869 mit der Amtseinführung von Ulysses S. Grant. Entgegen der Tradition weigerte sich der scheidende Präsident, an der Zeremonie teilzunehmen. Von gegenseitiger Abneigung geprägt, machte auch Grant im Vorfeld deutlich, er wolle nicht mit Johnson in derselben Kutsche zu den Feierlichkeiten fahren, wie es bei präsidialen Amtsübergaben bisher und auch später üblich war. Erst 152 Jahre später, am 20. Januar 2021, ergab sich erneut die Situation, dass der Vorgänger (Donald Trump) nicht an der Amtseinführung seines Nachfolgers (Joe Biden) teilnahm.
Nach der Präsidentschaft
Anders als andere amerikanische Präsidenten sah Johnson seine politische Karriere nach dem Ende seiner Amtszeit nicht als beendet an. Der vorübergehende Rückzug ins Privatleben langweilte Johnson offenbar; auch suchte er eine neue Aufgabe, nachdem er 1869 mit dem Suizid seines Sohnes Robert einen privaten Verlust hatte hinnehmen müssen. Wie bereits von politischen Beobachtern erwartet, kandidierte Johnson im Herbst 1869 erneut für den Senat, nachdem die Demokraten in der State Legislature von Tennessee wieder die Mehrheit erlangt hatten. Dennoch gab es auch in den eigenen Reihen Widerstand, sodass ihm schließlich bei einem Wahlgang nur eine Stimme zum Sieg fehlte. Siegreich ging Henry Cooper aus dieser Abstimmung hervor, der sich mit 54 gegen 51 Stimmen durchsetzte. Im Sommer 1872 kandidierte Johnson für den einzigen Kongresswahlbezirk von Tennessee für das Repräsentantenhaus. Obwohl die Demokraten nicht ihn, sondern Benjamin Franklin Cheatham nominierten, trat er als Parteiloser zur Wahl an. Da somit die Stimmen der demokratischen Stammwähler auf zwei Bewerber verteilt wurden, konnte der Republikaner Horace Maynard die Wahl für sich entscheiden.
Im Januar 1875 wurde Johnson dann beim dritten Anlauf durch die State Legislature von Tennessee nochmals in den Senat gewählt. Sein überraschender Triumph fand landesweit große Rezeption in den Printmedien. Die Zeitung St. Louis Republican reflektierte es als „den prächtigsten persönlichen Triumph, welchen die Geschichte der amerikanischen Politik aufweisen kann“. Johnson ist bis heute der einzige Präsident, der nach seiner Zeit im Weißen Haus in den Senat gewählt wurde. Außer ihm war lediglich John Quincy Adams nach der Präsidentschaft Mitglied im Kongress geworden, allerdings im Repräsentantenhaus. Im März 1875 legte Johnson den Eid als Senator ab. Während seiner kurzen Zeit im Senat kritisierte er die Politik von Präsident Grant und forderte diesen auf, die Besatzungstruppen der Union aus den Südstaaten abzuziehen. Grant wies dies jedoch zurück, der Abzug erfolgte erst 1877.
Andrew Johnson starb am 31. Juli 1875, kurz nach seinem Einzug in den Senat, nahe Elizabethton im Carter County, Tennessee im Alter von 66 Jahren an einem Schlaganfall. Er wurde vor Greeneville im heutigen Andrew Johnson National Cemetery beerdigt. Gemäß seinem Wunsch wurde er in eine amerikanische Flagge gehüllt, der eine Kopie der Verfassung beigelegt wurde.
Nachwirkung
Nach Umfragen unter Amerikanern gilt Johnson über Parteigrenzen hinweg als einer der am wenigsten geschätzten US-Präsidenten überhaupt. So belegte er bei einer Umfrage des Siena Colleges aus dem Jahr 2010 den letzten Platz der beliebtesten Präsidenten. Im jährlichen Presidential Historians Survey des Fernsehsenders C-SPAN belegte er im Jahr 2021 nur den 43. Rang unter 44 bewerteten Präsidenten.
Von Johnson-Biografen wie Hans L. Trefousse wird im 21. Jahrhundert vor allem seine unnachgiebige Haltung gegenüber dem Kongress im Rahmen der Reconstruction und seine damit verbundene Weigerung, Afroamerikanern mehr Rechte zuzugestehen, scharf kritisiert. Durch persönliche Sturheit und eine rassistische Weltanschauung, so Trefousse, sei Johnson nicht in der Lage gewesen, mit dem Kongress effektiv zusammenzuarbeiten. Die Historikerin Vera Nünning ist der Auffassung, durch Johnsons Politik sei die Chance vergeben worden, den nach dem Bürgerkrieg demoralisierten Südstaaten mittels politischem Druck die Gleichberechtigung der Schwarzen aufzuerlegen. Paradoxerweise habe jedoch Johnsons Blockadehaltung gegenüber mehr Rechten für Afroamerikaner den Kongress sowie die Parlamente der Bundesstaaten noch mehr dazu motiviert, den 14. und 15. Verfassungszusatz gegen seinen Willen durchzusetzen.
Wie der Johnson-Biograf Albert Castel feststellt, war das heute verbreitete negative Bild des 17. US-Präsidenten historisch aber keineswegs durchgängig. Gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so Castel, erschienen auch positive Darstellungen zu Andrew Johnsons Amtsführung. Beispielsweise beschrieb der Historiker James Schouler in seinem Buch History of the Reconstruction Period von 1913 Johnson als weitsichtigen Politiker, der sich einem gegenüber dem Süden rachsüchtigen Kongress entschieden widersetzte und sich um eine faire Eingliederung der einstigen Konföderation bemühte. Woodrow Wilson, von 1913 bis 1921 selbst US-Präsident, setzte sich in den Jahren seiner akademischen Tätigkeit (vor seiner Amtszeit) ebenfalls mit dem 17. Präsidenten auseinander. So beschrieb er Johnson aufgrund seines sozialen Hintergrunds als politisch ungeschickt, gestand ihm jedoch zu, durchaus in der Tradition Lincolns gehandelt zu haben, indem er die Südstaaten mit Nachsicht behandelte. Lincoln hatte sich gegen Ende des Krieges tatsächlich für milde Aufnahmebedingungen ausgesprochen, um so die ehemalige Konföderation wieder in die USA integrieren zu können, ohne der (weißen) Bevölkerung des Südens ein Gefühl der Erniedrigung zu geben. Auch der Historiker William Archibald Dunning kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Wilson. Mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern, so Castel weiter, wurde Andrew Johnson dann wieder scharf für seine Politik gegenüber Schwarzen verurteilt, die bis in die 1960er-Jahre durch Rassentrennung und diskriminierende Wahltests weiterhin erhebliche Ungleichbehandlung erfuhren. Die Historikerin Vera Nünning hält jedoch fest, dass trotz der allgemein wenig positiven Sichtweise auf Johnson im 21. Jahrhundert sich die Geschichtsschreibung inzwischen um ein ausgewogeneres Bild bemühe, „indem die Schwächen auf seine soziale Herkunft und die im Süden vorherrschenden Werte und Normen zurückgeführt werden, denen er sich ebenso wenig wie die meisten seiner Landsleute entziehen konnte“. Ferner meint sie, Johnson habe das Ausmaß der Rassendiskriminierung im Süden deutlich realistischer als die republikanische Kongressmehrheit eingeschätzt. Die Johnson-Biografin Annette Gordon-Reed verweist auf Johnsons sozialen Hintergrund und die extrem schwierigen Zeiten, in denen er die Führung der USA antrat. Für sie hängt seine lebenslang feindliche Haltung gegenüber Schwarzen damit zusammen, dass er sie als diejenigen identifizierte, die in Kooperation mit den Plantagenbesitzern den Aufstieg der weißen Unterschicht in den Südstaaten blockierten.
Im Film
Im Jahr 1942 erschien mit dem Film Tennessee Johnson eine Verfilmung vom Leben Andrew Johnsons mit Van Heflin in der Hauptrolle. Tennessee Johnson fand jedoch ein mehrheitlich negatives Echo; so kritisierte der Schauspieler Zero Mostel den Film, in dem Johnson als Vorkämpfer der Demokratie porträtiert wird, als zu glorifizierend. Ferner hielt sich die Verfilmung nicht immer an historische Gegebenheiten; beispielsweise erschien Johnson während des Amtsenthebungsverfahrens nie persönlich im Senat. Auch unter kommerziellen Gesichtspunkten war Tennessee Johnson kein Erfolg beschieden, da ein Verlust erwirtschaftet wurde.
Quellen
Findbücher:
Johnson, Andrew (1808–1875) Papers 1846–1875. Tennessee State Library and Archives, Nashville TN 1958 (PDF).
Index to the Andrew Johnson Papers (= Presidents’ Papers Index Series.). Library of Congress, Manuscript Division, Reference Department, Washington 1963 (PDF).
Editionen:
Speeches of Andrew Johnson, President of the United States. With a Biographical Introduction by Frank Moore. Little, Brown and Co., Boston 1865 (Digitalisat).
Lilian Foster: Andrew Johnson, President of the United States. His Life and Speeches. Richardson & Co., New York 1866 (Digitalisat).
LeRoy P. Graf, Ralph W. Haskins, Paul H. Bergeron (Hrsg.): The Papers of Andrew Johnson. 16 Bände The University of Tennessee Press, Knoxville 1967–2000 (Rezensionen zu Anfang und Ende des Projekts; Vorschau zu Band 7, Band 12, Band 14, Band 16).
Literatur
Eine kommentierte Bibliographie der Literatur zu Johnson von 1877 bis 1998 bietet:
David A. Lincove: Reconstruction in the United States. An Annotated Bibliography (= Bibliographies and Indexes in American History. Band 43). Vorwort von Eric Foner. Greenwood Press, Westport CT 2000, ISBN 0-313-29199-3, Studies on Andrew Johnson, 1864–1868, S. 82–102 (Vorschau).
Weiteres:
Albert Castel: The Presidency of Andrew Johnson (= American Presidency Series.). 4. Auflage, University Press of Kansas, Lawrance 1979, ISBN 978-0-7006-0190-5.
James David Barber: Politics by Humans: Research on American Leadership. Duke University Press, 1988, ISBN 0-8223-0837-1, Kapitel I.2: Life History. S. 24–52 (Vorschau).
Hans L. Trefousse: Andrew Johnson: A Biography. W. W. Norton & Company, New York 1989, ISBN 0-393-02673-6.
David O. Stewart: Impeached. The Trial of President Andrew Johnson and the Fight for Lincoln’s Legacy. Simon & Schuster Paperbacks, New York NY 2010, ISBN 978-1-4165-4750-1.
Paul H. Bergeron: Andrew Johnson’s Civil War and Reconstruction. The University of Tennessee Press, Knoxville 2011, ISBN 978-1-57233-794-7 (Vorschau).
Annette Gordon-Reed: Andrew Johnson (= American Presidents Series.). Times Books/Henry Holt, New York City NY 2011, ISBN 978-0-8050-6948-8.
Vera Nünning: Andrew Johnson (1865–1869): Der Streit um die Rekonstruktion. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten. 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 194–204.
Michael Les Benedict: Andrew Johnson. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 1 (= From the Founding Fathers to the Progressive Era). New York State University Press, New York 2020, ISBN 978-1-4798-2323-9, S. 227–238.
Weblinks
auf whitehouse.gov (englisch)
American President: Andrew Johnson (1808–1875), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteurin: Elizabeth R. Varon)
The American Presidency Project: Andrew Johnson. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Andrewjohnson.com – Informationen und Auszüge aus Harper’s Weekly zu Andrew Johnson (englisch)
Andrew Johnson in der NGA
Die Gouverneure von Tennessee (englisch)
Life Portrait of Andrew Johnson auf C-SPAN, 9. Juli 1999, 158 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Michael Les Benedict und Robert Orr sowie Führung durch die Andrew Johnson National Historic Site)
Anmerkungen
Präsident der Vereinigten Staaten
Vizepräsident der Vereinigten Staaten
Gouverneur (Tennessee)
Senator der Vereinigten Staaten aus Tennessee
Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Tennessee
Mitglied des Senats von Tennessee
Mitglied des Repräsentantenhauses von Tennessee
Bürgermeister (Tennessee)
Mitglied der Demokratischen Partei (Vereinigte Staaten)
Freimaurer (19. Jahrhundert)
Politiker (19. Jahrhundert)
US-Amerikaner
Geboren 1808
Gestorben 1875
Mann |
93215 | https://de.wikipedia.org/wiki/Turbinen-Strahltriebwerk | Turbinen-Strahltriebwerk | Ein Turbinen-Strahltriebwerk (auch Turbo-Strahltriebwerk, Turbo-Luftstrahltriebwerk, Turbinen-Luftstrahltriebwerk, Gasturbinen-Flugtriebwerk, allgemeinsprachlich auch Düsentriebwerk, Jettriebwerk oder einfach Düse) ist ein Flugtriebwerk, dessen zentrale Komponente eine Gasturbine ist und das auf der Rückstoßwirkung des erzeugten Luft- und Abgasstroms beruht (Rückstoßantrieb). Der Wortbestandteil „Turbo-“ oder „Turbinen-“ bezieht sich auf die rotierenden Innenteile des Triebwerks (vgl. ), d. h. auf die vom austretenden Abgasstrahl angetriebene Turbine (Gasexpansionsturbine), die den Turbokompressor zum Ansaugen und Verdichten der Verbrennungsluft antreibt.
Turbinen-Strahltriebwerke zeichnen sich durch hohe Leistung und Schubkraft aus, bei vergleichsweise geringen Massen und Baugrößen. Sie sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts die meistgenutzten Triebwerke. Ihre Vorteile wirken sich aber erst oberhalb von etwa 100 Kilowatt Leistung aus; kleinere Flugzeuge nutzen daher Kolben- oder Elektromotoren. Die mit Turbinen-Strahltriebwerken ausgestatteten Flugzeuge werden als Strahlflugzeuge oder Düsenflugzeuge bezeichnet.
Abgrenzung
Die Turbinen-Luftstrahltriebwerke zählen gemeinsam mit den Raketentriebwerken, den Staustrahltriebwerken und den Pulsstrahltriebwerken zur Gruppe der Strahltriebwerke. Mit Ausnahme des Raketentriebwerks sind sie luftatmend: vorne Luft einsaugend, die Luft in ihrem Inneren zur Verbrennung von Treibstoff nutzend und die Abgase hinten wieder ausstoßend (Durchströmtriebwerke). Raketen dagegen zählen zu den reinen Ausströmtriebwerken; Staustrahl- und Pulstriebwerk basieren nicht auf der Gasturbine.
Funktionsweise
Wirkungsprinzip
Ein Strahltriebwerk ist in der heutigen Form fast immer ein Turbinen-Luftstrahltriebwerk (im Gegensatz zum Staustrahltriebwerk oder dem heute nicht mehr gebräuchlichen Pulsstrahltriebwerk). Das Turbinen-Luftstrahltriebwerk saugt die Umgebungsluft ein und komprimiert sie zur Druckerhöhung in einem Verdichter. In der nachfolgenden Brennkammer wird der Treibstoff (in der Regel Kerosin) eingespritzt und diese Mischung dann verbrannt. Die Verbrennung erhöht die Temperatur und die Strömungsgeschwindigkeit, wobei der statische Druck des Gases leicht abfällt. Die dem Gas zugeführte Strömungsenergie wird dann in der dahinter folgenden Turbine teilweise in Drehbewegung umgesetzt, wobei das Gas noch weiter expandiert (die Turbine entzieht also Energie). Die Turbine dient als Antrieb des Verdichters, des Fans und weiterer Aggregate wie Generatoren oder Kraftstoff- und Hydraulikpumpen. Das Gas expandiert in die hinter der Turbine liegende Düse und hinter dieser auf fast Umgebungsdruck, wobei sich die Strömungsgeschwindigkeit weiter erhöht.
Bei vielen im militärischen und Überschall-Bereich arbeitenden Strahltriebwerken ist zur Leistungssteigerung hinter der Turbine noch ein Nachbrenner angebracht.
Dieser Prozess kann durchaus mit dem in einem Kolbenmotor verglichen werden, wobei jedoch alle vier Takte – Ansaugen, Verdichten, Verbrennen und Ausstoßen – gleichzeitig und kontinuierlich stattfinden. Die dadurch entsprechend Newtons Aktionsprinzip entstehende Kraft ist der Schub (und ggf. Wellenleistung). Der Vorteil des Strahlantriebes gegenüber dem Antrieb über einen Kolbenmotor liegt in seiner Effizienz bei hohen Geschwindigkeiten (speziell bei Überschallgeschwindigkeit) in großen Höhen und in seiner hohen Leistungsdichte (sowohl Volumen- als auch Massenleistungsdichte), d. h. das Triebwerk ist klein und leicht bzgl. der Leistung, die es entwickelt. Bei geringen Geschwindigkeiten sind Turboprops effizienter.
Ein Strahltriebwerk beschleunigt eine relativ geringe Masse Luft sehr stark, wohingegen ein Propeller eine große Luftmasse weitaus schwächer beschleunigt.
Je nach Bauart des Triebwerks entzieht die Turbine mehr oder weniger Leistung aus der Gasenergie (beim Wellenleistungstriebwerk z. B. fast vollständig, beim Turbojet hingegen wird nur wenig Gasenergie entzogen). Bei vielen Triebwerken ist ein Fan vorhanden, der zusätzliche Antriebsenergie auf den Mantelstrom überträgt.
Turbinen-Luftstrahltriebwerke sind im Vergleich zu Kolbenmotor/Propeller-Kombinationen empfindlich gegenüber Fremdkörpern (siehe auch Vogelschlag). Schon eine erhöhte Staubbelastung kann die Wartungsintervalle drastisch verkürzen. Hingegen ist das Einsaugen von Wassertropfen auch bei schwerem Regen unproblematisch.
Das Anlassen des Triebwerkes erfolgt, indem der Verdichter auf eine Mindestdrehzahl gebracht wird. Dies kann durch Einblasen von Luft, elektrisch, mittels einer getrennten Turbine mit Untersetzungsgetriebe (Luftstarter/Kartuschenstarter) oder durch einen kleinen Verbrennungsmotor erfolgen. Im Allgemeinen wird heute ein elektrischer Anlasser für kleinere Triebwerke verwendet, alle kommerziellen Triebwerke der Airbus- oder Boeing-Flugzeuge besitzen Luftstarter. Boeing geht allerdings bei der Boeing 787 den Weg, auch bei großen Triebwerken (GE Nx) einen Elektrostarter einzusetzen. Dies ist ein weiterer Schritt zum neuen Konzept „Electric Engine“.
Nach Erreichen der Mindestdrehzahl wird Kraftstoff in die Brennkammer eingespritzt und durch eine oder mehrere Zündkerzen gezündet. Nach der Entzündung des Kraftstoffs und weiterer Drehzahlzunahme wird die Zündung abgeschaltet; die Verbrennung läuft kontinuierlich weiter. Der Drehzahl-Regelbereich zwischen Leerlauf und Volllast beträgt dabei bis zu 95 %, in der Regel aber nur etwa 40 %. Wie bei allen Turbomaschinen ist der erzeugte Schub extrem von der Drehzahl abhängig, er fällt bei reduzierter Drehzahl schnell ab. So werden bei 90 % der Maximaldrehzahl nur noch ca. 50 % des Maximalschubs erzeugt.
Vom Verdichter wird sogenannte Zapfluft abgenommen, mit der die Druckkabine versorgt wird.
Physikalische Grundlagen
Für die Effizienz-Berechnung eines Strahltriebwerkes eignet sich der (rechtslaufende) thermodynamische Kreisprozess nach James Prescott Joule am besten. Entscheidende Parameter beim Joule-Kreisprozess sind dabei die Druck- und Temperaturunterschiede. Idealerweise wird also hoch verdichtet, man wählt eine möglichst hohe Turbineneintrittstemperatur T3 und lässt dann das Arbeitsgas über eine möglichst große Düse auf eine möglichst geringe Temperatur expandieren.
Schubformel und Vortriebwirkungsgrad
Der von den Triebwerken erzeugte Schub entspricht, im Falle einer konstanten Fluggeschwindigkeit und einer konstanten Flughöhe, dem Luftwiderstand des Flugzeugs; der Schub muss größer als der Widerstand sein, wenn das Flugzeug beschleunigen oder steigen soll.
Es gilt folgende vereinfachte Schubformel unter vernachlässigter Kraftstoffmenge und der Annahme, dass der Austrittsdruck der Verbrennungsgase dem Umgebungsdruck entspricht:
.
Schub in N
Luftmassenstrom in kg/s
Gasaustrittsgeschwindigkeit in m/s
Fluggeschwindigkeit in m/s
Für den Vortriebwirkungsgrad gilt jedoch
.
Deswegen werden heute in der Zivilluftfahrt Bypasstriebwerke mit hohem Nebenstromverhältnis verwendet, bei denen ein großer Luftmassenstrom relativ langsam das Triebwerk verlässt, was einen besseren Wirkungsgrad und nicht zuletzt auch eine Lärmminderung bewirkt.
Triebwerksbauarten
Übersicht
Basis aller Turbo-Luftstrahltriebwerke ist eine Gasturbine. Diese besteht aus einem Verdichter, der die Luft ansaugt und komprimiert, einer Brennkammer zur Verbrennung des Treibstoffs und einer anschließenden Turbine, die einen Teil der Energie der Abgase nutzt, um den Verdichter anzutreiben. Des Weiteren bestehen Turbo-Luftstrahltriebwerke mindestens noch aus einem aerodynamischen Einlauf vor der Gasturbine und dahinter einer druckregulierenden Düse.
Dieser Grundaufbau wird als Turbojet oder Einstrom-Strahltriebwerk bezeichnet und stellt die einfachste und älteste Bauweise dar (siehe unten). Die nach der Turbine verbleibende Energie der Gase wird in Schubkraft umgewandelt.
Durch weitere Turbinenstufen kann ein weiterer Anteil der Gasenergie in Rotationsleistung der Welle umgewandelt werden, um damit ein (meist vorgelagertes) Gebläse anzutreiben, dessen Durchmesser meist deutlich größer ist als der des Kerntriebwerks. Damit wird ein zusätzlicher Luftstrom um das Kerntriebwerk herum beschleunigt. Diese Bauweise ist am häufigsten anzutreffen und wird als Turbofan, Zweistrom- oder Mantelstromtriebwerk bezeichnet (siehe unten).
Falls so viele Turbinenstufen eingebaut werden, dass praktisch die gesamte Energie der Verbrennungsgase in Rotationsenergie umgewandelt wird, und damit kein Gebläse angetrieben wird, so erhält man allgemein ein Wellenleistungstriebwerk. Daran kann ein Propeller angebaut werden, die dann Turboprop oder Propellerturbine genannt werden (siehe unten). Grundsätzlich kann man daran auch andere Maschinen oder „Verbraucher“ anschließen, z. B. den Rotor eines Hubschraubers. Ein Wellenleistungstriebwerk kann auch zum Antreiben von Schiffen genutzt werden (mit angeschlossener Schiffsschraube) oder zum Antreiben eines Generators etwa in einem Gaskraftwerk (stationäre Gasturbine). Tatsächlich gibt es einige Gasturbinen außerhalb der Luftfahrt, die als Anpasskonstruktion eines Flugtriebwerks entstanden sind, diese werden als Aero-Derivativ bezeichnet.
Kampfflugzeuge verfügen häufig über einen Nachbrenner, der nach der Turbine weiteren Treibstoff einspritzt und verbrennt, um noch mehr Schub zu erzeugen.
Einstrom-Strahltriebwerk (Turbojet)
Der Turbojet ist die einfachste Form eines Turbostrahltriebwerkes. Er besteht aus einer Gasturbine, bei der ausschließlich der Abgasstrahl als Antrieb genutzt wird. Das Triebwerk hat in der Regel nur eine Welle, durch die Turbine und Verdichter miteinander verbunden sind. Durch die hohe Austrittsgeschwindigkeit des Antriebsmediums hat es bei niedrigeren Geschwindigkeiten des anzutreibenden Fahrzeugs (zumeist Luftfahrzeugs) einen, nach heutigen Maßstäben, geringen Wirkungsgrad und erzeugt einen hohen Lärmpegel. Gerade bei Unterschallgeschwindigkeit ist der spezifische Kraftstoffverbrauch hoch, so dass diese Triebwerke aus ökonomischen und ökologischen Gründen in der Regel nicht mehr eingesetzt werden. Bei Überschallflugzeugen haben Turbojets in der Regel auch einen Nachbrenner. Diese Triebwerke sind recht kompakt und die Wartung verhältnismäßig einfach. Ihre Einsatzzeit lag vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1960er Jahre, und zwar sowohl im zivilen wie auch im militärischen Luftverkehr, wobei sich der Turbojet in der militärischen Anwendung länger halten konnte und noch heute in verschiedenen Flugzeugmustern eingesetzt wird (z. B.: McDonnell F-4 Phantom, MiG-21).
Zweistrom-Strahltriebwerk (Turbofan, Mantelstrom-, Bypass-Triebwerk)
Turbofan-Triebwerke sind mittlerweile die vorherrschenden Strahltriebwerke von Verkehrsflugzeugen.
Mantelstromtriebwerke () besitzen eine große erste Schaufelblattstufe, den sogenannten Fan (engl. für Gebläse) oder Bläser, der meist von einer eigenen Turbinenstufe angetrieben wird – Fan und letzte Turbinenstufe sitzen hierzu auf einer inneren, langen Niederdruckwelle, die restliche Gasturbine auf einer äußeren, kurzen Hochdruckwelle. Alternativ kann der langsam drehende Fan über ein Getriebe an die schnell drehende Hochdruckwelle angekoppelt sein (Getriebe-Fan-Bauweise). Hinter dem Fan teilt sich der Luftstrom auf in einen inneren Luftstrom, der in die eigentliche Gasturbine, das Kerntriebwerk, gelangt, und einen äußeren Luftstrom, der außen daran vorbeigeführt wird. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Luftströmen nennt man Nebenstromverhältnis. Es hat sich im Laufe der jahrelangen Entwicklung von etwa 1:1 auf fast 10:1 vergrößert.
Die zusätzliche zweite Welle ist notwendig, um den Fan mit deutlich niedrigerer Drehzahl betreiben zu können als das Kerntriebwerk. Der Fan hat einen deutlich größeren Querschnitt, seine Schaufeln würden bei hohen Drehzahlen zu hohe Fliehkräfte entwickeln und es muss auch vermieden werden, dass die Blattspitzen die Schallgeschwindigkeit überschreiten. Die hohe Drehzahl der Kerntriebwerkswelle kann bei kleineren Triebwerken mittels Getriebe auf die niedrigere Drehzahl für den Fan herabgesetzt werden.
Rolls-Royce baut seit langem Triebwerke mit drei Turbinenwellen (Nieder-, Mittel-, Hochdruckteil), um Drehzahlen bzw. Schaufelspitzengeschwindigkeiten der einzelnen Verdichter-/Turbinenstufen in einem Zweistrom-Strahltriebwerk besser abstimmen zu können (z. B. RB211 oder die Trent-Triebwerksfamilie).
Ein Turbofan bietet gegenüber einem Turbojet mehrere Vorteile:
Besserer Wirkungsgrad des Triebwerkes durch die geringere mittlere Geschwindigkeit des Antriebsluftstrahles und damit geringerer Kraftstoffverbrauch.
Reduzierung des Fluglärms, indem die heißen, schnellen und damit wirbelbehafteten und lauten Turbinengase durch den umgebenden kühlen und ruhigeren Gasstrom der ersten Stufe gedämpft werden.
Jagdflugzeuge verwenden Turbofantriebwerke mit relativ niedrigem Nebenstromverhältnis von meist unter 1,5:1. Dies bewirkt eine nur geringere Lärmminderung gegenüber Turbojettriebwerken. Im zivilen Bereich und bei Transportmaschinen waren im Jahre 2001 Triebwerke mit einem Nebenstromverhältnis bis etwa 9:1 im Einsatz.
Bei Turbofan-Triebwerken für Verkehrsflugzeuge erzeugt der Fan den Großteil der Vortriebskraft (oft über 80 %), das Kerntriebwerk und dessen Abgasstrahl dementsprechend wenig – es dient fast nur dem Antrieb des Fan.
Propellerturbine (Turboprop)
Eine Sonderform ist der Antrieb einer Luftschraube (Propeller) durch eine Turbine. Diese Antriebsart wird als Turboprop bezeichnet. Die Gasturbine verfügt hierzu über zwei Wellen und/oder die Luftschraube wird durch ein Untersetzungsgetriebe der Antriebsturbine angetrieben.
Im September 1945 flog eine modifizierte Gloster Meteor als erstes Flugzeug mit Turboprop-Antrieb. Der Jungfernflug der Vickers Viscount, des ersten Turboprop-Verkehrsflugzeuges, erfolgte im Juli 1948.
Der Turbopropantrieb ist, insbesondere im Kurzstreckenverkehr und bei mittleren Flughöhen, der wirtschaftlichste Flugzeugantrieb. Die Schallemission wird vom Propeller dominiert und ist bei Propellern mit niedrigen Blattspitzen-Machzahlen gering. Die Geräuschemission durch den Abgasstrahl ist relativ gering, da dessen Geschwindigkeit vergleichsweise niedrig ist. Der Abgasstrom trägt nur in relativ geringem Maße zum Vortrieb bei, ist aber trotzdem in der Leistungskalkulation bei der Wellenvergleichsleistung enthalten. Gegenüber Kolbentriebwerken zeichnet sich die Propellerturbine durch hohe Leistungsdichte und lange Wartungsintervalle aus.
Zur Verringerung des Treibstoffverbrauchs von Flugzeugen wird der Einsatz von Propellerturbinen auch bei höheren Geschwindigkeiten diskutiert. Um den Verlust durch den von einem Propeller erzeugten Drall zu begrenzen, kommen in diesem Fall nur gegenläufige Propeller in Frage, die entweder über ein Planetengetriebe oder aber durch zwei gegenläufige Niederdruckturbinen angetrieben werden. Die Schallemission dieser Antriebsart ist Gegenstand der Forschung und wird entscheidend für den kommerziellen Erfolg des Propellerantriebs bei hohen Flugmachzahlen sein.
Komponenten
Unterteilt man gemäß funktionalen Baugruppen, so besteht ein Turbo-Luftstrahltriebwerk aus Einlauf, Kompressor, Brennkammer, Turbine und Düse. Der Kompressor und die Turbine sind meist über eine oder mehrere Wellen mechanisch miteinander verbunden. Bei Freilaufturbinen, die zum Teil bei Turboprops zum Einsatz kommen, sind die Turbinenstufen, die den Propeller antreiben, mechanisch von den anderen Komponenten getrennt.
Das Kernelement aller Turbostrahltriebwerke ist die Gasturbine, auch Gasgenerator oder Heißteil genannt. Für den Einsatz als Triebwerk werden ein aerodynamischer Einlauf, eine Düse und gelegentlich auch ein Nachbrenner angebaut. Für die stationäre Nutzung der Gasturbinen, etwa in Gaskraftwerken, werden statt der Düse oft ein Diffusor angebracht sowie ein anderer Einlauf – statt Schubkraft soll meist Wellenleistung erbracht werden, und der Einlauf muss ansaugen anstatt „Fahrtwind“ zu erhalten.
Lassen sich (zum Beispiel bei einem Wellenleistungstriebwerk) jene Turbinenstufen, die die Nutzleistungsabgabe erzeugen, baulich deutlich vom vorgeschalteten, restlichen (Kern-)Triebwerk abgrenzen (insbesondere wenn das restliche Triebwerk (eine) eigene Welle(n) hat), so wird selbiges Kerntriebwerk auch als „Heißgaserzeuger“ bezeichnet – aus Sicht der Nutzleistungs-Turbinenstufen ist seine einzige Funktion, einen Gasstrom zu liefern, der schnell strömt, unter hohem Druck steht und eine hohe Temperatur besitzt.
Lufteinlauf
Der Lufteinlauf (Einlass) ist meist nach vorn geöffnet. Das unterstützt seine Aufgabe, als Diffusor kinetische Energie der Anströmung in eine Erhöhung von Druck und Temperatur umzuwandeln, siehe Stagnationsenthalpie. Zudem steigt mit der Temperatur die Schallgeschwindigkeit. Beides zusammen verhindert, dass die schnell rotierenden Verdichterschaufeln mit Überschallgeschwindigkeit („transsonisch“) durchströmt werden.
Bei Fluggeschwindigkeiten im Unterschallbereich weichen die Stromfäden schon im Bereich vor der Öffnung auseinander, was durch die tonnenförmige Wölbung der Triebwerksverkleidung – im Querschnitt der Nase eines Flügelprofils ähnlich – unterstützt wird. Im Innern des Lufteinlaufs nimmt die Querschnittsfläche bis zum Verdichter zu.
Anders bei dafür ausgelegten Triebwerken im Überschallflug: Dort wird die Luft im sich verengenden Einlass durch eine Folge schräger Verdichtungsstöße komprimiert und abgebremst (bzgl. ihrer Relativgeschwindigkeit zum Triebwerk). Triebwerke für einen breiten Bereich der Überschallgeschwindigkeit haben meist eine verstellbare Einlassgeometrie, siehe Staustrahltriebwerk.
Der Lufteinlauf wird im Allgemeinen nicht vom Triebwerkshersteller geliefert, sondern nach dessen Vorgaben als Teil des „Flugwerks“ vom Flugzeugproduzenten gefertigt.
Fan
Die meisten modernen zivilen Strahltriebwerke sind Mantelstromtriebwerke (engl. turbofan), auch als Nebenstrom- (engl. bypass engine) bzw. Zweistrom-Turbinen-Luftstrahltriebwerk (ZTL) bezeichnet. In ihnen gibt es vor der ersten Verdichterstufe des Kerntriebwerks (Kernstrom) einen Fan (ein auch als Bläser bezeichnetes Gebläse) – eine Triebwerksstufe mit sehr großen Schaufelblättern. Der Fan erzeugt vor allem den Mantelstrom, ein Luftstrom, der zwischen der eigentlichen Gasturbine und der äußeren Triebwerksverkleidung herumgeführt und nach hinten ausgeblasen wird.
Der Fan besitzt, vor allem bei einem hohen Nebenstromverhältnis des Triebwerks, einen deutlich größeren Querschnitt als das Kerntriebwerk; bei zu hoher Drehzahl würden seine Schaufelblätter hohe Fliehkräfte entwickeln, was hohe mechanische Lasten erzeugt. Die einströmende Luft würde zudem an den Blattspitzen Überschallgeschwindigkeit erreichen, was den Wirkungsgrad herabsetzen würde.
Daher befindet sich der Fan heutzutage meist auf einer eigenen Welle, die von der Niederdruckturbine angetrieben wird und mit deutlich geringerer Drehzahl als das Kerntriebwerk läuft. Man spricht daher auch von einem Zweiwellentriebwerk. Zwischen Fan und der ihn antreibenden Welle kann ein Untersetzungsgetriebe angeordnet sein; dann wird die Welle jedoch eher dem Kerntriebwerk zugeordnet und treibt dort meist auch (Niederdruck-)Verdichterstufen an.
Rolls-Royce RB211 und Trent verfügen sogar über drei Wellen. Gerade in den hohen Schubklassen zahlt sich dieses aufwendigere und teurere Konzept aus, da es die Möglichkeit bietet, die Drehzahlen der verschiedenen Komponenten besser an deren optimalen Betriebszustand anzupassen und das Triebwerk daher über einen größeren Schubbereich gleichmäßiger laufen kann.
Die Schaufeln des Fans laufen so in ihrem optimalen Geschwindigkeitsbereich, was die Effizienz des Triebwerks verbessert. Dies verringert nicht nur den Verbrauch, sondern auch die Lärmemission. Durch die niedrigere Drehzahl werden die Zentrifugalkräfte reduziert und die Beschaufelung des Fans kann leichter dimensioniert werden.
Abhängig davon, ob der innere Fanbereich (Luftstrom in den Kerntriebwerks-Verdichter) bereits einen Beitrag zur Kompression leistet, wird er entweder als getrennte Baugruppe (kein Beitrag) oder (teilweise) bereits als erste Verdichterstufe (des Kerntriebwerks) betrachtet. Der äußere Fanbereich (Bypass) bewirkt jedoch stets eher eine Beschleunigung des Mantelstroms denn ein Verdichten.
Verdichter/Kompressor
Vorderste Komponente des Kerntriebwerks ist der Turbokompressor („Verdichter“). Er hat die Aufgabe, der einströmenden Luftmasse kinetische Energie zuzuführen und diese in Druckenergie umzuwandeln.
Bei frühen Triebwerken (Heinkel HeS 3, General Electric J33, Rolls-Royce Derwent) kamen einstufige Radialverdichter zum Einsatz, die heute nur noch in kleineren Strahltriebwerken und Wellenturbinen verwendet werden. Sie sind bei kleinen Masseströmen vorteilhaft. Moderne Axialverdichter besitzen mehrere Verdichterstufen, die jeweils aus mehreren Laufrädern mit Rotorstufen bestehen können. Die Rotorstufen sind hintereinander auf einer gemeinsamen Trommel angeordnet, bei modernen Triebwerken auch auf bis zu drei Trommeln. Die Statorstufen sind fest auf der Innenseite des Verdichtergehäuses eingebaut. Da im Bereich des Verdichters (wie auch in der Turbine) außer den Statoren kaum feststehende Strukturen existieren, dienen die Statorschaufeln mitunter auch als Verbindungsstreben, um die Lager der Wellen zu halten, und um (über die Lager) Vortriebskraft von der Welle auf das Flugzeug zu übertragen.
Ältere Bauformen (am Beispiel General Electric J79) mit vielen aufeinanderfolgenden Verdichterstufen erreichten dennoch nur mäßige Verdichtungsverhältnisse, beim J79 z. B. 17 Stufen mit Gesamtverdichtung von 12,5:1 (Druck am Ende des Verdichters: Umgebungsdruck), während neuere Entwicklungen mit weniger Stufen wesentlich höhere Verdichtungen erzielen (43,9:1 mit 14 Stufen beim GP 7000 für den Airbus A380). Dies ist durch verbesserte Profile der Kompressorschaufeln möglich, die selbst bei Überschallgeschwindigkeiten (resultierend aus Umfangsgeschwindigkeit der Schaufeln und Anströmgeschwindigkeit) sehr gute Strömungseigenschaften bieten. Die reine Durchströmgeschwindigkeit darf jedoch die örtliche Schallgeschwindigkeit nicht überschreiten, da sich ansonsten die Wirkung der diffusorförmigen Kanäle umkehren würde. Hierbei gilt es zu bedenken, dass die örtliche Schallgeschwindigkeit wegen der steigenden Temperatur im Kompressor (s. o. bis 600 °C) ebenfalls steigt.
Brennkammer
Die hohe Kompression der Luft verursacht einen starken Temperaturanstieg („Kompressionswärme“). Die so erhitzte Luft strömt anschließend in die Brennkammer, wo ihr Kraftstoff zugeführt wird. Dieser wird beim Triebwerksstart durch Zündkerzen gezündet. Anschließend erfolgt die Verbrennung kontinuierlich. Durch die exotherme Reaktion des Sauerstoff-Kohlenwasserstoff-Gemisches kommt es zu einem erneuten Temperaturanstieg und einer Ausdehnung des Gases. Dieser Abschnitt des Triebwerks ist durch Temperaturen von bis zu 2500 K (ca. 2200 °C) stark belastet. Ohne Kühlung könnten auch die hochwertigen Materialien (oftmals Nickel-Basis-Legierungen) diesen Temperaturen nicht standhalten, da sich ihre Festigkeit bereits ab ca. 1100 °C sehr stark verringert. Daher wird der direkte Kontakt zwischen der Flamme und der Ummantelung unterbunden. Dies geschieht durch die sogenannte „Sekundärluft“, die nicht direkt in den Verbrennungsbereich gelangt, sondern um die Brennkammer herumgeleitet wird und erst dann, durch Bohrungen an den Blechstößen der schuppenartig aufgebauten Brennkammer, in diese gelangt und sich als Film zwischen die Verbrennungsgase und die Brennkammerwand legt. Dies wird Filmkühlung genannt.
Rund 70 bis 80 % der gesamten Luftmasse aus dem Verdichter werden als Sekundärluft zur Kühlung genutzt, lediglich der Rest dient in der Brennkammer als Primärluft zur Verbrennung. Die mittlere axiale Strömungsgeschwindigkeit eines Triebwerkes liegt bei ca. 150 m/s. Da die Flammengeschwindigkeit des verwendeten Treibstoffes jedoch relativ niedrig ist (ca. 5 bis 10 m/s) muss die Flammstabilität durch ein Rezirkulationsgebiet in der Strömung der Primärzone sichergestellt werden. Dies wird heute typischerweise durch die Verdrallung der Primärluft beim Eintritt in die Brennkammer erreicht. Dadurch werden heiße Verbrennungsgase immer wieder zurück zur Brennstoffdüse gefördert und sorgen so dafür, dass die Verbrennung in Gang bleibt. Weiterhin wird in unmittelbarer Umgebung die Luftdurchflussgeschwindigkeit reduziert (ca. 25 bis 30 m/s), um ein Erlöschen der Flamme (Flammabriss, flameout) zu verhindern und eine optimale Verbrennung zu erzielen. Die Brennkammer bestimmt durch ihre Auslegung den Schadstoffgehalt im Abgas. Man unterscheidet dabei zwischen Rohrbrennkammern, Ring-Rohrbrennkammern und Ringbrennkammern. Letztere sind die heute gebräuchlichen.
Turbine
Die nach hinten austretenden Gase treffen anschließend auf eine Turbine, die über eine Welle (evtl. mit dazwischenliegendem Getriebe) den Verdichter antreibt. Bei den meisten Einstrom-Triebwerken wird der größte Teil der kinetischen Energie für den Rückstoß genutzt. Es wird also nur so viel Energie auf die Turbine übertragen, wie für den Betrieb des Verdichters gebraucht wird. Heute werden meist zwei- oder dreistufige Turbinen eingesetzt.
Heutige zivile Mantelstromtriebwerke haben mehrere Turbinenstufen (eine Stufe besteht, wie beim Kompressor auch, aus einem Leitschaufelkranz (Stator) und einem Laufrad (Rotor)) und werden in Hochdruckturbine und Niederdruckturbine unterteilt. Da sich die Drehzahlen von Fan und Kompressor meist deutlich unterscheiden, laufen diese beiden Systeme auf zwei verschiedenen Wellen. So treibt die Hochdruckturbine, welche meist direkt auf die Brennkammer folgt, den Kompressor an, während die Niederdruckturbine, welche sich nach der Hochdruckturbine befindet, den Fan antreibt; vereinzelt kommen auch Dreiwellenkonzepte zum Einsatz. Der Mantelstrom erzeugt den Hauptteil des Schubs, sodass der Anteil aus dem Verbrennungs-Rückstoß zu vernachlässigen ist – die Turbine nutzt die Verbrennungsenergie, welche sie den aus der Brennkammer kommenden Gasen entzieht, möglichst vollständig aus, um Fan und Kompressor effizient anzutreiben.
Die Beschaufelung der Turbine wird normalerweise aufwendig gekühlt (Innen- und/oder Film-Kühlung) und besteht aus widerstandsfähigen Superlegierungen auf Basis von Titan, Nickelbasis oder Wolfram-Molybdän. Diese Stoffe werden darüber hinaus in einer Vorzugsrichtung erstarrt, erhalten in ihrem Kristallgitter also eine definierte Richtung und erlauben so, die optimalen Werkstoffeigenschaften entlang der höchsten Belastung wirksam werden zu lassen. Die erste Stufe der Hochdruckturbine besteht vermehrt aus Einkristallschaufeln. Der im Gasstrom liegende Teil der Schaufeln wird mit keramischen Beschichtungen gegen hohe Temperaturen und Erosion geschützt. Wegen der hohen Belastung bei Drehzahlen von über 10.000/min ist dennoch ein Bruch infolge mechanischer oder thermischer Beschädigung nicht immer auszuschließen. Daher werden die Gehäuse von Turbinen dementsprechend ausgelegt.
Düse
Hinter der Turbine ist eine Düse angebracht, die vor allem die Druckverhältnisse in der Turbine reguliert. Für den Vortrieb stellt die Düse einen Widerstand dar, ebenso wie beispielsweise auch die Turbine. Die verbreitete Bezeichnung „Schubdüse“ ist daher irreführend.
Dennoch beschleunigt der Abgasstrom aufgrund des am Turbinenausgang vorhandene Druckgefälles (Turbinenausgangsdruck – Umgebungsdruck) beim Durchströmen der Düse; der Druck wird zuletzt vollständig in Geschwindigkeit umgewandelt. Solange das Druckverhältnis von Turbinenausgangsdruck zu Umgebungsdruck kleiner als ein sogenannter kritischer Wert von etwa zwei ist, ist der Druck am Düsenende gleich dem Druck in der Umgebung. Eine konvergente Düse reicht dann aus. Wenn aber das Druckverhältnis größer als das kritische Verhältnis ist, dann beschleunigt der Strahl auf Überschallgeschwindigkeit. Konvergent-divergente Düsen, also Düsen mit einem engen Hals, sind dann von Vorteil, weil dann der Schub größer wird und der Strahl mit schwächeren Verdichtungsstößen austritt und damit deutlich leiser ist.
Triebwerke mit Nachbrenner führen dem Gasstrom noch vor der Düse weiteren Kraftstoff zu, dessen Verbrennung wegen der dadurch erhöhten Temperatur die Gasdichte reduziert. Die Austrittsgeschwindigkeit des Freistrahls ist dann bei gleichem Düsendruckverhältnis größer und damit auch der Schub. Triebwerke mit Nachbrenner benötigen eine verstellbare Düse, da der engste Düsenquerschnitt bei Nachbrennerbetrieb vergrößert werden muss.
Gehäuse
Verdichter und Turbine benötigen ein festes Gehäuse, das zum einen die Außenkontur des Strömungskanals bildet und daher die in diesen Baugruppen auftretenden Drücke und Temperaturen aushalten muss, sowie zum anderen im Falle eines Bruchs in der Beschaufelung der Fliehkraft des abgerissenen Teils standhält, sodass dieses nicht das Flugwerk beschädigt oder in der Nähe befindliche Personen verletzen kann. Damit ein Durchschlagen des Triebwerksgehäuses verhindert wird, ist es gewöhnlich mit Matten aus z. B. Aramid verstärkt, welche auch für beschusshemmende Westen, Schutzhelme oder Fahrzeugpanzerungen verwendet werden. Die hohen Temperaturen im Turbinenbereich schließen dort den Einsatz von Aramid aus.
Das Gehäuse des Kerntriebwerks bildet zugleich die Innenkontur des Mantelstroms. Ein zweites Gehäuse um Fan und Mantelstrom bildet die Außenkontur des Mantelstroms und muss ggf. den Abriss eines Fanblatts abschirmen.
Wellensystem
Die Turbine treibt über eine oder mehrere Wellen den Fan und den Verdichter an. Zusätzlich übertragen die Wellenlager einen großen Teil der Vortriebskraft des Triebwerks auf das Flugzeug.
Da Verdichter- und Turbinenstufen „nahe an der Brennkammer“ eher bei hohen Drehzahlen gut funktionieren, „entferntere“ Stufen jedoch besser bei langsameren Drehzahlen, sind meist nur einfache oder Wellenleistungs-Triebwerke sogenannte „Einweller“; mitunter befindet sich zwischen der Welle und dem sehr langsam laufenden Fan ein Untersetzungsgetriebe.
„Zweiweller“ treiben häufig über die langsame, innere Welle nur den Fan an, oder zusätzlich wenige vordere Verdichterstufen. Die beiden Wellen verlaufen koaxial: Die schnelle, kurze „Hochdruckwelle“ ist hohl mit größerem Durchmesser, die langsame, lange „Niederdruckwelle“ verbindet die hinterste Turbinenstufe mit dem ganz vorne liegenden Fan und führt innen durch die Hochdruckwelle hindurch.
Im Bereich der Brennkammer sind die Wellen Rohr-ähnlich mit relativ geringem Durchmesser; zwischen den Rotorscheiben des Verdichters bzw. der Turbine besteht die Welle meist aus Einzelstücken (Ringen), die mit großem Durchmesser („Trommelbereich“) die Rotorscheiben verbinden und evtl. zugleich in ihrem Abschnitt die Innenkontur des Kernstrom-Strömungskanals bilden.
Bei Dreiwellern treibt die innerste, längste, langsamste Welle nur den Fan an.
Um die dritte Welle zu vermeiden, kann das Triebwerk stattdessen als Zweiweller ausgelegt sein mit einem Getriebe zwischen der jetzt schnelleren Niederdruckwelle und dem nun langsameren Fan. (schnellere Niederdruckturbine = höherer Wirkungsgrad, langsamerer Fan = höherer Wirkungsgrad)
Äußere Triebwerksverkleidung
Die äußere Triebwerksverkleidung wird i. a. nicht dem eigentlichen Triebwerk zugeordnet, sondern gehört zum Flugwerk (früher oft als Flugzeugzelle bezeichnet). Sie muss keine Antriebskräfte vom Triebwerk auf das Flugwerk übertragen und dient nur der aerodynamischen Luftführung bzw. Verkleidung.
Parameter
Ein Turbinenluftstrahltriebwerk besitzt eine Vielzahl von Eigenschaften. Hier eine Liste der wichtigsten technischen Parameter, um einen schnellen Vergleich unterschiedlicher Strahltriebwerke herstellen zu können:
Schub
Spezifischer Kraftstoffverbrauch (kg/(kN·h); übliche Angabe in kg/kNh)
Luftdurchsatz (kg/s)
Abmessungen und Trockengewicht
Art von Verdichter und Turbine (Radial/Axial/Mischform/Sonder)
Kompressionsverhältnis des Verdichters
Art der Brennkammern
bei Mantelstromtriebwerken: Anzahl der Fan-Stufen und Nebenstromverhältnis
Anzahl der Nieder- und Hochdruckverdichterstufen
Anzahl der Nieder- und Hochdruckturbinenstufen
Wellenanzahl
Geschichte
Anfänge
Die Propellerflugzeuge erreichten maximale Geschwindigkeiten von rund 700 km/h, die durch verstellbare Luftschrauben und unterschiedliche Techniken zur Leistungssteigerung der Motoren noch geringfügig erhöht werden konnten. Jedoch ließ sich das Ziel, Flugzeuge zu bauen, die schneller als 800 km/h fliegen konnten, nicht realisieren, ohne eine neue Antriebstechnik zu entwickeln. Die bereits früh als beste Lösung erkannten Rückstoßantriebe ließen sich erst umsetzen, als man genügend Kenntnisse auf den Gebieten der Aerodynamik, der Thermodynamik sowie der Metallurgie hatte.
Die erste selbständig laufende Gasturbine entwickelte der Norweger Aegidius Elling bereits im Jahre 1903. Victor de Karavodine entwickelte dann im Jahre 1906 die Grundlagen des Pulsstrahltriebwerks. Georges Marconnet schlug im Jahr 1909 diese Triebwerksart als Strahltriebwerk für Luftfahrtanwendungen vor. Trotzdem wurde das Turbinenstrahltriebwerk die erste Bauform, die, neben Raketen, ein Flugzeug antrieb.
Eine Nebenlinie zur Herstellung eines Strahltriebwerks waren hybride Entwürfe, bei denen die Kompression durch eine externe Energiequelle erfolgte. In einem solchen System wie beim Thermojet von Secondo Campini – einem Motor-Luftstrahltriebwerk – wurde die Luft durch ein Gebläse, das durch einen konventionellen Benzin-Flugmotor angetrieben wurde, mit dem Treibstoff vermischt und dann zur Schuberzeugung verbrannt. Es gab drei Exemplare dieser Bauart, und zwar die Coanda-1910 von Henri Marie Coandă, die viel später entwickelte Campini Caproni CC.2 und den japanischen Tsu-11-Antrieb, der für die Ohka Kamikaze-Flugzeuge gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vorgesehen war. Keiner dieser Antriebe war erfolgreich, die Campini-Caproni CC.2 stellte sich – obwohl sie schon über einen Nachbrenner verfügte – schließlich als im Normalbetrieb langsamer als ein konventionelles Flugzeug mit einem gleichen Flugmotor heraus.
Triebwerksentwicklung von Frank Whittle (Radialtriebwerk)
Der Engländer Frank Whittle reichte schon 1928 verschiedene Vorschläge zum Bau von Strahltriebwerken ein, konnte aber keine Partner gewinnen.
Der Schlüssel zu einem verwendbaren Strahlantrieb war die Gasturbine, bei der die Energie zum Antrieb des Kompressors von der Turbine selbst stammte. Die Arbeit an einer solchen integrierten Bauart begann in England 1930. Whittle reichte entsprechende Patente für einen solchen Antrieb ein, die 1932 anerkannt wurden. Sein Triebwerk besaß eine einzige Turbinenstufe, die einen Zentrifugalkompressor antrieb.
Im Jahre 1935 gründete Rolf Dudley Williams die Firma Power Jets Ltd. und setzte Whittle als Entwicklungschef ein. Whittle konstruierte ein Triebwerk, den Typ U, dessen erster Testlauf am 12. April 1937 erfolgte und gute Ergebnisse zeigte. Das Ministry for Coordination of Defence (Kriegsministerium) stellte daraufhin Geld zur Verfügung, und es begann die Entwicklung des luftfahrttauglichen Typs W.1. Die Firma Gloster Aircraft wurde beauftragt, ein geeignetes Flugzeug herzustellen. So entstand das erstmals am 15. Mai 1941 geflogene Versuchsflugzeug Gloster E.28/39.
Triebwerksentwicklung von Hans von Ohain (Axialtriebwerk)
Unabhängig von Whittles Arbeiten begann 1935 Hans von Ohain in Deutschland seine Arbeit an einem ähnlichen Triebwerk. Ohain wandte sich an Ernst Heinkel, der sofort die Vorteile des neuen Antriebskonzeptes erkannte. Ohain bildete zusammen mit seinem Mechanikermeister Max Hahn eine neue Abteilung innerhalb der Firma Heinkel.
Der erste Antrieb – Heinkel HeS 1 – lief bereits 1937. Anders als Whittle benutzte Ohain zunächst Wasserstoff als Treibstoff, worauf er auch seine raschen Erfolge zurückführte. Die nachfolgenden Entwürfe fanden ihren Höhepunkt im Heinkel HeS 3 mit 5,4 kN, das in die eigens hierfür konstruierte Heinkel He 178 eingebaut wurde. Nach einer beeindruckend kurzen Entwicklungszeit flog dieser Prototyp bereits am 27. August 1939 in Rostock als erstes Düsenflugzeug der Welt. Als erstes Strahltriebwerk in Serie wurde später das Jumo 004 ab 1942 produziert, welches unter anderem in der zweistrahligen Messerschmitt Me 262 zum Einsatz kam.
In der Luftfahrt setzte sich schließlich das Axialtriebwerk durch.
Militärische Entwicklung während des Zweiten Weltkrieges
Die deutschen Turbojet-Triebwerke waren durchweg mit einem Axialverdichter ausgerüstet und hatten so einen kleineren Durchmesser als die englischen Typen mit Radialverdichter. Die Hauptentwicklungslinien waren das Junkers Jumo 004, das mit ca. 4750 Einheiten bei der Messerschmitt Me 262 und der Arado Ar 234 zum Einsatz kam. Das später serienreife und in nur 750 Stück produzierte BMW 003 wurde bei der Heinkel He 162 und Arado Ar 234 verwendet.
Priorität der deutschen Entwicklungslinie hatte die Erhöhung der Geschwindigkeit; Kraftstoffverbrauch, Gewicht und Stabilität sollten im Laufe der Entwicklung verbessert werden. Nach 1941 galt es, eine neue Leistungsmarke von 800 kp (7,85 kN) zu erreichen. Man verwendete bald nicht mehr Normalbenzin, sondern Dieselkraftstoff, der leichter zu beschaffen war und einen höheren Siedepunkt hat. Man benötigte jetzt jedoch eine modifizierte Zündanlage.
Bis zum Ende des Krieges wurden etwa 6700 Triebwerke der Typen BMW-003 und Jumo 004 hergestellt, welche weiterhin Verbesserungen bei der Leistung erreichten, die später bei etwa 900 kp (8,83 kN) lag. Das Heinkel-Triebwerk HeS 011 lief bei Kriegsende mit 1300 kp (12,75 kN) und war das stärkste Turbojettriebwerk der Welt. Bei BMW und Heinkel befanden sich auch die ersten Propellerturbinen in der Entwicklung.
Auf der Basis des W.1 wurde in Großbritannien das Triebwerk Rolls-Royce Welland entwickelt, das etwa 7,56 kN Schub abgab. Dieses Triebwerk wurde anfangs in der Gloster Meteor verwendet. Eine weiter leistungsgesteigerte Variante war die Rolls-Royce Derwent, die ebenfalls in der Meteor Verwendung fand. Diese beiden Triebwerke wurden auf britischer Seite für Kampfflugzeuge im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Auf diesem Konzept – Radialverdichter, Rohrbrennkammer und Axialturbine – fußte die gesamte Entwicklungslinie der in der Nachkriegszeit erfolgreichen britischen Strahltriebwerkstechnik, bis 1950 das Rolls-Royce Avon mit Axialverdichter serienreif war.
Das erste einsatzbereite amerikanische Strahltriebwerk war das ebenfalls aus dem britischen W.1 entwickelte General Electric J31 mit Radialverdichter und eine Axialturbine, welches in der Bell P-59 zum Einsatz kam. Das wesentlich leistungsfähigere Allison J33 beruhte auf dem de Havilland Goblin. Es wurde in der Lockheed P-80 eingesetzt und kam für den Einsatz im Zweiten Weltkrieg de facto zu spät.
In der Sowjetunion gab es vor dem Zweiten Weltkrieg 13 Projekte für Strahltriebwerke. Während des Zweiten Weltkrieges fanden keine wesentlichen Entwicklungen an Strahltriebwerken statt. 2 der 13 Projekte konnten kurz nach dem Krieg fertig gestellt werden und zwar das erste sowjetische Turbojet-Triebwerk von Archip Michailowitsch Ljulka, und das erste sowjetische Turboprop-Triebwerk von Wladimir Uwarow.
Militärische Weiterentwicklung
Das erarbeitete Wissen bildete mit die Grundlage für weitere Entwicklungen in den Militärbündnissen des Warschauer Pakts und in der NATO. Ziel der Entwicklungen war zunächst die Leistungssteigerung, ohne dass die Baugröße geändert werden musste. Das führte schnell zur Entwicklung der Nachbrennertriebwerke, die mit einem geringen zusätzlichen Gewicht eine wesentliche Leistungssteigerung brachten. Diese wurde jedoch auf Kosten des Kraftstoffverbrauchs erzielt. Typische Vertreter in den 1950er Jahren waren im Westen das General Electric J79, im Osten das Tumanski R-11. Beide Triebwerke ermöglichten den Vorstoß in Geschwindigkeitsbereiche bis Mach 2. Die technischen Probleme waren weitestgehend gelöst. Erst der Vorstoß in Richtung Mach 3 Mitte der 1960er Jahre forderte eine Weiterentwicklung. In der Sowjetunion wurde das Tumanski R-31 entwickelt und in den USA das Pratt & Whitney J58, welches wegen der thermischen Belastung bei diesen Geschwindigkeiten mit einem Spezialkraftstoff (JP-7) betrieben wurde.
Mit dem Ende des Wettrennens um immer höhere Geschwindigkeiten und Flughöhen änderten sich auch die Anforderungen an die Triebwerke. Gefordert wurden nun hohe Leistungsdichte bei geringem Verbrauch, gute Beschleunigungsfähigkeit und Überschallfähigkeit. Dies führte zur Einführung von Turbofans auch im militärischen Bereich, etwa des Pratt & Whitney F100 oder des Tumanski R-33. Um den breiten Geschwindigkeitsbereich abdecken zu können, kamen teils sehr komplexe Lufteinläufe auch bei einfachen Maschinen zur Anwendung. Insgesamt wurden die Triebwerke immer leistungsfähiger, um den Kampfpiloten eine gute Chance bei Luftkämpfen ohne Einsatzmöglichkeit der Raketenbewaffnung zu geben.
Zivile Weiterentwicklung
Das erste zivile Flugzeug mit Strahlantrieb war eine Vickers Viking, die versuchsweise mit zwei Rolls-Royce-Nene-Triebwerken von Propeller- auf Strahlantrieb umgerüstet worden war. Sie absolvierte am 6. April 1948 ihren Erstflug und bewies die prinzipielle Verwendbarkeit dieser Antriebsform auch in der zivilen Luftfahrt.
Zunächst wurden militärisch verwendete Typen adaptiert und in der zivilen Luftfahrt eingesetzt. So wurde das erste serienmäßig strahlgetriebene Verkehrsflugzeug, die De Havilland „Comet“, mit de-Havilland-Ghost-Triebwerken ausgerüstet, die auch im Jagdflugzeug de Havilland DH.112 „Venom“ Verwendung fanden. Die Comet fand bei den Passagieren aufgrund des schnellen und vibrationsfreien Flugs zunächst sehr guten Anklang. Durch eine rätselhafte Unglücksserie mit Comet-Flugzeugen (die jedoch nichts mit den neuen Triebwerken zu tun hatte) kam es jedoch Mitte der 1950er zu einer erheblichen Skepsis von Passagieren und Fluglinien gegenüber Düsenflugzeugen und zu einer Stagnation in der Entwicklung von zivilen Strahltriebwerken. Man bevorzugte Turboprop-Maschinen, und so kam dieser Triebwerkstyp in seiner Entwicklung gut voran. Er war ebenfalls fast vollkommen problemlos. Triebwerke dieser Entwicklungsphase, etwa das Rolls-Royce Dart, leiteten sich noch weitestgehend aus den Turbojettriebwerken der ersten Generation ab.
Die Sowjetunion arbeitete an beiden Triebwerkstypen parallel. Das bisher leistungsstärkste Turboproptriebwerk, das Kusnezow NK-12, eigentlich für die Tupolew Tu-95 entwickelt, kam kurz darauf auch in der zivilen Tupolew Tu-114 zur Anwendung und bewies, dass die Leistungsbereiche von Turbojet- und Turboproptriebwerken nicht weit auseinander lagen, mit Vorteilen in der Geschwindigkeit beim Turbojet und Vorteilen beim Verbrauch beim Turboprop.
Das Mikulin AM-3 der 1955 vorgestellten Tupolew Tu-104 war ebenso eine Ableitung aus einem militärischen Triebwerk wie das Pratt & Whitney JT3, das eigentlich ein militärisches Pratt & Whitney J57 ist. 1954 wurde der erste Turbofan vorgestellt, der Rolls-Royce Conway, der ebenso wie das Pratt & Whitney JT3D eine Ableitung eines Turbojettriebwerks war und nur ein relativ geringes Nebenstromverhältnis aufwies. Das erste speziell für den zivilen Markt entwickelte Strahltriebwerk war das 1960 vorgestellte sowjetische Solowjow D-20, wodurch gleichzeitig diese Antriebsart auch die Kurzstrecke erschloss, da es im Vergleich zu den Turbojets auch bei geringen Geschwindigkeiten einen akzeptablen Verbrauch aufwies.
Der Turbofan setzte sich schnell durch. Mitte der 1960er Jahre wurden praktisch keine zivil eingesetzten Turbojets mehr verkauft. Kleinere Strahltriebwerke wie das General Electric CJ-610 für Geschäftsreiseflugzeuge, etwa den Learjet, wurden Anfang der 1960er ebenso gefordert und auf den Markt gebracht wie die neuen Turbofans mit hohem Bypass-Verhältnis für die Wide-Body-Maschinen, etwa die McDonnell Douglas DC-10 oder die Boeing 747. Typische Vertreter dieser Zeit waren das Rolls-Royce RB211, das General Electric CF6 oder das Pratt & Whitney JT9D. Die Sowjetunion hatte zu diesem Zeitpunkt den Anschluss bei den Turbofans etwas verloren. Die weitere Entwicklung schien jedoch auch auf dem zivilen Markt in Richtung Überschallverkehr zu zeigen, und so entwickelte man in Europa das Rolls-Royce Olympus 593, eine zivile Variante des militärischen Nachbrennertriebwerks, für die Concorde, und das sowjetische Kusnezow NK-144, das auf dem militärischen Kusnezow NK-22 basierte, für die Tupolew Tu-144.
Die erste Ölkrise und die damit verbundene explosive Kostensteigerung bei der Energienutzung zwang zu einem Umdenken. Seit diesem Zeitpunkt stand die Triebwerkseffizienz bei Neuentwicklungen im Vordergrund. Das CFM 56 ist ein Vertreter dieser Zeit. Mit diesem Triebwerk wurden Umrüstprogramme für Turbojet-angetriebene Flugzeuge wie die Douglas DC-8 oder die Boeing 707 angeboten und erlaubten so eine Weiterverwendung dieser teilweise recht jungen Maschinen. Gleichzeitig wurde der Fluglärm zum zentralen Thema. Auch hier jedoch halfen die modernen Triebwerks-Entwicklungen.
Aktuelle zivile Entwicklung
Die Entwicklungstendenz zeigt weiter zum sparsameren, effizienteren und umweltfreundlicheren Triebwerk. Grundsätzlich zielt die Entwicklung bei zivilen Strahlantrieben auf eine höhere Verdichtung, eine höhere Brennkammertemperatur, ein höheres Bypassverhältnis, eine höhere Zuverlässigkeit und längere Lebensdauer der Triebwerke.
Aktuelle Triebwerkstypen (wie das General Electric GE90, das Pratt & Whitney PW4000 oder das Rolls-Royce Trent 800) haben dabei einen um 45 % reduzierten spezifischen Kraftstoffverbrauch gegenüber Turbojets der ersten Generation. Der Triebwerksdurchmesser dieser Aggregate erreicht bis zu 3,5 m bei einem Schub von über 500 kN (GE90-115B).
Das PW1000G besitzt ein Untersetzungsgetriebe für den Fan (Getriebefan). Der Vorteil ist, dass die Niederdruckturbine mit einer höheren Drehzahl betrieben werden kann, was einen besseren Wirkungsgrad verspricht. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die Fanschaufeln last- und drehzahlabhängig zu verstellen. Insgesamt nähert sich der Fan so einer gekapselten Luftschraube (engl.: Ducted Fan). Noch einen Schritt weiter geht die CRISP (engl.: counter-rotating integrated shrouded propfan)-Technologie, bei der zwei verstellbare, gegenläufige Luftschrauben in einem Fan-Gehäuse sitzen. Diese Triebwerke, etwa das Kusnezow NK-93, erreichen bei akzeptablen äußeren Abmessungen bereits ein Nebenstromverhältnis von 16,6.
Mehrstufige Brennkammern zeigen ein günstigeres Verhalten bei NOx (bis zu 40 % weniger Stickoxide), liegen bei den CO-Werten aber an der oberen Grenze und zeigen besonders im Leerlauf einen erhöhten Verbrauch. Durch die mehrstufige Verbrennung wird die Maximaltemperatur in der Brennkammer gesenkt, die hauptsächlich für die Entstehung von NOx verantwortlich ist.
Eine weitere Möglichkeit, den Wirkungsgrad zu verbessern, ist die Verwendung eines Abgaswärmeübertragers mit einem Zwischenkühler. Dabei wird die Abgastemperatur (z. B. durch einen Lanzettenkühler im Abgasstrahl) und die Temperatur der Luft vor dem Hochdruckverdichter (durch den Zwischenkühler) gesenkt und die Luft vor der Brennkammer erwärmt. Triebwerke mit dieser Technik werden auch rekuperative Triebwerke genannt.
Des Weiteren werden beim Verdichter zunehmend Blisk-Komponenten verarbeitet, bei denen Verdichter- oder Turbinenschaufeln und Turbinenscheibe aus einem Stück gefertigt werden oder nach der Einzelfertigung durch ein Reibschweißverfahren zusammengefügt werden. Dies ergibt ebenfalls Vorteile im Wirkungsgrad, da die Komponenten höher belastet werden können und eine geringere rotierende Masse aufweisen.
Neuen technologischen Ansätzen stehen zum Teil Bedenken der Betreiber, also der Luftfahrtgesellschaften, gegenüber: Diese wollen nur voll ausgereifte Technologien und Triebwerke mit z. B. geringer Teileanzahl verwenden.
Es zeichnet sich ein ständiger Zielkonflikt ab zwischen:
Anzahl der Teile in einem Triebwerk,
Wirkungsgrad,
Treibstoffverbrauch,
Abgasemissionen,
Geräuschemissionen,
Gewicht und
Wartungsfreundlichkeit
Bei einer Entwicklungsdauer von fünf bis acht Jahren ist es jedoch schwierig, die Marktanforderungen vorauszusagen.
Im Moment werden Treibstoffkosten wieder etwas höher bewertet. Auf der Suche nach alternativen Kraftstoffen werden unterschiedliche Ansätze verfolgt: An einem Airbus A380 der Qatar Airways wurde eines der vier Triebwerke zu Testzwecken auf den Betrieb mit GTL-Kraftstoffen umgestellt. Auch Boeing testete in einer Kooperation mit Virgin Atlantic an einem Triebwerk einer 747-400 den Einsatz von Kokos- und Babassu-Öl als Biotreibstoff. Auch werden für die Nutzung regenerativer Energien Triebwerke mit Wasserstoff als Treibstoff untersucht. Von der Turbinentechnik her erscheint das problemlos, das Gewicht von Wasserstoff ist bei gleichem Energiegehalt sogar geringer als das von Kerosin, jedoch muss der Wasserstoff tiefkalt (−253 °C) mitgeführt werden und benötigt wegen seiner selbst verflüssigt geringen Dichte ein großes Volumen. Alle diese Untersuchungen befinden sich jedoch noch in einem Stadium, das einen Einsatz alternativer Kraftstoffe im regulären Alltagsflugbetrieb in den nächsten Jahren nicht erwarten lässt.
Im Kurzstreckenbereich finden jedoch nach wie vor langsamere und kraftstoffsparende Flugzeuge mit Propellerturbinen ihr Einsatzgebiet, da sie unter diesen Betriebsbedingungen günstiger sind. Das Problem der hohen Geräuschemissionen wird dabei zunehmend durch Einsatz von Propellern mit mehr Blättern erheblich verringert.
Mittlerweile werden die ersten Segelflugzeuge mit einem kleinen ausklappbaren Strahltriebwerk ausgerüstet, um als sogenannte „Heimkehrhilfe“ bei nachlassender Thermik zu dienen.
Triebwerksmarkt
Die drei bedeutendsten Hersteller sind GE Aviation (General Electric), Rolls-Royce, Pratt & Whitney (Raytheon Technologies), gefolgt von Safran Aircraft Engines und MTU Aero Engines.
Insgesamt konzentriert sich der Markt der Anbieter und es kommt zu globalen Allianzen am Triebwerksmarkt. Beispiel hierfür ist der Zusammenschluss von General Electric und Pratt & Whitney zu einem Joint Venture namens Engine Alliance für Entwicklung und Bau des GP7200 Triebwerks. Im militärischen Bereich werden Kooperationen aufgrund von multinationalen Projekten häufig durch die damit verbundenen nationalen Arbeitsanteile erzwungen. So gründeten beispielsweise Industria de Turbo Propulsores (spanisch), MTU Aero Engines (deutsch), Rolls-Royce (britisch) und Safran Aircraft Engines (französisch) für die Entwicklung des A400M-Triebwerks eigens die EPI Europrop International GmbH.
Unfallrisiken
Auf Flugzeugträgern wird auf kurzer Startbahn mit Katapult gestartet; das Ankoppeln des Fahrwerks ans Katapult erfolgt von Hand durch eine Person erst unmittelbar vor dem Start, während die Triebwerke schon hochgefahren werden. Am Lufteinlass wird Luft mit einer so hohen Volumenrate eingesaugt, dass ein Sicherheitsabstand von 6 m rundum empfohlen wird. Wiederholt sind Menschen eingesaugt worden, die entgegen Vorschrift und guter Praxis sich vor einem Einlass aufhielten. Insbesondere kleine Flugzeuge, wie militärische Jäger, haben niedrig liegende Einlässe. Kommt hier eine Person zu nahe, läuft sie Gefahr, vom Luftstrom ins Triebwerk eingesaugt und von den rotierenden Schaufelblättern getötet zu werden.
Der Abgasstrahl hinter einem Flugzeug kann so stark und schnell sein, dass eine Person umgeworfen und weggeblasen, auf Flugzeugträgern auch über Bord geblasen werden kann. Der Princess Juliana International Airport der Karibik-Insel Saint Martin ist weltweit dafür bekannt, dass landende, große Flugzeuge nur 10–20 m über die Köpfe von Schaulustigen an einem Strand hinwegfliegen müssen, und diese sich sehr nah hinter startenden Flugzeugen aufhalten können. Es kam wiederholt zu schweren Verletzungen und auch zu einem Todesfall (2017).
Literatur
The Jet engine Rolls-Royce, Derby 1969, 1971, 1973, 1986. ISBN 0-902121-04-9 (sehr gut bebildert).
The Jet engine Rolls-Royce, 65 Buckingham Gate, London SW1E 6AT, England, ISBN 0-902121-23-5 (sehr gut und aktuell bebildert).
Klaus Hünecke: Flugtriebwerke. Ihre Technik und Funktion. Motorbuchverlag, Stuttgart 1978, ISBN 3-87943-407-7.
Willy J.G. Bräunling: Flugzeugtriebwerke. Grundlagen, Aero-Thermodynamik, ideale und reale Kreisprozesse, Thermische Turbomaschinen, Komponenten, Emissionen und Systeme, 4. Auflage, Springer Vieweg Berlin Heidelberg 2015, ISBN 978-3-642-34538-8, Band I + II.
Hans Rick: Gasturbinen und Flugantriebe. Grundlagen, Betriebsverhalten und Simulation. Verlag Springer Vieweg Heidelberg London New York 2013, ISBN 978-3-540-79445-5.
Reinhard Müller: Luftstrahltriebwerke, Grundlagen, Charakteristiken, Arbeitsverhalten. Verlag Vieweg, Braunschweig 1997, ISBN 3-528-06648-2.
Ernst Götsch: Luftfahrzeugtechnik. Motorbuchverlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-613-02006-8.
Klaus L. Schulte: Kleingasturbinen und ihre Anwendungen. K.L.S. Publishing, Köln 2012, 2. Auflage, ISBN 978-3-942095-42-6.
Kral Schesky: Flugzeugtriebwerke. Rhombos Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-930894-95-5.
Andreas Fecker: Strahltriebwerke: Entwicklung – Einsatz – Zukunft. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-613-03516-4.
Hubert Grieb: Projektierung von Turboflugtriebwerken. Buchreihe Technik der Turboflugtriebwerke. Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin 2004.
Alfred Urlaub: Flugtriebwerke – Grundlagen, Systeme, Komponenten. Springer, Berlin, 2. Auflage, 1995.
Weblinks
– aus der Sendung mit der Maus
Geheime Kommandosache: Me 262 Leistungssteigerung (Historisches Dokument von 1945)
Vorlesung am MIT von Professor Z. S. Spakovszky über Thermodynamik und Antriebstechnik (englisch)
Tests und Bedingungen für die Zulassung (PDF, 4,1 MB) Europäische Agentur für Flugsicherheit, 12. März 2015 (englisch).
Rolls Royce – How To Build A Jumbo Jet Engine, in: DocumentaryTube.com, abgerufen am 26. März 2017 (Video, 58:31 Min. englisch, Bau eines Rolls-Royce-Triebwerks).
Videoaufnahmen am Strand hinter dem Princess Juliana International Airport: Video 1 Video 2
Einzelnachweise
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Triebwerkstyp
Gasturbine |
93477 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pecherei | Pecherei | Pecherei ist der im südlichen Niederösterreich gebräuchliche Ausdruck für die Harzgewinnung aus Schwarzkiefern. Die Pecherei dient der Gewinnung von Baumharz, auch „Pech“ genannt, das in weiterer Folge zu einer Reihe chemischer Produkte verarbeitet wird. Denjenigen, der die Pecherei ausübt, bezeichnet man als Pecher. Im Jahr 2011 wurde die Pecherei in Niederösterreich in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich aufgenommen, welches im Rahmen der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes erstellt worden ist.
Der wichtigste Nutzungsbaum für die Pecherei ist die Schwarzkiefer (Pinus nigra), die von allen europäischen Nadelhölzern der harzreichste Baum ist und schon von den Römern zur Harzgewinnung verwendet wurde. Mit 90 bis 120 Jahren befindet sich eine Föhre im günstigsten Alter zur Harzgewinnung. In Niederösterreich ist die österreichische Schwarzföhre der vorherrschende Baum, dessen Harz besonders hochwertig ist und das österreichische Pech zu einem der besten der Welt macht.
Geschichte
Im südlichen Niederösterreich, vor allem im Industrieviertel und im Wienerwald, wurde die Pecherei vermutlich seit dem 17. Jahrhundert betrieben. Eine Urkunde aus dem Jahr 1830 beschreibt dies so:
Ab Beginn des 18. Jahrhunderts begannen Grundherrschaften die Pechgewinnung zu fördern, was zur Entstehung von Pechhütten zur Harzverarbeitung führte. In dieser Zeit wurde die Pecherei und der Handel mit dem Harz zu einer wichtigen Einnahmequelle für Teile der Bevölkerung.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebte die Harzgewinnung und Pechsiederei ihre erste Blütezeit, Preise und Erträge stiegen aufgrund der steigenden Nachfrage ebenfalls stark an.
Ein literarisches Denkmal für dieses Handwerk setzte Adalbert Stifter mit seiner Erzählung Granit. Für die bäuerlichen Familien in diesem Landstrich bildete die Harzgewinnung eine wichtige Einnahmequelle. Ab den 1960ern kam dieses Gewerbe jedoch langsam zum Erliegen. Grund dafür waren vor allem Billigimporte aus den Ostblockländern sowie aus der Türkei, aus Griechenland und aus Portugal. Hinzu kamen noch Fortschritte in der technischen Chemie, die das Harz als Rohstoff in vielen Bereichen überflüssig machten.
Das österreichische Sozialversicherungsrecht kennt bis heute den Beruf des „selbstständigen Pechers“, der wie folgt definiert wird:
Rohstoffe und Verarbeitung
Das Rohharz ist hellgelb. Es ist reich an organischen Kohlenwasserstoffen, arm an Sauerstoff und stickstofffrei. Rohharz besteht aus einem Gemisch von vorwiegend aromatischen Stoffen mit Säureeigenschaften. Seinen aromatisch-würzigen Geruch verdankt das Pech den in ihm reichlich enthaltenen ätherischen Ölen.
Der Harzfluss ist je nach Jahreszeit und Witterung unterschiedlich, Wärme und Feuchtigkeit wirken sich günstig aus. Pro Stamm und Jahr konnten drei bis vier Kilogramm Pech gewonnen werden. Damit ein Pecher mit seiner Familie bescheiden leben konnte, musste er 2500 bis 3000 Bäume harzen. Sein Arbeitstag begann meist schon vor Sonnenaufgang mit dem Marsch zum Arbeitsplatz in den Föhrenwald und dauerte oft zehn bis zwölf Stunden.
Aus dem „Harzbalsam“ wurde in „Pechhütten“ im Destillationsverfahren das Baumharz geschmolzen, sogenanntes „Siedepech“, die Verunreinigungen abgeschöpft oder durchgesiebt, dabei verflüchtigten sich das Terpentinöl und das Wasser, welche kondensierten und in einem Gefäß aufgefangen wurden. Das leichtere Terpentin schwamm auf der oberen Schicht und wurde abgeschüttet. Das vom Terpentin und Wasser befreite „Siedepech“ war nach dem Erkalten eine dunkelgelbe, harte und spröde Masse, das sogenannte „Kolophonium“.
Das gewonnene Terpentinöl und Kolophonium wurden vorwiegend in der Papier-, Lack-, Seifen-, Kabel- und Schuhcremeindustrie verwendet.
Die Jahresarbeit des Pechers
Das Arbeitsjahr des Pechers mit unterschiedlichen Schwerpunkttätigkeiten gliedert sich in Anlehnung an die Jahreszeiten. Wichtigste Arbeiten im Winter waren das Vorbereiten der Geräte und das Anfertigen der Pechscharten mit dem Schartenhobel.
Besonders aufwendig waren die Arbeiten im Frühjahr. Je nach verwendeter Methode unterschieden sich dabei die einzelnen Arbeitsschritte:
Grandl- oder Schrottmethode
Zu Beginn der Pecherei sammelte man das Harz am unteren Stammende in einfachen, mit Lehm ausgeschmierten Erdgruben. Wegen der dadurch verursachten Verschmutzung des Harzes entwickelte man die Grandl- oder Schrottmethode. Dazu arbeitete der Pecher für die Harzaufnahme in Bodennähe mit der Hacke eine „Grandl“ oder „Schrott“ genannte Ausnehmung aus dem Holz heraus. Da der neue Harzbehälter glatt und sauber sein musste, wurde das Grandl mit einer schmaleren Hacke mit abgerundeter Schneide, dem Mond- oder Schrotthackl (3), geglättet. Mit einem zugespitzten Holzstück, dem Rowisch (1), wurden die Holzspäne aus dem Inneren entfernt. Gleichzeitig diente der Rowisch als Zählstab: Nach jedem neu angefertigten Schrott schnitt der Pecher eine Kerbe in den Rowisch. So kannte er immer die Anzahl der fertigen Bäume.
Mit dem Dexel, der später auch das Zunftzeichen der Pecherei wurde, und der Hacke (7) entfernte der Pecher anschließend die Rinde vom Baumstamm. Um nun den Harzfluss in den Sammelbehälter leiten zu können, mussten Pechscharten quer über den Stamm angelegt werden.
Etwa dreimal in zwei Wochen folgte vom Frühjahr bis zum Frühherbst das Plätzen als älteste Arbeitsmethode. Dabei schlug der Pecher mit dem Plätzdexel (11) stückweise die Rinde bis zum Stamm herunter, sodass die Lachte immer größer wurde und der Harzfluss aufrechtblieb.
Ein Grandl oder Schrott nahm je nach Größe zwischen 0,25 und 0,35 kg Pech auf. Ein auf diese Weise bearbeiteter Baum konnte 12 bis 18 Jahre lang Pech liefern.
Zeschen und Plätzen
In der Zwischenkriegszeit begann die Umstellung von der Grandl- auf die Zapfbechermethode, bei der Pechhäferl verwendet wurden. Dazu mussten neue Pechbäume, die „Heurigen“ vom Boden weg mit der Hacke abgerichtet werden. Bei diesem Vorgang, dem Zeschen, wurde zuerst mit der Anzeschhacke (4) und dann mit dem Rintler (5) die Rinde von etwa einem Drittel des Stammumfanges entfernt, sodass eine V-förmige Abgrenzung entstand.
Anschließend musste der Pecher mit dem Fürhackdexel (6) oder mit der Anzeschhacke jeweils an der rechten Seite des Baumstamms eine Nut zur Aufnahme der Pechscharten, die Laß, hacken und die Pechscharten einziehen. Knapp unterhalb der engsten Stelle wurde mit dem Fürhackdexel ein Schnabel zur Aufnahme des Pechhäferls herausgehackt, eine Pechnagellänge darunter ein Pechnagel (9) eingeschlagen und zum Schluss das Pechhäferl mit dem Deckel aufgesetzt. Damit war der Baum zur Harzgewinnung fertig vorbereitet und musste, wie oben beschrieben, in regelmäßigen Abständen geplätzt werden.
Die bereits mehrere Jahre gepechten Bäume wurden auf ähnliche Weise bearbeitet. Beim „Fürhacken“ nahm der Pecher seine Arbeitsgeräte, die Pechscharten, den Pechnagel und die Pechhäferl beim Hinaufklettern auf die Leiter mit. Nach dem Entfernen der Rinde mit dem Rintler (5), dem Aufhacken, also dem Entfernen des verkernten Teils an den Lachterändern, dem Laßhacken und dem Einsetzen der Pechscharten folgte statt des Schlagens des Schnabels mit dem Fürhackdexel das Anschlagen mit dem Anschlageisen (10) und -hammer (11).
Ritzen
Wie bei allen Bearbeitungsmethoden musste beim Rillenschnitt, dem Ritzen, vorher mit dem Rintler (5) der obere Teil der Baumrinde entfernt werden. Anschließend nahm der Pecher mit dem Ritzer eine mehrere Millimeter dicke Rindenschicht ab. Wichtig war dabei eine genaue Schnittführung. Bei diesem Hobelverfahren entstanden keine zusammenhängende Flächen, sondern v-förmige Rillen im Stamm. Dadurch ersparte sich der Pecher das Einsetzen der Pechscharten, da das Harz durch die Rillen ins Pechhäferl fließen konnte.
Obwohl bei der Ritzmethode durch den Wegfall des Fürhackens eine Arbeits- und Zeitersparnis entstand, wurde sie im südlichen Niederösterreich nur vereinzelt angewendet, da der Ertrag bis zu 50 % geringer war als bei den beiden anderen Harzgewinnungsverfahren, dem Plätzen und Hobeln. Das Hauptproblem beim Ritzverfahren lag aber in der Verstopfung der Rillen mit Harz. Deshalb kehrten die meisten Pecher wieder zum Hobelschnitt zurück. Der Rillenschnitt wurde vorwiegend bei der Harznutzung der Waldkiefer angewendet.
Zeschen und Hobeln
Da das Plätzen sehr anstrengend war, entwickelten die Pecher die neue Arbeitsmethode des Hobelns. Das war nicht nur weniger anstrengend, sondern erforderte auch einen geringeren Zeitaufwand.
Das Arbeitsverfahren für neue und bereits mehrere Jahre bearbeitete Pechbäume blieb wie bereits oben beschrieben gleich, nur wurde anstelle des Plätzens eben das Hobeln angewendet. Mit dem Hobel (12) schnitt der Pecher mit einem einzigen Schnitt einen breiten, flachen Span vom Stamm. Beim Plätzen konnte dies erst mit vielen Schlägen des Dexels erreicht werden. Auf diese Weise brauchte er nur etwa ein Sechstel der Zeit, die er für das Dexeln benötigt hatte.
Nicht nur bei neu angelegten Pechbäumen, den sogenannten „Heurigen“, sondern auch bei bereits seit mehreren Jahren bearbeiteten Föhren wurde das Hobeln praktiziert und zwar wie beim Plätzen insgesamt dreimal innerhalb von zwei Wochen, wobei der Pecher meist in der ersten Woche ein Mal und in der zweiten Woche zweimal aufhobelte. Das wiederholte sich etwa sechs bis acht Mal, bis das Häferl voll war und begann anschließend wieder von vorn.
Die Harzernte
Bei der je nach Witterung drei- bis viermal jährlich von Frühjahr bis Herbst stattfindenden Harzernte, dem „Ausfassen“, helfen meist die Familie und Verwandte mit. Dabei wurden die rund 0,75 bis 1 kg des Pechhäferls mit dem Pechlöffel in das zwischen 25 und 30 Pechhäferl fassende Pechpittel geleert und dieses wiederum in das Pechfass gegeben. Das so genannte „Pechscherrn“ bildete im Herbst die letzte Arbeit des Pechers. Dabei musste mit dem Pechscherreisen (15) das festgewordene Harz von der Lachte entfernt werden. Mit dem Pechkrickel kratzte der Pecher das starre Harz am Schartenrand und an der Laß ab und nahm die Pechscharten heraus. Das in einem Schurz, dem Scherrpechpfiata, aufgefangene Harz leerte er in das nach oben offene Scherrpechfass und trat es mit den Füßen fest. Dieses Scherrpech war von schlechterer Qualität als das Häferlpech und erzielte deshalb auch nur einen geringeren Preis.
Weitere Werkzeuge und Einrichtungen
Ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Bearbeitung von bereits mehrere Jahre gepechten Bäumen war die Leiter. Sie wurde aus zwei dünnen, langen Föhrenbäumchen, die als Holme dienten, und zähem Hartriegelholz für die Sprossen angefertigt. Bis zu 22 Leitersprossen, das entspricht einer Höhe von 6 m, ist ein Berufspecher mehrere hundert Male am Tag hinauf gestiegen, hat den Stamm bearbeitet und ist dann mit den an den Oberschenkeln und Knien befestigten Rutschflecken aus Leder hinuntergerutscht.
Nach alter Gepflogenheit wurde mitten im Wald eine Pecherhütte aus Holz errichtet. Sie ähnelte einer Holzhackerhütte und diente vor allem als Schutz und Zuflucht bei Schlechtwetter. Innen stand meist ein grob gezimmerter Tisch und eine Bank. Hier nahm der Pecher auch gelegentlich sein Essen ein. Ab und zu war auch ein Ofen aufgestellt. Fast immer ging der Pecher täglich nach Hause, nur in Ausnahmefällen nächtigte er in der Hütte. Damit die zur Bearbeitung der verschieden hohen Bäume benötigten Leitern nicht immer nach Hause mitgenommen werden mussten, wurde ein Leiterplatz errichtet.
Für die Harzernte, das Ausfassen, wurden anfangs (Rinn-)Pechfässer aus Hartholz, später Eisen- und zuletzt Kunststofffässer im Waldboden bis zur Hälfte eingegraben und blieben bis zum Abtransport in den Pechverarbeitungsbetrieb im Wald. Ein volles Holzfass wog zwischen 130 und 160 kg, ein Eisenfass zwischen 180 und 200 kg.
Um die mitgebrachte Jause besonders im Sommer kühl zu halten, baute der Pecher an einem schattigen Platz eine Wassergrube. Dazu hob er das Erdreich ab, stellte Seitenwände mit Steinen auf, setzte ebenfalls aus einem Stein einen Deckel auf und bestreute zum Abschluss die kleine Grube mit Reisig.
Auswirkungen auf den Baum
Im Gegensatz zum in den Anfängen praktizierten Pechen durch Abbrennen der Rinde über den gesamten Stammumfang der Föhre, bei dem der Baum abstarb, beeinträchtigt die modernere Form, bei der die Rinde nur von rund einem Drittel des Stammumfanges entfernt wird, die Lebensfähigkeit des Baumes nicht. Zwar ist der Stamm im Bereich des freigelegten Holzes anfälliger für Witterungseinflüsse und Schädlinge, doch wird die Baumwunde durch das austretende Harz auch konserviert und geschützt. Es ist daher möglich, eine Föhre ein zweites Mal – auf der gegenüberliegenden Seite – zu pechen. Die Versorgung der Krone mit Wasser und Nährstoffen wird dann durch zwei schmale, einander gegenüberliegende Rindenstreifen, dem „Leben“, gewährleistet, sodass der Baum auch in diesem Fall noch weiter wachsen kann. Derartige Bäume wurden „Lebenszuleiter“ genannt.
Das Holz von gepechten Bäumen ist allerdings von geringerer Qualität als das ungepechter und wird daher lediglich als Brennholz verwendet.
Weblinks
Harzung auf forstwirtin.bplaced.net, abgerufen am 4. Januar 2017.
Pecherlehrpfad Hölles (Österreich)
Ursula Schnabl; Vom Glück mit dem Pech (die traditionelle Nutzung und Gewinnung pflanzlicher Rohstoffe und Arbeitsmaterialien am Beispiel der österreichischen Harzgewinnung). Diplomarbeit am Institut für Botanik der Universität für Bodenkultur Wien, 2001 (PDF-Datei; 1,46 MB).
Ast, H. und Winner G.; Pecherei-Geräte - Historische Holzverwendung. Publikation, 2011 (PDF-Datei; 984 KB), abgerufen am 25. Januar 2023.
Literatur
Herbert Kohlross (Hrsg.): Die Schwarzföhre in Österreich. Ihre außergewöhnliche Bedeutung für Natur, Wirtschaft und Kultur. Eigenverlag, Gutenstein 2006. ISBN 3-200-00720-6
Erwin Greiner: Pecher, Pech und Piesting. Eine lokalhistorische Dokumentation über die Schwarzföhre, das Pech, den Pecher und das Harzwerk sowie über die Frühgeschichte von Markt Piesting und Umgebung. Fremdenverkehrsverein, Markt Piesting. Niederösterreichische Verlags Gesmbh, Wiener Neustadt 1988.
Heinz Cibulka, Wieland Schmied: Im Pechwald. Edition Hentrich, Wien-Berlin 1986. ISBN 3-926175-13-3
Helene Grünn: Die Pecher. Volkskunde aus dem Lebenskreis des Waldes. Manutiuspresse, Wien-München 1960.
Einzelnachweise
Waldnutzung
Harz
Holzverschwelung
Immaterielles Kulturerbe (Österreich) |
95298 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hy%C3%A4nen | Hyänen | Die Hyänen (Hyaenidae) sind eine Säugetierfamilie aus der Ordnung der Raubtiere (Carnivora) mit vier rezenten Arten, die in weiten Teilen Afrikas sowie im westlichen und südlichen Asien leben. Häufig ist mit dem Begriff Hyäne speziell die größte und individuenreichste Art Tüpfelhyäne gemeint, die vor allem durch ihre Rivalität zu Löwen häufig in Tierfilmen zu sehen ist.
Bei den Hyänen werden zwei Unterfamilien unterschieden. Die drei Arten der ersten, der Eigentlichen Hyänen (Hyaeninae), sind durch ein kräftiges Gebiss charakterisiert: die Tüpfel-, die Streifen- und die Schabrackenhyäne. Die Tüpfelhyäne ernährt sich vorwiegend durch aktive Jagd, während die Streifen- und die Schabrackenhyäne in erster Linie Aasfresser sind. Die monotypische zweite Unterfamilie (Protelinae) repräsentiert der Erdwolf, der sich fast ausschließlich von den Vertretern einer Termitengattung ernährt, und dessen Backenzähne deswegen stark verkleinert sind. Hauptbedrohung für die Hyänen stellt die Bejagung durch den Menschen dar.
Merkmale
Allgemeiner Körperbau und Fell
Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt 55–160 cm, der Schwanz ist mit 20–40 cm relativ kurz. Die Schulterhöhe misst 45–81 cm, die Vorderbeine sind länger und kräftiger gebaut als die Hinterbeine, was die Ursache für den bei allen Hyänenarten typischen, schräg nach hinten abfallenden Rücken darstellt. Die Weibchen der Tüpfelhyänen, der größten Art, sind rund 10 % größer als die Männchen; bei den anderen Arten gibt es keinen signifikanten Geschlechtsdimorphismus hinsichtlich der Größe. Die Eigentlichen Hyänen wiegen 26–55 kg, wobei einzelne Tüpfelhyänen bis zu 86 kg erreichen; der Erdwolf ist mit 8–14 kg die bei weitem kleinste und leichteste Art. Hyänen haben an Vorder- und Hinterbeinen vier Zehen, außer dem Erdwolf, der an den Vorderbeinen je einen Zeh mehr aufweist. Die Pfoten tragen stumpfe, nicht einziehbare Krallen.
Die Deckhaare sind rau, mit Ausnahme der Tüpfelhyäne besitzen alle Arten eine lange Rückenmähne, die sich von den Ohren bis zum Schwanz erstreckt. Diese Mähne kann aufgerichtet werden, wodurch das Tier größer erscheint. Beim Fell der einzelnen Arten zeigen sich verschiedene Brauntöne, die Tüpfelhyäne ist gefleckt, die Streifenhyäne und der Erdwolf sind gestreift, nur die Schabrackenhyäne ist weitgehend einfarbig. Der Schwanz ist buschig.
Die Weibchen haben ein bis drei Paare Zitzen, den Männchen fehlt – im Unterschied zu den meisten anderen Raubtieren – der Penisknochen (Baculum). Weibliche Tüpfelhyänen weisen eine unter den Säugetieren einmalige Maskulinisierung („Vermännlichung“) auf: Die Clitoris ist vergrößert, die Schamlippen sind verschlossen und bilden eine hodensackähnliche Struktur. Dieser „Schein-Penis“ verhindert durch seine Lage das Paaren ohne das Einverständnis der Partnerin. Das Urinieren, die Begattung und Geburt erfolgen durch die Clitoris. Heranwachsende Streifenhyänen haben Wölbungen im Genitaltrakt, ausgewachsen zeigen sie jedoch, ebenso wie die beiden anderen Hyänenarten, keine Besonderheiten im Bau des Geschlechtstraktes. Beide Geschlechter besitzen einen gut entwickelten Analbeutel, aus dem ein Sekret abgegeben wird, das zur Reviermarkierung dient.
Kopf und Zähne
Diagnostische Merkmale der Hyänen finden sich im Keilbein, wo der Alisphenoidkanal fehlt, und in den Knochen der Mittelohrregion, wo der endotympanale Teil der Paukenblase klein, der ectotympanale Teil jedoch aufgebläht ist. Darüber hinaus zeigt der Bau des Schädels und der Zähne die größten Unterschiede zwischen beiden Unterfamilien: Die Eigentlichen Hyänen tragen einen wuchtigen Kopf auf ihrem kräftigen Nacken, und ihre Schnauze ist breit gebaut, der Kopf des Erdwolfs hingegen ist schlank mit zugespitzter Schnauze.
Die Schneidezähne der Hyänen sind unspezialisiert, und die äußeren sind größer als die anderen. Die Eckzähne sind vergrößert. Das Gebiss der Eigentlichen Hyänen ist kräftig. Die Prämolaren sind an das Aufbrechen von Knochen angepasst und vergrößert, besonders der dritte obere und der dritte untere Prämolar. Ihr Zahnschmelz besitzt eine komplexe Struktur, was das Zerbrechen der Zähne verhindert. Der vierte obere Prämolar und der erste untere Molar sind wie bei allen Landraubtieren zu Reißzähnen entwickelt; diese Zähne sind klingenförmig und dienen dem Zerschneiden von Fleisch. Die hinter den Reißzähnen gelegenen Molaren sind verkleinert oder fehlen völlig, dadurch bleibt für die verbleibenden Backenzähne mehr Platz: die Prämolaren werden breiter, und die Reißzähne sind so besser vor Abrieb geschützt. Die Zahnformel der Eigentlichen Hyänen besteht aus 3/3 I, 1/1 C, 4/3 P und 1/1 M, insgesamt also 34 Zähne. Die Eckzähne des Erdwolfs dienen ausschließlich der Auseinandersetzung mit Artgenossen. Die Backenzähne sind zu kleinen, weit voneinander entfernten Stiften rückgebildet, deren Anzahl variieren kann. Die Zahnformel des Erdwolfs ist 3/3 I, 1/1 C, 3/1–2 P und 1/1–2 M, insgesamt 28–32 Zähne.
Verbunden mit dem kräftigen Gebiss der Eigentlichen Hyänen ist eine starke Kaumuskulatur; der Musculus temporalis besitzt einen hohen Kamm an der Ansatzstelle am Schädel. Der gewölbte Schädel sorgt für eine bessere Umsetzung der Beißkräfte. Dank ihres außergewöhnlichen Kieferapparates können Tüpfelhyänen Beißkräfte von über 9 kN entwickeln. Sie sind in der Lage, die Beinknochen von Giraffen, Nashörnern und Flusspferden aufzubrechen, die über 7 cm Durchmesser haben. Anpassungen der Erdwölfe an die Insektennahrung bestehen aus einem breiten Gaumen mit einer breiten, spatelförmigen Zunge, die mit großen, kegelförmigen Papillen bedeckt ist.
Die Augen aller Hyänen sind mit einem Tapetum lucidum ausgestattet, was eine gute Sehleistung in der Nacht ermöglicht. Die Ohren sind groß und zugespitzt, nur bei der Tüpfelhyäne sind sie rundlich.
Verbreitung und Lebensraum
Hyänen sind in weiten Teilen Afrikas und im westlichen und südlichen Asien beheimatet. In Afrika reicht ihr Verbreitungsgebiet vom Atlasgebirge bis nach Südafrika, sie fehlen allerdings in den reinen Wüstengebieten der Sahara und im Kongobecken. In Asien kommen sie von der Türkei und der Arabischen Halbinsel über Afghanistan bis nach Indien vor. Noch im Pleistozän waren sie über weite Teile Eurasiens verbreitet, mit Chasmaporthetes ist hingegen nur eine ausgestorbene Gattung bekannt, die auch in Nordamerika vorkam. In Südamerika und Australien gab es nie Hyänen.
In Asien kommt mit der Streifenhyäne nur eine Art vor; diese bewohnt auch das nördliche Afrika und hat somit das nördlichste Verbreitungsgebiet aller Arten. Die Tüpfelhyäne ist in weiten Teilen Afrikas südlich der Sahara beheimatet. Der Erdwolf lebt in zwei voneinander getrennten Gebieten im östlichen und südlichen Afrika, die Schabrackenhyäne bewohnt ein relativ kleines Gebiet im Süden des Kontinents.
Generell bewohnen Hyänen eher trockene Gebiete wie Halbwüsten, Savannen, Buschsteppen und felsige Bergländer; manchmal sind sie auch in Sumpfgebieten und Gebirgswäldern zu finden. Im Äthiopischen Hochland sind sie bis in anzutreffen. Allerdings meiden sie reine Sandwüsten ebenso wie Tiefland-Regenwälder. Hyänen sind in der Regel nicht sehr wählerisch in Bezug auf ihren Lebensraum, jede der vier Arten kommt in mehreren Habitaten vor. Sie haben wenig Scheu vor Menschen und halten sich gelegentlich auch in der Nähe menschlicher Ansiedlungen auf.
Lebensweise
Fortbewegung und Aktivitätszeiten
Hyänen sind digitigrad (Zehengänger) und halten sich ausschließlich am Boden auf. Sie können nicht auf Bäume klettern, kommen aber mit felsigem Terrain gut zurecht. Sie sind sehr ausdauernde Tiere: Schabrackenhyänen können pro Nacht mehr als 50 Kilometer zurücklegen. Alle Hyänenarten sind größtenteils nachtaktiv, nur selten gehen sie in der Dämmerung oder – im Fall der Tüpfelhyäne – auch tagsüber bei bewölktem, regnerischem Wetter auf Nahrungssuche. Tagsüber schlafen sie in Erdbauen, im Gebüsch verborgen oder auf dem Erdboden. So schlafen Erdwölfe häufig in Bauen, die sie von Springhasen oder anderen Tieren übernommen haben; manchmal legen Hyänen auch ihre eigenen Unterschlupfe an oder nehmen mit Felsspalten vorlieb. Die Tüpfelhyäne benutzt außer zur Aufzucht der Jungtiere keine Baue.
Sozial- und Territorialverhalten
Beim Sozialverhalten gibt es eine große Vielfalt. Tüpfel- und Schabrackenhyänen leben in Gruppen, die „Clans“ genannt werden. Bei beiden Arten bilden Gruppen miteinander verwandter Weibchen den Kern eines Clans, die fortpflanzungsfähigen Männchen sind jeweils zugewandert und nicht mit den Weibchen verwandt. Das Sozialverhalten der Tüpfelhyänen ist einzigartig unter den Raubtieren: Es gleicht dem mancher Altweltaffen, etwa den Pavianen. Bei dieser Art können die Clans bis zu 80 Tiere umfassen, die sich immer wieder in kleinere Untergruppen aufteilen und wieder zusammenkommen. Die Weibchen sind dominant und etablieren eine strikte Rangordnung, wobei die Ränge erblich sind, da die Mütter ihren Töchtern dabei helfen, die gleiche Position wie sie zu erlangen. Die Männchen sind den Weibchen stets untergeordnet und ihr Gruppenrang ist umso höher, je länger sie der Gruppe angehören. Bei den Schabrackenhyänen umfassen die Clans 4–14 Tiere, es existiert je nach Lebensraum eine Varianz in der Lebensweise. Nur bei hoher Populationsdichte etablieren sich Rangordnungen; Männchen und Weibchen haben ihre jeweils eigenen Hierarchien, und beide Geschlechter sind gleichberechtigt. Bei der Streifenhyäne, der am wenigsten erforschten Art, wurden verschiedene Beobachtungen gemacht: Es gibt Berichte über einzelgängerische Tiere, über stabile Paarbindungen und über das Zusammenleben in Gruppen. Vermutlich ist das Sozialverhalten dieser Art variabel. Die Erdwölfe gehen bei der Jungenaufzucht stabile und langlebige Paarbeziehungen ein, allerdings wurden die Jungtiere häufig nicht vom aufziehenden Männchen gezeugt. Außerhalb der Paarungszeit zeigen Erdwölfe kaum Sozialverhalten: Sie bewohnen getrennte Baue und gehen getrennt auf Nahrungssuche.
Hyänen sind territoriale Tiere, die Reviergröße hängt von der Art und dem Nahrungsangebot ab: Die Reviere der Tüpfelhyänen in den beutereichen Savannen Ostafrikas messen rund 20 km², während die Territorien von Tüpfel- und Schabrackenhyänen in den Trockengebieten des südlichen Afrika über 1000 km² groß sein können. Das Revier der Erdwölfe umfasst rund 3000 Termitenhügel und misst 1,5–4 km². Die Reviere werden mit dem streng riechenden Sekret ihrer Analbeutel markiert, welches weißlich oder gelblich gefärbt ist. Es wird in halb hockender Position auf Grasbüschel oder andere Objekte gestreift. Während Tüpfelhyänen häufig nur die Reviergrenzen markieren, bringen die anderen Arten ihre Duftspuren oft auch im Inneren des Territoriums an. Zusätzlich legen alle Arten in der Nähe der Reviergrenzen oder bei häufig begangenen Routen Kotgruben an, in die sie regelmäßig defäkieren. Trifft eine Hyäne ein gruppenfremdes Tier im eigenen Revier an, versucht sie es zu verjagen. Dabei richtet sie – mit Ausnahme der Tüpfelhyäne – ihre Rückenmähne auf und sträubt ihre Schwanzhaare, wodurch sie größer erscheint. Nützt das nichts, versucht sie den Eindringling zu vertreiben, diese Jagden enden an der Reviergrenze. Manchmal kommt es aber auch zu Kämpfen, die mit Bissen ausgetragen werden.
Kommunikation
Da die Reviere oft riesige Ausmaße haben und die Tiere oft allein unterwegs sind, spielt die olfaktorische Kommunikation, das heißt mittels Gerüchen, eine wichtige Rolle. Anhand des Analbeutelsekrets können Hyänen das Geschlecht, den Reproduktionsstatus und die Gruppenzugehörigkeit anderer Hyänen erkennen. Bei den Eigentlichen Hyänen gibt es ein spezielles Begrüßungsritual, das Mitglieder derselben Gruppe zeigen, wenn sie zusammenkommen: Sie schnuppern an der Nase oder am Analbeutel des anderen Tiers oder lecken dessen Rücken ab. Bei Tüpfelhyänen spielen dabei zusätzlich die erigierten Geschlechtsorgane – sowohl der Männchen als auch der Weibchen – eine Rolle, die vom gegenüberstehenden Tier beschnuppert oder beleckt werden.
Drei der vier Hyänenarten geben nur wenige Laute von sich. Bestenfalls stoßen sie Knurr- oder Kreischlaute aus, die nur über geringe Distanzen vernehmbar sind. Im Gegensatz dazu besitzt die Tüpfelhyäne ein reichhaltiges Repertoire lautlicher Kommunikation. Der am häufigsten zu hörende Laut ist ein lautes wuup, das über mehrere Kilometer hinweg wahrgenommen werden kann und der Kontaktaufnahme mit anderen Clanmitgliedern dient. Auch geben sie grunzende, weinende und muhende Laute von sich. Bekannt ist schließlich noch der Lach- oder Kicherlaut, der dem menschlichen Lachen ähnelt; er signalisiert, dass das Tier einen niedrigeren Rang akzeptiert.
Nahrung
Die vier Hyänenarten haben hinsichtlich der Ernährung drei verschiedene ökologische Nischen besetzt. Tüpfelhyänen sind aktive Jäger, die 60 bis 95 % ihrer Beute selbst erlegen. Sie haben eine sehr hohe Bandbreite an Beutetieren: das Spektrum reicht von Insekten bis Elefanten. Am häufigsten erlegen sie jedoch größere Huftiere, wie verschiedene Antilopen – etwa Gnus und Gazellen – oder Zebras. Sie jagen je nach Beutetier einzeln oder in Gruppen. Dabei schleichen sie sich nicht an ihre Opfer heran, sondern verlassen sich auf ihre Ausdauer. Auch die Form des Nahrungserwerbs ist flexibel: Neben selbst gejagten Tieren fressen sie auch Aas oder betreiben Kleptoparasitismus, das heißt, sie jagen anderen Fleischfressern deren Beute ab. Dies wurde bei Schakalen, Geparden, Leoparden, Afrikanischen Wildhunden, den beiden anderen Eigentlichen Hyänen sowie bei Löwen beobachtet.
Streifen- und Schabrackenhyänen sind Aasfresser, die daneben auch selbst getötete Beutetiere und pflanzliches Material verzehren. Einen Gutteil ihrer Nahrung macht das Aas größerer Wirbeltiere aus. Dank ihres kräftigen Gebisses können sie auch dicke Knochen oder Schildkrötenpanzer zerbrechen, ihr effizientes Verdauungssystem verwertet alle Körperteile eines Tiers mit Ausnahme der Haare, der Hufe und der Hörner. Die im Aas enthaltenen bakteriellen Gifte beeinträchtigen weder ihr Verdauungs- noch ihr Immunsystem. Kleine Säugetiere, Vögel und deren Eier sowie Insekten ergänzen ihren Speiseplan. Es ist unklar, in welchem Ausmaß sie selbst getötete, größere Beutetiere fressen. Sie sind keine guten Jäger, die meisten Jagden scheitern. Eine Ausnahme sind die Schabrackenhyänen der namibischen Küste, die mit großem Erfolg die dort lebenden Jungtiere der Südafrikanischen Seebären jagen.
Erdwölfe fressen nahezu ausschließlich Termiten, dabei haben sie sich auf die Tiere der Gattung Trinervitermes spezialisiert. Die Termiten dieser Gattung bewegen sich in der Nacht in großen Gruppen an der Erdoberfläche fort und werden von Erdwölfen mit deren klebriger Zunge aufgeleckt. Die Soldaten dieser Termiten sondern ein Gift ab, das für zahlreiche andere insektenfressende Säugetiere unverträglich ist, eine Ausnahme bildet unter anderem das Erdferkel. Dank ihrer Unempfindlichkeit für dieses Gift vermeiden Erdwölfe weitgehend Nahrungskonkurrenz mit anderen Tieren.
Außer den in Gruppen jagenden Tüpfelhyänen gehen Hyänen in der Regel einzeln auf Nahrungssuche, bei größeren Beutetieren oder Kadavern können jedoch mehrere Hyänen zusammenkommen und gemeinsam fressen.
Hyänen brauchen nicht zu trinken; wenn Wasser verfügbar ist, trinken sie allerdings täglich. Streifen- und Schabrackenhyänen decken ihren Flüssigkeitsbedarf mit Kürbisgewächsen und anderen Pflanzen.
Fortpflanzung
Das Paarungsverhalten der Hyänen ist unterschiedlich. Häufig herrscht ein promiskuitives Verhalten vor, das heißt Männchen und Weibchen pflanzen sich mit jeweils mehreren Partnern fort. Daneben findet sich bei Streifenhyänen manchmal die, bei Säugetieren seltene, Polyandrie, das heißt ein Weibchen hat mehrere männliche Paarungspartner. Auch die Wahl des Partners ist variabel: Bei Schabrackenhyänen werden gelegentlich die nomadischen Männchen, die im Gebiet des Clans ohne eigenes Revier und einzelgängerisch herumziehen, als Partner erkoren, was möglicherweise vom Nahrungsangebot abhängt. Bei Erdwölfen begattet in rund 40 % der Zeugungen nicht der Partner, mit dem das Weibchen zusammenlebt, sondern ein aggressiveres, stärkeres Männchen aus einem benachbarten Revier. Männchen der Serengetihyänen investieren viel Zeit in die Brautwerbung. Sanfte Männchen haben weit mehr Paarungserfolge als angriffslustige Geschlechtsgenossen.
Die Fortpflanzung ist in den meisten Fällen nicht saisonal, sondern kann das ganze Jahr über erfolgen. Nach einer rund 90- bis 110-tägigen Tragzeit bringt das Weibchen ein bis vier Jungtiere zur Welt, in menschlicher Obhut können es fünf sein. Der Entwicklungsgrad der Neugeborenen ist unterschiedlich: Während bei Tüpfelhyänen bei der Geburt bereits die Schneide- und Eckzähne des Milchgebisses vorhanden und die Augen geöffnet sind, sind Streifen- und Schabrackenhyänen weniger weit entwickelt und ihre Augen noch geschlossen. Neugeborene Tüpfelhyänen sind schwarz gefärbt, bei den anderen Arten gleicht die Fellfärbung der Jungtiere jener der ausgewachsenen Tiere, lediglich anstelle der Rückenmähne ist ein dunkler Aalstrich vorhanden.
Neugeborene Hyänen verbringen ihre ersten Lebenswochen in einem Bau. Bei Tüpfel- und manchmal auch bei Schabrackenhyänen gibt es Gemeinschaftsbaue, in denen die Jungtiere eines Clans gemeinsam aufwachsen. Bei den Erdwölfen bewachen die Männchen im Bau der Mutter den Nachwuchs, der nicht oder nur zum Teil von ihnen gezeugt wurde. Dies ist, soweit bekannt, einzigartig unter Säugetieren. Nach einigen Wochen beginnen die Jungtiere, die Gegend außerhalb des Baus zu erkunden. Nach einigen Monaten unternehmen sie ihre ersten Streifzüge zur Nahrungssuche, anfangs noch in Begleitung eines ausgewachsenen Tieres, später dann allein. Junge Hyänen werden relativ lang gesäugt, Eigentliche Hyänen werden erst mit 12–16 Monaten endgültig entwöhnt. Im zweiten oder dritten Lebensjahr tritt die Geschlechtsreife ein.
Hyänen und Menschen
Etymologie
Das Wort „Hyäne“ ist schon im Althochdeutschen als ijēna bezeugt, im Mittelhochdeutschen steht verdeutlichend hientier und später hienna. Letztlich stammt es über das lateinische hyaena aus dem griechischen ὕαινα (hýaina), das aus dem Wort ὗς (hӯs), „Schwein“, abgeleitet ist. Vermutlich wurde die Hyäne wegen ihres borstigen Rückens mit einem Schwein verglichen.
Hyänen in der Kultur
In Afrika und Asien gibt es zahlreiche Mythen über Hyänen, wobei oft nicht zwischen den einzelnen Arten unterschieden wird. In afrikanischen Erzählungen spielen sie eine ambivalente Rolle: Zum einen gelten sie als grausame und gefährliche Tiere, manchmal symbolisieren sie aber auch Kraft und Ausdauer und gelten als heilige Tiere. In der Mythologie der Tabwa aus dem östlichen Afrika hat eine Tüpfelhyäne die Sonne gebracht, um die Erde zu wärmen, in westafrikanischen Kulturen versinnbildlichen sie hingegen schlechte Eigenschaften. Den Hexen wird nachgesagt, sie ritten auf diesen Tieren, und in Riten mancher Völker werden Hyänenmasken verwendet, um die Verschlagenheit und andere Eigenschaften auf die Träger überzuleiten. Das Alter Ego zu den nachtaktiven, wilden Hyänen verkörpern in der Beziehung mit den Menschen die tagaktiven, domestizierten Hunde. In den Mythen der Beng, einer Ethnie in der Elfenbeinküste, symbolisieren Knochen das gegenpolige Verhältnis beider Tiere zum Menschen. Hunde kauen Knochen von Wildtieren, die ihnen von Menschen (freiwillig) hingeworfen werden, während Hyänen bei den Beng als Grabräuber verschrien sind, die Menschenknochen (gegen menschlichen Willen) ausgraben. Wegen ihrer den Hyänen entsprechenden magischen Fähigkeiten werden im Süden Malis der Gottheit Nya Hunde geopfert, damit diese den Kampf gegen die gefürchtete Hexerei aufnimmt. Bei den Yoruba gelten Hyänen als Symbole des Endes aller Dinge, da sie die Kadaver beseitigen, die andere Fleischfresser hinterlassen haben.
Im Nahen und Mittleren Osten gelten Hyänen als Manifestationen von Dschinn. Bei den Beduinen gibt es zahlreiche Mythen über Begegnungen mit mystischen Hyänen oder Hyänen-Menschen-Mischwesen, die kaftar genannt werden. Die Genitalien galten als Liebeszauber, die Zunge sollte ein Heilmittel gegen Tumoren sein, und auch anderen Körperteilen wurden Heilkräfte zugeschrieben; das ist bereits vom antiken Griechenland und dem alten Rom bekannt. In Afghanistan wurden Kämpfe zwischen Haushunden und Hyänen veranstaltet, um die Körperteile anschließend magischen Ritualen zuzuführen.
Schon Aristoteles schrieb in seinem Werk Historia animalium, die Hyäne liebe verfaultes Fleisch und grabe in Friedhöfen, um an Essbares zu gelangen. Er weist aber die Behauptung zurück, Hyänen seien Hermaphroditen, dieser Irrtum hielt sich allerdings bis in das 20. Jahrhundert. Auch Plinius der Ältere beschäftigt sich mit den Hyänen in seinem Werk Naturalis historia, worin er hauptsächlich die Erkenntnisse des Aristoteles wiedergibt und die Heilkräfte diverser Körperteile beschreibt. Der Physiologus, eine frühchristliche Tiersymbolik, schreibt, die Hyänen würden ihr Geschlecht wechseln können. Sie werden darum mit betrügerischen Menschen verglichen, diese Deutung wird auch in antisemitischer Weise auf die Juden angewandt, die zunächst den wahren Gott, später aber angeblich Götzen anbeteten. Dies geschieht im Barnabasbrief, einem frühchristlichen, gegen die Juden gerichteten theologischen Traktat. Dort wird in Vers 10.7 die antike Ansicht von der Zweigeschlechtlichkeit der Hyänen übernommen, um damit ein Verzehrverbot zu rechtfertigen.
Verschiedene Bestiarien des Mittelalters wiederholen diese Ansichten. Auch in verschiedenen jüngeren Werken werden Hyänen häufig negativ geschildert und der Irrtum, sie seien Hermaphroditen oder würden regelmäßig ihr Geschlecht wechseln, wiederholt. Der schlechte Ruf wird beispielsweise noch in Brehms Thierleben deutlich, so schreibt Alfred Brehm über die Tüpfelhyäne: „Unter sämmtlichen Raubthieren ist sie unzweifelhaft die mißgestaltetste, garstigste Erscheinung; zu dieser aber kommen nun noch die geistigen Eigenschaften, um das Thier verhaßt zu machen.“ Sie gelten auch heute noch als heimtückische und feige Aasfresser. Beispielsweise wurde ein aufdringliches Telefoninterview von Bankräubern von Journalisten der Tageszeitung Österreich als „Hyänenjournalismus“ bezeichnet.
Bedrohung
Es kommt immer wieder vor, dass Hyänen in Viehweiden eindringen und Haustiere reißen. Auch töten Tüpfelhyänen gelegentlich Menschen, beispielsweise wenn diese ungeschützt im Freien schlafen. Von der Streifenhyäne gibt es Berichte, wonach sie in Friedhöfe eindringen, Leichen ausgraben und fressen. Aus diesen Gründen werden sie häufig verfolgt und mit Giftködern, Schusswaffen oder Fallen zur Strecke gebracht. Ein weiterer Grund für die Bejagung sind die Heilkräfte, die verschiedenen Körperteilen der Hyänen zugeschrieben werden. Die Tuareg haben zumindest bis in die 1940er-Jahre Streifenhyänen gemästet und gegessen, eine Praxis, die auch aus dem Alten Ägypten bekannt ist. Weitere Bedrohungen sind die Zerstörung ihres Lebensraumes sowie der Rückgang an Beutetieren durch menschliche Einflussnahme. Eine Gefährdung stellt der Automobilverkehr dar. Diese Gefahr wird dadurch gesteigert, dass Hyänen häufig direkt auf der Straße die Kadaver von überfahrenen Tieren fressen und dabei unvorsichtig gegenüber nachkommenden Fahrzeugen sind.
Mit Ausnahme des Erdwolfs gehen die Bestände aller Hyänenarten zurück. Bei den Erdwölfen sorgt die großflächige Weidewirtschaft eher für eine Vermehrung ihrer bevorzugten Termitengattung, was sich positiv auf die Gesamtbestände auswirkt. Schätzungen über die Gesamtpopulation der verschiedenen Hyänenarten belaufen sich auf 27.000–47.000 Tüpfelhyänen, 5000–8000 Schabrackenhyänen, 5000–14.000 Streifenhyänen sowie zumindest mehrere tausend Erdwölfe. Die IUCN listet die Streifen- und die Schabrackenhyäne als „gering gefährdet“ (near threatened) und den Erdwolf und die Tüpfelhyäne als „nicht gefährdet“ (least concern).
Systematik und Stammesgeschichte
Äußere Systematik
Die Hyänen werden innerhalb der Raubtiere trotz ihres hundeähnlichen Äußeren in die Katzenartigen eingeordnet, was durch Schädelmerkmale, insbesondere den Bau der Paukenhöhle, abgesichert ist. Die Beziehungen zu den anderen Katzenartigen waren lange Zeit ungeklärt, man hielt Hyänen für nahe Verwandte der Katzen, der Mangusten oder für einen eigenständigen frühen Seitenzweig der Katzenartigen. Durch molekulare Untersuchungen wurde festgestellt, dass das Schwestertaxon der Hyänen eine gemeinsame Klade aus Mangusten und Madagassischen Raubtieren ist. Die Position der Hyänen innerhalb der Katzenartigen ist in folgendem Kladogramm wiedergegeben:
Die Entwicklungslinien zwischen den Hyänen einerseits und den Mangusten und Madagassischen Raubtieren andererseits haben sich vor rund 29,2 Millionen Jahren getrennt.
Innere Systematik der heutigen Hyänen
Es gibt vier rezente Hyänenarten:
Streifenhyäne (Hyaena hyaena (Linnaeus, 1758))
Schabrackenhyäne (Parahyaena brunnea (Thunberg, 1820); teilweise auch Hyaena brunnea)
Tüpfelhyäne (Crocuta crocuta (Erxleben, 1777))
Erdwolf (Proteles cristatus (Sparrman, 1783))
Diese vier Arten werden in zwei Unterfamilien aufgeteilt, einerseits die Protelinae mit dem Erdwolf, andererseits die Hyaeninae (Eigentliche Hyänen) mit den anderen drei Arten. Manche Systematiken halten die Unterschiede in Körperbau und Lebensweise zwischen dem Erdwolf und den Eigentlichen Hyänen für so groß, dass sie den Erdwolf in eine eigene Familie, die Protelidae, stellen. Diese Aufteilung wird von jüngeren taxonomischen Veröffentlichungen aber nicht durchgeführt. Molekulare Untersuchungen haben die Monophylie, das heißt der Abstammung von einer gemeinsamen Stammform, sowohl der Hyänen als auch der Eigentlichen Hyänen bestätigt. Demnach ist der Erdwolf das Schwestertaxon der Eigentlichen Hyänen und die Tüpfelhyäne ist das Schwestertaxon einer gemeinsamen Klade aus Streifen- und Schabrackenhyäne. Das wird in folgendem Kladogramm deutlich:
Die Entwicklungslinien zwischen dem Erdwolf und den Eigentlichen Hyänen haben sich vor rund 10,6 Millionen Jahren getrennt, die zwischen der Tüpfelhyäne und der Streifen- und Schabrackenhyäne vor rund 8,6 Millionen Jahren. Die Aufspaltung zwischen Streifen- und Schabrackenhyänen geschah vor rund 4,2 Millionen Jahren.
Überblick über die rezenten und fossilen Gattungen der Hyänen
Die unten stehende Liste der fossilen und rezenten Hyänengattungen folgt bei den ausgestorbenen Vertretern weitgehend der Klassifizierung von Werdelin und Solounias (1991) sowie McKenna und Bell (1997). Die heutigen Gattungen wurden durch Wozencraft (2005) in Wilson und Reeders Mammal Species of the World ergänzt. Im Gegensatz zur Klassifizierung von McKenna und Bell werden die Percrucotiden jedoch nicht mit aufgeführt, sondern als eigene Familie aufgefasst. Die ausgestorbenen afrikanischen Formen erhielten im Jahr 2010 durch Werdelin und Peigné eine ausführliche Überarbeitung, auch wurden weitere Studien berücksichtigt:
Familie Hyaenidae Gray, 1821
† Tongxinictis Werdelin & Solounias, 1991 (Mittleres Miozän von Asien)
† Belbus Werdelin & Solounias, 1991 (Oberes Miozän von Griechenland)
† Allohyaena Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän Europas)
† Protoviverrops de Beaumont & Mein, 1972 (Unteres Miozän Europas)
† Unterfamilie Ictitheriinae Trouessart, 1897
† Ictitherium Roth & Wagner, 1854 (=Galeotherium; einschließlich Lepthyaena, Sinictitherium, Paraictitherium; Mittleres Miozän Afrikas, Oberes Miozän bis Unteres Pliozän Eurasiens)
† Thalassictis Nordmann, 1950 (einschließlich Palhyaena, Miohyaena, Hyaenalopex; mittleres bis Oberes Miozän Asiens, Oberes Miozän Europas)
† Hyaenictitherium Zdansky, 1924 (Oberes Miozän und Unteres Pliozän Nord- und Ostafrikas)
† Hyaenotherium Semenov, 1989 (Oberes Miozän (bis Unteres Pliozän?) Eurasiens)
† Miohyaenotherium Semenov, 1989 (Oberes Miozän Europas)
† Lycyaena Hensel, 1863 (Oberes Miozän Eurasiens)
† Lycyaenops Kretzoi, 1938 (Mittleres Miozän Nordafrikas)
† Tungurictis Colbert, 1939 (Mittleres Miozän Asiens, möglicherweise auch Afrikas und Europas)
† Protictitherium Kretzoi, 1938 (Mittleres Miozän Afrikas, Mittleres Miozän Asiens, Mittleres bis Oberes Miozän Europas)
Unterfamilie Hyaeninae Gray, 1821
† Palinhyaena Qiu, Huang & Guo, 1979 (Oberes Miozän Asiens)
† Ikelohyaena Werdelin & Solounias, 1991 (Unteres Pliozän Afrikas)
Hyaena Brisson, 1762 (=Euhyaena, Hyena, Pliohyaena, Anomalopithecus; frühes Pliozän (möglicherweise Mittleres Miozän) bis heute in Afrika, Oberes Pliozän (möglicherweise Unteres Miozän) bis Spätpleistozän Europas, Oberes Pliozän bis heute in Asien)
Parahyaena Hendey, 1974 (vom Unteren Pliozän fossil im östlichen und südlichen Afrika bis heute)
† Pliocrocuta Kretzoi, 1938 (Pliozän Eurasiens und Nordafrikas)
† Hyaenictis Gaudry, 1861 (Oberes Miozän Asiens?, Oberes Miozän Europas, Unteres Pliozän (möglicherweise auch Unteres Pleistozän) Afrikas)
† Leecyaena Young & Liu, 1948 (Oberes, möglicherweise auch Unteres Miozän Asiens)
† Chasmaporthetes Hay, 1921 (= Ailuriaena; einschließlich Euryboas; Oberes Miozän bis Unteres Pleistozän Eurasiens, Unteres Pliozän bis Oberes Pliozän oder Unteres Pleistozän Afrikas, Oberes Pliozän bis frühes Pleistozän Nordamerikas)
† Pachycrocuta Kretzoi, 1938 (Pliozän und Pleistozän Eurasiens und Afrikas)
† Adcrocuta Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän Eurasiens)
Crocuta Kaup, 1828 (=Crocotta; einschließlich Eucrocuta; Oberes Pliozän bis heute in Afrika, Oberes Pliozän bis Oberes Pleistozän in Eurasien)
Unterfamilie Protelinae Flower, 1869
† Mesoviverrops de Beaumont & Mein, 1972 (einschließlich Jourdanictis; Mittleres Miozän Europas)
† Plioviverrops Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän bis Unteres Pliozän Europas)
† Gansuyaena Galiano, Solounias, Wang, Qiu & White, 2021 (Mittleres und Oberes Miozän Asiens)
Proteles I. Geoffroy St.-Hillaire, 1824 (=Geocyon; Pleistozän bis heute in Afrika)
Stammesgeschichte
Die Hyänen traten erstmals im Miozän Europas vor etwa 17 Millionen Jahren auf und brachten im Verlauf ihrer Stammesgeschichte etwa 70 Arten hervor, von denen vier noch heute leben. Als älteste Gattungen gelten Protictitherium, Tungurictis und Plioviverrops aus dem Unteren und Mittleren Miozän. Diese frühen Hyänen waren deutlich kleiner als die heutigen Arten und erreichten etwa die Ausmaße eines Fuchses. Protictitherium glich äußerlich eher einer Schleichkatze und war vermutlich ein teilweise auf Bäumen lebender Insekten- oder Allesfresser. Plioviverrops war dagegen eher bodenorientiert und glich einer Manguste. Beide Gattungen dürften ihren Ursprung in Westeuropa gehabt haben und waren seit dem Mittleren Miozän in Europa und Westasien verbreitet. Am Ende des Mittleren Miozäns erschien mit Thalassictis zusätzlich eine etwas größere Gattung in Europa. Thalassictis wog etwa 20–30 kg und hatte ein hundeartiges Gebiss. Tungurictis war hingegen zu jener Zeit in Ostasien verbreitet und besaß im Vergleich zu seinen westeurasischen Verwandten deutlichere hypercarnivore Eigenschaften. Möglicherweise ist Tungurictis aus einer im Mittleren Miozän erfolgten, ostwärts gerichteten Expansion der frühen Hyänen hervorgegangen. Die unterschiedlichen Anpassungen an Fleischnahrung können darüber hinaus ein Ausdruck abweichender paläoökologischer Verhältnisse zwischen dem westlichen und östlichen Eurasien sein. Demnach lebte Tungurictis eher in offenen Landschaften, worauf auch sein stärker entwickelter Zehengang hinweist. Ähnlich abweichende Spezialisierungen sind bei Ictitherium und Hyaenictitherium belegt, die im Oberen Miozän im östlichen Mittelmeergebiet auftraten. Für beide, zwischen 10 und 30 kg schweren Vertreter ergeben sich sowohl in der Schädel- als auch Zahnmorphologie und daraus resultierenden biomechanischen Eigenschaften, etwa der Beißkraft, stärkere Ähnlichkeiten zum heutigen Kojoten, dessen ökologische Nische sie wohl einnahmen. Da sich die beiden Fossilformen in den Gliedmaßenproportionen unterscheiden, nutzten sie allerdings unterschiedliche Landschaftsräume. Für Ictitherium wird eine deutlicher allesfressende Ernährung angenommen, wofür etwa die recht großen Backenzähne sprechen. Eine weitere Form, Hyaenotherium, die wie Ictitherium in Westasien entstanden sein dürfte, glich dagegen sehr stark Thalassictis, war aber noch größer. Zur gleichen Zeit weitete Protictitherium sein Verbreitungsgebiet noch aus und erreichte Nordafrika.
Die ersten Hyänen waren demnach keine spezialisierten Aasfresser, ihre Gebisse waren nicht dafür ausgelegt, größere Knochen zu zerbeißen. Dennoch gab es bereits im Mittleren Miozän große Raubtiere, die ähnlich aussahen wie moderne Hyänen und vermutlich auch deren ökologische Nische besetzten, allerdings nicht zu den Hyänen zählen. Verschiedene hyänenähnliche Tiere der Gattungen Percrocuta und Dinocrocuta, die früher zu den Hyänen gerechnet wurden, werden heute als eine gesonderte Raubtierfamilie Percrocutidae angesehen. Insbesondere im Schädelbau ähnelten diese Räuber den Hyänen stark. Die riesige, möglicherweise bis zu 380 kg schwere, Dinocrocuta aus dem späten Miozän hatte bereits ein weit entwickeltes Brechscherengebiss zum Knacken von Knochen, wie es von verschiedenen Hyänen bekannt ist. Konkurrenz erhielten die Percrocutidae im Oberen Miozän mit dem Erscheinen von Adcrocuta, einer vergleichsweise großen Hyänengattung mit bis zu 70 kg. Körpergewicht und einem auf das Zerkleinern von Knochen spezialisierten Zahnapparat. Das Auftreten dieser großen, knochenknackenden Hyänen dürfte den Niedergang der Percrucotidae am Ende des Miozän eingeleitet haben. Ein anderer Zweig der Hyänen brachte zur gleichen Zeit relativ große, hundeähnliche Hyänen hervor, die auf schnelles, ausdauerndes Laufen ausgerichtet waren. Ein früher Vertreter dieser Gruppe war Hyaenictis. Ein weiterer war Lycyaena.
Hyaenictis überlebte in Afrika zusammen mit der hundeähnlichen Form Hyaenictitherium bis in das Untere Pliozän, verschwand aber kurz darauf. Die meisten dieser hundeähnlichen Hyänen wurden am Übergang des Miozän ins Pliozän von Vertretern der Hunde (Canidae) abgelöst, die zu dieser Zeit erstmals aus Amerika in die Alte Welt einwanderten. Während sich die Hyänen im Miozän in Eurasien und Afrika entwickelten und mit einer Ausnahme nie den amerikanischen Kontinent erreichten, hatten sich die Hunde zur gleichen Zeit in Nordamerika entwickelt. Die beiden Familien gleichen sich stark in ihrer Entwicklungsgeschichte und brachten jeweils Typen hervor, die als konvergent betrachtet werden können. So gab es unter den frühen Hyänen zahlreiche Formen, die stark an Hunde erinnerten, während im Miozän und Pliozän Nordamerikas an Stelle von knochenknackenden Hyänen aasfressende Hunde der Gattung Osteoborus lebten. Im Gegensatz zu den an schnelles Laufen angepassten Hyänen, die größtenteils von Hunden ersetzt wurden, überlebten die aasfressenden Formen und brachten immer größere Formen hervor. Zu diesen knochenknackenden Hyänen, deren Vorläufer seit dem Pliozän auftauchten, gehörte neben den heutigen Gattungen Crocuta und Hyaena auch Pachycrocuta. Pachycrocuta war die größte Hyäne aller Zeiten und wog um die Hälfte mehr als heutige Tüpfelhyänen. Die Gattung überlebte in Afrika und Eurasien bis ins Pleistozän. Als möglicher Vorfahre der heutigen Streifenhyänen und Schabrackenhyänen wird Ikelohyaena abronia in Betracht gezogen. Eine Gattung der ans Laufen angepassten Formen, Chasmaporthetes, kam noch im Pliozän vor und gelangte sogar über die Beringbrücke nach Amerika. Sie war damit die einzige Hyäne, die jemals die Neue Welt erreichte. Der nördlichste bekannte Fundpunkt der Gattung liegt im Old Crow Basin im Yukon Territory in Kanada, wo unter den rund 50.000 geborgenen Säugetierfunden auch einige Zähne von der Hyänenform stammen. Nach Süden drang sie bis ins mittlere Mexiko vor. Allerdings währte das Auftreten von Chasmaporthetes nicht sehr lange in Nordamerika, da die Gattung dort im Verlauf des Mittelpleistozäns wieder verschwand. Es wird vermutet, dass sie dem Konkurrenzdruck seitens anderer großer Beutegreifer wie etwa des riesigen Kurznasenbären nicht standhalten konnte.
Erdwölfe (Proteles) sind erstmals aus dem frühesten Pleistozän Südafrikas bekannt. Ein naher Verwandter trat mit Gansuyaena bereits im Mittleren und Oberen Miozän Asiens auf. Die kleinwüchsige Forem zeichnete sich wie der heutige Erdwolf durch eine vergrößerte Paukenblase aus. Bedeutendes Material in Form von Schädel- und Gebissteilen stammt unter anderem aus der Region um Lanzhou in der chinesischen Provinz Gansu. Noch im späten Pleistozän kamen Hyänen auch in Europa vor. Die Höhlenhyäne, meist als Unterart der Fleckenhyäne (Crocuta crocuta) betrachtet, war um einiges größer als heutige Tüpfelhyänen und starb erst am Ende der Epoche aus.
Literatur
Kay E. Holekamp, Joseph M. Kolowski: Family Hyaenidae (Hyenas). In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Carnivores (= Handbook of the Mammals of the World. Band 1), Lynx Edicions, Barcelona 2009, ISBN 978-84-96553-49-1, S. 234–261.
Markus Krajewski, Harun Maye (Hrsg.): Die Hyäne. Lesarten eines politischen Tiers. Diaphanes, Zürich 2010, ISBN 978-3-03734-136-0.
Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Jordi Agustí, Mauricio Antón: Mammoths, Sabertooths and Hominids. 65 Million Years of Mammalian Evolution in Europe. Columbia University Press, New York 2002, ISBN 0-231-11640-3.
Weblinks
Informationen der Hyaena Specialist Group der IUCN (englisch)
Brown Hyena Research Project (englisch)
Einzelnachweise |
98867 | https://de.wikipedia.org/wiki/Enterobacter | Enterobacter | Enterobacter ist eine Gattung von Bakterien, die zu der Familie der Enterobacteriaceae gehört und etwa 15 Arten umfasst. Vertreter der Gattung Enterobacter kommen in fast allen Lebensräumen einschließlich des menschlichen Darms vor. Dort gehören sie zur normalen Darmflora. Die stäbchenförmigen Bakterienzellen werden in der Gram-Färbung rot angefärbt und zählen daher zu der Gruppe der gramnegativen Bakterien. Sie sind in der Lage, sich mit Hilfe von Flagellen aktiv zu bewegen. Sie können mit oder ohne Sauerstoff leben und werden somit als fakultativ anaerobe Lebensformen bezeichnet. Wenn kein Sauerstoff vorhanden ist, führen sie zur Energiegewinnung eine Gärung durch. Die für Enterobacter typische Gärung ist die 2,3-Butandiol-Gärung – dies ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu verwandten Gattungen.
Generelle Aussagen zur Pathogenität von Enterobacter als Krankheitserreger sind schwierig: Es gibt Arten, die als nicht pathogen angesehen werden, aber ebenso Arten, die eine Krankheit beim Menschen hervorrufen können (Einstufung in die Risikogruppe 2 gemäß Biostoffverordnung). Früher nahm man an, dass Vertreter der Gattung allenfalls als opportunistische Krankheitserreger zu sehen sind, die bei Patienten mit einem bereits geschwächten Immunsystem Infektionskrankheiten verursachen können. Die seit wenigen Jahrzehnten beobachtete Antibiotikaresistenz von einigen Enterobacter-Arten (vor allem Enterobacter cloacae) führt dazu, dass sie mittlerweile als Erreger von im Krankenhaus erworbenen Infektionen – nosokomialen Infektionen – von zunehmender Bedeutung sind. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass sich die Systematik der Gattung bzw. verwandter Gattungen aufgrund phylogenetischer Untersuchungen verschiedener Gene beständig ändert. Dies hat dazu geführt, dass einige Bakterien-Arten inzwischen nicht mehr der Gattung Enterobacter zugerechnet werden, sondern anderen Gattungen, die zum Teil neu beschrieben wurden. So gehört beispielsweise der bei einigen Pflanzen vorkommende Enterobacter agglomerans seit 1989 zu einer eigenen Gattung Pantoea und die medizinisch relevanten Arten Enterobacter aerogenes und Enterobacter sakazakii werden heute als Klebsiella aerogenes beziehungsweise Cronobacter sakazakii geführt.
Merkmale
Erscheinungsbild
Die Zellen von Enterobacter-Arten sind stäbchenförmig und durch Flagellen aktiv beweglich (motil), Letzteres unterscheidet sie von der verwandten Gattung Klebsiella. Die Flagellen (auch als Geißeln bezeichnet) sind peritrich angeordnet. Eine einzelne Zelle hat eine Breite von etwa 0,5 µm bei einer Länge von 2–3 µm. In der Gram-Färbung verhalten sich die Zellen gramnegativ, werden also durch die verwendeten Farbstoffe rosa bis rot angefärbt. Es werden keine Überdauerungsformen wie Endosporen gebildet.
Bei Enterobacter cloacae ist die Bakterienzellwand von einer Kapsel umgeben, die aus Polysacchariden besteht. Sie sind an der Ausbildung von Biofilmen beteiligt und verleihen den auf einem Nährboden gewachsenen Bakterienkolonien ein schleimiges Aussehen. Manchmal gibt es auch Zellen, denen die Kapsel fehlt, die gewachsenen Kolonien sehen dann eher rau aus, dies ist auf dem Bild oben zu erkennen. Auch andere Enterobacter-Arten bilden eine Kapsel aus, jedoch ergibt sich innerhalb der Gattung kein einheitliches Bild. Vertreter der Gattung Enterobacter zeigen gutes Wachstum auf gängigen Nährmedien. Ihre Kolonien sind meist nicht besonders gefärbt, im Unterschied zu den gelblich gefärbten Kolonien von Cronobacter sakazakii.
Wachstum und Stoffwechsel
Die Angehörigen der Gattung Enterobacter sind chemoorganotroph, d. h., sie bauen zur Energiegewinnung organische Stoffe ab. Sie sind fakultativ anaerob: Wenn Sauerstoff vorhanden ist, können sie einen oxidativen Energiestoffwechsel durchführen, sie oxidieren die organischen Stoffe zu Kohlenstoffdioxid (CO2) und Wasser; wenn kein Sauerstoff vorhanden ist, also unter anoxischen Bedingungen, nutzen sie die 2,3-Butandiol-Gärung zur Energiegewinnung. Hierbei entstehen als Endprodukte vor allem in großen Mengen der Alkohol 2,3-Butandiol und CO2, daneben in geringen Mengen u. a. verschiedene Säuren. Bei anderen Gattungen der Familie Enterobacteriaceae wie z. B. Escherichia und Salmonella ist die Gemischte Säuregärung der anaerobe Energiestoffwechselweg, wobei im Gegensatz zu der Butandiolgärung große Mengen von Säuren (Essigsäure, Milchsäure und Bernsteinsäure) als Endprodukte entstehen, aber kein Butandiol. Dieses Merkmal wird zur Unterscheidung der Enterobakterien-Gattungen genutzt (siehe Abschnitt Nachweise). Wie bei den Enterobacteriaceae typisch, verlaufen der Katalase-Test positiv und der Oxidase-Test negativ.
Für die Kultivierung sind einfache Nährmedien geeignet, es sind keine besonderen Wachstumsfaktoren notwendig. Die Bakterien lassen sich beispielsweise auf Casein-Soja-Pepton-Agar (CASO-Agar) anzüchten, auch Blutagar ist geeignet sowie Selektivnährmedien, die zur Isolierung und Unterscheidung von Vertretern der Enterobakterien geeignet sind, beispielsweise MacConkey-Agar oder Eosin-Methylen-Blau-Agar (EMB). Enterobacter-Arten sind mesophil, optimales Wachstum erfolgt in einem Temperaturbereich von 30 bis 37 °C, dabei sind nach eintägiger Inkubation bereits Kolonien mit einem Durchmesser von 2–3 mm sichtbar. Einige Arten, z. B. E. cloacae wachsen auch bei niedrigeren Temperaturen (15–25 °C), beispielsweise im Brackwasser von Küstenregionen mit gemäßigtem Klima.
Chemotaxonomie
Der GC-Gehalt, also der Anteil der Nukleinbasen Guanin und Cytosin in der Bakterien-DNA, liegt bei 52–60 Molprozent. Bestandteile der Bakterienzelle wirken als Antigene, von diagnostischer Bedeutung sind die somatischen O-Antigene und die H-Antigene (man vergleiche das bei den Salmonellen angewendete Kauffmann-White-Schema).
Pathogenität
Generelle Aussagen zur Pathogenität von Enterobacter sind schwierig, da sich die Systematik der Gattung bzw. verwandter Gattungen beständig ändert. Weiterhin liegt in älteren Berichten häufig eine Verwechslung oder nicht klare Unterscheidung von Enterobacter und Klebsiella vor. In der Vergangenheit als medizinisch relevant betrachtete Arten gehören mittlerweile nicht mehr der Gattung an (die bekannten Beispiele E. aerogenes und E. sakazakii). In der Fachliteratur werden oftmals gemeinsame Aussagen für E. cloacae und E. aerogenes gemacht, so dass mit Überführung der zuletzt genannten Bakterienart in die Gattung Klebsiella (2017) eine eindeutige Zuordnung von Aussagen zur Pathogenität problematisch ist.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Enterobacter-Arten selten als pathogen bezeichnet, dies änderte sich durch den zunehmenden Verbrauch an Antibiotika. Mittlerweile spielen mehrere Vertreter der Gattung bei nosokomialen Infektionen („Krankenhausinfektionen“) eine Rolle, vor allem da sie gegen einige Antibiotika resistent sind. Durch Infektionen, die im Krankenhaus erfolgen, sind besonders immunsupprimierte Patienten gefährdet, in dem Zusammenhang wird von Harnwegsinfekten und Bakteriämien berichtet. E. cancerogenus (E. taylorae) wurde 1987 bei einem Fall von Osteomyelitis, einer infektiösen Entzündung des Knochenmarks, als Erreger genannt.
E. asburiae, E. bugandensis, E. cancerogenus, E. hormaechei, E. kobei, E. ludwigii und E. cloacae subsp. cloacae werden durch die Biostoffverordnung in Verbindung mit der TRBA (Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe) 466 der Risikogruppe 2 zugeordnet. Die Arten E. mori, E. muelleri, E. siamensis, E. soli, E. tabaci, E. xiangfangensis und E. cloacae subsp. dissolvens gehören der Risikogruppe 1 an (sie werden als apathogen angesehen).
Nachweise
Für die Isolierung der Bakterien aus Umweltproben oder klinischem Material gibt es kein spezielles Nährmedium, das selektiv für Enterobacter-Arten ist. Stattdessen verwendet man Selektivnährmedien für Enterobakterien, mit dann folgender weiterer Identifizierung.
Biochemische Nachweise
Biochemische Merkmale, wie beispielsweise die vorhandenen Enzyme und die daraus resultierenden Stoffwechseleigenschaften, können in einer Bunten Reihe zur Identifizierung von Enterobacter-Arten bzw. Unterscheidung dieser von anderen Vertretern der Enterobacteriaceae genutzt werden. Typischerweise wird der Voges-Proskauer-Test eingesetzt. Durch den Test wird Acetoin, ein Zwischenprodukt der 2,3-Butandiol-Gärung, nachgewiesen. Enterobacter und Klebsiella reagieren hierbei positiv, Escherichia hingegen negativ. Auch weitere Reaktionen im sogenannten IMViC-Testverfahren dienen der Unterscheidung von Escherichia und Enterobacter:
Vertreter der Gattung Enterobacter verwerten die Kohlenhydrate Glucose und Lactose in einer Gärung unter Bildung von Gas und Säure, bei der Vergärung von Glucose entsteht viel Kohlenstoffdioxid (CO2), mindestens doppelt so viel wie Wasserstoff (H2). Bei einzelnen Bakterienstämmen ergibt sich in Bezug auf die Lactoseverwertung kein einheitliches Bild, bei einigen Arten erfolgt daher die Angabe „variabel“, d. h., dass es sowohl Stämme gibt, die Lactose abbauen können, wie auch Stämme, die dies nicht tun. Bei Selektivnährmedien erfolgt der Nachweis des Lactoseabbaus häufig über die Säurebildung beim fermentativen Abbau des Kohlenhydrats, durch die Säurebildung verändert der im Nährmedium enthaltene pH-Indikator seine Farbe. Manche Stämme zeigen möglicherweise ein negatives oder nur schwach positives Ergebnis, da zu wenig Säure produziert wird. Hingegen verläuft der ONPG-Test positiv, auch wenn der Lactosenachweis durch Säurebildung nach 48-stündiger Inkubation negativ war. Dieser biochemische Nachweis zeigt, dass die Bakterien über das Enzym β-Galactosidase verfügen, mit dem Lactose in die beiden Bestandteile Glucose und Galactose hydrolysiert wird.
Zu den weiteren Kohlenhydraten, die viele Vertreter der Gattung verwerten können, gehören beispielsweise die Monosaccharide L-Arabinose, L-Rhamnose und D-Xylose, das Disaccharid D-Cellobiose, das Trisaccharid Raffinose sowie der Zuckeralkohol D-Mannitol. Es erfolgt keine Bildung von Schwefelwasserstoff (H2S), hingegen verläuft die Äskulinspaltung positiv, Äskulin wird hydrolysiert. Das Enzym Urease ist nicht vorhanden, somit kann Harnstoff nicht abgebaut werden. Zwar ist E. gergoviae Urease-positiv, wird aber nicht mehr zur Gattung gezählt (siehe Abschnitt Systematik). In Bezug auf weitere Enzyme, die in biochemischen Testsystemen geprüft werden, ist Ornithindecarboxylase (ODC) vorhanden – ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung der ODC-negativen Klebsiellen –, während die Enzyme Lysindecarboxylase (LDC) und Arginindihydrolase (ADH) nur bei einigen Arten vorkommen und somit zu deren Unterscheidung benutzt werden.
Um die einzelnen Enterobacter-Arten zu identifizieren, eignen sich biochemische Tests, die auf dem Abbau verschiedener organischer Verbindungen beruhen und dabei gebildete Stoffwechselprodukte anzeigen, dafür können miniaturisierte Testsysteme verwendet werden. Bei den dafür zweckdienlichen Verbindungen handelt es sich beispielsweise um L-Fucose, D-Lyxose, D-Maltitol, D-Melibiose, Saccharose und D-Sorbitol.
Weitere Nachweise
Eine serologische Unterscheidung verschiedener Stämme von E. cloacae ist möglich. Dabei werden Antikörper gegen die 53 somatischen O-Antigene und die 56 durch die Flagellen begründeten H-Antigene verwendet. So lassen sich knapp 80 verschiedene Serotypen unterscheiden. Das Verfahren findet aber noch keine Anwendung bei der epidemiologischen Untersuchung.
Molekularbiologische Methoden sind gut geeignet zur Unterscheidung und damit zur Identifizierung verschiedener Enterobacter-Arten. Spezifisch ist der Nachweis bestimmter Teile des bakteriellen Genoms mit Hilfe des PCR-Verfahrens (Polymerase-Kettenreaktion). Dabei werden Genabschnitte, die typisch für die Bakterienart sind, vervielfältigt (amplifiziert) und nachgewiesen. Ein 2012 entwickeltes Verfahren beruht auf der Real Time Quantitative PCR (q-PCR) von einer als dnaJ bezeichneten Nukleotidsequenz. Dazu werden die Bakterien zunächst auf dem Selektivnährmedium Endo-Agar kultiviert und dann wird ihre DNA extrahiert. Ein zu dem Genabschnitt passendes Primer-Paar ermöglicht die Vervielfältigung und quantitative Bestimmung der vorhandenen Genabschnitte und somit eine Identifizierung des Bakteriums. Das in Deutschland entwickelte Verfahren zielt auf den Nachweis von E. cloacae ab, der damit von den anderen Arten des sogenannten E. cloacae Komplexes (bestehend aus E. asburiae, E. cloacae, E. hormaechei, E. kobei, E. ludwigii und E. nimipressuralis) unterschieden werden kann. Weitere Abwandlungen des PCR-Verfahrens werden ebenfalls zur Identifizierung verwendet, beispielsweise mit zufällig vervielfältigter polymorpher DNA (RAPD), deren Variante AP-PCR (arbitrary primed PCR, PCR mit arbiträr – willkürlich – gewählten Primern) oder die repetitive sequenzbasierte PCR (rep-PCR). Ein ebenfalls auf molekularbiologischen Methoden basierendes Untersuchungsverfahren ist die Pulsed-Field-Gelelektrophorese (PFGE), welche bei epidemischen Ausbrüchen in Neugeborenen-Intensivstationen zur Aufklärung über die beteiligten Erreger verwendet wird. PFGE wird ebenfalls zur Identifizierung von Cronobacter spp. benutzt.
Die Identifizierung mit Hilfe der MALDI-TOF-Methode in Kombination mit Massenspektrometrie (MS) ist zwar geeignet, Enterobacter nachzuweisen, die Unterscheidung nah verwandter Arten (sogenannter E. cloacae Komplex) gelingt jedoch nicht zuverlässig. Auch eine weitere Untersuchung zeigt, dass zwar die Unterscheidung von E. cloacae Komplex und E. aerogenes (mittlerweile Klebsiella aerogenes) mittels MALDI-TOF MS möglich ist, die Abgrenzung innerhalb des Komplexes aber nicht eindeutig ist.
Systematik und Taxonomie
Beschreibungen von Bakterien, die sich auf Enterobacter-Arten zurückführen lassen, gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts (Bacillus cloacae 1890). Synonyme für Enterobacter sind Cloaca & 1919 sowie Aerobacter & 1958, diese Namen sind jedoch nicht mehr gültig. Die Gattung Enterobacter ist nicht die Typusgattung der Familie Enterobacteriaceae, dies ist die Gattung Escherichia. Damit wird von der Regel 21a in Verbindung mit Regel 9 der Nomenklatur gemäß dem Bakteriologischen Code (International Code of Nomenclature of Bacteria) abgewichen, was 1958 durch Festlegung in der Judicial Opinion 15 der Judicial Commission (etwa „richterliche oder unparteiische Kommission“) der Internationalen Kommission für die Systematik der Prokaryoten (International Committee on Systematics of Prokaryotes, ICSP) festgesetzt wurde. Typusart der Gattung ist Enterobacter cloacae ( 1890) & 1960.
Äußere Systematik
Die Gattung Enterobacter zählt zu der Familie der Enterobacteriaceae in der Ordnung Enterobacterales et al. 2016, die zur Klasse der Gammaproteobacteria gehört. Zu der 2016 etablierten Ordnung der Enterobacterales gehören acht Familien mit insgesamt etwa 60 Gattungen. Die neu festgelegte und damit den Regeln des Bakteriologischen Codes (ICBN) entsprechende Typusgattung der Ordnung Enterobacterales et al. 2016 ist die Gattung Enterobacter. Die Enterobacteriaceae bilden eine große Gruppe gramnegativer Bakterien, zu denen u. a. die Gattungen Citrobacter, Escherichia, Klebsiella, Raoultella, Salmonella und Shigella gehören, von denen einige Vertreter als Krankheitserreger von Bedeutung sind.
Die Arbeit von Hormaeche und Edwards von 1960 basierte auf der Problematik, dass in der als Aerobacter bezeichneten Gattung (mit den damals anerkannten Arten Aerobacter aerogenes und Aerobacter cloacae) sowohl motile wie auch nicht-motile Bakterien eingeordnet wurden, wobei letztere der Gattung Klebsiella zuzuordnen wären, was durch serologische und biochemische Tests bereits damals bewiesen wurde. Die neue Bezeichnung als Enterobacter statt Aerobacter und die Beschreibung der typischen Merkmale sollte dabei helfen, den in dem Bereich tätigen Wissenschaftlern eine eindeutige Klassifizierung neu beschriebener Arten zu ermöglichen. Eine Konsequenz daraus ist die 2017 erfolgte Reklassifizierung von Enterobacter aerogenes als Klebsiella aerogenes. Es war bereits 1971 erkannt worden, dass es sich bei E. aerogenes und K. mobilis um homotypische Synonyme handelt, da beide Arten den gleichen Typusstamm aufweisen. Ebenfalls wurde in der Vergangenheit diskutiert, Enterobacter aufgrund phänotypischer Ähnlichkeiten mit Klebsiella und weiteren Gattungen zum Tribus der Klebsielleae zu zählen. Die Rangstufe Tribus ist seit der Revision (1990) des International Code of Nomenclature of Bacteria (Bakteriologischer Code) nicht mehr üblich.
Weitere Untersuchungen zeigten, dass verschiedene Arten von Erwinia phänotypisch eher Arten der Gattung Enterobacter glichen, sie wurden daher in diese Gattung gestellt, beispielsweise Erwinia herbicola als Enterobacter agglomerans, die aber seit 1989 zu einer eigenen Gattung Pantoea gehören. Vor allem durch genetische Untersuchungen, z. B. DNA-DNA-Hybridisierung und Multi-Locus Sequenzanalyse (MLSA, hierbei werden nur bestimmte Gene untersucht) veränderte sich die Systematik der Enterobakterien grundlegend. So wurde bei zahlreichen Enterobacter-Arten festgestellt, dass sie zu anderen, neu beschriebenen Gattungen gehören. Die Arbeiten von Brady et al. 2013 führten so zu der Erstbeschreibung von Kosakonia, Lelliottia und Pluralibacter, sowie einer erweiterten Beschreibung der Gattungen Cronobacter und Enterobacter.
Innere Systematik
Untersuchungen im Zeitraum von 2004 bis 2005 von Enterobacter dissolvens ergaben, dass es sich um eine Unterart (Subspezies) von E. cloacae handelt. Im gleichen Zeitraum wurden drei medizinisch relevante Subspezies von E. hormaechei beschrieben, die jedoch erst 2016 valide publiziert wurden. Wegen der durchaus schwierigen Unterscheidung nah verwandter Arten wird in der medizinischen Mikrobiologie der Begriff des sogenannten E. cloacae Komplexes verwendet, bestehend aus E. asburiae, E. cloacae, E. hormaechei, E. kobei, E. ludwigii und E. nimipressuralis. Andere Autoren verstehen darunter E. asburiae, E. cancerogenus, E. cloacae und E. ludwigii.
Aktuell (Stand Dezember 2019) werden in der Gattung folgende Arten und Unterarten geführt, E. cloacae ist die Typusart. Zusätzlich werden in der Liste auch Bakterien aufgeführt, die früher der Gattung Enterobacter angehörten, nun aber zu anderen Gattungen gestellt wurden, dies ist durch einen Pfeil hinter dem Namen mit Verweis auf die aktuelle Bezeichnung kenntlich gemacht.
Enterobacter aerogenes & 1960 (Synonym Klebsiella mobilis et al. 1971) → Klebsiella aerogenes ( & 1960) et al. 2017, comb. nov.
Enterobacter agglomerans & 1972 → Pantoea agglomerans ( & 1972) et al. 1989, comb. nov.
Enterobacter amnigenus et al. 1981 → Lelliottia amnigena ( et al. 1981) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter arachidis et al. 2010 → Kosakonia arachidis ( et al. 2010) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter asburiae et al. 1988 emend. et al. 2005, zuvor als “CDC Enteric group 17” bezeichnet
Enterobacter bugandensis et al. 2016, sp. nov.
Enterobacter cancerogenus ( 1966) & 1988, comb. nov. (Synonym Erwinia cancerogena 1966 (Approved Lists 1980)), zuvor als “CDC Enteric group 19” bezeichnet
Enterobacter cloacae ( 1890) & 1960
Enterobacter cloacae subsp. cloacae ( 1890) et al. 2005 subsp. nov.
Enterobacter cloacae subsp. dissolvens ( 1922) et al. 2005 subsp. nov.
Enterobacter cowanii et al. 2001 → Kosakonia cowanii ( et al. 2001) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter dissolvens ( 1922) et al. 1988 → E. cloacae subsp. dissolvens ( 1922) et al. 2005 subsp. nov.
Enterobacter gergoviae et al. 1980 → Pluralibacter gergoviae ( et al. 1980) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter helveticus et al. 2007 → Cronobacter helveticus ( et al. 2007) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter hormaechei et al. 1990 emend. et al. 2016, zuvor als “CDC Enteric group 75” bezeichnet
Enterobacter hormaechei subsp. hormaechei et al. 2016 subsp. nov.
Enterobacter hormaechei subsp. oharae et al. 2016 subsp. nov.
Enterobacter hormaechei subsp. steigerwaltii et al. 2016 subsp. nov.
Enterobacter intermedius corrig. et al. 1980, sp. nov. → Kluyvera intermedia ( et al. 1980) et al. 2005, comb. nov.
Enterobacter kobei et al. 1988 emend. et al. 2005, zuvor als “NIH group 21” bezeichnet
Enterobacter ludwigii et al. 2005 sp. nov.
Enterobacter massiliensis et al. 2014 sp. nov. → Metakosakonia massiliensis ( et al. 2014) & 2017, comb. nov.
Enterobacter mori et al. 2011 sp. nov.
Enterobacter muelleri et al. 2015 sp. nov.
Enterobacter nimipressuralis ( 1945) et al. 1988, comb. nov. → Lelliottia nimipressuralis ( 1945) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter oryzae et al. 2009, sp. nov. → Kosakonia oryzae ( et al. 2009) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter oryzendophyticus et al. 2015, sp. nov. → Kosakonia oryzendophytica ( et al. 2015) et al. 2016, comb. nov.
Enterobacter oryziphilus et al. 2015, sp. nov. → Kosakonia oryziphila ( et al. 2015) et al. 2016, comb. nov.
Enterobacter pulveris et al. 2008, sp. nov. → Cronobacter pulveris ( et al. 2008) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter pyrinus et al. 1993, sp. nov. → Pluralibacter pyrinus ( et al. 1993) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter radicincitans et al. 2005, sp. nov. → Kosakonia radicincitans ( et al. 2005) et al. 2013, comb. nov.
Enterobacter sacchari et al. 2013, sp. nov. → Kosakonia sacchari ( et al. 2013) et al. 2014, comb. nov.
Enterobacter sakazakii et al. 1980, sp. nov. → Cronobacter sakazakii ( et al. 1980) et al. 2008, comb. nov.
Enterobacter siamensis et al. 2014, sp. nov.
Enterobacter soli et al. 2011, sp. nov.
Enterobacter tabaci et al. 2016, sp. nov.
Enterobacter taylorae et al. 1985, sp. nov. → E. cancerogenus ( 1966) & 1988, comb. nov.
Enterobacter turicensis et al. 2007, sp. nov. → Cronobacter zurichensis ( et al. 2007) et al. 2013, nom. nov.
Enterobacter xiangfangensis et al. 2014, sp. nov.
Etymologie und Eponyme
Die Bezeichnung Enterobacter leitet sich von enteron ( ‚Darm‘) und dem latinisierten Wort bacter für ‚Stab‘ ab, bedeutet folglich etwa „kleines Stäbchenbakterium im Darm“. Die Idee zu dieser Bezeichnung stammt von dem deutsch-dänischen Bakteriologen Fritz Kauffmann.
Für zahlreiche Enterobacter-Spezies wurde von den Wissenschaftlern, die sie erstmals beschrieben haben, ein Epitheton gewählt, das ein Eponym darstellt, also ein Wort, das aus einem Eigennamen abgeleitet ist. E. hormaechei wurde zu Ehren von Estenio Hormaeche (uruguayischer Mikrobiologe) benannt, er hat zusammen mit Philip R. Edwards die Gattung definiert. Das Epitheton von E. ludwigii ist dem deutschen Mikrobiologen Wolfgang Ludwig gewidmet, der zur Verständlichkeit der Systematik der Bakterien beigetragen hat. Mary Alyce Fife-Asbury (US-amerikanische Mikrobiologin), Hans Emil Müller (deutscher Mikrobiologe) und Welton Taylor (US-amerikanischer Mikrobiologe) „standen Pate“ für E. asburiae, E. muelleri bzw. E. taylorae, die drei Wissenschaftler haben grundlegende Erkenntnisse über die Enterobacteriaceae erlangt und veröffentlicht.
Aber auch die Personen, die mit der Verwendung eines Eponyms ihre Kollegen geehrt haben, wurden umgekehrt von anderen Wissenschaftlern in einem Epitheton einer Subspezies erwähnt: Caroline M. O’Hara und Arnold G. Steigerwalt, beides US-amerikanische Mikrobiologen, die E. hormaechei erstbeschrieben haben, findet man in E. hormaechei subsp. oharae und E. hormaechei subsp. steigerwaltii wieder.
Vorkommen
Hormaeche und Edwards beschreiben in ihrem Artikel A proposed genus Enterobacter von 1960 das Vorkommen der damals bekannten zwei Enterobacter-Arten mit „widely distributed in nature.“ (deutsch: ‚In der Natur weit verbreitet.‘). Auch Jahrzehnte danach ist diese Aussage noch zutreffend, jedoch sollte bei Angaben zur Ökologie von Enterobacter beachtet werden, wie häufig sich die Systematik der Gattung bzw. verwandter Gattungen geändert hat. So wurde beispielsweise ein mit Pflanzen assoziiertes Bakterium zunächst als Erwinia herbicola, dann als Enterobacter agglomerans und nun als Pantoea agglomerans bezeichnet.
Natürliche Habitate der Vertreter der Gattung sind Gewässer, Abwasser, Brackwasser, Pflanzen und Erdboden. Mehrere Arten findet man auch auf der Haut und im Darm von Menschen und Tieren, in Fleisch, Rohmilch und im Krankenhaus. In Tierställen treten sie als Bioaerosole in Größenordnungen von bis zu 104 koloniebildenden Einheiten pro Kubikmeter Luft auf. Beim Fund in Lebensmitteln ist eine Kontamination im Herstellungsprozess zu vermuten, dies trifft beispielsweise auf Milcherzeugnisse wie Joghurt und Käse zu und kann auch bei pulverförmiger Säuglingsanfangsnahrung der Fall sein. In medizinischen Proben wie Urin, Faeces, Blut, Sputum und Wunden wurden E. asburiae, E. cancerogenus, E. cloacae subsp. cloacae und E. hormaechei nachgewiesen. Hingegen wurde Enterobacter cloacae subsp. dissolvens nur in Umweltproben gefunden, erstmals wurde er 1922 von verrottenden Getreidehalmen isoliert. E. soli wurde 2011 aus Erdboden isoliert und ist in der Lage, Lignin abzubauen.
Einige der in den letzten Jahren entdeckten Mitglieder der Gattung (E. bugandensis, E. kobei, E. ludwigii und E. massiliensis) wurden in medizinischem Untersuchungsmaterial entdeckt, wobei es sich dabei nicht zwangsläufig um Krankheitserreger handelt. E. massiliensis wurde im Rahmen einer systematischen Untersuchung der Darmflora isoliert, aus einer Stuhlprobe eines gesunden jungen Mannes aus dem Senegal. Mehrere Arten wurden neben ihrem Vorkommen in medizinischem Untersuchungsmaterial auch aus Umweltproben isoliert, E. cancerogenus von Bäumen, aus Wasser und Lebensmitteln, E. kobei aus Lebensmitteln und E. ludwigii aus Erdboden und Pflanzen. Andere Enterobacter-Arten wurden von Pflanzen isoliert und sind nach jetzigem Kenntnisstand typisch für diese, z. B. E. mori aus den Wurzeln eines erkrankten Maulbeerbaums Morus alba L. (Weiße Maulbeere) oder E. muelleri aus der Rhizosphäre von Zea mays L. (Mais).
Bedeutung
Biotechnologie
Bestimmte Enzyme von Enterobacter können zu einer biotechnologischen Nutzung des Bakteriums bzw. seiner Gene führen. So wird das Enzym α-Acetolactatdecarboxylase (Acetyllactatdecarboxylase) verwendet, das in der 2,3-Butandiol-Gärung die Decarboxylierung von Acetyllactat bewirkt (Acetyllactat wird auch als 2-Acetolactat bzw. α-Acetolactat bezeichnet, es handelt sich um das Anion der 2-Hydroxy-2-methyl-3-oxobuttersäure), wobei Acetoin entsteht. Andererseits kann Acetyllactat ohne Einwirkung von Enzymen der oxidativen Decarboxylierung unterliegen und dadurch in Diacetyl umgewandelt werden. Diacetyl ist eine organische Verbindung, die in geringer Konzentration einen ausgeprägten Geschmack und Geruch nach Butter aufweist und auch Bestandteil des natürlichen Butteraromas ist. Andererseits kann sie in Wein und Bier zu einem Fehlaroma führen. Diacetyl kann enzymatisch mit Hilfe der Diacetylreduktase zu Acetoin reduziert werden, was beim Prozess des Bierbrauens durch die Brauhefe Saccharomyces cerevisiae geschieht. Trotzdem können geringe Mengen an Diacetyl entstehen, die zu dem unerwünschten Fehlaroma führen. Daher wurde das Gen für die α-Acetolactatdecarboxylase aus Enterobacter durch Transformation in Saccharomyces cerevisiae übertragen. Durch die rekombinante Hefe konnte beim Brauprozess die Konzentration an Diacetyl in der Würze verringert werden, da nun direkt Acetyllactat in Acetoin umgewandelt wurde.
Hingegen findet Diacetyl auch als Aromastoff Verwendung, so dass seine biotechnologische Produktion von Interesse ist. Dazu wurde 2015 in einem Stamm von E. cloacae subsp. dissolvens das Gen für das Enzym α-Acetolactatdecarboxylase durch Gen-Knockout „abgeschaltet“. Außerdem wurden die Gene für die Enzyme, die Diacetyl zu Acetoin reduzieren, inaktiviert. Die gentechnisch veränderten Bakterien produzierten daraufhin in einem Fermenter Diacetyl. Um die Ausbeute zu erhöhen, erwies sich der Zusatz von Eisen(III)-Ionen (Fe3+-Ionen) als hilfreich. Dadurch wurde die Diacetylkonzentration in der Fermenterbrühe auf 1,45 g/L gesteigert.
Antibiotikaresistenzen
Eine Antibiotikaresistenz liegt vor, wenn ein bestimmtes Bakterium resistent („widerstandsfähig“) gegen ein bestimmtes Antibiotikum ist, durch dieses also nicht im Wachstum gehemmt wird. Andersherum ausgedrückt ist das Antibiotikum gegen das Bakterium nicht wirksam. Bei Bakterien wird manchmal zwischen einer natürlichen (engl. natural(ly)) und einer erworbenen (engl. acquired) Resistenz unterschieden.
Die Vertreter der Gattung Enterobacter besitzen eine natürliche Resistenz gegen bestimmte β-Lactam-Antibiotika, da sie in ihrem Bakterienchromosom über einen induzierbaren Genabschnitt verfügen, dessen Genprodukt das Enzym Cephalosporinase ist. Cephalosporinasen sind eine Untergruppe der β-Lactamasen, die den β-Lactam-Ring dieser Antibiotikagruppe aufspalten und sie so unwirksam machen. Bakterienstämme des Enterobacter cloacae Komplexes (einschließlich E. asburiae und E. hormaechei) sind dadurch resistent gegen Aminopenicilline und Cephalosporine der 1. Generation. Gegen Carboxypenicilline hingegen sind sie sensitiv (empfindlich), bei den Cephalosporinen der 2. Generation sind einige und bei den Cephalosporinen der 3. Generation die meisten Antibiotika wirksam. Das als ampC bezeichnete Gen codiert für das als AmpC-Beta-Lactamase (in diesem Fall eine Cephalosporinase) bezeichnete Enzym. Einer 2008 durchgeführten Studie zufolge ist es in allen untersuchten Enterobacter-Isolaten vorhanden. Durch eine Mutation kann es zu einer Überexpression der in dem Bakterienchromosom codierten AmpC-Beta-Lactamase kommen und dadurch bedingt zur Resistenz gegen Cephalosporine höherer Generationen und Cephamycine wie Cefoxitin, Cefotetan und Cefmetazol.
Die Gene für eine erworbene Resistenz sind häufig auf einem Plasmid lokalisiert. Dies gilt beispielsweise für die plasmidcodierte Penicillinase oder die plasmidcodierte Extended Spectrum β-Lactamase (ESBL). Bakterienstämme des Enterobacter cloacae Komplexes sind durch eine erworbene Resistenz in der Lage, Carboxypenicilline (z. B. Carbenicillin) und Ureidopenicilline (Mezlocillin) sowie Cephalosporine der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) zu inaktivieren. Damit sind sie gegen zwei der vier im MRGN-System (multiresistente gramnegative Bakterien) definierten Antibiotikaklassen resistent. Eine Multiresistenz wird bei Enterobacter spp. eher durch eine Überexpression der chromosomal codierten AmpC verursacht, eine plasmidcodierte ESBL kommt daneben vor. Laut eines Berichts des ECDC (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten) wiesen im Jahr 2016 32 % der Enterobacter-Isolate eine Resistenz gegen Cephalosporine der 3. Generation auf, diese Daten stammen aus dem europäischen Surveillance-System TESSy.
Zuletzt wurde auch über Vertreter der Gattung Enterobacter berichtet, die gegen Carbapeneme und somit gegen eine weitere der im MRGN-System definierten vier Antibiotikaklassen resistent sind. Die Resistenz gegenüber Carbapenemen ist noch eher selten und kann durch die zuvor erwähnte AmpC-Beta-Lactamase oder ESBL in Kombination mit einem Porinverlust verursacht werden. Aber auch Carbapenemase-produzierende Vertreter wurden bereits isoliert. In Deutschland war bei E. cloacae 2010 die VIM-1 (Verona-Integron-Metallo-β-Lactamase) die am häufigsten identifizierte Carbapenemase. Nach dem Bericht des ECDC wiesen 2,6 % der Enterobacter spp. Isolate eine Resistenz gegen Carbapeneme auf, untersucht wurden 1.435 Isolate aus im Rahmen von TESSy im Jahr 2016 erhobenen Daten aus 14 Staaten. Der ebenfalls vom ECDC 2013 veröffentlichte Zwischenbericht über European survey on carbapenemase-producing Enterobacteriaceae (EuSCAPE) lieferte Daten aus 38 Staaten, demnach sind in Estland und Litauen Enterobacter spp. die bei den Enterobacteriaceae dominierenden Arten in Bezug auf Carbapenemase-Produktion. Die meisten Staaten (33) gaben hingegen Klebsiella pneumoniae als wichtigsten Vertreter an. Die nach dieser Bakterienart benannten Carbapenemasen (KPC-1, KPC-2 usw.) sind jedoch nicht auf Klebsiella-Arten beschränkt, sondern können – da sie plasmidcodiert sind – durch horizontalen Gentransfer zwischen verschiedenen gramnegativen Bakterienarten ausgetauscht werden. 2004 wurde erstmals über Enterobacter-Isolate mit einer plasmidcodierten KPC-2 β-Lactamase (in diesem Fall eine Carbapenemase) berichtet. Der Patient, von dem die Isolate stammten, wurde 2001 in einem Krankenhaus in Boston behandelt und litt an Sepsis, die durch verschiedene Bakterien verursacht worden war. Die zunächst nicht näher spezifizierten Enterobacter-Isolate wurden mit verschiedenen Untersuchungsverfahren als E. cloacae oder E. asburiae identifiziert, wobei eine exakte Zuordnung nicht möglich war.
Während 1970 noch alle E. cloacae Stämme empfindlich gegen Gentamicin waren, ein Aminoglycosidantibiotikum, änderte sich das im Verlauf der 1970er Jahre rapide. Ursache dafür sind die auf einem Plasmid lokalisierten AME-Gene, die für die Aminoglycosid-modifizierenden Enzyme codieren, die die Struktur dieser Antibiotikagruppe so verändern, dass sie nicht mehr wirksam sind. Neben Gentamicin sind u. a. Tobramycin und Amikacin betroffen.
Die Antibiotikaresistenz wird im Labor durch ein Antibiogramm ermittelt. Dabei kommt häufig die Kirby-Bauer-Methode zum Einsatz, bei der in einem Agardiffusionstest auf Müller-Hinton-Agar mit einer verteilten Suspension des Bakteriums kleine kreisförmige Filterplättchen gelegt werden, die verschiedene Antibiotika in definierter Menge enthalten. Mehrere Erstbeschreibungen von Enterobacter-Arten enthalten die Ergebnisse dieser Antibiogramme, beispielsweise E. bugandensis, E. hormaechei und E. massiliensis.
Auch das PCR-Verfahren kann verwendet werden. Es zielt auf die Gene ab, die für die Antibiotikaresistenzen der Bakterien verantwortlich sind, da durch sie die Enzyme codiert sind, die die Antibiotika abbauen oder verändern und damit unwirksam machen. Im Jahr 2015 wurden mittels PCR 77 Enterobacter-Isolate untersucht, die an nosokomialen Infektionen („Krankenhausinfektionen“) in Algerien (27 Proben) und Frankreich (50 Proben) beteiligt waren und von denen angenommen wurde, dass es sich um E. cloacae handelt. Das PCR-Verfahren ergab, dass 29 Isolate mindestens ein ESBL-codierendes Gen und 28 Isolate AME-Gene (Aminoglycosid-modifizierende Enzyme) aufwiesen. Die relative und absolute Häufigkeit positiver Befunde war bei den aus Algerien stammenden Proben (18 bzw. 20) größer als bei den aus Frankreich stammenden (11 bzw. 8).
Medizinische Bedeutung
Die humanmedizinische Relevanz der in der Gattung verbliebenen Arten ist noch Gegenstand der Forschung. Man nimmt an, dass sie neben den im Abschnitt Pathogenität erwähnten Fällen von Infektionskrankheiten, die durch Enterobacter-Arten verursacht wurden, auch für Infektionskrankheiten der unteren Atemwege, Lungenentzündungen (Pneumonien), Infektionskrankheiten der Haut und des Weichgewebes, ophthalmische (das Auge betreffende) Infektionskrankheiten, Endokarditis sowie septische Arthritis verantwortlich sein können. Bei den meisten Fällen handelt es sich um im Krankenhaus erworbene (nosokomiale) Infektionen. Arten, die aus medizinischen Proben im Krankenhaus oder im Zusammenhang mit nosokomialen Infektionskrankheiten isoliert wurden, werden als opportunistische Krankheitserreger angesehen. Problematisch ist die verbreitete Resistenz gegen mehrere Antibiotika, so dass sie als Erreger nosokomialer Infektionskrankheiten von zunehmender Bedeutung sind. Hingegen spielen Enterobacter-Arten, anders als Cronobacter sakazakii, bei Lebensmittelinfektionen epidemiologisch keine Rolle.
Von Infektionen, die im Krankenhaus erfolgen, sind vor allem immunsupprimierte Patienten betroffen. Weiterhin sind Neugeborene gefährdet, bei denen insbesondere die Kriterien Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, Anwendung invasiver medizinischer Verfahren und zu häufige Verwendung von Antibiotika Risikofaktoren sind. Mit den neonatalen Infektionskrankheiten werden E. cloacae und E. hormaechei in Verbindung gebracht, neben den nicht mehr zur Gattung zählenden C. sakazakii (Nekrotisierende Enterokolitis bei Cronobacter-Infektionen), K. aerogenes und Pluralibacter gergoviae. Dabei ist anzumerken, dass es in der Vergangenheit häufiger zu falschen Ergebnissen bezüglich der Unterscheidung von E. hormaechei und Cronobacter-Arten gekommen ist. Von Pneumonien sind v. a. intensivmedizinisch beatmete Patienten betroffen. Ein Bericht des ECDC nennt für das Jahr 2016 bei 10 % der auf einer Intensivstation erworbenen Lungenentzündungen Enterobacter-Arten als Ursache (zum Vergleich: Pseudomonas aeruginosa 21 %, Staphylococcus aureus 18 %, Klebsiella spp. 16 % und Escherichia coli 13 %).
Bei Infektionen mit Enterobacter-Arten sollte zunächst ein Antibiogramm zur Abklärung der Resistenzen durchgeführt werden. Häufig werden Ureidopenicilline und Cephalosporine der 3. Generation (z. B. Cefotaxim und Ceftazidim) verwendet, die jedoch bei multiresistenten Arten, die über eine plasmidcodierte Penicillinase oder die plasmidcodierte Extended Spectrum β-Lactamase verfügen, nicht wirksam sind. Weitere verwendete Antibiotika sind Carbapeneme, Chinolone und Aminoglycoside. Bei Enterobacter-Arten, die durch die chromosomal codierte AmpC-Beta-Lactamase (in diesem Fall eine Cephalosporinase) resistent sind, werden Carbapeneme empfohlen, dabei ist zu beachten, dass auch Resistenzen gegen diese Antibiotikagruppe auftreten können.
Die meisten Daten zur medizinischen Bedeutung finden sich zur Typusart E. cloacae. 1966 wurde berichtet, dass sie Patienten im Krankenhaus eher zufällig kolonisiert, als dass sie für eine Infektion verantwortlich ist. In den 1970er Jahren nahm man an, dass ein bestimmter E. cloacae-Stamm endemisch in einem bestimmten Krankenhaus ist und bei immunsupprimierten Patienten als opportunistischer Erreger Infektionskrankheiten verursacht. Hygieneuntersuchungen zeigten, dass der Stamm über kontaminierte Hände des Pflegepersonals verbreitet wird und es über medizinische Geräte und Flüssigkeiten (z. B. das bei der Hydrotherapie verwendete Wasser, aber auch Desinfektionsmittel mit Benzalkoniumchlorid) zu Kreuzkontaminationen kommt. Nach einer Statistik der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) war E. cloacae 1975 für 4,6 %, 1984 hingegen für 5,9 % der nosokomialen Infektionskrankheiten in US-amerikanischen Krankenhäusern verantwortlich.
Überwachungsprogramme
Um epidemiologisch nutzbare Informationen über Infektionskrankheiten und die daran beteiligten Krankheitserreger zu sammeln, gibt es verschiedene Überwachungsprogramme (sogenannte Surveillances). Das Robert Koch-Institut (RKI) hat 2015 eine Übersicht der Surveillance-Systeme für Erreger und Resistenz für Deutschland herausgegeben. Dort ist die Surveillance der Antibiotika-Anwendung und der bakteriellen Resistenzen auf Intensivstationen (SARI) aufgeführt, die vom Nationalen Referenzzentrum für Surveillance von nosokomialen Infektionen am Institut für Hygiene und Umweltmedizin, Charité Berlin und dem Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene der Universität Freiburg organisiert wird. Im SARI-Programm werden Proben auf 13 häufige Erreger und ihre Antibiotikaresistenz untersucht, unter den aufgeführten Bakterien ist auch E. cloacae zu finden. Die Teilnahme der Krankenhäuser an dieser Surveillance ist freiwillig. Hingegen sind die Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verpflichtend. So ist in IfSG festgelegt, dass nosokomiale Infektionskrankheiten und Krankheitserreger mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen zu erfassen sind. Die näheren Einzelheiten werden durch die beim Robert Koch-Institut eingerichtete Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie festgelegt und in einer Liste im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht. Dort ist unter den aufgeführten Bakterien ebenfalls E. cloacae zu finden, der zu erfassen ist, sofern eine Einzelresistenz gegen Imipenem oder Meropenem beobachtet wurde oder eine Multiresistenz gemäß der KRINKO-Definition für 3MRGN bzw. 4MRGN. Die Abkürzung KRINKO steht für die ebenfalls beim RKI eingerichtete Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention.
Auch international wurden Überwachungssysteme eingerichtet, beispielsweise das European survey on carbapenemase-producing Enterobacteriaceae (EuSCAPE). An diesem Surveillance-System sind die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island, Norwegen, sieben (potenzielle) Beitrittskandidaten und Israel beteiligt. Ein 2013 veröffentlichter Zwischenbericht gibt an, dass 28 dieser 38 Staaten ein nationales Surveillance-System für Carbapenemase-produzierende Enterobacteriaceae (CPE) unterhalten, davon wird in 24 nationalen Programmen auch Enterobacter spp. überwacht. Ein weiteres europäisches Surveillance-System wird als TESSy (The European Surveillance System) bezeichnet und liefert Daten zu nosokomialen Infektionen, die als Surveillance-Berichte durch das ECDC jährlich veröffentlicht werden und ebenfalls Enterobacter-Arten berücksichtigen.
Bei Angaben zum Auftreten von durch Enterobacter-Arten verursachte Infektionskrankheiten ist die diagnostisch schwierige Abgrenzung der Arten untereinander sowie zu den verwandten Gattungen wie Klebsiella und Cronobacter zu beachten. Nach einem Bericht des deutschen Krankenhaus-Infektions-Surveillance-Systems (KISS) waren Enterobacter-Arten 2011 für 6,5 % aller nosokomialen Infektionskrankheiten auf Intensivstationen verantwortlich. Daten aus Surveillance-Programmen bzw. aus Fallstudien bei Ausbrüchen von Infektionskrankheiten auf Intensivstationen liegen für Nord- und Südamerika, Europa und Asien vor.
Literatur
Estenio Hormaeche, Philip R. Edwards: A proposed genus Enterobacter. In: International Bulletin of Bacteriological Nomenclature and Taxonomy. Band 10, Nr. 2, April 1960, S. 71–74, doi:10.1099/0096266X-10-2-71.
Weblinks
Einzelnachweise
Enterobacterales
Enterobacterales (Ordnung) |
101733 | https://de.wikipedia.org/wiki/Margarete%20von%20Valois | Margarete von Valois | Margarete von Valois (; * 14. Mai 1553 in Saint-Germain-en-Laye; † 27. März 1615 in Paris), auch bekannt unter dem Namen la Reine Margot, war Königin von Frankreich und Navarra sowie Herzogin von Valois.
Das Leben Margaretes – nach dem Tod Heinrichs III. letzter Spross des Hauses Valois – war durch Skandale, Intrigen und Tragödien geprägt. Als gläubiges Mitglied der katholischen Kirche mit dem Hugenotten König Heinrich von Navarra verheiratet, war sie aufgrund der französischen Religionskriege ihr Leben lang Spielball der religiösen und politischen Parteien im Kampf um die Macht in Frankreich.
Ihr Leben ist vornehmlich durch die selbst verfassten Memoiren bekannt, die ein nahezu authentisches Bild ihrer Zeit in den Jahren 1565 bis 1582 geben. Der Rest ihres Lebens ist unter anderem durch ihre erhaltenen Briefe dokumentiert. Zeitgenossen beschrieben sie als stolz, „freigiebig und großzügig bis verschwenderisch“. Sie galt zudem als „wissensdurstig, redebegabt, schlagfertig und aufgeschlossen gegenüber den Wissenschaften“.
Margarete pflegte einen für ihre Zeit unkonventionellen Lebensstil, der zu zahlreichen Gerüchten und Spötteleien am französischen Königshof beitrug. Sie selbst trat diesem Gerede nicht entgegen, sodass ihre Person in späteren Publikationen oft als lasterhaft und sittenlos dargestellt wurde. Heutige Historiker attestieren ihr jedoch, dass sie sich lediglich die Freiheiten nahm, die zu jener Zeit für männliche Mitglieder des Adels üblich waren.
Familie
Margarete von Valois wurde als siebtes Kind und damit jüngste überlebende Tochter Heinrichs II. und Katharinas von Medici geboren. Ihren Vornamen erhielt sie zu Ehren ihrer Patin Marguerite de Valois-Angoulême, einer Tante väterlicherseits. Durch ihre beiden Schwestern Elisabeth und Claudia sowie ihre Brüder Franz II., Karl IX. und Heinrich III. war sie Schwester von drei französischen Königen, einer Königin von Spanien (Elisabeth, verheiratet mit Philipp II.) sowie der Gattin des einflussreichen Herzogs von Lothringen, Karl III., (Claudia).
Ihren Vater hat Margarete kaum gekannt, da er bei einem Turnier anlässlich der Hochzeit ihrer Schwester Elisabeth mit dem spanischen König Philipp II. starb, als sie erst sechs Jahre alt war. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war lebenslang sehr zwiespältig und geprägt durch eine Mischung aus Furcht und Bewunderung. Mit ihren Schwestern und ihrem jüngeren Bruder François-Hercule verband sie eine innige Liebe, während das Verhältnis zu ihrem älteren Bruder Heinrich schon von Jugend an von Rivalität geprägt war und in späteren Jahren sogar zeitweilig in hasserfüllte Feindschaft umschlug. Nur über die Beziehung zu ihrem zweitältesten Bruder Karl ist wenig überliefert. Fest steht lediglich, dass er derjenige war, der Margaretes Spitznamen Margot erfand und als einziger benutzte.
Das Verhältnis zu ihrem Ehemann war von Höhen und Tiefen geprägt, die häufig durch die zahlreichen Mätressen Heinrichs von Navarra beeinflusst waren. Oft stand sie loyal an seiner Seite und unterstützte ihn und seine Ziele nach besten Kräften, obwohl es für sie politisch nicht opportun war. In anderen Momenten jedoch bezog sie offen Stellung gegen ihn oder versuchte, seine Pläne zu durchkreuzen. Erst einige Jahre nachdem ihre Ehe annulliert worden war, entwickelte sich ein dauerhaft freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden.
Leben
Kindheit und Jugend
Margarete verbrachte die ersten Lebensjahre gemeinsam mit ihren Geschwistern und Maria Stuart im Schloss Saint-Germain-en-Laye unter der Obhut ihrer Gouvernante Charlotte de Vienne, Baronne de Curton, die nach Margaretes Hochzeit deren erste Hofdame wurde. Nachdem sowohl Elisabeth als auch Maria geheiratet und Saint-Germain-en-Laye verlassen hatten, folgte 1559 ein Umzug in den Louvre, wo ihr ihre beiden Brüder Heinrich und François-Hercule Gesellschaft leisteten. Sie erhielt eine umfassende, klassisch humanistische Erziehung, die sich später unter anderem darin bemerkbar machte, dass sie fließend Latein, Griechisch, Italienisch und Spanisch sprach.
Als Tochter eines der einflussreichsten und mächtigsten Herrscherhäuser Europas war die Prinzessin bereits im Kindesalter eine begehrte Heiratskandidatin. 1560 trugen sich ihre Eltern mit dem Gedanken, sie mit dem spanischen Infanten Don Carlos zu vermählen. Als diesem im Alter von 15 Jahren die Porträts mehrerer potentieller Ehefrauen präsentiert wurden, entschied er sich für Margarete mit den Worten „Más hermosa es la pequeña“ (deutsch: „Die Kleine ist die hübscheste“). Doch die Pläne zerschlugen sich ebenso wie das Vorhaben Kaiser Maximilians II. im Jahr 1563, seinen Sohn Rudolf mit Margarete zu verheiraten.
Zu Beginn der religiösen Auseinandersetzungen in Frankreich schickte Katharina von Medici ihre Tochter und ihren jüngsten Sohn François-Hercule 1562 nach Amboise, während Heinrich und Karl bei ihrer Mutter im Louvre blieben. Ab Januar 1564 begleitete Margarete ihren königlichen Bruder Karl bis Mai 1566 auf einer Reise durch die Provinzen seines Reichs.
Nach der Rückkehr nach Paris entwickelte sich zwischen Margarete und dem jungen Herzog Henri I. de Lorraine, duc de Guise eine Jugendliaison. Dieser trug sich sogar mit Heiratsgedanken. Eine Heirat zwischen ihm und Margarete war für das französische Königshaus jedoch vollkommen unvorstellbar, da Heinrichs Familie eine führende Kraft der unnachgiebigen katholischen Liga war, welche die französischen Hugenotten bekämpfte. Das Herrscherhaus hingegen war zu jener Zeit darauf bedacht, ein politisches Gleichgewicht zwischen Hugenotten und Katholiken im Reich herzustellen. Henri de Lorraine wurde kurzerhand aus dem Hofdienst entlassen und nur wenig später mit dem Patenkind der Königsmutter, Catherine de Clèves, verheiratet.
Schon 1565 hatten sich Pläne zerschlagen, Margarete mit König Sebastian I. von Portugal zu verheiraten. Auch Bestrebungen, sie nach dem Tod ihrer Schwester Elisabeth mit deren Witwer Philipp II. von Spanien zu vermählen, schlugen fehl.
Heirat und Bartholomäusnacht
Aus rein dynastischen Interessen strebten König Karl IX. und seine Mutter ab 1570 eine Hochzeit der katholisch erzogenen Margarete mit dem protestantischen Heinrich von Navarra an. Ziel dieser Verbindung war es, eine Aussöhnung zwischen den französischen Protestanten und Katholiken herbeizuführen und nach dem dritten Hugenottenkrieg damit den Frieden von Saint-Germain zu besiegeln. Dieser Plan war für die damalige Zeit sehr außergewöhnlich, denn eine Ehe von Mitgliedern verschiedener Konfessionszugehörigkeit war in der Heiratspolitik der europäischen Herrscherhäuser vollkommen unüblich.
Es begannen lange und zähe Heiratsverhandlungen, die von Heinrichs Mutter Johanna und Margaretes Mutter Katharina in Tours und Blois geführt wurden. Beide Seiten bauten zu Beginn der Gespräche noch darauf, dass die andere Seite bereit war, zum jeweils anderen Glauben überzutreten, was sich jedoch als trügerische Hoffnung erwies. Bereits in einem Vorvertrag, der im April 1572 in Blois geschlossen wurde, war vereinbart, dass ein Religionsübertritt nicht nötig sei.
Obwohl Margarete ihren zukünftigen Ehemann ungeschliffen und hässlich fand und sich darüber hinaus über seinen üblen Geruch beklagte, willigte sie unter dem Druck ihrer Mutter in die Heirat ein; zumindest behauptete sie dies in späteren Jahren, obwohl in ihren Memoiren darüber nichts zu lesen ist und diese eher ein anderes Bild vermitteln.
Der endgültige Heiratsvertrag wurde am 17. August 1572 in Paris unterzeichnet und legte eine sehr hohe Mitgift für Margarete fest: Karl IX. verpflichtete sich zu einer Zahlung von 300.000 Goldécu, Katharina von Medici zu 200.000 Livres. Weitere 25.000 Livres sollten jeweils von ihren Brüdern Heinrich und François-Hercule gezahlt werden. Im Gegenzug verpflichtete sich Margarete dazu, auf sämtliche Erbansprüche bezüglich des Familienvermögens zu verzichten. Es scheint jedoch so, als sei die vereinbarte Mitgift gar nicht oder nur zu einem Teil gezahlt worden. Der Vertragsunterzeichnung folgte eine offizielle Verlobungsfeier im Louvre unter der Leitung Charles' de Bourbon, Erzbischof von Rouen und Onkel des Bräutigams.
Am darauf folgenden Tag fand die Hochzeitszeremonie statt, ohne dass der eigentlich dazu nötige Dispens des Papstes abgewartet wurde. Die Zeremonie wurde auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame de Paris durchgeführt, da sich Heinrich von Navarra weigerte, einer katholischen Messe im Kirchengebäude beizuwohnen. Das Gerücht, Margarete sei bei der Frage, ob sie ihren Verlobten zum Mann nehmen wolle, durch einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf von ihrem Bruder Heinrich zum Nicken genötigt worden, stammt jedoch aus späterer Zeit und wurde durch den Historiografen Pierre Matthieu in die Welt gesetzt. Der Zeremonie folgten mehrtägige Festivitäten und Volksbelustigungen, die bis zum 21. August 1572 andauerten.
Im Gefolge Heinrichs von Navarra waren zahlreiche Hugenotten nach Paris gekommen, um der Hochzeit beizuwohnen. Ein gescheitertes Attentat auf den calvinistischen Admiral Gaspard de Coligny war der Auslöser der Bartholomäusnacht, in deren Verlauf zahlreiche Hugenotten getötet wurden. Aus diesem Grund ging die Heirat Margaretes von Valois auch als die Pariser Bluthochzeit in die Annalen ein. Heinrich von Navarra wurde gefangen genommen und zum katholischen Glauben gezwungen. Katharina von Medici machte ihrer Tochter den Vorschlag, die Ehe aufgrund des blutigen Massakers annullieren zu lassen, was Margarete jedoch ablehnte; stattdessen stand sie loyal zu ihrem Ehemann. Dieser wurde trotz Übertritts zum Katholizismus gemeinsam mit Margarete und ihrem jüngeren Bruder François-Hercule im Louvre gefangen gehalten.
Margaretes Memoiren sind eine der wenigen zeitgenössischen Darstellungen der Ereignisse der Bartholomäusnacht und neben einem Text von Jean de Mergey, Sekretär des Kardinals François de La Rochefoucauld, der einzige bekannte Bericht, der die Ereignisse innerhalb des Louvre beschreibt. So erzählt Margarete, dass sich Gabriel de Levis, Vicomte de Leran, ein Hugenotte aus dem Hochzeitsgefolge ihres Mannes, während der Nacht Einlass in ihr Schlafzimmer verschaffte, als er von Soldaten ihres Bruders, König Karl, verfolgt wurde. Durch ihre Fürsprache wurde sein Leben verschont. Diese Szene fand später in abgewandelter Form Eingang in Alexandre Dumas’ Roman La reine Margot.
Verschwörung gegen den König und die Reise nach Flandern
Heinrich III. wurde 1573 auf Betreiben Katharinas von Medici zum König von Polen und Litauen gewählt und verließ Paris in Richtung Krakau. Zur gleichen Zeit bildete sich in den Reihen des französischen Adels eine politische Gruppierung gemäßigter Protestanten und Katholiken, die Les Malcontents („Die Unzufriedenen“) genannt wurde. Sie traten für eine dauerhafte Aussöhnung der beiden Religionen in Frankreich und für mehr Rechte für die protestantische Seite ein. Sowohl Heinrich von Navarra als auch Margarete und François-Hercule, obwohl immer noch unter Arrest im Louvre stehend, beteiligten sich aktiv an diesem Bündnis. Noch ehe Karl IX. im Mai 1574 starb, waren die Malcontents die treibende Kraft einer Verschwörung, bekannt unter dem Namen Complot du Mardis Gras (auch: Complot de Vincennes). Sie hatte zum Ziel, nicht Heinrich, der immer noch in Polen weilte, sondern François-Hercule als nächsten französischen König den Thron besteigen zu lassen, da dieser in Dingen der Religion den Ruf besaß, toleranter als sein älterer Bruder zu sein. Die Konspiration wurde im Februar 1574 aufgedeckt, pikanterweise durch Margarete selbst, die ihrer Mutter Katharina davon berichtete, wobei ihre Motive dafür bis heute unklar sind. François-Hercule und Heinrich von Navarra wurden infolgedessen im Schloss Vincennes festgesetzt. Ein erster Fluchtversuch der beiden Konspirateure schlug fehl und zwei ihrer Unterstützer – Joseph Boniface de La Môle und der Graf Annibal de Coconas – wurden dafür hingerichtet. Auch ein zweiter, von Margarete ersonnener Fluchtplan scheiterte, dieses Mal jedoch ohne Konsequenzen für die Beteiligten. Auf Betreiben Katharinas von Medici wurde eine Kommission aus Parlamentsmitgliedern gebildet, um den Verschwörungsfall genauestens zu untersuchen. Zu diesem Zweck verfasste Margarete im April 1574 für ihren Mann das Mémoire justificatif pour Henri de Bourbon, eine Verteidigungsschrift, die ihm während der Untersuchung gute Dienste leisten sollte und die Kommission davon überzeugte, dass er und François-Hercule nicht an dem Komplott beteiligt gewesen waren. Die beiden wurden zurück nach Paris gebracht und standen unter noch strengerer Bewachung, als es direkt nach der Bartholomäusnacht der Fall gewesen war.
Trotz verschärfter Haftbedingungen konnte François-Hercule am 15. September 1575 mit Margaretes Hilfe aus dem Louvre nach Dreux fliehen. Da Heinrich III. sie der Komplizenschaft verdächtigte, wurde Margarete unter Hausarrest und strenge Bewachung gestellt, obwohl ihr eine Beteiligung an der Flucht ihres Bruders nicht nachgewiesen werden konnte.
Heinrich von Navarra tat es François-Hercule im Februar 1576 gleich – ihm gelang die Flucht aus Paris jedoch ohne Zutun seiner Frau, die von den Fluchtplänen nicht unterrichtet war. Trotzdem stand sie wieder unter Verdacht, zum Gelingen des Vorhabens beigetragen zu haben. Heinrichs Flucht bedeutete zugleich eine zweijährige Trennung der beiden Eheleute und ihre Entfremdung.
François-Hercule hatte sich unterdessen offen auf die Seite der Protestanten geschlagen. Um ihn und später auch um Heinrich von Navarra sammelten sich die unzufriedenen protestantischen Gruppierungen und rüsteten sich für neue militärische Unternehmen. Margarete stand zu jener Zeit immer noch unter Hausarrest im Louvre. Erst als François-Hercule Friedensverhandlungen verweigerte, solange seine Schwester eine Gefangene war, stimmte Heinrich III. einer Aufhebung des Arrestes zu. Gemeinsam mit ihrer Mutter wohnte Margarete den anschließenden Friedensverhandlungen zwischen dem Königshaus und Vertretern der Hugenotten bei, die im Mai 1576 in das Edikt von Beaulieu mündeten.
1577 bereiste Margarete Flandern, um dort für François-Hercule und seine Thronambitionen in den Spanischen Niederlanden zu werben. Gegenüber Heinrich III. und ihrer Mutter gab sie vor, zur Kur reisen zu wollen, und ließ sich dabei unter anderem von Philippe de Montespan, Prinzessin von Roche-sur-Yon und ihrer Hofdame Hélène de Tournon begleiten. Ein Großteil von Margaretes Memoiren befasst sich mit diesem Aufenthalt in Flandern, obwohl er lediglich von Ende Mai bis etwa Mitte Dezember dauerte. Letztendlich waren Margaretes diplomatische Bemühungen ohne Erfolg, denn Heinrich III. versagte seinem jüngeren Bruder die Unterstützung, die notwendig gewesen wäre, um dessen Pläne in die Tat umzusetzen.
Schon mehrfach hatte Heinrich von Navarra seine Frau, nachdem ihr Hausarrest beendet worden war, dazu aufgefordert, an seinen Hof in Nérac zu kommen. Doch sowohl Heinrich III. als auch Katharina hatten die Befürchtung gehegt, Margarete könne zu einer Art Geisel werden, mit der das Königshaus erpressbar würde, wenn sie erst einmal in Navarra wäre. Deshalb hatten sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um Margarete von einer Abreise in Richtung Nérac abzuhalten und aus diesem Grund auch sehr schnell in ihre Pläne, nach Flandern zu reisen, eingewilligt. Doch nach Margaretes Rückkehr konnten sie keine Gründe mehr anführen, die einem Wiedersehen des Paares entgegenstanden. Vielmehr erhoffte sich der König, dass Margarete bei zukünftigen Verhandlungen zwischen Protestanten und Katholiken im Sinne des Königshauses Einfluss auf ihren Mann nehmen würde, wenn es galt, zwischen den Parteien zu vermitteln.
Nérac
1578 durfte Margarete in Begleitung ihrer Mutter und des Kanzlers Guy Faur, seigneur de Pibrac, in die Gascogne reisen, um ihren Ehemann wiederzusehen. Das Paar traf sich erstmals in der Guyenne wieder, doch Heinrich von Navarra zeigte vorerst nicht viel Interesse an seiner Frau. Er behandelte sie zwar höflich und zuvorkommend, vermied aber ein allzu häufiges Aufeinandertreffen.
Nachdem Katharina von Medici wieder nach Paris abgereist war, hielt sich das königliche Paar für kurze Zeit auf Schloss Pau auf. Dort war der Katholizismus jedoch verboten, und obwohl für Margarete eine Ausnahme gemacht und für sie in einer kleinen Kapelle katholische Messen gelesen wurden, fühlte sie sich laut ihren Memoiren sehr unwohl. Erst als der Hof nach Nérac im Herzogtum Albret weiterzog, besserte sich ihre Lage, weil das Albret zum Gebiet des französischen Königreichs gehörte und dort die religiösen Regeln wesentlich toleranter waren.
Unter Margaretes Einfluss entwickelte sich der Hof schnell zu einem Treffpunkt von angesehenen Literaten und Philosophen wie Guillaume de Saluste du Bartas und Michel de Montaigne. Die Königin führte in Nérac das Gedankengut des Neuplatonismus ein, veranstaltete literarische Zirkel und gab zahlreiche rauschende Feste. Ihre prachtvolle Hofhaltung, gepaart mit ausschweifenden Veranstaltungen und der dort üblichen, stark ausgeprägten Art der Galanterie, machte in ganz Europa von sich reden, so dass sie sogar William Shakespeare zu seiner Komödie Verlorene Liebesmüh inspiriert haben sollen. Als es 1579 zum Siebten Hugenottenkrieg kam, machten viele Zeitgenossen die Intrigenspiele am Néracer Hof und die Königin von Navarra dafür verantwortlich, weswegen er auch Guerre des Amoureux („Krieg der Liebenden“) genannt wurde. Heutige Historiker sehen die Ursachen aber nicht in dem unterstellten Groll Margaretes gegen ihren Bruder Heinrich, sondern vielmehr in einer unzureichenden Umsetzung der Vereinbarungen, die 1577 im Frieden von Bergerac festgeschrieben worden waren. Sie zählen es sogar zu ihren Verdiensten, dass diese religiösen Auseinandersetzungen nur kurz dauerten und 1580 schließlich in den Frieden von Fleix mündeten, an dessen Aushandlung sie selbst beteiligt war.
War das Verhältnis zwischen Heinrich von Navarra und seiner Frau nach ihrem Wiedersehen allmählich enger und freundschaftlicher geworden, so verschlechterte es sich während der Zeit in Nérac wieder. Ausschlaggebend dafür war Heinrichs neue Mätresse Françoise de Montmorency, Baronesse de Fosseux, genannt „la Fosseuse“, die Heinrichs ganze Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nahm und Margarete aus der Gunst ihres Mannes verdrängte. Die Königin tröstete sich ab 1580 mit einer romantischen Beziehung zu Jacques de Harlay, seigneur de Champvallon, dem Stallmeister ihres jüngeren Bruders François-Hercule; ein Verhältnis, das sie – nach einer kurzen Unterbrechung – nach seiner Heirat 1582 mit Cathérine de La Marck wiederaufnahm.
Rückkehr nach Paris und Verbannung vom Königshof
Auf Einladung ihrer Mutter und ihres Bruders Heinrich brach Margarete im Januar 1582 auf, um den französischen Hof in Paris zu besuchen. Das Angebot des Königs basierte weniger auf familiärer Höflichkeit denn auf politischem Kalkül und dem erneuten Versuch, Margarete als Verbündete für die Interessen der Katholischen Liga zu gewinnen. Heinrich machte seine Schwester immer noch für den Krieg der Liebenden verantwortlich, und entsprechend reserviert war der ihr bereitete Empfang bei der Ankunft im Louvre Ende Mai.
Doch Heinrichs Bemühungen, Margarete auf seine Seite zu ziehen, schlugen fehl und trugen dazu bei, dass das Verhältnis zwischen ihm und seiner Schwester zerrüttet blieb. Erschwerend kam hinzu, dass Gerüchte über Margaretes angeblich lasterhaftes Privatleben die Runde machten, die durch ihre wiederaufgenommene Liaison zu Jacques de Harlay zusätzlich genährt wurden. Als sie im Juni 1583 erkrankte und deshalb das Bett hüten musste, mutmaßten viele, dass sie ein uneheliches Kind erwarte. Am 8. August kam es dann während eines Balls im Louvre zum Eklat: Heinrich warf seiner Schwester in aller Öffentlichkeit einen liederlichen Lebenswandel vor, zählte sämtliche der ihr unterstellten Liebhaber auf und verbannte sie vom Hof. Dieser Vorfall war ein bis dato beispielloser Vorgang und erregte in ganz Europa großes Aufsehen, insbesondere an den Königshöfen stieß Heinrichs Verhalten auf völliges Unverständnis.
Zutiefst gedemütigt verließ Margarete daraufhin Paris in Richtung Vendôme, wurde aber auf Geheiß ihres Bruders von königlichen Soldaten in der Nähe von Palaiseau gefangen genommen und im Schloss Montargis festgesetzt. Immer noch äußerst wütend instruierte Heinrich Margaretes Hofdamen, wie sich ihre Herrin gemäß ihrer königlichen Herkunft zu benehmen habe, und zeigte keinerlei Ambitionen, seine Schwester nach dieser erneuten Kränkung ihrer Person freizulassen. Erst durch Intervention Katharinas von Medici wurde Margaretes Arrest in Montargis aufgehoben. An eine Rückkehr nach Nérac war aber vorerst nicht zu denken. Heinrich von Navarra weigerte sich, seine Ehefrau wieder bei sich aufzunehmen, solange sich Heinrich III. nicht für die ungerechtfertigten Vorwürfe entschuldigt habe. Margarete war deshalb gezwungen, acht Monate lang Quartier in verschiedenen Städten zu nehmen und auf die Beilegung des Streits zu warten. Erst im April 1584 erlaubte ihr Mann die Rückkehr nach Nérac, nachdem der französische König als Wiedergutmachung territoriale Zugeständnisse an die Krone von Navarra gemacht hatte.
Die Aufnahme Margaretes am navarresischen Hof war jedoch nicht besonders herzlich. Heinrich zeigte wieder keinerlei Interesse an seiner Frau und widmete sich ausschließlich seiner neuen Mätresse Diane d’Andouins, Comtesse de Guiche, die „La belle Corisande“ genannt wurde.
Agen
Diane d’Andouins verstand es, Heinrich von Navarra von seiner Ehefrau fernzuhalten. Er wählte das Schloss Pau als Domizil für sich und seine Mätresse, während Margarete im Schloss von Nérac blieb. Als im Juni 1584 ihr Bruder François-Hercule und damit der letzte männliche Thronerbe der Valois-Dynastie starb, avancierte Heinrich von Navarra offiziell zum Thronfolger Heinrichs III., dessen Ehe mit Louise de Lorraine-Vaudémont kinderlos geblieben war. Margaretes Rolle als Vermittlerin zwischen ihrem Mann und dem französischen Königshaus war damit obsolet, was ihren Einfluss am navarresischen Hof schwächte. Der Verlust des geliebten jüngeren Bruders wog für sie deshalb doppelt schwer.
Im März 1585 verließ Margarete Nérac in Richtung Agen, das zu ihrer Apanage gehörte, mit dem Plan, sich mit Unterstützung der Katholischen Liga als eine Art Souverän in der Auvergne zu etablieren. Durch ihre Zuwendung zur Liga zog sie sich aber sowohl den Zorn ihres Ehemanns als auch den ihres Bruders Heinrich zu.
Es gelang ihr, die Bevölkerung und den Adel von Agen für sich und damit gegen ihren Mann einzunehmen und davon zu überzeugen, dass die Stadt gegen zu befürchtende Angriffe der Hugenotten befestigt werden müsse. Als sie jedoch damit begann, Agen in eine Festung zu verwandeln, die Steuern zur Finanzierung der umfangreichen Baumaßnahmen erhöhte und den Bürgern den Abzug aus der Stadt verweigerte, brachte sie die dortige Bevölkerung gegen sich auf. Es drohte eine Revolte, der sie nur durch eine überstürzte Flucht in die Festung von Carlat bei Aurillac im November des Jahres 1585 entgehen konnte. Von dort versuchte sie, unterstützt von einigen wenigen Adeligen, mit einem eilig aufgestellten eigenen Heer das gesamte Agenais unter ihre Kontrolle zu bringen, was ihr jedoch letztendlich nicht gelang.
Als Truppen ihres Bruders Heinrich anrückten, musste Margarete ein weiteres Mal fliehen und zog sich auf das Schloss Ybois nahe Issoire, einen Besitz ihrer Mutter Katharina, zurück. Dort wurde sie im Oktober 1586 von königlichen Soldaten unter Führung Jean Timoléons de Beaufort-Montboissier, Vicomte de Lamothe, Marquis de Canillac, gefangen genommen und auf Befehl des Königs in die Festung Usson im heutigen Département Puy-de-Dôme gebracht, wo sie im November des gleichen Jahres eintraf.
Usson
Von November 1586 bis Juli 1605 musste Margarete in der Verbannung auf der Festung in Usson verbringen. Es gelang ihr aber, sich allmählich mit der neuen Situation zu arrangieren. Als Jean Timoléon de Beaufort-Montboissier die Haftbedingungen erleichterte, wurde dies von späteren Geschichtsschreibern dem Umstand zugeschrieben, dass Margarete ihren Bewacher verführt habe, ein Gerücht, das bisher nicht mit Beweisen untermauert werden konnte. Er lief schließlich zur Katholischen Liga über und übergab die Festung Usson an Margarete, die dort anschließend einen Hof ähnlich wie in Nérac mit Musikern, Schriftstellern und Intellektuellen führte. Sie unterhielt dort sogar ein Theater, trotzdem blieb sie gesellschaftlich isoliert und wurde von großen Geldsorgen geplagt.
Von ihrer Mutter, die ihr in der Vergangenheit immer wieder hilfreich zur Seite gestanden hatte, konnte sie mittlerweile keine Unterstützung mehr erhoffen. Katharina von Medici plante inzwischen, ihre Lieblingsenkelin Christine de Lorraine mit Heinrich von Navarra zu vermählen, um auf diese Weise das Verhältnis der französischen Königsdynastie der Valois zum navarresischen Königshaus zu festigen, wobei ihr die noch bestehende Ehe zwischen dem designierten Thronfolger und ihrer eigenen Tochter im Wege stand. Es gingen sogar Gerüchte um, dass Margarete um ihr Leben fürchten musste, da die Königsmutter auch nicht vor einem Mord zurückschrecken würde, um ihr Ziel zu verwirklichen.
Nach dem Tod Heinrichs III. im August 1589 bestieg Margaretes Ehemann als Heinrich IV. den französischen Königsthron, und Margarete wurde – trotz Verbannung – nominell Königin Frankreichs. Heinrichs offizielle Salbung zum König fand jedoch erst im Februar 1594 in der Kathedrale von Chartres statt, nachdem er, gemäß dem Willen seines Vorgängers, zum katholischen Glauben konvertiert war.
Bereits 1593 hatte Heinrich IV. Kontakt zu Margarete aufgenommen, um über eine Annullierung seiner kinderlosen Ehe mit ihr zu verhandeln. Er spielte mit dem Gedanken, nach einer Trennung seine damalige Mätresse Gabrielle d’Estrées zu heiraten, die ihm im Juni 1594 einen Sohn und damit einen potentiellen Thronfolger gebar. Damit befand sich Margarete seit langer Zeit erstmals wieder in einer Verhandlungsposition, die es ihr ermöglichte, auf die Geschicke des französischen Königshauses Einfluss zu nehmen, und so verweigerte sie lange Zeit ihr Einverständnis zur Annullierung der Ehe. Diese wurde erst am 7. Februar 1599 in ihrem Namen beantragt. Als Begründungen wurden zu enge Verwandtschaft (Margarete und ihr Mann waren beide Urenkel Charles' de Valois), Kinderlosigkeit und das angeblich fehlende Einverständnis der Braut zur Eheschließung angeführt. Papst Clemens VIII. erklärte die Heirat daraufhin am 24. September 1599 für nichtig, und Margarete wurde für ihr Einverständnis eine beachtliche Abfindung zugesprochen. Ihr wurden als Entschädigung unter anderem das Agenois, das Condomois und Rouergue sowie das Herzogtum Valois zuerkannt. Zudem erhielt sie eine Pension, und Heinrich IV. tilgte ihre bis dato aufgelaufenen Schulden; die Titel der „Königin von Frankreich“ und „Herzogin von Valois“ blieben ihr erhalten.
1593/94 hatte ihr Brantôme, der Margarete ebenso wie Honoré d’Urfé regelmäßig in Usson besuchte und sie sehr verehrte, eine Version seines Discours (s. Lit.) zukommen lassen. Mit der Begründung, einige darin geschilderte Sachverhalte richtigstellen zu wollen, begann sie 1594 mit dem Verfassen ihrer Memoiren, die sie Brantôme widmete. Außerdem fing sie an, religiöse Schriften zu studieren.
Die letzten Jahre in Paris
Im Juli 1605 erhielt Margarete die Erlaubnis Heinrichs IV., Usson zu verlassen und das Schloss Madrid in Boulogne sur Seine (heute: Neuilly-sur-Seine) zu beziehen. Sie blieb jedoch nur wenige Monate dort, ehe sie unautorisiert das Hôtel de Sens in Paris bezog.
Ihre Rückkehr in die Hauptstadt des französischen Königreichs war aber nicht nur dadurch bedingt, dass sie wieder am höfischen Leben teilnehmen wollte, es standen auch handfeste finanzielle Interessen dahinter. Margarete stritt um ihr mütterliches Erbe, denn Katharina von Medici war 1589 verstorben. Es existierten Dokumente, wonach diese ihre Tochter enterbt hatte. Heinrich III. hatte aufgrund dessen noch zu seinen Lebzeiten sämtlichen Besitz Katharinas zum Erbe Charles’ de Valois, des unehelichen Sohns seines Bruders Karls IX., deklariert. Margarete war jedoch im Besitz von Dokumenten, die eindeutige Maßgaben enthielten, wonach ihr das gesamte Erbe der Mutter zufallen sollte. Margarete gelang es in Paris, den Anspruch auf einen Teil des Erbes gerichtlich durchzusetzen, so dass sie ihren Lebensunterhalt fortan durch den Nachlass ihrer Mutter finanzieren konnte.
1607 bezog sie ein eigenes, selbst erbautes Hôtel am linken Ufer der Seine gegenüber dem Louvre. Sie gab dort zahlreiche große Empfänge mit Theater- und Ballettaufführungen und organisierte abendliche Tischgesellschaften mit Literaten, Gelehrten und Philosophen. Margarete unterhielt den ersten Pariser Salon und betätigte sich als Mäzenin junger Dichter und Poeten.
Da sich die Beziehung zu ihrem Ex-Ehemann wieder gebessert hatte, verband sie während dieser Zeit auch ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Maria de’ Medici, die nach dem Tod Gabrielle d’Estrées’ zweite Ehefrau Heinrichs IV. geworden war. So war Margarete am 13. Mai 1610 in der Basilika Saint-Denis dabei, als Maria zur Königin gekrönt wurde, und diese wählte sie zur Patin für ihren Sohn Gaston, der am 15. Juni 1614 durch Kardinal Jean IV. de Bonsi getauft wurde. Bereits 1606 hatte Margarete Marias Sohn Ludwig XIII. testamentarisch zu ihrem Alleinerben bestimmt, und nach der Ermordung Heinrichs IV. (14. Mai 1610) unterstützte sie Maria von Medici während der ersten Jahre der Regentschaft für den noch unmündigen Ludwig XIII. Sie empfing beispielsweise im Namen des französischen Hofes mehrere ausländische Botschafter, und während der Generalstände 1614 wurde sie durch die Regentin zu Verhandlungen mit kirchlichen Würdenträgern beauftragt. Ihr Wirken während dieser Versammlungen war zugleich ihr letztes öffentliches Auftreten auf dem politischen Parkett Frankreichs.
Margarete von Valois starb unerwartet am 27. März 1615 nach einer Krankheit im Alter von 61 Jahren in Paris. Das offizielle Begräbnis in der Basilika von Saint-Denis fand aber erst am 20. Juli 1616 statt. Bei der Plünderung der Königsgräber von Saint-Denis während der Französischen Revolution wurde ihr Grab am 17. Oktober 1793 geöffnet und geplündert, ihre Überreste wurden in einem Massengrab außerhalb der Kirche beerdigt. Während der bourbonischen Restauration nach 1815 wurden die in den beiden Gruben außerhalb der Kathedrale beerdigten Gebeine und sterblichen Überreste erneut geborgen und, da sie einzelnen Individuen nicht mehr zuzuordnen waren, in einem gemeinsamen Ossarium in der Krypta der Kathedrale beigesetzt.
Liebhaber
In positiv geprägten zeitgenössischen Darstellungen wurde immer wieder Margaretes Schönheit hervorgehoben. So schreibt Brantôme über sie: „[…] je croy que toutes celles qui sont, qui seront et jamais ont esté, près de la sienne sont laides, et ne sont point beautez […]“. (deutsch: „[…] ich glaube, dass alle Frauen, die sind, die sein werden und die jemals gewesen sind, in ihrer Nähe hässlich wirken und nicht als Schönheiten gelten können […]“). Aufgrund dieser sowohl bei Bewunderern als auch bei Gegnern viel zitierten Schönheit hatte Margarete zahlreiche Verehrer, die in vielen Veröffentlichungen als Liebhaber dargestellt wurden, obwohl die Zuneigung nur einseitig oder die Beziehung rein platonisch war. Auch Flirts wurden oft als Liebesbeziehung gedeutet.
Belegt ist, dass die 17-jährige Margarete eine Liaison mit Henri I. de Lorraine verband. Der wurde nach Bekanntwerden der Verbindung sofort vom königlichen Hof entfernt und mit Catherine de Clèves vermählt. Ebenfalls als wahr gilt heute eine sehr kurze sexuelle Beziehung Margaretes mit Joseph de Boniface, einem Favoriten ihres Bruders François-Hercule. Als Mitglied der Malcontents wurde er 1574 wegen Verschwörung hingerichtet. Als bewiesen gilt in der heutigen Forschung außerdem, dass der 1579 ermordete Louis de Clermont, seigneur de Bussy d’Amboise, ein weiterer Favorit François-Hercules, Liebhaber Margaretes war. Zwar leugnet sie diesen Umstand in ihren Memoiren, aber es existieren zahlreiche andere, zeitgenössische Berichte darüber. Das Verhältnis beider war in Paris stadtbekannt. Die Liste der nachgewiesenen Galane schließt mit dem bereits oben genannten Jacques de Harlay ab.
Der Königin wurden aber viele weitere Männer als Liebhaber zugeschrieben, ohne dass dafür Beweise gefunden wurden. Zu diesen Männern zählen Henri de La Tour d’Auvergne, mit dem Margarete eine Liaison während der Zeit in Nérac unterhalten haben soll, ebenso wie der auvergnatische Vogt François Robert de Lignerac, seigneur de Pleaux, der sie mit Soldaten während ihres Aufenthaltes in Aurillac unterstützte. Zu den unbewiesenen Liebschaften gehört auch Jean Timoléon de Beaufort-Montboissier, Margaretes Bewacher während ihrer Verbannung in Usson. Zeitgenössische Geschichtsschreiber deuteten die allmähliche Erleichterung der Haftbedingungen sowie die anschließende Übergabe Ussons in die Hände Margaretes derart, dass die Königin ihren Bewacher verführt haben müsse, um solche Dinge bewirken zu können. Ein weiterer angenommener, aber nicht bewiesener Liebhaber ist Jean de Larte de Galart, seigneur d’Aubiac, nach dessen Hinrichtung Margarete ein Gedicht verfasste, um sein Andenken zu ehren. Hinzu kommen diverse nicht namentlich bekannte Männer wie Pagen und Knechte des königlichen Hofs von niedrigem Bildungsstand, die ihr aufgrund der Schrift La Ruelle mal assortie zugeschrieben wurden. Gleichfalls ungeklärt ist, ob Margarete von Valois während ihrer letzten Jahre in Paris ein Verhältnis zu ihrem Favoriten, einem Sieur de Saint-Julien, unterhielt, der 1606 vor ihren Augen von einem seiner Vorgänger erschossen wurde.
Gänzlich falsch scheint hingegen die Behauptung mehrerer Pamphletisten, die Königin habe auch eine lesbische Beziehung mit Françoise de Clermont, Herzogin von Uzès, unterhalten, die bewiesenermaßen nur ihre Hofdame und eine sehr enge Freundin war.
Werke und Leistungen
Kultur
Neben Christine de Pizan und Marguerite de Valois-Angôuleme gab es in der Geschichte vor Margarete von Valois nur sehr wenige Frauen, die bis dato eine nachhaltige literarische Hinterlassenschaft vorweisen konnten. Sie war sowohl das erste Mitglied eines europäischen Königshauses, dessen Leben nicht nur durch die Berichte eines bestellten Historiografen geschildert wurde, als auch die erste Frau weltweit, deren persönliche Memoiren in Form einer Autobiografie veröffentlicht wurden. Erstmals 1628 – also 13 Jahre nach ihrem Tod – in Französisch unter dem Titel Les mémoires de la roine Marguerite von Auger de Mauléon publiziert, avancierten Margaretes Aufzeichnungen zu einem wahren Bestseller, der allein während des 17. Jahrhunderts in mehr als 30 verschiedenen Auflagen und auch in Englisch veröffentlicht wurde. Die erste Ausgabe schilderte mit Ausnahme weniger Lücken auf 145 Seiten Margaretes Leben in den Jahren 1565 bis 1582. Sie gab ein fast authentisches Bild dieses Abschnitts französischer Geschichte wieder, beschrieb einige Ereignisse jedoch anders, als sie sich – aus Sicht des heutigen Forschungsstands – zugetragen haben. So verschweigen die Lebenserinnerungen zum Beispiel, dass die Rückreise Margaretes 1577 aus Flandern sehr turbulent verlief, da politische Gegner ihres Bruders François-Hercule versuchten, sie gefangen zu nehmen, um François’ Pläne für die Spanischen Niederlande zu durchkreuzen. Auch stellte Margarete ihre Liebesbeziehung zu Louis de Clermont, seigneur de Bussy d’Amboise, als eine rein freundschaftliche Verbindung dar, obwohl dies nicht der Realität entsprach. Es ist nicht klar, ob die Auslassungen, Ungenauigkeiten und Widersprüche zum heute gültigen Forschungsstand Absicht der Autorin waren oder lediglich dem Umstand geschuldet sind, dass die Autobiografie aus dem Gedächtnis geschrieben wurde, ohne sie mit zeitgenössischen Aufzeichnungen abgleichen zu können.
Anlass zum Verfassen ihrer Memoiren, von denen bisher kein Originalmanuskript bekannt ist, gaben der Königin einige Schilderungen in Brantômes Discours, die sie richtigstellen wollte. Es scheint aber so, dass Brantôme ihre Aufzeichnungen nie erhalten hat, denn er nahm vor der Veröffentlichung seines Werks keine Veränderungen an ihm vor.
Mit dem Mémoire justificatif pour Henri de Bourbon verfasste Margarete von Valois im April 1574 nach dem Complot de Vincennes zudem eine Verteidigungsschrift für ihren Mann Heinrich IV., die maßgeblich dazu beitrug, dass er von dem Vorwurf, sich gegen den König verschworen zu haben, freigesprochen wurde. Zudem sind die feministische Schrift Discours docte et subtile dicté promptement par la reine Marguerite aus dem Jahr 1614, diverse Gedichte und zahlreiche Briefe von ihr erhalten. Letztere wurden ähnlich oft wie ihre Memoiren herausgegeben.
Hingegen ist unter Historikern und Literaturwissenschaftlern bis heute noch umstritten, ob auch La Ruelle mal assortie aus ihrer Feder stammt. Diese anonym veröffentlichte Schrift gibt den kurzen und komischen Dialog zwischen einer gebildeten Frau und ihrem ungebildeten Liebhaber wieder und galt lange Zeit als Werk Margaretes. Doch gerade jüngere Studien kommen zu dem Schluss, dass es ihr nur fälschlicherweise zugeschrieben wurde.
Margarete engagierte sich jedoch nicht nur im literarischen Bereich. Sie galt auch noch lang nach ihrer Zeit als bedeutendste Mäzenin Frankreichs, weil ihre Förderung kultureller Belange weit über das für Königinnen übliche Maß hinausreichte. Ihr besonderes Augenmerk lag dabei auf den Arbeiten von Frauen und feministischen Werken. Zahlreiche französische Künstler, Philosophen und Intellektuelle profitierten von ihrer Unterstützung, darunter der Komponist Claudio Monteverdi, die Philosophen Scipion Dupleix und Michel de Montaigne ebenso wie die Schriftstellerin Marie de Gournay, Saint Vincent de Paul oder Poeten wie Philippe Desportes, François de Malherbe, Antoinette de La Tour und Guillaume de Saluste Du Bartas.
Politik
Margarete von Valois kam als Vermittlerin bei Verhandlungen zwischen den französischen Katholiken und Protestanten oft eine wichtige Aufgabe zu. So war sie unter anderem 1576 wesentlich am Zustandekommen des Edikts von Beaulieu und 1581 am Frieden von Fleix beteiligt. Obwohl sie damit dem französischen Königshaus wertvolle Dienste leistete, verlor sie allmählich dessen Vertrauen.
Sonstiges
Auch diverse, heute noch zum Teil erhaltene Bauwerke sind Margarete von Valois zuzuschreiben. So zeichnete sie verantwortlich für den Bau eines besonders aufwändig ausgestatteten Stadtpalasts im Faubourg de Saint-Germain-des-Prés sowie die Errichtung eines Hôtels am rechten Seine-Ufer, von dem heute noch die Chapelle des Beaux-Arts erhalten ist. Außerdem ließ sie ein Hôtel in Issy maßgeblich umgestalten und legte so den Grundstein für das heutige Séminaire de Saint-Sulpice.
Darüber hinaus betätigte sie sich vor allem in ihren letzten Lebensjahren als Gönnerin kirchlicher Einrichtungen. Ihre großzügigen Schenkungen waren die Basis für die Gründung dreier Klöster: des Collège de la Compagnie de Jesus in Agen, eines Klosters der Kleinen Augustiner (1609) in Paris und eines Klosters der Töchter des Herzens Jesu.
Rezeption
Zahlreiche Werke von Schriftstellern, Historikern, Komponisten und Dichtern wurden von der Person der Margarete von Valois inspiriert. Nicht nur, weil sie durch ihr Verhalten besonders bei Zeitgenossen von sich reden machte und während der Hugenottenkriege eine wichtige politische Persönlichkeit war, sondern weil die gesamte französische Königsfamilie schon immer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, findet sie in zahlreichen Veröffentlichungen Erwähnung.
Zeitgenössische Darstellungen
Neben vielen Werken über die französischen Religionskriege und über das Leben und Wirken ihres Bruders Heinrich III. und ihres Mannes Heinrich IV., in denen sie aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen angeführt wird, wurden schon zu ihren Lebzeiten auch Schriften mit Margarete als Hauptthema verfasst. Die Darstellungen ihrer Person variieren dabei sehr stark. Pierre de Bourdeille, seigneur de Brantôme lobt sie und ihre Eigenschaften in seinem Discours V. Sur la royne de France et de Navarre, Marguerite, fille unique maintenant et seule restée de la maison de France in den höchsten Tönen, und Margaretes Bewunderer Honoré d’Urfé ließ sich bei seiner Figur der Galanthée in dem 1607 veröffentlichten Schäferroman L’Astrée von ihrer Person inspirieren. Aber ein 1606/07 verfasstes, jedoch erst 1663 anonym veröffentlichtes Pamphlet mit dem Titel Le divorce satirique de la reyne Marguerite stellt sie hingegen als lasterhaft, zügellos und unsittlich dar. Es zählt die angeblichen Gründe der Eheannullierung auf, die allesamt als Folge von Margaretes liederlichem Lebenswandel und ihrer Promiskuität geschildert werden. Ebenso negativ äußerten sich über sie auch Théodore Agrippa d’Aubigné in seinen Tragiques und der Chronist Pierre de L’Estoile.
Darstellungen des 17. bis 19. Jahrhunderts
1647 erschien Hilarion de Costes Werk Les Eloges et les vies des reynes, des princesses, et des dames illustres en pieté, en Courage & en Doctrine, qui ont fleury de nostre temps, & du temps de nos Peres, das sich unter anderem mit Margarete befasste und sie als „la plus sçavante de toutes les Dames de son siecle“ (deutsch: „die gebildetste Frau ihres Jahrhunderts“) bezeichnet.
Während des 18. Jahrhunderts war Margarete als künstlerisches Motiv fast in Vergessenheit geraten. Erst 1829 erschien mit Prosper Mérimées La Chronique de Charles IX (Die Bartholomäusnacht) wieder ein viel beachtetes Werk, das sich auch mit ihrer Person beschäftigte. 1834 wurden dann Gédéon Tallemant des Réaux’ Les historiettes de Tallemant Des Réaux veröffentlicht, die ein wenig schmeichelndes Bild der Königin zeichnen, 1836 gefolgt von Giacomo Meyerbeers Oper Les Huguenots (deutsch: Die Hugenotten). Nachdem Jeanne Galzy 1852 schon die romantisierenden Biografie Margot, reine sans royaume herausgebracht hatte, erschien im gleichen Jahr Alexandre Dumas’ Roman La reine Margot (deutsch: Die Bartholomäusnacht) und machte Margarete gemeinsam mit dem gleichnamigen Theaterstück unter ihrem Spitznamen aus der Kinderzeit weltweit bekannt. Die Erzählung verbreitete das Bild einer überaus klugen, aber promisken Frau, die Opfer ihrer sexuellen Gelüste wird, und kolportierte damit die vorherrschende Meinung des ausgehenden 17. Jahrhunderts.
Darstellungen seit dem 20. Jahrhundert
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienenen mit Hugh Noel Williams’ Biografie Queen Margot: Wife of Henry of Navarre und La vie de Marguerite de Valois: Reine de Navarre et de France (1553–1615) von Jean-Hippolyte Mariéjol zwei ausführliche Biografien. Beide versuchen, alle Aspekte im Leben Margaretes von Valois gleichermaßen zu berücksichtigen, wenngleich sie aus der Sicht des heutigen Forschungsstands einige Fehler früherer, unkritischer Veröffentlichungen übernehmen. Ebenfalls eine wichtige (Neben-)Rolle spielt sie in Heinrich Manns zweibändigem Roman Henri Quatre von 1935/38.
Bereits 1949 hatte Edouard Bourdet, der wie Margarete im Schloss Saint-Germain-en-Laye geboren wurde, ein Theaterstück in zwei Akten mit dem Titel Margot veröffentlicht. Guy Breton publizierte ab 1956 mit großem Erfolg die Reihe Histoires d’amour de l’histoire de France, die wieder das Bild der lasterhaften Königin tradiert. Ihr folgte 1965 Jean Babelons Buch La Reine Margot, das in erzählerischem Stil das Leben Margaretes wiedergibt, sich aber um eine neutralere Darstellung ihrer Person bemüht.
Erst in den 1990er Jahren war sie wieder Objekt seriöser Studien. Besonders Philippe Erlangers La Reine Margot ou la Rébellion, Janine Garrissons Marguerite de Valois (deutsch: Königin Margot – Das bewegte Leben der Marguerite de Valois) und Éliane Viennots Marguerite de Valois, histoire d’une femme, histoire d’un mythe setzen sich kritisch mit dem überlieferten Stereotyp der Königin als sündiger und unmoralischer Person auseinander. Hinzu kommen mehrere wissenschaftliche Publikationen, deren Hauptaugenmerk auf den Memoiren Margaretes liegt.
Margarete als Filmmotiv
Dumas’ Roman wurde mehrmals verfilmt. Der Regisseur Camille de Morlhon brachte den Stoff 1909/10 als Stummfilm unter dem Titel La Reine Margot mit Pierre Magnier und Berthe Bovy als Hauptdarsteller erstmals auf die Leinwand. 1914 folgte eine Verfilmung gleichen Namens mit Léontine Massart. Auch 1920 diente der Roman als literarische Vorlage für einen Film, der heute jedoch verschollen ist. Eine weitere Filmversion kam 1954 mit Jeanne Moreau und Louis de Funès unter dem Titel Bartholomäusnacht in die Kinos, 1961 gefolgt von einem französischen TV-Film unter der Regie von René Lucot. Die bisher bekannteste Verfilmung lieferte der Regisseur Patrice Chéreau 1994 mit La Reine Margot (deutsch: Die Bartholomäusnacht) mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle. Die neuste Verfilmung namens Henri 4 von Jo Baier stammt aus dem Jahr 2010.
Der Mythos
Bereits Ende des 17. Jahrhunderts besaß Margarete von Valois durch zeitgenössische Veröffentlichungen einen legendären Ruf, wenngleich die Meinungen über sie gespalten waren. Während die eine Seite höchste Bewunderung empfand, äußerte sich die andere Seite äußerst verächtlich über sie. Die unterschiedlichen Ansichten zogen sich auch in den nächsten rund 200 Jahren durch alle Publikationen und trugen dazu bei, dass Margarete im 19. Jahrhundert bereits zu einem Mythos geworden war. Dieser Status gipfelte in einer immer länger werdenden Liste angeblicher Liebhaber der Königin. Durch ihr gutes Verhältnis zu zweien ihrer Brüder während der Jugend wurden ihr sogar inzestuöse Beziehungen zu ihnen unterstellt. Das Bild Margaretes als einer unmoralischen und verdorbenen Frau existierte trotz Veröffentlichungen seriöser Biografien noch weit bis in das 20. Jahrhundert.
Literatur
Werkausgaben
Margarete von Valois: Geschichte der Margaretha von Valois, Gemahlin Heinrichs IV. Von ihr selbst geschrieben. Nebst Zusätzen und Ergänzungen aus anderen französischen Quellen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Andermatt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996.
Marguerite de Valois: Correspondance, 1569–1614. Mit Anmerkungen von Éliane Viennot. Honoré Champion, Paris 1998, ISBN 2-85203-955-9.
Marguerite de Valois: Mémoires et lettres de Marguerite de Valois. Jules Renouard, Paris 1842 (online).
Memoirs of Marguerite de Valois, Queen of Navarre. Bearbeitung eines anonymen Autors von 1813, L. C. Page and Company, Boston 1899 (online).
Hauptliteratur
Jean Babelon: La Reine Margot. Berger-Levrault, Paris 1965.
Pierre de Bourdeille, seigneur de Brantôme: Discours V. Sur la royne de France et de Navarre, Marguerite, fille unique maintenant et seule restée de la maison de France. In: Œuvres complètes de Pierre de Bourdeille, abbé et segneur de Brantôme. Band 10, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von Librairie Plon, Paris 1890. Kraus Reprint, Liechtenstein 1977, S. 185–252 (online).
Jean Castarède: La Triple vie de la reine Margot: amoureuse, comploteuse, écrivain. Éd. de la Seine, Paris 1994, ISBN 2-7382-0677-8.
Hilarion de Coste: La reyne Marguerite, duchesse de Valois. In: Les Eloges et les vies des reynes, des princesses, et des dames illustres en pieté, en Courage & en Doctrine, qui ont fleury de nostre temps, & du temps de nos Peres. Band 2, 2. Auflage. Sébastien et Gabriel Cramoisy, Paris 1647, S. 401–419 (online).
Philippe Erlanger: La Reine Margot ou la Rébellion. Perrin, Paris 1972.
Janine Garrisson: Königin Margot – Das bewegte Leben der Marguerite de Valois. Benziger, Solothurn und Düsseldorf 1995, ISBN 3-545-34134-8.
Jean-Hippolyte Mariéjol: La vie de Marguerite de Valois: Reine de Navarre et de France (1553–1615). Nachdruck der Ausgabe von Hachette, Paris 1928. Slatkine Reprints, Genf 1970.
Éliane Viennot: Marguerite de Valois, histoire d’une femme, histoire d’un mythe. Editions Payot & Rivages, Paris 1994, ISBN 2-228-88894-X.
Hugh Noel Williams: Queen Margot: Wife of Henry of Navarre. Nachdruck der Ausgabe von Harper & Bros. 1907. Kessinger Publishing, Whitefish 2005, ISBN 1-4179-5253-9 (online).
Weiterführende Literatur
Cathleen M. Bauschatz: Plaisir et Proffict in the Reading and Writing of Marguerite de Valois. In: Tulsa Studies in Women’s Literature. Band 7, Nr. 1, 1988, , S. 27–48.
Élise Bergeron: Questions de genre dans les Mémoires de Marguerite de Valois. Universität McGill, Montréal 1999 (PDF, 5,3 MB).
Jacqueline Boucher: Deux épouses et reines à la fin du XVIe siècle: Louise de Lorraine et Marguerite de France. Universität Saint-Etienne, 1995, ISBN 2-86272-080-1.
Jenifer Ann Branton-Desris: A la découverte d’une perle francaise: L’identité de Marguerite de Valois définie par son choix de références. Universität Maine, Orono 2001. (PDF, 3,3 MB)
Danielle Haase Dubosc, Éliane Viennot (Hrsg.): Femmes et pouvoirs sous l’Ancien Régime. Rivages, Paris 1991, ISBN 2-86930-488-9.
Michel Moisan: L’exil auvergnat de Marguerite de Valois. Créer, Nonette 1999, ISBN 2-909797-42-2.
Stéphanie Pinard Friess: Mémoires et Histoire. Laisser ses Mémoires à l’histoire et entrer dans la légende: le cas de la «reine Margot». Universität Laval, Laval 2002.
Robert J. Sealy: The Myth of the Reine Margot: Toward the Elimination of a Legend. Peter Lang, New York 1994, ISBN 0-8204-2480-3.
Éliane Viennot: Une intellectuelle, auteure et mécène parmi d’autres: Marguerite de Valois (1553–1615). In: Clio. Histoires, femmes et sociétés. Nr. 13, 2001, Universität Toulouse-Le Mirail, Toulouse 2001, , S. 125–134 (online).
Weblinks
Materialsammlung zu Margarete von Valois von Éliane Viennot (französisch)
(englisch)
Essay zu Margarete von Valois von Éliane Viennot, 2002 (französisch)
Einzelnachweise und Anmerkungen
Heinrich IV. (Frankreich)
Heinrich II. (Frankreich)
Königin (Frankreich)
Herzog (Valois)
Herzog (Étampes)
Familienmitglied des Hauses Valois-Angoulême
⚭Margarete #Valois
Autor
Literatur (Französisch)
Literatur (17. Jahrhundert)
Autobiografie
Brief (Literatur)
Franzose
Geboren 1553
Gestorben 1615
Frau |
102000 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alma%20Mahler-Werfel | Alma Mahler-Werfel | Alma Mahler-Werfel (geborene Alma Margaretha Maria Schindler, * 31. August 1879 in Wien; † 11. Dezember 1964 in New York, N.Y.) war eine österreichische Persönlichkeit der Musik-, Kunst- und Literaturszene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre musikalische Begabung baute sie nicht professionell aus. Von ihrem kompositorischen Schaffen sind mehrere Lieder überliefert.
Die Ehefrau des Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler und, nach Mahlers Tod, des Architekten Walter Gropius und danach des Dichters Franz Werfel hatte in ihrer Jugend persönlichen Umgang mit den Secessionisten, dem Maler Gustav Klimt und mit dem Komponisten (ihrem Lehrer) Alexander von Zemlinsky. Zeitweise war sie die Geliebte des Malers Oskar Kokoschka. Als Gastgeberin künstlerischer Salons versammelte sie in Wien, dann nach 1938 in Los Angeles und New York, Künstler und Prominente um sich.
Überblick
Alma Mahlers große Begabung war die Musik, die sie in ihrer Jugend am Klavier und komponierend intensiv ausübte. Obwohl die Musikwissenschaftlerin Susanne Rode-Breymann in den Tagebuch-Suiten fast fünfzig Klavierlieder nachweisen kann, komponiert zwischen 1898 und 1902, wurden bis heute davon nur siebzehn Lieder bekannt. Auch die weiteren darin aufscheinenden Kompositionen anderer Gattungen sind bis heute verschollen. Rode-Breymann beschreibt zwei entscheidende „Bruchlinien“ in der „Professionalisierung“ von Almas musikalischen Talenten. Zum einen wollte sie nach jahrelangem erfolgreichen Klavierunterricht bei Adele Radnitzky-Mandlick ihr Können bei dem renommierten Pianisten Julius Epstein vervollkommnen, was aber durch ihren Stiefvater Carl Moll verhindert wurde. Zum anderen musste sie ihr Komponieren aufgeben, um Gustav Mahler heiraten zu können. Es gibt Anzeichen dafür, dass sie in ihrer Ehe ihre Kompositions-Mappe immer von Wien aus in die Sommerfrische mitnahm und dass ihr Mann Gustav Mahler sie im Jahr 1910 dort entdeckte. Daraufhin „drang“ er sie, einige der Lieder zu veröffentlichen.
Zeit ihres Lebens begleitete Alma Mahler-Werfel bedeutende Künstler auf deren Lebensweg und war einer Reihe von europäischen und US-amerikanischen Kunstschaffenden in Freundschaft verbunden, darunter Leonard Bernstein, Benjamin Britten, Franz Theodor Csokor, Eugen d’Albert, Lion Feuchtwanger, Wilhelm Furtwängler, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt, Ernst Lubitsch, Carl Zuckmayer, Eugene Ormandy, Maurice Ravel, Otto Klemperer, Hans Pfitzner, Heinrich Mann, Thomas Mann, Alban Berg, Erich Maria Remarque, Friedrich Torberg, Franz Schreker, Bruno Walter, Richard Strauss, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg und Erich Zeisl.
Der Maler und Präsident der Wiener Secession Gustav Klimt machte ihr den Hof, als sie erst 17 Jahre alt war. Mit dem Komponisten Alexander von Zemlinsky hatte sie eine Beziehung, die auf ihrer Bewunderung für den Komponisten und seiner Anerkennung ihrer Begabung basierte; bei ihm hatte sie, neben ihrem ersten Kompositionslehrer Josef Labor, ein Jahr lang Kompositionsunterricht. Noch Jahre später, am 11. Dezember 1910 in Wien, brachte er Almas 5 Lieder zur Uraufführung, gesungen von Thea Drill-Orridge und mit ihm als Klavierbegleiter.
1901 entschied Alma Schindler sich, den 19 Jahre älteren Komponisten und Wiener Operndirektor Gustav Mahler zu heiraten; mit ihm hatte sie dann zwei Töchter. Der letzte Eintrag in ihren Tagebuch-Suiten datiert vom 6. Januar 1902, zwei Monate vor dieser Hochzeit. Damit hörte diese unmittelbare Quelle für Alma Schindlers künstlerische Entwicklung auf.
Zu Lebzeiten Gustav Mahlers hatte sie eine Affäre mit dem Architekten und späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius, den sie nach Mahlers Tod und einer heftigen zwischenzeitlichen Liebesbeziehung mit dem Maler Oskar Kokoschka 1915 heiratete. 1916 wurde ihre gemeinsame Tochter Manon geboren. Nach der Scheidung von Gropius wurde sie 1929 die Ehefrau des Schriftstellers Franz Werfel, mit dem sie einen früh verstorbenen Sohn hatte und mit dem sie 1940 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Ihr Leben nach der Hochzeit mit Mahler schilderte sie in der Autobiografie Mein Leben.
In der zahlreich erschienenen Literatur über Alma Mahler (wobei das Urteil über ihre Persönlichkeit sehr unterschiedlich ausfällt) wird einerseits nirgends auf die musikalische Kreativität der Protagonistin eingegangen; andererseits artet die Berichterstattung über biographische Einzelheiten „auf dem Abstieg bis zur sexualisierten Eindimensionalität“ aus. Rode-Breymann geht in ihren beiden Büchern über Alma auf deren persönliche Entwicklung unter den Bedingungen ihrer Zeit ein. U. a. wird anhand der von ihr mit herausgegebenen und ausgewerteten Tagebuch Suiten vieles, was in den folgenden Zitaten wie böswilliger Klatsch wirkt, relativiert.
Die Schriftstellerin Gina Kaus erklärte: „Sie war der schlechteste Mensch, den ich gekannt habe“. Claire Goll schrieb: „Wer Alma Mahler zur Frau hat, muss sterben“. Und Almas Freundin Marietta Torberg meinte: „Sie war eine große Dame und gleichzeitig eine Kloake“.
Alma Mahler-Werfel stilisierte sich in ihrer 1960 erschienenen Selbstbiographie zur schöpferischen Muse, und einige ihrer Zeitgenossen teilten dieses Urteil: Klaus Mann verglich sie mit den intellektuellen Musen der deutschen Romantik und den „stolzen und brillanten Damen des französischen grand siècle“.
Susanne Rode-Breymann schreibt 2004 über sie:
Leben
Die frühen Jahre
Alma war die Tochter des Wiener Landschaftsmalers Emil Jakob Schindler und der zur Sängerin ausgebildeten Anna Sofie Schindler, geborene Bergen, die in Almas Jugendjahren in Haus- und in halb-öffentlichen Konzerten immer wieder Almas Lieder interpretierte. Zum Zeitpunkt der Hochzeit am 4. Februar 1879 war Anna Schindler bereits mit Alma schwanger. Die Ehe begann in sehr beengten Verhältnissen. Das Ehepaar musste sich seine Wohnung mit Schindlers Künstlerkollegen Julius Victor Berger teilen; nach Almas Geburt hatten dieser und Anna Schindler ein Verhältnis. Berger ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Vater von Almas Schwester Margarethe Julie, die am 16. August 1880 zur Welt kam. Im Februar 1881 wurde Schindler mit einem Künstlerpreis ausgezeichnet, wodurch die prekären finanziellen Verhältnisse der Familie ein Ende fanden. Dem Preis folgte eine Reihe von Aufträgen und Bildverkäufen, sodass die Familie es sich erlauben konnte, das Landgut Schloss Plankenberg vor den Toren Wiens anzumieten. Die Familie zog im Frühjahr 1885 auf das Landgut um, zu dem neben dem aus zwölf Zimmern bestehenden Haus auch ein 1200 Hektar großer verwahrloster Park gehörte. Durch einen Auftrag von Kronprinz Rudolf im Jahre 1887 war Schindler mittlerweile einer der bedeutendsten Künstler der k.u.k.-Monarchie geworden. Im selben Jahr wurde er zum Ehrenmitglied der Wiener Akademie der bildenden Künste, weitere Preise und Auszeichnungen folgten.
Almas Mutter hatte zwar die Liaison mit Berger beendet, nachdem Schindler diese entdeckt hatte. Sie begann jedoch ein neues Verhältnis mit Carl Moll, einem Schüler und Assistenten ihres Mannes, das über mehrere Jahre bestand und das Schindler verborgen blieb. Almas Biograf Oliver Hilmes sieht in diesem von Heimlichkeiten und Verleugnung geprägten Familienleben die Ursache für die psychische Disposition der beiden Schindler-Töchter. Auch das besonders enge Verhältnis Schindlers zu seiner älteren Tochter sieht Hilmes hierin begründet. Alma leistete ihrem Vater über Stunden im Atelier Gesellschaft. Schindler förderte neben ihrem Bewusstsein für die Kunst insbesondere ihre musikalische Begabung, schaffte ein Klavier an und weckte darüber hinaus ihr Interesse für Literatur. Eine formale Erziehung erhielten beide Töchter jedoch nicht. Im Winterhalbjahr besuchten sie in Wien die Schule, während des Sommers erteilte die Mutter oder ein Hauslehrer den Töchtern Unterricht. Am 15. April 1890 traten die beiden Schwestern Alma und Margarethe anlässlich eines Konzertes der Schüler von Adele Radnitzky-Mandlick als Pianistinnen im Ehrbar-Saal auf.
Schindler starb am 9. August 1892 an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung. Alma war zu diesem Zeitpunkt nicht ganz 13 Jahre alt und sie litt lange schwer an diesem Verlust. Rode-Breymann hat das liebevolle Vater-Tochter-Verhältnis und den Verlust differenziert nachvollzogen. Das Verhältnis zwischen Carl Moll und Anna Sofie Schindler bestand auch die nächsten Jahre heimlich fort. Die beiden heirateten erst am 3. November 1895. Alma empfand die Heirat als Verrat an ihrem verstorbenen Vater. Auch auf die Geburt ihrer Halbschwester Maria am 9. August 1899 reagierte sie mit starker Ablehnung – sie fühlte sich von ihrer Familie vernachlässigt.
Die Wiener Secessionisten
Carl Moll gehörte der Wiener Secession an, deren Mitbegründer und Vizepräsident er war. Viele Wiener Künstler verkehrten daher im Hause des Ehepaars Moll. Zu den Gästen der Familie zählten Schriftsteller, Maler und Architekten wie Gustav Klimt, Joseph Maria Olbrich, Josef Hoffmann, Wilhelm List und Koloman Moser, sowie Max Burckhard, Direktor des Wiener Hofburgtheaters. Alma lernte die meisten von ihnen durch Diskussionen, an denen sie teilhatte, gut kennen, weil sie zumindest an den Abendessen mit diesen berühmten Wienern teilnehmen durfte. Max Burckhard sandte ihr unter anderem Theaterkarten zu, besprach mit ihr einzelne Aufführungen und förderte wie früher ihr Vater ihr Interesse an der Literatur. Almas Mutter war eine begabt gute Gastgeberin für einen „Ort des Ideenaustausches“, so bahnte sich in ihrem Haus „der gegenseitigen künstlerischen Inspiration“ die Wiener Secession an, die im April 1897 mit Gustav Klimt als Präsident gegründet wurde. Alma hatte Teil an diesen Diskussionen; Gustav Klimt war derjenige, der besonderes Gefallen an der damals Siebzehnjährigen fand und sich künstlerisch mit ihr austauschte. Wenn auch ihr Stiefvater und ihre Mutter sich bemühten, eine Beziehung zwischen den beiden zu verhindern, hielt das Interesse Klimts an ihr über mehrere Monate an. Als während einer gemeinsamen Reise der Familie nach Norditalien, an der auch Klimt teilnahm, Klimt sie küsste und ihr Stiefvater davon erfuhr, zwang er seinen Freund und Künstlerkollegen zur Abreise. Klimt, der für seinen freizügigen Lebenswandel bekannt war und zum Zeitpunkt seines Todes Vater von mindestens vierzehn unehelichen Kindern war, versprach Moll, sich in Zukunft von Alma fernzuhalten. Sie habe ihm gefallen, „wie uns Malern eben ein schönes Kind gefällt“.
Musikalische Ausbildung
Während Alma Schindlers Schulausbildung offenbar unsystematisch verlief, erhielt sie eine gründliche musikalische Ausbildung. Seit 1895 hatte sie Kompositionsunterricht bei dem blinden Wiener Organisten und Komponisten Josef Labor. Adele Radnitzky-Mandlick, von Alma „gleich auf den ersten Seiten“ ihrer Tagebuchaufzeichnungen 1898 vertraulich „Frau Adele“ genannt, war Schülerin des anerkannten Wiener Pianisten und Pädagogen Julius Epstein am Wiener Konservatorium gewesen und unterrichtete Alma viele Jahre in Klavier. Alma Schindler erarbeitete sich mit ihr ein umfangreiches und bemerkenswertes Repertoire, das sie regelmäßig in Wien „in der Sphäre öffentlicher Privatheit“ oder überhaupt öffentlich vortrug. Zu ihrem Unterrichts-Programm gehörte z. B. das Es-Dur Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Besonders vertraut wurde sie mit der Musik Richard Wagners, für den sie schwärmte, und mit dessen Feuerzauber aus der Oper Die Walküre und Liebestod aus Tristan und Isolde (u. A.) sie sich Lorbeeren errang. Bekannt war auch ihr perfektes Vom-Blatt-Spiel (das sie später mit Gustav Mahler exerzierte). Als sie aber den Wunsch äußerte, selbst bei Julius Epstein Unterricht zu bekommen, verhinderte ihr Stiefvater Carl Moll dies.
Kompositionsunterricht bei Josef Labor und Alexander von Zemlinsky
Ab 1900 nahm Alma Schindler neben dem Unterricht bei Josef Labor Kompositionsunterricht bei Alexander von Zemlinsky. Der damals 29-Jährige war gerade Kapellmeister am Wiener Carltheater geworden und galt als eine der großen Hoffnungen der Wiener Musikszene. Nur ein Jahr lang dauerte dieser intensive Unterricht, von dem Zemlinsky selbst schreibt, er „habe direkt Lehrerehrgeiz bekommen“ und (am 25. August 1901) er bilde sich ein, dass Alma „in den verflossenen zwei Monaten eine Menge gelernt habe“. In der Literatur jedoch fand das folgende Zitat aus seinem Mund bisher eine größere Leserschaft:
Obwohl sie ihn später als „kleinen, hässlichen Gnom“ beschrieb, überwog bei Alma die Bewunderung für seine Genialität: „Oh – ein herrlicher Kerl und anregend über die Maßen.“ Differenziert und ausführlich gibt Rode-Breymann Einblick in Zemlinskys Kompositionsunterricht anhand dessen eigenhändiger Unterweisungen an Alma, die in der Mahler-Werfel Collection in Philadelphia aufbewahrt sind.
Die Familie und die Freunde der Familie fanden eine Liaison mit dem aus einer jüdischen Familie stammenden Zemlinsky eher unpassend und versuchten, sie ihr auszureden. Alma selbst erlebte ein Wechselbad von Gefühlen. Pathetische Liebesbekundungen und teils bizarre Tagebucheintragungen (Alex – mein Alex. Dein Weihebecken will ich sein. Gieß deinen Überfluß in mich, Tagebuch vom 24. September 1901) wechselten mit Demütigungen und Quälereien gegenüber Zemlinsky, der sich zum damaligen Zeitpunkt noch am Anfang seiner Karriere befand.
Schon bei Labor hatte sie außer Liedern weitere musikalische Formen, nämlich rund 20 Klavierkompositionen sowie zwei Violinsonaten, geschaffen. Unter Zemlinsky wagte sie sich an Chorkompositionen und einen Text Goethes für 3 Solisten und Chor, danach nahm sie sogar eine Oper in den Blick. Dass die Lieder (in anderer Literatur ist insgesamt von rund hundert die Rede) nur eine winzige Spitze des Eisberges aller Kompositionen von Alma Mahler-Werfel seien, nimmt Susanne Rode-Breymann an, aber am wenigsten weiß man über solche, die sie wahrscheinlich doch noch (trotz „Komponierverbot“) als Ehefrau Mahlers schuf.
Die Textautoren ihrer Lieder, in der Reihenfolge der Drucke, sind
1911: Richard Dehmel, Otto Erich Hartleben, Otto Julius Bierbaum, Rainer Maria Rilke, Heinrich Heine.
1915: Otto Julius Bierbaum, derselbe, Richard Dehmel, derselbe, Gustav Falke
1924: Novalis (Hymne), Otto Julius Bierbaum, Franz Werfel, Richard Dehmel, Novalis (Hymne)
Gustav Mahler
Die Begegnung mit Mahler
Bei einer Abendgesellschaft von Bertha Zuckerkandl am 7. November 1901 begegnete Alma Schindler dem Komponisten, gefeierten Dirigenten und Direktor der Wiener Hofoper Gustav Mahler. Mahler verliebte sich offenbar an diesem Abend in die sehr selbstsichere junge Frau. Bereits am 28. November machte er ihr einen Heiratsantrag, wies allerdings auch darauf hin, dass es nicht einfach sein würde, mit ihm verheiratet zu sein. Alma Schindlers Familie versuchte, ihr auch diese Verbindung auszureden. Der neunzehn Jahre ältere Mahler sei zu alt für sie, er sei verarmt und unheilbar krank, hielt ihr unter anderem ihr Stiefvater Carl Moll vor. Klimt und Burckhard wiesen auf die jüdische Abstammung des zum Katholizismus übergetretenen Mahler hin. Anders als bei Zemlinsky, mit dem sie bis dahin liiert war, störte sie diese hier jedoch nicht.
Die Aussprache mit Zemlinsky schob Alma allerdings vor sich her. Erst am 12. Dezember schrieb sie an ihn, dass eine andere Liebe ihn verdrängt habe. Zur selben Zeit schickte ihr Mahler, der anlässlich der Aufführung seiner 4. Sinfonie in Berlin weilte, zärtliche Liebesbriefe. Seine Musik war ihr unverständlich:
Auch Mahler äußerte in den Briefen an seine Schwester Justine Zweifel, ob es richtig sei, eine so junge Frau an sich zu binden. Aus Dresden schrieb er seiner Braut einen zwanzigseitigen Brief, in dem er ihr darlegte, wie er sich ihr zukünftiges gemeinsames Leben vorstellte.
Er machte ihr auch deutlich, dass jetzt noch die Möglichkeit zur Umkehr bestehe, wenn sie sich das nicht zumuten könnte. Alma Schindlers damalige Reaktionen auf den Brief lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Am 23. Dezember verlobten sie sich.
Am 9. März 1902 heirateten sie in der Wiener Karlskirche. Es war eine kleine Hochzeit, weil Mahler jeglichen gesellschaftlichen Aufwand vermeiden wollte. Anwesend waren außer dem Hochzeitspaar nur der zweite Mann von Almas Mutter Carl Moll und Arnold Rosé, der Schwager Mahlers, die als Trauzeugen fungierten.
Die Ehejahre
Sowohl Mahlers Freunde als auch viele aus dem weiteren Bekanntenkreis reagierten verständnislos auf diese Eheschließung. Bruno Walter, der damals Kapellmeister an der Wiener Hofoper war, schrieb in einem Brief an seine Eltern:
Sie selbst bezeichnete in ihren Erinnerungen ihre finanzielle Situation zu Beginn ihrer Ehe als beengt; sie habe einen Schuldenberg von 50.000 K (entspricht heute etwa EUR) vorgefunden. Angesichts von Mahlers Jahresgehalt an der Wiener Hofoper von 26.000 K (entspricht heute etwa EUR), zu dem noch die Einnahmen aus Gastdirigaten und Tantiemen aus dem Verkauf seiner Werke hinzukamen, ist diese finanziell angespannte Situation schwer nachzuvollziehen. Zum Haushalt des Ehepaares gehörten unter anderem zwei Dienstmädchen und eine englische Gouvernante für die am 3. November 1902 geborene Tochter Maria Anna († 12. Juli 1907; verstorben an Scharlach und Diphtherie). Für 1905 ist belegt, dass ihr Mahler ein monatliches Haushaltsgeld von 1.000 K (entspricht heute etwa EUR) zur Verfügung stellte. Oliver Hilmes stellt in seiner Biografie deswegen die These auf, dass die angespannte finanzielle Lage zur Legendenbildung gehört, mit der Alma Mahler-Werfel gegenüber der Nachwelt begründen wollte, warum sie ihren Ehemann so häufig nicht auf seinen Konzertreisen begleitete.
Das Zusammenleben mit Mahler verlief anders, als sie es von dem abwechslungsreichen und geselligen Leben in ihrem Elternhaus gewohnt war. Mahler mied Gesellschaften und legte großen Wert auf einen sehr geregelten Tagesablauf, um sein großes Arbeitspensum zu bewältigen. Aus ihren Tagebucheinträgen wird deutlich, dass Alma Mahler sich in diesem Eheleben vereinsamt fühlte, sich langweilte und zur Haushälterin degradiert sah. Das Gefühl der inneren Leere änderte sich auch nicht mit der Geburt der zweiten Tochter Anna Justina, die am 15. Juni 1904 zur Welt kam. Mit Wissen und Billigung von Gustav Mahler hatte Alma sich zumindest regelmäßig im Frühjahr 1904 mit Zemlinsky getroffen, um mit ihm gemeinsam zu musizieren. Allerdings hielt diese Zusammenarbeit nicht lange an. Im Frühjahr 1906 schrieb Zemlinsky ihr, wie sehr er das Musizieren mit ihr vermisse. Abgelehnt hatte er jedoch, ihr wieder Unterricht zu geben.
Mahler vermisste in seiner Frau die Gefährtin, die mit ihm sein Leben teilte. Der Bruch mit ihr verstärkte sich, als sie sich auf einen heftigeren Flirt mit seinem Kollegen Hans Pfitzner einließ.
Am Morgen des 12. Juli 1907 starb die älteste Tochter der Mahlers nach einem sehr heftigen Krankheitsverlauf an Diphtherie. Der Tod der kleinen Maria, der zeitlich mit einer Herzfehlerdiagnose bei Mahler zusammentraf, bedeutete in Mahlers Leben eine Zäsur und verstärkte außerdem den Bruch zwischen den Eheleuten. Um über den Tod ihrer Tochter hinwegzukommen, begab Alma Mahler sich zur Kur, während Mahler in Helsinki und Sankt Petersburg auf Konzertreise war.
Seit Januar 1907 war Mahler in der Wiener Presse wiederholt heftig wegen seines Führungsstils als Leiter der Wiener Hofoper angegriffen worden. Dies führte zu einem Rückzug aus dem Wiener Musikleben und zu einer verstärkten Tätigkeit in den Vereinigten Staaten. Im Dezember 1907 begann für Mahler ein Engagement am Manhattan Opera House, und Alma begleitete ihn bei dem viermonatigen Aufenthalt in New York. Während Mahler mit der Aufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde seinen ersten großen Erfolg in New York feierte, fühlte sie sich einsam und isoliert. Erst am Ende des Aufenthalts lernten sie Joseph Fraenkel kennen, der für sie beide zum engen Freund wurde. Die Freundschaft festigte sich während des zweiten Aufenthalts in New York, der von November 1908 bis April 1909 währte. In den sechs Monaten, die das Ehepaar in Europa verbrachte, befand sich Alma Mahler meistens in Kur und lebte von ihrem Mann getrennt. Aus den Briefen Gustav Mahlers kann man schließen, dass Alma in dieser Zeit mindestens eine Fehlgeburt erlitt oder eine Abtreibung vornehmen ließ. Nach dem dritten Aufenthalt in New York, der von November 1909 bis April 1910 währte, begab sie sich mit ihrer fünfjährigen Tochter und deren Gouvernante nach Tobelbad, einem kleinen, in Mode gekommenen Kurort in der Steiermark, den der Wiener Erfinder und Unternehmer Gustav Robert Paalen gekauft, restauriert und salonfähig gemacht hatte. Auch Walter Gropius, zu dem Zeitpunkt noch ein weitgehend unbekannter Architekt, befand sich dort zur Kur und wurde Alma von Paalen vorgestellt. Im Juni 1910 begann sie mit ihm eine Affäre, hinter die Mahler bereits wenige Wochen später kam, als ihm ein Liebesbrief von Gropius in die Hände fiel. Gropius hatte den Brief an Gustav Mahler adressiert – aus Versehen, wie er später gegenüber dem Mahler-Forscher Henry-Louis de La Grange formulierte.
Als die Ehe nach der Begegnung mit Walter Gropius in eine Krise stürzte, wurde Mahler empfohlen, Sigmund Freud aufzusuchen, der ihn im August 1910 im niederländischen Kurbad Leyden für vier Stunden empfing. Gegenüber seiner Schülerin Marie Bonaparte äußerte sich Freud zu seiner Diagnose:
Mahler begann sich nun intensiv um die Zuneigung seiner Frau zu bemühen. Er widmete ihr seine 8. Sinfonie, die in dieser Zeit in München zur Uraufführung kam und sein größter musikalischer Triumph wurde. Fünf der von ihr komponierten Lieder ließ er noch im selben Jahr drucken und in Wien und in New York uraufführen. Kurz vor der erneuten Reise nach New York reiste Alma jedoch nach Paris, um sich dort noch einmal mit Gropius zu treffen, bevor sie ihren Mann für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten begleiten würde. Auch aus New York versicherte sie Gropius brieflich immer wieder, wie sehr sie ihn liebe. Darin fand sie bei ihrer Mutter Anna Moll Unterstützung, die an Gropius warmherzige Briefe schrieb, ihn um Verständnis bat, dass Alma Gustav Mahler jetzt nicht verlassen könne, und darauf hinwies, dass sowohl Alma als auch Gropius noch jung seien und warten könnten. Inwieweit bei der Familie von Alma Mahler angesichts des festgestellten Herzfehlers die Erwartung bestand, dass Mahler nicht mehr lange zu leben habe, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren.
Mahler erkrankte auf der letzten USA-Reise schwer. Am 21. Februar 1911 dirigierte er trotz Fiebers ein langes und anstrengendes Konzert mit Werken von Leone Sinigaglia, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giuseppe Martucci, Marco Bossi und Ferruccio Busoni. Als sich sein Zustand auch in den nächsten Tagen nicht besserte, stellten die Ärzte eine langsam fortschreitende Herzinnenhautentzündung fest. Für diese gab es Anfang des 20. Jahrhunderts kaum Behandlungsmöglichkeiten. Um Spezialisten vom Pariser Institut Pasteur konsultieren zu können, reiste Alma Mahler gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Europa. Auch die französischen Ärzte konnten allerdings nur die Diagnose der amerikanischen Kollegen bestätigen. Ein aus Wien hinzugezogener Arzt empfahl Alma, ihren Mann noch nach Wien zurückzubringen. Am Abend des 12. Mai erreichte man Wien. Wenige Tage später, am 18. Mai 1911, erlag Gustav Mahler seiner Krankheit.
Trauerzeit
Obwohl nach dem Tod von Mahler nichts mehr dagegen gesprochen hätte, ihre Beziehung zu Gropius fortzusetzen und zu intensivieren, brach Alma Mahler die Beziehung zu Gropius ab. In seinen Briefen an sie hatte Walter Gropius sich schockiert darüber geäußert, dass es trotz der Treueschwüre ihm gegenüber zwischen Alma und Gustav Mahler kurz vor dessen Tode noch zum Geschlechtsverkehr gekommen war. Einem möglichen Wiedersehen im September 1911 ging er aus dem Weg. Bei einem Treffen im Dezember desselben Jahres kam es zu Spannungen zwischen den beiden, die ihre Beziehung noch weiter abkühlen ließen.
In Wien wurde Alma, dank der Witwenpension und des Erbes Mahlers eine wohlhabende Frau mit beträchtlichem Vermögen, heftig umworben. Im Herbst 1911 hatte sie ein kurzes Verhältnis mit dem Komponisten Franz Schreker. Auch Joseph Fraenkel, der sich in New York mit dem Ehepaar Mahler angefreundet hatte, kam nach Wien und hielt um Almas Hand an. In ihrem Tagebuch bezeichnete sie ihn als armes, krankes, ältliches Männlein, das nur mit seiner schweren Darmkrankheit beschäftigt sei. Sie lehnte den Heiratsantrag ab. Mehr Aufmerksamkeit brachte sie dem Biologen Paul Kammerer entgegen, der Mahler sehr verehrt hatte und der es Alma Mahler zuschrieb, dass Gustav Mahler als Komponist so erfolgreich war. Er bot der in keiner Weise dafür ausgebildeten Alma Mahler eine Stellung als Assistentin in seinem Institut an. Nach ihren eigenen Angaben arbeitete sie tatsächlich für mehrere Monate an seinen Experimenten an Gottesanbeterinnen und Geburtshelferkröten mit. Die Verehrung, die der verheiratete Kammerer ihr entgegenbrachte, nahm allerdings immer exzentrischere Formen an. Kammerer drohte unter anderem, sich am Grabe Mahlers zu erschießen, wenn sie seine Liebe nicht erwidere. Im Frühjahr 1912 beendete sie ihre Mitarbeit im Institut.
Bei Almas Halbschwester Margarethe Julie – von Alma zu dieser Zeit noch als Tochter ihres Vaters Emil Jakob Schindler angesehen – wurde zur selben Zeit Dementia praecox diagnostiziert. Anna Moll redete ihrer Tochter ein, die Diphtherieerkrankung des Vaters sei die Ursache von Margarethe Julies Geisteskrankheit. Dies löste bei Alma Mahler über Jahre die Sorge aus, ebenfalls geisteskrank zu werden. Erst 1925 entdeckte sie, dass Julius Victor Berger der Vater von Margarethe Julie war. In Alma Mahlers Tagebüchern wird die erst 1942 in einem Sanatorium gestorbene Halbschwester danach nicht mehr erwähnt.
Die Affäre mit Oskar Kokoschka
Almas Stiefvater Carl Moll gehörte zu den Förderern des expressionistischen Malers Oskar Kokoschka. Er beauftragte ihn unter anderem, ein Porträt seiner Stieftochter anzufertigen. Noch während des Abendessens am 12. April 1912, bei dem Carl Moll ihm Alma Mahler vorstellte, verliebte sich Kokoschka in die Witwe:
Bereits zwei Tage später sandte Kokoschka ihr den ersten Liebesbrief, dem noch vierhundert weitere folgen sollten. Die Affäre zwischen den beiden war sehr stark von der Eifersucht Kokoschkas geprägt.
Alma Mahler bezeichnete die Beziehung im Rückblick als dreijährigen Liebeskampf: „Niemals zuvor habe ich so viel Krampf, so viel Hölle, so viel Paradies gekostet.“ Die Eifersucht Kokoschkas galt nicht nur den Männern, denen sie begegnete, sondern auch dem verstorbenen Gustav Mahler. In den Briefen, die Kokoschka Alma schrieb, während sie sich im Mai 1912 in Scheveningen aufhielt, beschwor er sie, all ihr Denken nur auf ihn zu richten. Wenn sie in Wien war, wachte er gelegentlich vor ihrer Wohnung, um sicherzustellen, dass sie keine männlichen Besucher empfing. Nach ihrer zweiten Reise nach Scheveningen im Sommer 1912 verlangte er von ihr, sich gesellschaftlich völlig zurückzuziehen und einzig für ihn da zu sein.
Ähnlich wie Mahlers Freunde zuvor waren auch Kokoschkas Freunde von der Beziehung zu Alma wenig angetan. Adolf Loos, der zum engen Freundeskreis Kokoschkas zählte, warnte ihn wiederholt vor ihrem schlechten Einfluss. Auch Kokoschkas Mutter war entschieden gegen die Verbindung. Kokoschka dagegen unternahm Anstrengungen, Alma Mahler zu einer Eheschließung zu überreden. Alma Mahler war vermutlich bereits im Juli 1912 von Kokoschka schwanger. Im Oktober ließ sie jedoch das Kind abtreiben. Den Schmerz, den Alma ihm mit der Abtreibung des gemeinsamen Kindes zufügte, verarbeitete er 1913 in den beiden Studien Alma Mahler mit Kind und Tod und Alma Mahler spinnt mit Kokoschkas Gedärmen, die in der Sammlung Essl in Klosterneuburg zu sehen waren.
Mit Walter Gropius stand Alma nach wie vor in Briefkontakt. Über ihr Verhältnis mit Kokoschka hatte sie ihn jedoch im Unklaren gelassen. Gropius sah jedoch 1913 Kokoschkas Gemälde Doppelbildnis Oskar Kokoschka und Alma Mahler, das 1913 auf der 26. Ausstellung der Berliner Secession zu sehen war (heute Museum Folkwang, Essen). Alma ist auf diesem Gemälde in einem roten Schlafanzug dargestellt und reicht Oskar Kokoschka die Hände wie zu einem Verlöbnis. Der Briefkontakt mit Gropius kam daraufhin im Laufe des Jahres 1913 vollständig zum Erliegen.
Auch mit Kokoschka wurde das Verhältnis immer kühler. Den wiederholten Versuchen Kokoschkas, sie zur Heirat zu bewegen, entzog Alma sich regelmäßig durch lange Reisen in Begleitung von Lilly Lieser, einer ihrer wenigen Freundinnen. Kokoschka schuf jedoch noch gegen Ende 1913 und zu Anfang 1914 ein vier Meter breites Fresko, das den Kamin in ihrem großzügig angelegten Sommerhaus in der kleinen österreichischen Gemeinde Breitenstein im Semmeringgebiet schmückte. Wie in einigen Gemälden zuvor machte Kokoschka seine Beziehung zu Alma zum Thema des Freskos. Gleichzeitig kühlte sich die Beziehung zwischen ihnen immer mehr ab. Kokoschka warf Alma in seinen Briefen Oberflächlichkeit und innere Leere vor.
Alma hielt im Mai desselben Jahres in ihrem Tagebuch fest, dass die Beziehung mit Kokoschka aus ihrer Sicht beendet sei. Zu den Männern, mit denen sie während der nächsten Monate engere Beziehungen hatte, zählten der Großindustrielle Carl Reininghaus und der Komponist Hans Pfitzner. Zu einem wirklichen Ende der Beziehung mit Kokoschka kam es jedoch erst im ersten Kriegsjahr des Ersten Weltkrieges. Oskar Kokoschka meldete sich freiwillig und wurde durch Vermittlung seines Freundes Adolf Loos im Dragonerregiment Nr. 15, dem vornehmsten Reiterregiment der österreichischen Monarchie, aufgenommen. Das Pferd, das er für den Eintritt in dieses Reiterregiment benötigte, erwarb er mit dem Geld, das er aus dem Verkauf des Gemäldes Die Windsbraut erhielt. Die Windsbraut stellt ein eng umschlungenes Liebespaar dar, das die Züge von Kokoschka und Alma trägt. Es befindet sich heute im Kunstmuseum Basel.
Walter Gropius
Noch während das Verhältnis mit Kokoschka bestand, nahm Alma wieder den Briefkontakt mit Gropius auf. Im Februar 1915 reiste sie in Begleitung von Lilly Lieser nach Berlin, um Gropius aufzusuchen. In ihrem Tagebuch hielt sie fest, dass es ihr erklärtes Ziel sei, sich den „bürgerlichen Musensohn wieder beizubiegen“. Die Wiederbegegnung zwischen den beiden verlief so stürmisch, dass Alma sich nach ihrer Rückkehr nach Wien Sorgen machte, wieder schwanger zu sein. In ihren Briefen an Gropius versicherte sie ihm ihre Liebe und beschwor ihren Wunsch, endlich seine Ehefrau zu werden. Mit Kokoschka endete der Briefverkehr erst im April 1915, als er sich freiwillig zum Frontdienst meldete.
Während Kokoschka und Gropius ihren Militärdienst ableisteten, begann Alma das gesellschaftliche Leben aufzunehmen, das ihren Ruf als künstlerische Muse begründete. Wie von ihrem Elternhaus gewöhnt, empfing sie im Salon ihrer Wiener Wohnung in der Elisabethstraße zahlreiche Kunstschaffende. Gerhart Hauptmann, Julius Bittner, Franz Schreker, Johannes Itten, Richard Specht, Arthur Schnitzler und Siegfried Ochs sowie ihre alten Verehrer Paul Kammerer und Hans Pfitzner verkehrten dort regelmäßig. Gleichzeitig begann sie sich immer mehr als Bewahrerin des musikalischen Erbes ihres verstorbenen Mannes Gustav Mahler darzustellen. Der Schriftsteller Peter Altenberg karikierte die ergriffene Teilnahme der in Trauerkleidung gehüllten Alma an einer Aufführung von Mahlers Kindertotenliedern so treffend als inszeniert, dass Alma auf Rache sann und dafür sowohl Kokoschka als auch Kammerer einspannen wollte. Der Verlag S. Fischer verzichtete in späteren Ausgaben von Altenbergs Sammlung „Fechsung“ darauf, diese Satire weiterhin mit aufzunehmen.
Die Ehe mit Gropius
Die Hochzeit von Walter Gropius und Alma fand am 18. August 1915 in Berlin statt. Gropius hatte dafür Sonderurlaub erhalten und musste bereits zwei Tage später wieder an die Front zurückkehren. Kokoschka wurde am 29. August an der Front schwer verwundet. In Wien ging man sogar von seinem Tod aus. Alma reagierte auf die fälschliche Todesnachricht, indem sie aus Kokoschkas Atelier die Briefe holte, die sie ihm geschrieben hatte, und dabei auch Skizzen und Zeichnungen an sich nahm.
Oliver Hilmes bezeichnet in seiner Biografie über Alma Mahler-Werfel die Ehe zwischen Walter Gropius und Alma Mahler als eine von Beginn an zum Scheitern verurteilte Beziehung. Während er bei Gropius vermutet, dass er tatsächlich viel für Alma empfand und mit der Ehe möglicherweise auch versuchte, sein durch den Ersten Weltkrieg aus den Fugen geratenes Leben wieder zu normalisieren, sieht er bei Alma Mahler als Grund für die Eheschließung eine Mischung aus gesellschaftlicher Konvention, innerer Leere und Desorientierung.
Die frisch Verheiratete setzte auch nach der Eheschließung mit Walter Gropius ihr Leben in Wien fort und empfing in ihrem Wiener Salon zahlreiche Musiker, Dirigenten und Künstler, die ihr als Witwe Mahlers die Aufwartung machten. Vom Schriftsteller Albert von Trentini ließ sie sich sogar den Hof machen. Nach wie vor sah sie sich vor allem als Witwe Gustav Mahlers und empfand die Ehe mit Gropius als sozialen Abstieg. Obwohl ihr Nachname nun offiziell Gropius lautete, bezeichnete sie sich gelegentlich als Alma Gropius-Mahler oder Mahler-Gropius. In einem ihrer Briefe an Gropius schrieb sie: „… dass die Thüren der ganzen Welt, die dem Namen Mahler offenstehen, zufliegen vor dem gänzlich unbekannten Namen Gropius.“ Einigen Bekannten wie der Ehefrau von Gerhart Hauptmann teilte sie die Eheschließung erst mit, als man ihre Schwangerschaft nicht mehr übersehen konnte. Und als die Mutter von Gropius sich bei ihrem Sohn offensichtlich beschwerte, dass ihre Schwiegertochter sie nicht besucht habe, als sie anlässlich eines Mahlerkonzerts in Berlin weilte, ließ sie über Gropius ausrichten, dass die Schwiegermutter es rechtzeitig aus den Zeitungen erfahren hätte, hätte sie sich tatsächlich in Berlin aufgehalten.
Gropius kämpfte zu dieser Zeit an der Vogesenfront und war wiederholt in Kämpfe verwickelt. Auch während der Geburt seiner Tochter Manon am 5. Oktober 1916 war er nicht anwesend, schenkte Alma aber Edvard Munchs Gemälde Sommernacht am Strand (auch: Mitternachtssonne) als Dank für die anstrengende Geburt. Alma Mahler-Gropius’ Briefe lassen nicht darauf schließen, dass sie sich im Klaren darüber war, welchen Gefahren ihr Mann an der Front ausgesetzt war. In ihren Briefen wechseln sich heftige Klagen, Berichte über Belanglosigkeiten und detaillierte erotische Fantasien ab. Schockiert war sie, als ihr Mann als Regimentsadjutant an eine Heeresschule für Nachrichtenwesen versetzt wurde und dort unter anderem für die Ausbildung von Hunden verantwortlich war, die als Sanitäts- und Meldehunde an der Front eingesetzt wurden. In einem ihrer Briefe an ihn nannte sie diese Aufgabe subaltern und unwürdig, hässlich für ihn und sie. „Mein Mann muss erstrangig sein“, schrieb sie ihm.
Trennung
Der Schriftsteller Franz Blei brachte am 14. November 1917 den 27-jährigen Franz Werfel zu einer der Abendgesellschaften in Almas Salon mit. Alma hatte zwar zwei Jahre zuvor dessen Gedicht Der Erkennende vertont, war dem bis dahin vor allem als Lyriker bekannten Werfel jedoch noch nicht persönlich begegnet. Sie fand Werfel zunächst physisch wenig attraktiv und störte sich daran, dass er Jude war: „Werfel ist ein O-beiniger, fetter Jude mit wülstigen Lippen und schwimmenden Schlitzaugen! Aber er gewinnt, je mehr er sich gibt.“ Anders als bei Gropius, der sich für Musik wenig interessierte, teilte Werfel Almas Interesse an Musik. Er besuchte sie in den folgenden Wochen häufiger, um gemeinsam mit ihr zu musizieren, und allmählich begann sie sich für ihn zu interessieren. Als Gropius am 15. Dezember anlässlich seines Weihnachtsurlaubes zurückkehrte, reagierte sie ablehnend und kühl auf ihn. Zwischen beiden kam es sehr schnell zu heftigen Auseinandersetzungen. Gropius’ Urlaub endete am 30. Dezember und sie reagierte erleichtert auf seine Abreise.
Das Liebesverhältnis mit Werfel begann vermutlich schon Ende 1917, denn als Alma Mahler-Gropius Anfang 1918 feststellen musste, dass sie schwanger war, war sie davon überzeugt, dass Werfel der Vater sei. Der Sohn Martin Carl Johannes kam am 2. August als Frühgeburt zur Welt, die durch Geschlechtsverkehr mit Werfel ausgelöst wurde. Gropius, der kurz nach der Geburt Heimaturlaub erhielt, musste feststellen, dass er wohl nicht der Vater des Kindes sei, als er zufällig Ohrenzeuge eines Telefonats zwischen seiner Ehefrau und Werfel wurde. Der Sohn, der an einem Wasserkopf litt, starb am 14. Mai 1919. Werfel litt unter dem Tod, da er sich für die zu frühe Geburt verantwortlich fühlte.
Die Ehe zwischen Gropius und Alma Mahler wurde am 16. Oktober 1920 geschieden. Strittig war lange Zeit zwischen den beiden Ehepartnern das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Manon. Nüchtern konstatiert Gropius in einem Brief an seine Noch-Ehefrau, den er ihr am 18. Juli 1919 schrieb:
Obwohl das Verhältnis zwischen Werfel und Alma Mahler zu dem Zeitpunkt bereits öffentlich bekannt war, nahm Gropius die Schuld für das Scheitern der Ehe auf sich. In einer theaterreifen Farce ließ er sich in flagranti mit einer Prostituierten in einem Hotelzimmer ertappen, um so eine schnelle Scheidung zu erwirken. Bei einem Besuch der gemeinsamen Tochter in Weimar, wo Gropius das Bauhaus leitete, gab es im Oktober 1921 eine Begegnung zwischen Alma Mahler und der jungen Marlene Dietrich. Marlene Dietrich, die hier eine Ausbildung zur Geigerin absolvierte, hatte dieses kurze Treffen über den Bauhausmeister Lothar Schreyer organisiert, der wie sie in einer Pension im „Haus der Frau von Stein“ wohnte und bei dem Alma Mahler zum Tee eingeladen war.
Franz Werfel
Von 1919 an lebte Alma mit Werfel zusammen. Öffentlich wurde die Beziehung zu dem Schriftsteller, als Max Reinhardt, damals Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, Werfel einlud, Mitte April 1920 aus seiner neuen Verstrilogie Spiegelmensch vorzulesen. Für Werfel war dies eine große Auszeichnung. Alma Mahler begleitete den Schriftsteller nach Berlin und war ständig an seiner Seite zu sehen.
Werfel war elf Jahre jünger als seine Lebensgefährtin und zu Beginn ihrer Beziehung ein bekannter expressionistischer Lyriker. Ihm fehlte aber die Energie, als Schriftsteller großer Romane hervorzutreten. Bekannt war er für seine regen Beziehungen zu den Künstlerkreisen Wiens, mit deren Vertretern er nächtelang durch die Bars und Cafés der österreichischen Hauptstadt zog. Durch das Verhältnis mit Alma Mahler änderte sich dies. Werfel selber bezeichnete seine Geliebte und spätere Ehefrau einmal als „Hüterin des Feuers“, die von ihm ein tägliches Zeilenpensum verlangte und ihn unter Druck setzte, seine zahlreichen kreativen Ideen umzusetzen, für deren Realisierung ihm bislang die Energie gefehlt hatte. Als Arbeitsdomizil stellte sie ihm ihr abgelegenes Haus in Breitenstein am Semmering zur Verfügung. War Alma Mahler verreist, fiel Werfel in seine alten Lebensgewohnheiten zurück und zog mit Ernst Polak, Alfred Polgar oder Robert Musil nachts durch Wien.
Anna Mahler, die Tochter aus der ersten Ehe mit Gustav Mahler, hatte bereits siebzehnjährig den Dirigenten Rupert Koller geheiratet, ihn aber wenige Monate später verlassen. 1922 begann sie eine Beziehung zu dem Komponisten Ernst Krenek, der in seinen Erinnerungen Im Atem der Zeit ein kritisches Bild von Alma Mahler zeichnet.
Der einstmals gefeierten Wiener Schönheit begegnete Krenek das erste Mal, als sie Anfang Vierzig war. Er bezeichnete Alma Mahler als ein etwas korpulentes „prächtig aufgetakeltes Schlachtschiff“ und schrieb: „Sie war es gewohnt, lange, fließende Gewänder zu tragen, um ihre Beine nicht zu zeigen, die vielleicht ein weniger bemerkenswertes Detail ihres Körperbaus waren. Ihr Stil war der von Wagners Brünhilde, transportiert in die Atmosphäre der Fledermaus.“
Beeindruckt war Krenek dagegen von ihrer aus seiner Sicht unerschöpflichen und scheinbar unzerstörbaren Vitalität. Essen und Trinken stellten, wie er fand, die Grundelemente ihres Vorgehens dar, um Menschen an sich zu binden. Nur selten sei er mit ihr zusammengetroffen, ohne „raffinierte, komplizierte und sichtlich teure Speisen und vor allem reichlich schwere Getränke“ serviert bekommen zu haben. Irritiert war er dagegen über die sexuell aufgeladene Atmosphäre im Hause Mahler-Werfel: „Sex war das Hauptgesprächsthema, und meistens wurden lärmend die sexuellen Gewohnheiten von Freunden und Feinden analysiert, wobei Werfel eine ernste und intellektuelle Note einzubringen versuchte, indem er sich feierlich über die Weltrevolution verbreitete.“
Geldbeschaffung
Anfang der 1920er-Jahre erwarb Alma Mahler zusätzlich zu der Wohnung in der Wiener Elisabethstraße und dem Haus auf dem Semmering einen dritten Wohnsitz. Es war ein kleiner, zweistöckiger Palazzo unweit der Frarikirche in Venedig. Von Gustav Mahlers Vermögen war jedoch kaum etwas übrig geblieben, da sie einen großen Teil davon 1914 in Kriegsanleihen angelegt hatte. Der verbleibende Rest wurde von der Inflation in den 1920er-Jahren aufgezehrt. Da Mahlers Sinfonien außerdem in diesen Jahren nur gelegentlich gespielt wurden, waren auch die Tantiemeneinnahmen gering. Der üppige Lebensstil, den sie zu Beginn der 1920er-Jahre führte, war daraus nicht zu finanzieren.
Um Geld zu beschaffen, beauftragte Alma Mahler unter anderem ihren Schwiegersohn Ernst Krenek damit, das Fragment von Gustav Mahlers 10. Sinfonie in ein abgeschlossenes Werk zu transkribieren. Krenek lehnte dies auf Grund seines Respekts vor dem Werk Mahlers ab, edierte jedoch die fast vollständig vorliegenden Sätze Adagio und Purgatorio, die am 12. Oktober 1924 unter Leitung von Franz Schalk in der Wiener Staatsoper uraufgeführt wurden. Almas Freund Willem Mengelberg brachte diese Sinfoniebruchstücke in Amsterdam und New York zur Aufführung, und Alma Mahler legte Wert darauf, die jeweiligen Tantiemen in US-Dollar zu erhalten.
Parallel zu der Uraufführung in Wien ließ Alma Mahler über den neugegründeten Paul Zsolnay Verlag, mit dessen Besitzerfamilie sie befreundet war, eine von ihr edierte Sammlung von Mahler-Briefen herausgeben sowie ein Faksimile der 10. Sinfonie veröffentlichen. Letzteres ist bis heute immer wieder kritisiert worden. Mahler hatte an der Sinfonie noch auf seinem Totenbett gearbeitet und die Notenblätter tragen zahlreiche sehr persönliche Notizen, die unter anderem auch seine Verzweiflung über den Seitensprung seiner Ehefrau mit Gropius widerspiegeln („Für dich leben, für dich sterben! Almschi!“). Neben Krenek hatte auch Bruno Walter Alma Mahler von der postumen Veröffentlichung unter anderem auch deshalb abgeraten.
Parallel zu der Veröffentlichung der Mahler-Briefe publizierte Alma Mahler auch eigene Kompositionen. Im österreichischen Verlag Weinberger erschienen fünf ihrer bislang nicht veröffentlichten Gesänge und die Universal Edition brachte die bereits 1915 mit Unterstützung von Gustav Mahler veröffentlichten Vier Lieder in einer zweiten, wenn auch kleinen, Auflage heraus.
Zum Großverdiener im Hause Mahler-Werfel wurde jedoch Franz Werfel herangezogen. Sein 1923 veröffentlichtes Trauerspiel Schweiger wurde zwar von den Kritikern abgelehnt und auch Freunde Werfels, wie etwa Franz Kafka, standen dem Stück ablehnend gegenüber. Aber sowohl die Uraufführung in Prag als auch die deutsche Erstaufführung in Stuttgart waren ein großer Publikumserfolg. Im April 1924 erschien der erste Roman Werfels im Zsolnay Verlag und begründete seinen Ruhm als Romanschriftsteller. Verdi – Roman der Oper wurde innerhalb weniger Monate 20.000 Mal verkauft. Alma Mahler hatte Werfel in der Arbeit wesentlich unterstützt und seine Arbeiten kritisch begleitet. Wie Alma Mahlers zeitweiliger Schwiegersohn Ernst Krenek kritisch anmerkte, war ihr wohl klar, dass mit einem Roman mehr Geld zu verdienen sei als mit den Gedichten, Dramen und Novellen, die Werfel bislang veröffentlicht hatte:
Diese Geldbeschaffungsmaßnahmen erwiesen sich sehr schnell als erfolgreich. Bereits 1925 konnte sie Alban Berg bei der Drucklegung seiner Oper Wozzeck finanziell unterstützen. Alban Berg widmete ihr aus Dankbarkeit diese Oper.
1926 wurde Werfel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Grillparzer-Preis ausgezeichnet und Max Reinhardt führte in Berlin mit großem Erfolg sein Stück Juarez und Maximilian am Deutschen Theater in Berlin auf. 1929, als Alma Mahler dem Drängen von Werfel endlich nachgab und mit ihm am 6. Juli die Ehe schloss, war Werfel ein arrivierter Schriftsteller, der zu den meistgelesenen der deutschen Sprache zählte.
Eheschließung und Ehekrisen mit Werfel
Alma Mahler und Franz Werfel heirateten 1929, obwohl bereits in den zwanziger Jahren immer wieder massive Krisen in ihrer Beziehung aufgetreten waren. Bereits am 22. Januar 1924 hatte Alma Mahler in ihrem Tagebuch festgehalten:
Solche Tagebucheintragungen sind für die emotionale Unausgeglichenheit Alma Mahlers nicht untypisch und mögen wenige Tage später nicht mehr die Bedeutung gehabt haben, die in ihnen anklingt. Oliver Hilmes vermutet in der Eheschließung auch eine Reaktion Alma Mahlers auf ihr zunehmendes Alter und ihren körperlichen Verfall, den sie gleichfalls in ihren Tagebüchern mehrfach anspricht. Sie hatte seit ihrer Jugend nicht mehr allein gelebt und mag Sorge gehabt haben, keinen adäquaten Lebenspartner mehr zu finden. Typisch für die Ehejahre bis zur Emigration im Jahre 1938 ist jedoch ein allmähliches Auseinanderdriften der beiden Lebenspartner. Beide verbrachten lange Zeiten getrennt. Alma Mahler entzog sich vor allem Treffen mit Werfels Familie, indem sie allein nach Venedig reiste, und Franz Werfel verbrachte viel Zeit im Haus auf dem Semmering oder in Santa Margherita Ligure in der Provinz Genua, um dort, in einem Hotel lebend, an seinen Romanen weiterzuarbeiten. Dazu mag allerdings auch beigetragen haben, dass Franz Werfel sich in der pompösen Villa, die Alma Mahler 1931 in Wiens Nobelviertel Hohe Warte erworben hatte, nicht wohl fühlte. Zu der wachsenden Kluft zwischen den beiden Partnern trugen auch die unterschiedlichen politischen Meinungen bei.
Im Klima zunehmender politischer Radikalisierung verstärkte sich der bei Alma Mahler schon immer vorhandene Antisemitismus weiter. Sie hatte es zur Bedingung gemacht, dass Werfel vor der Hochzeit aus der jüdischen Religionsgemeinschaft austreten müsse. Werfel war diesem Wunsch gefolgt, trat jedoch wenige Monate später, nämlich am 5. November 1929, ohne Wissen Almas wieder zum Judentum über. Auch der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der als Verehrer der Mahler-Tochter Anna in der Villa auf der Hohen Warte verkehrte, erzählt in seiner Autobiografie Das Augenspiel, wie Alma Mahler selbst Gustav Mahler verächtlich als „kleinen Juden“ bezeichnete. Den deutschen Nationalsozialisten stand Alma Mahler positiv gegenüber. Die politischen Auseinandersetzungen nahm sie nicht als Kampf zwischen politischen Ideologien wahr, sondern als Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Im Österreichischen Bürgerkrieg nach der Parlamentsausschaltung durch Engelbert Dollfuß im Jahre 1934 stand sie aber eindeutig auf der Seite der Austrofaschisten. Der Spanische Bürgerkrieg war ein weiterer Streitpunkt zwischen den Ehepartnern. Alma Mahler-Werfel vertrat die Seite der Franquisten, während Franz Werfel sich auf die republikanische Seite stellte.
In der Wiener Villa verkehrten seit Anfang der 1930er-Jahre zunehmend Gäste, die Alma Mahler-Werfels politischer Richtung entsprachen. Neben Kurt von Schuschnigg verkehrten dort der frühere Bundeskanzler Rudolf Ramek und der Leiter des österreichischen Kriegsarchivs Edmund Glaise von Horstenau. Der engen Freundschaft, die sich Anfang der 1930er-Jahre zwischen dem österreichischen Politiker Anton Rintelen und Alma Mahler-Werfel entwickelte, stand Franz Werfel, der sich noch 1918 für die Idee des Kommunismus eingesetzt hatte, verständnislos gegenüber. Daneben verkehrten in ihrem Haus bekannte Kirchenvertreter, wie der Domorganist Karl Josef Walter und der Kirchenmusikreferent Franz Andreas Weißenbäck. In den 37-jährigen Theologieprofessor und Ordenspriester Johannes Hollnsteiner, Beichtvater Schuschniggs, der in Hitler eine Art neuen Luther sah, verliebte sich die Fünfzigjährige und zwischen den beiden kam es zu einer Affäre. Um die Entdeckung der Liaison zu vermeiden, mietete Alma Mahler-Werfel sogar eine kleine Wohnung, um sich dort möglichst unentdeckt mit ihm treffen zu können. Franz Werfel kam zu dem Zeitpunkt dahinter, als man seine Bücher in Deutschland in der von Joseph Goebbels angeordneten Aktion wider den undeutschen Geist verbrannte.
1935 starb im Alter von nur 18 Jahren Manon Gropius, Alma Mahler-Werfels Tochter mit Walter Gropius, an Kinderlähmung. Alma Mahler-Werfel hatte die auch von anderen Zeitgenossen verbürgte Anmut und Schönheit des jungen Mädchens auf die Tatsache zurückgeführt, dass sie dieses Kind als einziges mit einem „Arier“ gezeugt habe. Claire Goll gegenüber bezeichnete sie ihre anderen Kinder später einmal verächtlich als „Mischlinge“. Die Beerdigung der jungen Manon Gropius war in Wien ein gesellschaftliches Großereignis. Johannes Hollnsteiner, der Geliebte der Mutter, hielt die Leichenrede, in der er vom Heimgang eines Engels sprach. Alban Berg widmete ihr sein Konzert für Violine und Orchester, das er Dem Andenken eines Engels nannte. Ludwig Karpath schrieb in seinem Nekrolog in der Wiener Sonn- und Montags-Zeitung von einem wunderbaren Geschöpf an Reinheit und Keuschheit der Empfindung.
Werfels politische Haltung in diesen Jahren ist teilweise schwierig zu deuten. Politische Naivität, persönliche Verpflichtungen und der Einfluss seiner Frau mögen eine Rolle dabei gespielt haben, wenn der von den Nationalsozialisten in Deutschland längst verbotene Schriftsteller gemeinsam mit dem Ehepaar Schuschnigg und seiner Frau 1935 in einer von Benito Mussolini zur Verfügung gestellten Limousine Ausflüge unternahm. Als Kurt von Schuschniggs Ehefrau bei einem Autounfall 1935 ums Leben kam, schrieb Werfel ihren Nachruf, in dem er Schuschnigg als außerordentlichen Menschen bezeichnete.
Anders als im nationalsozialistischen Deutschland waren Juden in Österreich nicht vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Der österreichische Ständestaat zeigte sich aber gerade in Abgrenzung zu Nazideutschland als tolerant und weltoffen. Gustav Mahlers 25. Todestag beging man zwischen dem 26. April und dem 24. Mai 1936 feierlich, indem die Wiener Philharmoniker und die Wiener Symphoniker eine Reihe seiner Werke aufführten und Bruno Walter – wie Mahler gleichfalls Jude – dirigierte. Alma Mahler-Werfel lud zu den Veranstaltungen, die laut Programmzettel unter dem Ehrenschutze des Herrn Bundeskanzlers Dr. Kurt v. Schuschnigg stattfanden, auch das diplomatische Corps der Niederlande, Schwedens, Belgiens, Polens, Ungarns und Frankreichs ein. 1937 wurde Franz Werfel mit dem „Österreichischen Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft“ ausgezeichnet.
Emigration
Die Villa auf der Hohen Warte, in der Manon Gropius gestorben war, wurde von Alma Mahler-Werfel zunehmend als Unglückshaus empfunden. Franz Werfel wohnte nur noch selten dort und zog es vor – vielleicht auch wegen des hohen Alkoholkonsums seiner Frau –, in Hotelzimmern außerhalb von Wien zu arbeiten. Alma Mahler wollte daher die Villa vermieten. Am 12. Juni 1937 gab sie ein letztes Abschiedsfest in der Villa mit den 20 Räumen, bei der erneut ein großer Teil der Wiener Gesellschaft und vor allem viele Kulturschaffende anwesend waren. Unter den Gästen befanden sich neben Bruno Walter und Almas erstem Geliebten Alexander von Zemlinsky Künstler wie Ida Roland, Carl Zuckmayer, Egon Wellesz, Ödön von Horváth, Siegfried Trebitsch, Arnold Rosé, Karl Schönherr und Franz Theodor Csokor.
Obwohl sich die Beziehung zwischen Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel noch nicht wieder gefestigt hatte, brachen sie am 29. Dezember 1937 zu einer Reise auf, die sie zunächst nach Mailand und dann über Neapel auf die Insel Capri führte. Dort erfuhren sie, dass der Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg am 12. Februar 1938 mit Nazideutschland das sogenannte Berchtesgadener Abkommen unterzeichnet hatte, das – für das Ehepaar wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt noch nicht völlig absehbar – das Ende Österreichs als selbstständigem Staat einleitete. Ende Februar reiste Alma Mahler-Werfel allein und inkognito nach Wien zurück, wo sie alle Bankkonten auflöste und das Geld durch die langjährige Vertraute Ida Gebauer in einem Geldgürtel in die Schweiz schmuggeln ließ. Am 12. März 1938, dem Tag, an dem der so genannte Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vollzogen wurde, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter und reiste gemeinsam mit ihrer Tochter, die als „Halbjüdin“ nun bedroht war, über Prag und Budapest nach Mailand, wo Franz Werfel auf sie wartete.
Die Spannungen zwischen den beiden Ehepartnern hielten an. In ihrem Tagebuch schrieb Alma Mahler-Werfel von zwei Menschen, die nach zwanzig Jahren Zusammensein zwei unterschiedliche Sprachen sprechen und deren „Rassenfremdheit“ unüberbrückbar war. Werfels Sorge um seine Familie fand sie übertrieben. Trotzdem ließen sich beide gemeinsam in dem südfranzösischen Fischerdorf Sanary-sur-Mer unweit von Marseille nieder, wo sich bis 1940 auch andere deutsche Emigranten wie Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Ludwig Marcuse, Franz Hessel und Ernst Bloch zeitweise aufhielten. Zumindest zu diesem Zeitpunkt erwog Alma Mahler-Werfel die Scheidung von Werfel und ließ über das Reichspropagandaamt vorfühlen, ob sie in Österreich willkommen sei. Warum sie sich letztlich doch entschied, ihrem Mann in das Exil in die Vereinigten Staaten zu folgen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Ihr Biograf Hilmes vermutet darin die Angst der mittlerweile fast 60-Jährigen vor der Einsamkeit, denn ihr letzter Geliebter Johannes Hollnsteiner – von den Nazis als Unterstützer der Schuschnigg-Regierung noch im März 1938 ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert – war keine Alternative.
Die Emigration in die Vereinigten Staaten gestaltete sich sehr schwierig. Als sie Sanary-sur-Mer im Juni 1940 verließen, hatte die Wehrmacht bereits Paris besetzt. Das Ehepaar Mahler-Werfel besaß keine Visa für die Ausreise in die Vereinigten Staaten und musste unter anderem im Wallfahrtsort Lourdes fünf Wochen warten, um eine Reisegenehmigung bis nach Marseille zu erhalten. In Marseille trafen sie auf Heinrich Mann, seine Frau Nelly und seinen Neffen Golo Mann, mit denen sie bis zu ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten zusammenblieben. Dass ihnen die Ausreise gelang, verdankten sie dem amerikanischen Journalisten und Quäker Varian Fry. Fry gehörte dem Emergency Rescue Committee an, das vor allem Intellektuelle bei ihrer Flucht aus Frankreich unterstützte. Er brachte die fünfköpfige Gruppe zur französisch-spanischen Grenze. Dort mussten sie zu Fuß einen Gebirgszug überqueren, was vor allem den fast 70-jährigen Heinrich Mann und den übergewichtigen Franz Werfel an ihre physische Leistungsgrenze brachte.
schrieb Carl Zuckmayer an einen Freund, nachdem er die Details der Flucht erfuhr. In Barcelona organisierte Fry Flugtickets nach Lissabon, von wo aus sie mit dem griechischen Ozeandampfer Nea Hellas nach New York übersetzten. Am 13. Oktober 1940 kamen sie dort an.
Exil in Kalifornien
Das Ehepaar Mahler-Werfel ließ sich in Los Angeles nieder, wo zahlreiche deutsche und österreichische Emigranten lebten. Neben Thomas Mann, Max Reinhardt, Alfred Döblin, Arnold Schönberg und Erich Wolfgang Korngold lebte hier unter anderem Friedrich Torberg, der über die kommenden Jahre ein besonders enges Verhältnis sowohl zu Franz Werfel als auch zu Alma Mahler-Werfel entwickelte.
Ihre finanziellen Mittel waren ausreichend, um sich zunächst in einem Villenviertel oberhalb der Stadt niederzulassen und einen Hausangestellten zu engagieren, der gleichzeitig als Kammerdiener für Werfel sowie als Chauffeur und Gärtner fungierte. Ähnlich wie in Europa verkehrten auch in Los Angeles viele Persönlichkeiten des Kulturlebens in ihrem Haus. Insbesondere Thomas Mann und seine Frau Katia waren regelmäßig Gäste. Werfel arbeitete in dieser Zeit intensiv an seinem Roman über Bernadette Soubirous. Dabei unterstützte ihn als Sekretär Albrecht Joseph, der ein für das Zusammenleben von Werfel und Alma Mahler-Werfel bezeichnendes Erlebnis berichtete:
Werfels auf ein Gelübde zurückgehender Roman Das Lied von Bernadette über Bernadette Soubirous wurde zu einem US-Bestseller, von dem innerhalb weniger Monate 400.000 Exemplare verkauft wurden. Twentieth Century Fox erwarb die Filmrechte. Rezensionen erschienen in zahlreichen US-Tageszeitungen, und Radio-Interviews mit Werfel wurden landesweit ausgestrahlt.
Die mit dem schriftstellerischen Erfolg einhergehende Verbesserung ihrer finanziellen Lage ermöglichte dem Ehepaar, in Beverly Hills eine komfortablere Villa zu erwerben. Zum Schreiben zog sich Werfel allerdings nach Santa Barbara zurück. Oliver Hilmes vermutet, dass nur diese räumliche Trennung es dem Ehepaar ermöglichte, trotz großer Differenzen immer wieder zusammenzufinden und ihre Beziehung über 25 Jahre stabil zu halten.
Unweit der neuen Villa lebten nicht nur Friedrich Torberg, sondern auch Ernst Deutsch, ein Jugendfreund Werfels, das Ehepaar Schönberg sowie das Ehepaar Feuchtwanger. Erich Maria Remarque wurde dort zu Alma Mahler-Werfels neuem Zechkumpan, der ihr nach der ersten durchfeierten Nacht eine Flasche russischen Wodka in einen riesigen Blumenstrauß gehüllt schenkte.
Franz Werfel erlitt in der Nacht des 13. September 1943 einen schweren Herzinfarkt, von dem er sich erst in der ersten Jahreshälfte 1944 langsam erholte. Zum Gefolge des Ehepaars zählte nun auch ein von Alma Mahler-Werfel engagierter Leibarzt. Im Sommer 1945, Werfel hatte gerade seinen utopischen Roman Stern der Ungeborenen vollendet, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand jedoch wieder. Am 26. August 1945 erlag er einem weiteren schweren Herzinfarkt. Bei der Trauerfeier am 29. August übernahmen Bruno Walter und die Sängerin Lotte Lehmann die musikalische Gestaltung. Alma Mahler-Werfel selbst nahm nicht an der Beisetzung teil. Die Trauerrede hielt der Pater Georg Moenius, mit dem sich Werfel während seiner Arbeit an Das Lied von Bernadette über theologische Fragen ausgetauscht hatte. Er ging in seiner Rede auf die Taufriten der katholischen Kirche ein, was zu Spekulationen geführt hat, dass Alma Mahler-Werfel an Werfel noch die Nottaufe vollzogen habe, als sie ihren sterbenden Mann fand. Werfel hatte zwar generell Sympathien gegenüber dem katholischen Glauben bekundet, sich aber mehrfach zum Judentum bekannt und unter anderem 1942 in einem Brief an den Erzbischof von New Orleans festgehalten, dass es ihm angesichts der Judenverfolgung widerstrebe, „mich in dieser Stunde aus den Reihen der Verfolgten fortzuschleichen“.
Die große Witwe
Als La grande veuve, als die große Witwe Gustav Mahlers und Franz Werfels, bezeichnete Thomas Mann Alma Mahler-Werfel in ihren folgenden Lebensjahren. Boshafter fiel das Urteil von Claire Goll über die Witwe aus, die nach Golls Meinung nach Werfels Tod ihr Auge auf Bruno Walter geworfen hatte. Sie verglich Alma Mahler, deren Figur ihre Vorliebe für Champagner und Bénédictine nicht bekommen war, mit einer auseinanderquellenden Germania und schrieb über sie:
Ihre alte Heimatstadt Wien besuchte Alma Mahler-Werfel nur noch einmal kurz im Jahre 1947. Ihre Mutter war im Herbst 1938 gestorben; ihr Stiefvater Carl Moll, ihre Halbschwester Maria und deren Mann Richard Eberstaller, 1926–1938 Präsident des ÖFB, die beide langjährige NSDAP-Mitglieder gewesen waren, hatten im April 1945 Selbstmord begangen. Bei ihrem Besuch ging es ihr überwiegend um die Regelung von Vermögensfragen. Mit dem österreichischen Staat verwickelte sie sich in gerichtliche Auseinandersetzungen um Edvard Munchs Gemälde Sommernacht am Strand, das ihr Walter Gropius einst anlässlich der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter geschenkt hatte und das Carl Moll nach Alma Mahler-Werfels Emigration in die Vereinigten Staaten im April 1940 an die heutige Österreichische Galerie Belvedere verkauft hatte. Alma Mahler-Werfel verlor den Prozess, weil sie nicht glaubwürdig belegen konnte, dass ihr Stiefvater dies ohne ihr Einverständnis getan hatte. Der Verkaufserlös des Bildes war außerdem verwendet worden, um notwendige Reparaturen an ihrem Haus am Semmering vorzunehmen. Eine persönliche Bereicherung Molls hatte nicht stattgefunden. Bis in die 1960er Jahre bemühte sie sich um die Herausgabe des Bildes und weigerte sich, österreichischen Boden noch einmal zu betreten. Zur Sprache kam in der Gerichtsverhandlung auch, dass Alma Mahler-Werfel Ende der 1930er Jahre über ihren Schwager versucht hatte, Bruckners handschriftliche Partitur der ersten drei Sätze seiner 3. Sinfonie an die Nazis zu verkaufen. Das Gemälde wurde erst am 9. Mai 2007 an Almas Enkelin Marina Fistoulari-Mahler zurückgegeben.
Zu ihrem siebzigsten Geburtstag erhielt Alma Mahler-Werfel ein ungewöhnliches Geschenk, das auch dokumentiert, wie sehr sie der Kulturszene verbunden war. Ein befreundetes Ehepaar hatte Monate vor dem Geburtstag Bekannte und Freunde von Alma Mahler-Werfel angeschrieben und sie gebeten, jeweils ein Blatt Papier zu gestalten. Zu den 77 Gratulanten, die auf diese Weise ihre Glückwünsche überbrachten, zählten unter anderen ihr ehemaliger Ehemann Walter Gropius, Oskar Kokoschka, Heinrich und Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Franz Theodor Csokor, Lion Feuchtwanger, Fritz von Unruh, Willy Haas, Benjamin Britten, ihr ehemaliger Schwiegersohn Ernst Krenek, Darius Milhaud, Igor Strawinsky, Ernst Toch, die Dirigenten Erich Kleiber, Eugene Ormandy, Fritz Stiedry, Leopold Stokowski sowie der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg. Arnold Schönberg, der wegen eines vorherigen Zerwürfnisses mit Alma Mahler-Werfel nicht eingeladen worden war, sich an dem Buch zu beteiligen, widmete ihr einen Geburtstagskanon mit dem Text:
Die Autobiographie Mein Leben
1951 übersiedelte Alma Mahler-Werfel nach New York, wo sie vier kleine Eigentumswohnungen in einem Haus in der Upper East Side (120 East 73rd Street) erworben hatte. Sie lebte selbst in der dritten Etage und nutzte eine Wohnung als Wohnraum, die zweite als Schlafraum. Die in der Etage darüber liegenden zwei Wohnungen wurden von August Hess, dem ehemaligen Kammerdiener Werfels, und von ihren Gästen genutzt. Seit längerer Zeit arbeitete sie bereits an einer Autobiographie, die auf ihren Tagebüchern basierte. Zunächst wurde sie von dem Ghostwriter Paul Frischauer unterstützt, mit dem sie sich aber bereits 1947 zerstritt, als er ihre zahlreichen antisemitischen Ausfälle monierte. In den 1950er-Jahren arbeitete sie mit E. B. Ashton zusammen. Auch er sah wegen ihrer antisemitischen Äußerungen und den zahlreichen Angriffen auf noch lebende Personen die Notwendigkeit, die Tagebücher zu zensieren. 1958 erschien in englischer Sprache And the Bridge Is Love.
Die Reaktionen auf diese englische Ausgabe waren verhalten. Insbesondere reagierte Walter Gropius auf die Darstellung ihrer frühen Liebesbeziehung und Ehe gereizt. Die Reaktionen anderer Freunde und Bekannten, wie etwa Paul Zsolnay, machten Alma Mahler-Werfel deutlich, dass eine deutschsprachige Ausgabe, über die bereits nachgedacht worden war, entsprechend verändert werden müsste. Willy Haas wurde die Aufgabe übertragen, eine Fassung für den deutschsprachigen Markt vorzubereiten und dabei den ursprünglichen Text weiter zu glätten. Bereits die vorherigen Ghostwriter hatten ihr nahegelegt, die rassenpolitischen Äußerungen zu streichen. Erst die Reaktionen auf die englische Ausgabe ließen sie umdenken:
schrieb ihr Willy Haas.
Die deutschsprachige Veröffentlichung Mein Leben fand nicht die von ihr erwartete positive Aufnahme. Das Buch galt als „schlüpfrig“, zweideutig, widersprüchlich und reizte in seiner ichbezogenen Darstellungsweise zur Karikatur. Langjährige Wegbegleiter wie Carl Zuckmayer und Thomas Mann hatten sich bereits nach der Veröffentlichung der englischen Version von ihr zurückgezogen.
Zuckmayer schrieb nach ihrem Tod:
Scharf fällt auch das Urteil ihrer Biographin Astrid Seele aus:
Der Wiener Autor und Kritiker Hans Weigel parodierte das Buch in seinem Text „Via Mahler“, in dem er Alma Affären mit Bismarck, Hemingway, Hauptmann, Picasso, Chaplin, Eiffel und Stravinsky unterschob. Die Satire gipfelt in einer Passage über Toni Sailer:
Tod
Alma Mahler-Werfel starb am 11. Dezember 1964 im Alter von 85 Jahren in ihrem New Yorker Appartement. Bei der ersten Trauerfeier zwei Tage später hielt Soma Morgenstern die Grabrede. Beigesetzt wurde Mahler-Werfel allerdings erst am 8. Februar 1965 in Wien auf dem Grinzinger Friedhof in dem bereits bestehenden Grab (Gruppe 6, Reihe 6, Nummer 7) ihrer 1935 verstorbenen Tochter Manon Gropius. Das ehrenhalber gewidmete Grab befindet sich unweit von ihrem ersten Ehemann.
Die Nachrufe, die nach ihrem Tod erschienen, bezogen sich unter dem Eindruck ihrer Autobiografie meist auf ihre Ehen und Liebesaffären. Die Mischung aus Anziehung, Bewunderung und Abneigung, die sie bei vielen auslöste, kommt auch in einem Gedicht zum Ausdruck, das der Liedermacher und Satiriker Tom Lehrer spontan nach ihrem Tod schrieb und veröffentlichte.
Friedrich Torbergs Nachruf auf Alma Mahler-Werfel, der 1964 erschien, dagegen erklärt nachvollziehbarer, warum so viele Kulturschaffende von dieser Frau fasziniert waren:
Kompositionen
Alma Mahler-Werfel komponierte zahlreiche Lieder. Folgende Werke sind angegeben nach MGG², Bd. 11, 2004. Zusammen mit den verschollenen Kompositionen ausführlich beschrieben von Susanne Rode-Breymann in: Die Komponistin Alma Mahler-Werfel, Hannover 1999, S. 131–146.
5 Lieder, Dezember 1910, Wiener Universal Edition
4 Lieder, 1915 Wiener Universal Edition
Fünf Gesänge, Musikverlag Josef Weinberger, Wien 1924
Sämtliche Lieder = Neuausgabe dieser 14 Lieder von Herta Blaukopf bei Universal Edition, o. J.
Die stille Stadt, Ich wandle unter Blumen. In: E. Rieger (Hrsg.): Frauen komponieren. 25 Lieder für Singstimme und Klavier. Edition Schott Wiesbaden 7810
sowie zahlreiche unveröffentlichte Lieder
Rezeption der Lieder von Alma Schindler-Mahler
Von ihrem Gesamtwerk wurden nur siebzehn Lieder bekannt: Von den verschiedentlich erwähnten rund „hundert Liedern“ wurden ab 1911 bis zum Jahr 2000 vierzehn in verschiedenen Verlagen gedruckt. Dazu gehören die im Januar 1911 erschienenen 5 Lieder, komponiert zwischen 1899 und 1901, und redigiert 1910 von Gustav Mahler:
Die stille Stadt, Text von Richard Dehmel
In meines Vaters Garten, Text von Otto Erich Hartleben
Laue Sommernacht, Text von Otto Julius Bierbaum,
Bei dir ist es traut, Text von Rainer Maria Rilke
Ich wandle unter Blumen, Text von Heinrich Heine
Im Juni 1915 veröffentlichte Alma Schindler-Mahler Vier Lieder, die 1901 bzw. 1910/1911 von ihr komponiert und gemeinsam mit Gustav Mahler zum Teil erheblich überarbeitet worden waren:
Licht in der Nacht, Text von Otto Julius Bierbaum
Waldseligkeit, Text von Richard Dehmel
Ansturm, Text von Richard Dehmel
Erntelied, Text von Gustav Falke unter dem Titel Gesang am Morgen.
Im April 1924 veröffentlichte Alma Maria Mahler fünf weitere ihrer Lieder als Fünf Gesänge bei Josef Weinberger:
Hymne, Text von Novalis – komponiert wahrscheinlich 1910/1911
Ekstase, Text von Otto Julius Bierbaum – komponiert am 24. März 1901
Der Erkennende, Text von Franz Werfel – komponiert im Oktober 1915
Lobgesang, Text von Richard Dehmel – komponiert am 16. Juni 1900
Hymne an die Nacht, Text von Novalis – wahrscheinlich 1910/1911
Nach Knud Martner wurden Nr. 1, Hymne oder Hymnus, und Nr. 4 Lobgesang im Jahr 1924 von Paul von Klenau orchestriert; die Partituren wurden 2019 im Klenau-Nachlass der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen entdeckt.
Uraufführung der drei Gesänge mit Orchester: 22. September 1924 in Wien (Musikverein). Solist: Laurenz Hofer, Dirigent: Leopold Reichwein.
Weitere Aufführung: 17. Februar 1929, Wiener Rundfunk. Solist: Anton Maria Topitz, Dirigent: Rudolf Nilius. Bei dieser Gelegenheit wurde Alma Mahler im Rundfunk interviewt.
Im Jahr 2000 wurden noch zwei nachgelassene (bis dahin verschollene) Lieder publiziert, herausgegeben von Susan M. Filler, Hildegard Publishing Company, Bryn Mawr, USA:
Kennst du meine Nächte, Text von Leo Greiner
Leise weht ein erstes Blühn, Text von Rainer Maria Rilke
2018 schließlich veröffentlichte Barry Millington in London (The Wagner Journal):
Einsamer Gang, Text von Leo Greiner
Rezeptionsgeschichte
Alma Mahler in Werken anderer Komponisten
Das Adagietto in Gustav Mahlers 5. Sinfonie ist nach Angaben des Dirigenten Willem Mengelberg eine Liebeserklärung an Alma Mahler.
In der 6. Sinfonie versuchte Gustav Mahler 1906, seine Frau musikalisch zu porträtieren. Dazu macht Alma Mahler folgende Angaben: „Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Walde herunter gekommen und hatte gesagt: ‚Ich habe versucht, dich in einem Thema festzuhalten – ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du mußt dirs schon gefallen lassen.‘ Es ist das große, schwungvolle Thema des I. Satzes.“
Gustav Mahlers 8. Sinfonie ist seiner Frau Alma Mahler gewidmet. Die Uraufführung der Sinfonie fiel in die Zeit einer schweren Ehekrise. Mahler versuchte mit den größten Liebesbezeugungen, einschließlich der Widmung der 8. Sinfonie, seine Frau wieder für sich zu gewinnen.
In Gustav Mahlers 10. Sinfonie spiegelt sich die Ehekrise des Jahres 1910 wider. Das Manuskript weist eine Fülle intimer Eintragungen auf, die dokumentieren, dass Mahler damals die schwerste existentielle Krise seines Lebens durchmachte. Die tief bewegenden Ausrufe lassen erkennen, dass die Adressatin dieser Eintragungen Alma war: „Du allein weißt, was es bedeutet. Ach! Ach! Ach! Leb’ wol mein Saitenspiel! Lebe wol, Leb wol. Leb wol.“ (Am Ende des vierten Satzes) – „Für dich leben! Für dich sterben! Almschi!“ (am Schluss des Finales). Alma Mahler machte später in ihrer Wohnung die Skizzen in einer Vitrine für ihre Gäste zugänglich, was Elias Canetti beklemmend als „Gedenkkapelle“ beschrieb.
Gustav Mahlers Lied Liebst Du um Schönheit (1902), die Vertonung eines Rückert-Gedichtes, ist ein „Privatissimum“ an Alma.
Alexander Zemlinskys Fünf Lieder op. 7, 1899 sind Alma gewidmet. Sie wird auch in Bezug auf Zemlinskys Oper „Der Zwerg“ (1922), nach Oscar Wildes Märchen Der Geburtstag der Infantin oft genannt, in der eine schöne Prinzessin einen hässlichen Zwerg als Geburtstagsgeschenk bekommt, der sich noch nie selbst im Spiegel gesehen hat. Der Gnom verliebt sich in sie und glaubt, auf Gegenliebe zu stoßen, nachdem die Prinzessin ihm als Spaß eine Rose zuwirft. Am Ende wird er über das böse Spiel aufgeklärt, erkennt im Spiegel seine Hässlichkeit – und stirbt. Dies lässt sich unschwer als Paraphrase auf das Verhältnis zwischen Alma und Zemlisky erkennen. Auch Zemlinskys siebenteilige „Lyrische Sinfonie“ nach Texten von Rabindranath Tagore ist eine Reflexion der unglücklichen Liebe zu Alma. Zemlinsky wurde zu dieser Lied-Sinfonie durch Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ inspiriert und weigerte sich, sein Werk gemeinsam mit der unvollendet gebliebenen 10. Sinfonie Mahlers uraufführen zu lassen, die dessen Reaktion auf Almas Affäre mit Walter Gropius war.
Hans Pfitzner widmete Alma Mahler sein Streichquartett D-Dur op. 13 (1902/03, uraufgeführt 1903 in Wien).
Ernst Krenek komponierte 1923 Orpheus und Eurydike, eine Oper in drei Akten op. 21 (UA 1926), nach einem Libretto von Oskar Kokoschka, wobei Orpheus für Kokoschka selbst steht, Eurydike für Alma Mahler, Psyche für ihre Tochter Anna Mahler und Pluto, der Gott der Unterwelt, für Gustav Mahler.
Alban Berg widmete Alma seine Oper Wozzeck (1915–1921, UA 1925), aus Dankbarkeit für vielfältige (auch finanzielle) Unterstützung seiner Arbeit.
In Erinnerung an Almas Tochter Manon Gropius komponierte Alban Berg 1935 sein Violinkonzert und widmete es „dem Andenken eines Engels“.
Erich Wolfgang Korngolds Konzert für Violine und Orchester D-dur op. 35 von 1945 ist Alma Mahler-Werfel gewidmet, die eine langjährige Freundin der Familie war und mit zum Künstlerkreis im kalifornischen Exil gehörte.
Arnold Schönberg widmete Alma Mahler-Werfel zum 70. Geburtstag am 31. August 1949 einen vierstimmigen Kanon.
Benjamin Britten widmete Alma Mahler in Anerkennung dessen, was er Gustav Mahler zu verdanken hatte, 1958 sein Nocturne, Op. 60 (for tenor, seven obbligato instruments, and string orchestra). Es wurde noch im Jahre seines Entstehens beim Leeds Centenary Festival uraufgeführt.
Tom Lehrer veröffentlichte 1965 die Ballade Alma, einen satirischen Beitrag zu ihrem beziehungsreichen Leben. (siehe: Weblinks)
Alma Mahler im Werk Oskar Kokoschkas
Alma Mahler, 1912, Öl auf Leinwand, The National Museum of Modern Art, Tokio
In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft ließ Kokoschka Alma als neue Gioconda posieren und gab ihr Züge wie Leonardo seiner Mona Lisa. Alma selber sah sich in diesem Porträt als Lucrezia Borgia.
Alma Mahler und Oskar Kokoschka, 1913, Kohle und weiße Kreide, Leopold Museum, Wien
Doppelbildnis Oskar Kokoschka und Alma Mahler, 1912/1913, Öl auf Leinwand, Museum Folkwang, Essen
Sieben Fächer für Alma Mahler, 1912/1913, Tusche und Aquarell auf ungegerbter Ziegenhaut, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
Kokoschka bezeichnete die sieben Fächer, die er Alma zwischen 1912 und 1914 schenkte, als „Liebesbriefe in Bildersprache“. Der erste Fächer entstand zu Alma Mahlers Geburtstag 1912. Der dritte Fächer illustrierte die gemeinsame Italienreise 1913 und bildete die Vorlage zum späteren Gemälde „Die Windsbraut“. Nur sechs Fächer haben überlebt, einen warf Almas Ehemann Walter Gropius aus Eifersucht ins Feuer.
Die Windsbraut, 1913, Öl auf Leinwand, Kunstmuseum Basel, Basel
Das Gemälde hieß zuerst „Tristan und Isolde“, der Titel jener Oper Richard Wagners, die die erste Begegnung der beiden begleitete. Als Kokoschka das Bild malte, war der österreichische Dichter Georg Trakl fast täglich um ihn und gab dem Gemälde seinen Namen: „Golden lodern die Feuer der Völker rings. Über schwärzliche Klippen stürzt todestrunken die erglühende Windsbraut, die blaue Woge des Gletschers und es dröhnt gewaltig die Glocke im Tal: Flammen, Flüche und die dunklen Spiele der Wollust stürmt den Himmel ein versteinertes Haupt.“
Fresko für Alma Mahlers Haus in Breitenstein, 1913
Bevor Alma ihr neues Haus in Breitenstein am Semmering im Dezember 1913 bezog, malte Kokoschka ein vier Meter breites Fresko über den Kamin, als Fortsetzung der Flammen und Alma darstellend, wie sie „in gespensterhafter Helligkeit zum Himmel weise, während er in der Hölle stehend von Tod und Schlangen umwuchert schien.“ Das Fresko galt lange als verschollen und wurde erst 1988 wiederentdeckt.
Alma Mahler, 1913, Kreide, Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh
Alma Mahler mit Kind und Tod, 1913, Kreide, Sammlung Essl, Klosterneuburg
Kokoschka zeigt Alma mit dem Fötus eines Kindes, in Anspielung auf die für ihn so schmerzhafte Abtreibung im Oktober 1912.
Alma Mahler spinnt mit Kokoschkas Gedärmen, 1913, Kreide, Sammlung Essl Klosterneuburg
Kokoschka veranschaulicht hier die Schmerzen, die ihm Alma durch die Abtreibung zugefügt hatte. Er verwendet die „Marter des hl. Erasmus von Formio“, wobei er die Winde gegen ein Spinnrad austauscht, auf das Alma seine aus dem Bauch hervorquellenden Gedärme aufspult.
Alma Mahler von Verehrern bedrängt, 1913, Lithografie, Graphische Sammlung Albertina, Wien
Alma wird in einem Sakralraum von sechs Verehrern (darunter der Komponist Hans Pfitzner) bedrängt und scheint dies zu genießen.
Allos Makar, 1913, Lithografiezyklus (5 Bll.)
Aus den Buchstaben der Namen Alma und Oskar formte Kokoschka den Titel eines Gedichtes Allos Makar (griechisch für „Anders ist glücklich“), das er durch diesen Grafikzyklus illustrierte.
Stillleben mit Putto und Kaninchen, 1914
In dem Bild gestaltete Kokoschka in einem Gleichnis das Zerbrechen seines Liebesverhältnis mit Alma: „Man darf aus Lässigkeit das Werden eines Menschenlebens nicht absichtlich verhindern. Es war ein Eingriff auch in meine Entwicklung, das ist doch einleuchtend.“ Mit dem Eingriff, den Kokoschka hier erwähnt, spricht er das von Alma erwartete gemeinsame Kind an, das sie 1914 abtreiben ließ.
Oskar Kokoschkas Leben und Schaffen war auch nach der Beendigung des Liebesverhältnisses mit Alma Mahler noch lange von dieser Beziehung geprägt. Sein Drama Orpheus und Eurydike, das er 1918 vollendete, spiegelt im Mythos dieser antiken Liebesgeschichte das Scheitern seiner Liebe zu Alma Mahler. Es wurde von Almas Schwiegersohn Ernst Krenek vertont.
Zu den bizarreren Anekdoten der Kunstgeschichte gehört, dass Kokoschka zum Jahresende 1918 sich von der Puppenmacherin Hermine Moos einen lebensgroßen Puppen-Fetisch nach Almas Modell fertigen ließ. In zahlreichen Briefen schrieb Kokoschka eine Gebrauchsanweisung für die Puppenmacherin, etwa: „Sehr neugierig bin ich auf die Wattierung, auf meiner Zeichnung habe ich die mir wichtigen Flächen, entstehenden Gruben, Falten etwas schematisch angedeutet, durch die Haut – auf deren Erfindung und stofflichen, dem Charakter der Körperpartien entsprechenden, verschiedenen Ausdruck ich wirklich höchst gespannt bin – wird alles reicher, zärtlicher, menschlicher werden?“ Als die Puppe bei Kokoschka in Dresden eintraf, war die Enttäuschung groß, vergeblich versuchte er in dem Gegenstand aus Stoff und Holzwolle seine geliebte Alma zu erkennen. Er verewigte „Die stille Frau“, wie die misslungene Kopie nun hieß, in zahlreichen Tuschezeichnungen und Gemälden. Er kleidete sie in teure Kostüme und Dessous aus den besten Pariser Modesalons und ließ über seine Kammerzofe das Gerücht verbreiten, er habe einen Fiaker gemietet, „um sie an sonnigen Tagen ins Freie zu fahren, und eine Loge in der Oper, um sie herzuzeigen.“ Kokoschka zerstörte diesen Fetisch schließlich selbst, indem er nach einer durchfeierten Nacht die Puppe mit Wein übergoss und ihr den Kopf abschlug. Das trug ihm den Besuch der Polizei ein, da Nachbarn die im Garten liegenden Puppenbestandteile für eine Leiche hielten.
Stehender weiblicher Akt – Alma Mahler, 1918
Diese lebensgroße Aktskizze von Alma Mahler wurde von Kokoschka als Vorlage für die Alma-Puppe für Hermine Moos angefertigt.
Der Puppenfetisch mit Katze, 1919, Grüne Kreide, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Frau in Blau, 1919
Das Gemälde zeigt die Puppe, wurde mehrfach überarbeitet und in etwa zwanzig Studien vorbereitet.
Maler mit Puppe, Öl auf Leinwand, Neue Nationalgalerie, Berlin
Selbstbildnis mit Puppe, 1920/21
Alma Mahler auf der Bühne und im Film
1996 wurde anlässlich der Wiener Festwochen das ungewöhnliche Theaterstück Alma – A Show biz ans Ende von Joshua Sobol unter der Regie von Paulus Manker im ehemaligen Sanatorium Purkersdorf mit Susi Nicoletti und Johanna Wokalek als Alma uraufgeführt. Das Sanatorium in der Nähe von Wien ist ein Bauwerk des Jugendstil-Architekten Josef Hoffmann, Freund von Almas Stiefvater Carl Moll und Architekt von Alma Mahlers Villa auf der Hohen Warte. Die Atmosphäre des Bauwerks und die Möglichkeit für die Zuschauer, in verschiedenen Räumen an der theatralischen Inszenierung von Alma Mahler-Werfels Leben gleichsam wie einer ihrer zeitgenössischen Gäste interaktiv teilzuhaben, bescherten dem „Polydrama“ in den Jahren 1996 bis 2001 140 ausverkaufte Vorstellungen. Das Stück wurde zum Kult und wurde 1999 von Paulus Manker auch verfilmt. Es folgten mehrsprachige Neuproduktionen der Wiener Aufführung an Almas Lebensorten: 2002 in Venedig (Palazzo Zenobio), 2003 in Lissabon (Convento dos Inglesinhos), 2004 in Los Angeles (Los Angeles Theatre), 2005 im Schloss Petronell bei Wien, 2006 in Berlin (Kronprinzenpalais), 2007 am Semmering (Kurhaus) in unmittelbarer Nähe von Alma Mahlers Sommerhaus in Breitenstein, 2008 bis 2010 in Wien (k.k. Post- und Telegrafenamt), 2009 in Jerusalem (Zentralgefängnis der britischen Mandatsverwaltung), 2011 in Prag (Palais Martinicky), 2012 und 2013 wieder in Wien, 2014/15 und 2017/18 in einer ehemaligen Waffenfabrik in Wiener Neustadt und 2022 in der "Belgienhalle" in Berlin-Siemensstadt. Zu den Alma-Darstellerinnen zählten u. a. Jutta Hoffmann, Jennifer Minetti, Eleonore Zetzsche, Carola Regnier, Christine Ostermayer, Simone de Oliveira und Milena Vukotic. Am 7. Juli 2010 fand eine Festaufführung zu Ehren von Gustav Mahlers 150. Geburtstag statt. Am 25. August 2018 feierte die Produktion ihre 500. Aufführung und am 9. August 2022 ihr 25-jähriges Jubiläum. 2010 wurde die Aufführung mit dem Nestroy-Theaterpreis ausgezeichnet.
1974 drehte der englische Regisseur Ken Russell seinen Film Mahler, in dem Alma Mahler ihren todkranken Mann Gustav Mahler auf seiner letzten Reise nach Wien begleitet. Der Film schildert in Rückblenden Erinnerungen und gemeinsames Erleben sowie entsprechende Paraphrasen Ken Russells. 2001 wurde unter der Regie des australischen Regisseurs Bruce Beresford ein weiterer Film über das Leben Alma Mahler-Werfels gedreht (mit Sarah Wynter in der Titelrolle). Der Titel der englisch-deutsch-österreichischen Koproduktion, Die Windsbraut (Bride of the Wind), ist der Titel eines Gemäldes, das Oskar Kokoschka 1913 während seiner Beziehung zu Alma Mahler gemalt hatte (siehe oben). In der dreiteiligen Verfilmung des Bühnenstücks Alma von Paulus Manker (1997/98) wurde Alma Mahler in verschiedenen Lebensaltern gespielt von Susi Nicoletti, Johanna Wokalek, Nicole Ansari und Pamela Knaack. In Mahler auf der Couch (2010) beschrieben Percy Adlon und Felix Adlon intensiv die Ehe Almas mit Gustav Mahler, deren Ehekrise und die in diesem Zusammenhang erfolgte Begegnung Mahlers mit Sigmund Freud (mit Barbara Romaner als Alma Mahler). Die Figur der Alma Mahler trat u. a. auch in Filmen wie Erloschene Zeiten von Krzysztof Zanussi (1987, Elisabeth Trissenaar), Die Manns – Ein Jahrhundertroman von Heinrich Breloer (2001, gespielt von Carola Regnier), Varian’s War (2001, Lynn Redgrave) und Mahler-In gemessenem Schritt (2008/09, Marianne Anska) von Pierre-Henry Salfati auf. Der österreichische Regisseur Dieter Berner verfilmte 2021 Almas Beziehung mit Oskar Kokoschka in Alma und Oskar (Drehbuch: Hilde Berger) mit Emily Cox als Alma.
1994 verfasste der österreichische Schriftsteller Alexander Widner das Stück Dichter, Flucht und Alma. Ein Bergstück., das in Reichenau mit Annemarie Düringer als Alma Mahler uraufgeführt wurde. 1999 kam in Zagreb am Teatar &TD das kroatische Stück Alma Mahler von Maja Gregl und Ivica Boban zur Uraufführung. Der Amerikaner Martin Chervin († 1993) schrieb die one-woman-show Myself, Alma Mahler. Der Amerikaner Gary Kern verfasste 1986 das Stück The Mad Kokoschka, die Französin Francoise Lalande schrieb den Monolog Alma Mahler, der 1987 am Théatre du Cheval Fou à Avignon uraufgeführt wurde. Der Israeli Adi Etzion schrieb 2005 das „Konzert-Drama“ Alma Mahler – Memories of a Muse. Die Australierin Wendy Beckett collagierte 2006 in For The Love of Alma Mahler Almas Geschichte mit der Musik von Gustav Mahler. An der Washington University in Saint Louis entstand 2006 das Stück Kokoschka: A Love Story von Henry I. Schvey. Steffi Böttger ließ 2014 im Kammerspiel „Almas Liebestod“, das Leben Almas aus der Sicht ihrer langjährigen Hausangestellten und Vertrauten, Ida Gebauer, Revue passieren. Der umstrittene Alma-Biograf Berndt W. Wessling verfasste einen Einakter über Alma Mahler-Werfel, Die Windsbraut, der bislang nicht aufgeführt wurde. Das Theaterstück Alma Mahler-Werfel – Die Lust zu brennen von Paula Kühn verwendete 2021 Lieder von Alma Mahler-Werfel und Gustav Mahler. Penny Black schrieb das Solostück Alma Who? Ich lass‘ mir von der Nachwelt nicht in den Hintern schauen, das 2021 im Leopold Museum in Wien von Maxi Blaha uraufgeführt wurde.
1998 entstand am Tanztheater des Tiroler Landestheaters das Ballett Alma – Die Suche nach dem Ich. (Choreografie: Maria Luise Jaska). 1999 schufen Anne-Kathrin Klatt und Jutta Schubert das mehrfach ausgezeichnete Figurentheater-Projekt Mona Alma – die stumme Geliebte über Oskar Kokoschkas Vision der perfekten Frau. 2005 wurde Almas Beziehung zu Oskar Kokoschka Thema des Balletts Die Windsbraut, das am Theater in Krefeld zur Uraufführung kam (Choreografie: Heidrun Schwarz) und Musik von Gustav Mahler, Jean Sibelius, Richard Wagner, Aram Chatschaturjan und Uri Caine verwendete. 2005 kam beim Ravinia Festival in Chicago das Musical Doll (Musik: Scott Frankel, Text: Michael Korie) heraus, das ebenfalls Kokoschkas Beziehung zu Alma Mahler und die Alma-Puppe zum Thema hatte. Anthony Taylor schrieb das Ballett Alma, meine Seele mit der Musik von Mahlers 10. Sinfonie, das im März 2011 am Theater Koblenz zur Aufführung vorgesehen ist. 2011 kam in Hamburg das Ballett „Purgatorio“ von John Neumeier zur Uraufführung, das mit der Musik von Mahlers 10. Sinfonie die Dreiecksgeschichte Alma/Mahler/Gropius des Jahres 1910 zum Inhalt hat und auch Alma Mahlers eigene Lieder miteinbezog. 2012 gelangte an der Deutschen Oper Berlin Mahlermania des Körper- und Tanztheaters Nico and the Navigators zur Uraufführung, in dem Alma als „männerfressende, vom Leben frustrierte, sauflustige Zimtzicke“ dargestellt wird. 2012 entstand The Alma Fetish von Gavin Kostick (Libretto) und Raymond Deane (Musik) über Almas Beziehung zu Oskar Kokoschka. An der Wiener Volksoper kam 2014 das Ballett Ein Reigen von Ashley Page und Antony McDonald zur Aufführung, in dem Alma Mahlers Begegnung mit Gustav Mahler, ihre Affäre mit Oskar Kokoschka und Kokoschkas Puppen-Fetisch einzelne Szenen (mit der Musik von Erich Wolfgang Korngold, Alexander Zemlinsky und Gustav Mahler) gewidmet sind. Das Musical Alma und das Genie (Tom van Hasselt), ein Zwei-Personen-Stück das im Februar 2015 im Theater des Westens uraufgeführt wurde, erhielt den Deutschen Musical Theater Preis in der Kategorie Beste Liedtexte. 2016 wurde Mark Alburgers Oper “Alma Maria Schindler Mahler Gropius Werfel” – an opera in 3 husbands and multiple lovers (all famous) op. 232 in Walnut Creek (Kalifornien) aufgeführt.
Der US-amerikanische Chansonnier Tom Lehrer widmete ihr in den frühen 1960ern sein bewunderndes Spottlied „Alma“, in dem er die Eifersucht aller Frauen auf dieses selten erreichte Vorbild im „Angeln“ berühmter Männer besingt.
Zitate über Alma Mahler-Werfel
Albrecht Joseph, Almas Schwiegersohn, (aus: „Alma Mahler-Werfel, Kokoschka, der Schauspieler George“, unveröffentlichtes Originalmanuskript im Besitz und mit Genehmigung des Weidle-Verlages Bonn)
Literatur
Biografische Quellen
Autobiografisches
Tagebuch-Suiten 1898–1902. Hrsg. v. Antony Beaumont und Susanne Rode-Breymann, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-15220-8.
Alma Mahler: Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe. Allert de Lange, Amsterdam 1940.
Alma Mahler: Erinnerungen an Gustav Mahler. Hrsg. von Donald Mitchell. Ullstein, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-549-17445-4, NA: als Ullstein-Bücher Nr. 3526, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980, ISBN 3-548-03526-4.
Alma Mahler: And the Bridge is Love. In collaboration with E. B. Ashton. Harcourt, Brace & Co., New York 1958.
Alma Mahler: Mein Leben, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1963, ISBN 3-596-20545-X.
Briefe
Ein Glück ohne Ruh'. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste Gesamtausgabe. Hrsg. v. Henry-Louis de La Grange, Günter Weiss und Knud Martner. Siedler Verlag, Berlin 1995; Btb Goldmann, München 1997, ISBN 3-88680-577-8.
Gustav Mahler. Briefe 1879–1911. Hrsg. von Alma Maria Mahler. Wien 1924. Englische Übersetzung Selected Letters of Gustav Mahler, hg. von Knud Martner. London-Boston 1979.
Friedrich Torberg: Liebste Freundin und Alma. Briefwechsel mit Alma Mahler-Werfel. Hrsg. von David Axmann u. Marietta Torberg. Langen Müller, München 1987, ISBN 3-7844-2157-1.
Immer wieder werden mich thätige Geister verlocken. Alma Mahler-Werfels Briefe an Alban Berg und seine Frau. Herausgegeben von Martina Steiger. Seifert Verlag, Wien 2008, ISBN 978-3-902406-55-2 (Rezension Peter Sommeregger auf info-netz-musik; abgerufen am 11. Dezember 2014).
Ich möchte solange leben, als ich Ihnen dankbar sein kann. Alma Mahler – Arnold Schönberg. Der Briefwechsel. Herausgegeben von Haide Tenner. Residenz Verlag, Sankt Pölten 2012, ISBN 978-3-7017-3265-4.
Sekundärliteratur
Martina Bick: Musikerinnen um Gustav Mahler, Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020, S. 58–64.
Francoise Giroud: Alma Mahler oder die Kunst, geliebt zu werden. München 1988, Wien 1990, ISBN 3-552-04114-1 (Alma Mahler, ou l'art d'être aimée. Robert Laffont, Paris 1985. ISBN 2-221-05455-5) (Giroud sieht Alma Mahler-Werfel als frühe Feministin).
Cate Haste: Passionate Spirit: The Life of Alma Mahler. Bloomsbury, London 2019, ISBN 978-1-4088-7832-3.
Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Siedler, München 2004, ISBN 3-88680-797-5 (Hilmes verarbeitet erstmals Alma Mahler-Werfels Originalfassung ihrer Autobiografie) / Witwe im Wahn. Rezension Hörbuch, gelesen von Paulus Manker. Random House Audio, 2006.
Sandra Marchl: Alma Mahler-Werfel in der Biographik. Die Dekonstruktion einer Legende. Graz, 2009.
Karen Monson: Alma Mahler-Werfel. Die unbezähmbare Muse. München 1985, ISBN 3-453-55130-3.
Alma Schindler, Gattin des Gustav Mahler. In: Francoise Xenakis: Frau Freud ist wieder mal vergessen worden! Knaur, München 1988, ISBN 3-463-40037-5 (Fiktive Biografie der Zeit mit Gustav Mahler).
Erich Rietenauer: Alma, meine Liebe. Persönliche Erinnerungen an eine Legende. Amalthea, Wien 2008. Rezension
Susanne Rode-Breymann: Die Komponistin Alma Mahler-Werfel (= prinzenstraße. Hannoversche Hefte zur Theatergeschichte, Doppelheft 10, 158 Seiten), mit einer CD-Rom (mit 3 Liedern von Mahler-Werfel), Niedersächsisches Staatstheater, Hannover 1999, ISBN 3-931266-06-0.
Susanne Rode-Breymann: Artikel Alma Mahler-Werfel in MGG 2, Bd. 11, 2004.
Susanne Rode-Breymann: Alma Mahler-Werfel. Muse-Gattin-Witwe. C.H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66962-0.
Danielle Roster: Alma Mahler-Schindler. In: Danielle Roster: Die großen Komponistinnen. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-458-33816-0, S. 267–291 (Mit Bibliografie und Diskografie in Auswahl).
Jörg Rothkamm: Wer komponierte die unter Alma Mahlers Namen veröffentlichten Lieder? Unbekannte Briefe der Komponistin zur Revision ihrer Werke im Jahre 1910. In: Die Musikforschung 53. Jg., 2000, H. 4, S. 432–445.
Robert Schollum: Die Lieder von Alma Schindler-Mahler. In: Österreichische Musikzeitschrift. Wien 1979, 8, , S. 544–551.
Astrid Seele: Alma Mahler-Werfel. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2001, ISBN 3-499-50628-9 (Mit einer Charakterisierung Alma Mahlers und einer ausführlichen Berücksichtigung des Briefwechsels Alma Mahlers mit Friedrich Torberg).
Melanie Unseld: Artikel „Alma Mahler“. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 17. April 20
Paulus Manker: Das große Alma Mahler Album. 280 Photographien (davon 70 unveröffentlicht) und 340 Zitate, mit persönlichen Erinnerungen von Peter Altenberg, Alban und Helene Berg, Leonard Bernstein, Franz Blei, Elias Canetti, Sigmund Freud, Claire Goll, Gina Kaus, Gustav Klimt, Ernst Krenek, Anna Mahler, Katja Mann, Klaus Mann, Robert Musil, Erich Maria Remarque, Arthur Schnitzler, Arnold Schönberg, Lothar Schreyer, Marietta Torberg, Kurt Weill, Alexander von Zemlinsky und Carl Zuckmayer sowie unveröffentlichte Erinnerungen von Almas Schwiegersohn Albrecht Joseph. Amalthea Verlag, Wien 2022; ISBN 978-3-99050-232-7
Gustav Mahler
Kurt Blaukopf: Gustav Mahler oder Der Zeitgenosse der Zukunft. Dtv, München 1980, ISBN 3-423-00950-0.
Henry-Louis de La Grange: Gustav Mahler. Fayart, Paris 1979–1984. (1860–1900. Paris 1979, 2006, ISBN 2-213-00661-X; L'âge d’or de Vienne 1900–1907. Paris 1983, ISBN 2-213-01281-4; Le génie foudroyé 1907–1911. Paris 1984, ISBN 2-213-01468-X).
Henry-Louis de la Grange, Günther Weiß, Knud Martner: Ein Glück ohne Ruh'. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste Gesamtausgabe. Siedler, Berlin 1995, ISBN 3-88680-577-8.
Jens M. Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Zsolnay, Wien 2003, ISBN 3-552-05273-9 (mit einer ausführlichen Darstellung der Ehe zwischen Gustav Mahler und Alma Mahler-Werfel).
Oliver Hilmes: Im Fadenkreuz. Politische Gustav-Mahler-Rezeption 1919–1945. Eine Studie über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an der Moderne. P. Lang, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-631-51041-1.
Jörg Rothkamm: „Ein componierendes Ehepaar“? Eine unpublizierte Liedfassung des sogenannten Erntelieds (Gesang am Morgen) in der Handschrift Gustav Mahlers im Lichte des Briefwechsels von Alma Mahler und Walter Gropius. In: Nachrichten zur Mahler-Forschung. 72. Jg., 2018, S. 7–34 (englische Version: ‚A husband and wife who are both composers‘? An unpublished song version of the so-called ‚Erntelied‘ (‚Gesang am Morgen‘) in the hand of Gustav Mahler in light of the correspondence between Alma Mahler and Walter Gropius. In: News about Mahler Research 72, 2018, pp. 7–34.)
Walter Gropius
Reginald B. Isaacs: Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk. Ullstein, Frankfurt 1985, ISBN 3-548-27544-3; Frankfurt 1986, ISBN 3-548-27548-6.
Oskar Kokoschka
Oskar Kokoschka: Mein Leben. Bruckmann, München 1971.
Oskar Kokoschka: Briefe. Claassen, Düsseldorf (1905–1919. Düsseldorf 1984. ISBN 3-546-45580-0; 1919–1934. Düsseldorf 1985. ISBN 3-546-45582-7; 1934–1953. Düsseldorf 1986. ISBN 3-546-45584-3; 1953–1976. Düsseldorf 1988. ISBN 3-546-45586-X).
Alfred Weidinger: Kokoschka und Alma Mahler. Dokumente einer leidenschaftlichen Begegnung. Prestel, München 1996, ISBN 3-7913-1711-3.
Franz Werfel
Norbert Abels: Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 2002, ISBN 3-499-50472-3.
Lore B. Foltin: Franz Werfel. Metzler, Stuttgart 1972, ISBN 3-476-10115-0.
Peter Stephan Jungk: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Fischer, Frankfurt/M. 2001, ISBN 3-596-14975-4.
Johannes Hollnsteiner
Friedrich Buchmayr: Der Priester in Almas Salon. Johannes Hollnsteiners Weg von der Elite des Ständestaates zum NS-Bibliothekar. Verlag der Bibliothek der Provinz, Weitra 2003, ISBN 3-85252-461-X.
Zeitzeugen
Alma Mahler-Werfel, die mit vielen europäischen Kulturschaffenden des 20. Jahrhunderts bekannt war, wird außerdem in zahlreichen Biografien charakterisiert:
Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937. Fischer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-29140-2.
Milan Dubrović: Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafes. Aufbau-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-7466-1703-0.
Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. Droemer Knaur, München 1999, ISBN 3-426-72223-2.
Gina Kaus: Von Wien nach Hollywood. Erinnerungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-518-38257-8.
Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Hoffmann und Campe, Hamburg 1998, ISBN 3-455-11170-X.
Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Fischer, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-14673-9.
Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Rowohlt, Reinbek 2006, ISBN 3-499-24409-8.
Gottfried Reinhardt: Der Liebhaber. Erinnerungen seines Sohnes Gottfried Reinhardt an Max Reinhardt. Droemer Knaur, München 1975, ISBN 3-426-00414-3.
Walter Slezak: Wann geht der nächste Schwan? Piper, München 1989, ISBN 3-492-10769-9.
Bruno Walter: Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken. Fischer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-10-390502-5.
Berta Zuckerkandl: Österreich intim. Erinnerungen 1892–1942. Ullstein, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-548-20985-8.
Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-034112-0.
Belletristik
Hilde Berger: Ob es Hass ist solche Liebe. Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Boehlau, Wien 1999, ISBN 3-205-99103-6; Aufbau Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-7466-7078-2 (Biografischer Roman).
Max Phillips: Ich nehme jeden, der mir gefällt. Das leidenschaftliche Leben der Alma Mahler. Lübbe, Bergisch Gladbach 2002, ISBN 3-404-92182-8 (Original: The artist’s wife. New York 2002. ISBN 0-8050-6670-5) (Biografischer Roman).
Julya Rabinowich: Krötenliebe. Deuticke, Wien 2016, ISBN 978-3-552-06311-2.
Joshua Sobol: Alma – A Show Biz ans Ende (Polydrama). Hrsg. von Paulus Manker, mit unveröffentlichten Photos aus Alma Mahlers Privatbesitz. Wien 1998 (Simultandrama in dreißig Szenen, ergänzt mit historischen Fotos).
Hörbilder
Susanne Ayoub Almas kleiner Fotograf, Hörbild ORF Wien und Deutschlandfunk Köln 2012
Weblinks
Originalstimme Alma Mahler-Werfel
Biografie von Alma Mahler-Werfel mit Abbildungen
Melanie Unseld: Artikel „Alma Mahler“. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 17. April 2018.
Lied als MP3-Datei auf www.alma-mahler.at
A Monster of our Century – Interview über Alma Mahler (englisch)
The Lost Ones: Alma Mahler – Muse und Femme fatale Film von Mathilde Hirsch, Frankreich 2019.
Lied-Portal
Alma von Tom Lehrer
Einzelnachweise
Komponist (Österreich)
Österreichischer Emigrant zur Zeit des Nationalsozialismus
Komponist klassischer Musik (20. Jahrhundert)
Salonnière
Ehepartner einer berühmten Person
Brief (Literatur)
Musiker (Wien)
Franz Werfel
Gustav Mahler
Oskar Kokoschka
Österreichischer Emigrant in den Vereinigten Staaten
Mitglied des Österreichischen P.E.N.-Clubs
Person (Cisleithanien)
Österreicher
Geboren 1879
Gestorben 1964
Frau
Walter Gropius
Mitglied der Familie Gropius |
102104 | https://de.wikipedia.org/wiki/Festung%20Ehrenbreitstein | Festung Ehrenbreitstein | Die Festung Ehrenbreitstein ist eine seit dem 16. Jahrhundert bestehende, ursprünglich kurtrierische, später preußische Befestigungsanlage gegenüber der Moselmündung in Koblenz.
Ihr barocker Vorgängerbau, der auf eine um das Jahr 1000 errichtete Burg zurückging, war zeitweilig Residenz der Kurfürsten von Trier und wurde 1801 von französischen Revolutionstruppen gesprengt. In ihrer heutigen Gestalt wurde die Zitadelle (eigentlich „Feste Ehrenbreitstein“ genannt, geplanter Name war „Feste Friedrich Wilhelm“) zwischen 1817 und 1828 unter Leitung des preußischen Ingenieur-Offiziers Carl Schnitzler neu errichtet. Sie war Teil der Anfang des 19. Jahrhunderts errichteten preußischen Festung Koblenz und gehörte zum System Oberehrenbreitstein. Von der preußischen Armee bis 1918 militärisch genutzt, diente sie im System der Koblenzer Festungswerke der Sicherung des Mittelrheintals und der gesamten Verkehrsinfrastruktur, d. h. Bahnwege und Flussübergänge bei Koblenz.
Heute ist sie Eigentum des Landes Rheinland-Pfalz und beherbergt das Landesmuseum Koblenz, die Koblenzer Jugendherberge, das Ehrenmal des Deutschen Heeres sowie verschiedene Verwaltungsstellen. Zur Bundesgartenschau 2011 wurden in die Veranstaltungsfläche Teile des Festungsgeländes sowie das Vorgelände einbezogen. Auf letzterem entstand ein großzügiger Landschaftspark mit Aussichtsplattform.
Lage
Die Festung Ehrenbreitstein liegt auf einem 180 m hohen Bergsporn gleichen Namens, dessen schroffe Felshänge im Koblenzer Stadtteil Ehrenbreitstein in das Rheintal auslaufen. Dadurch musste nur der Hügelrücken, zum Plateau im Nordosten hin, besonders stark verteidigt werden. Im 19. Jahrhundert galt die preußische Festung Ehrenbreitstein als uneinnehmbar, zum einen durch ihre Lage auf dem gleichnamigen Berg und zum anderen, weil der Feind stets von allen Seiten durch die anderen Festungen und Forts im Festungsverbund attackiert werden konnte. Der Ehrenbreitstein wird auf drei Seiten – im Süden, im Osten und im Westen zum Rhein hin – von hohen Steilhängen begrenzt. Die Festung ist vom Rheinufer her, am Vorwerk Helfenstein vorbei, sowie vom Bergplateau im Norden zugänglich. Der für Verteidigungszwecke ideal geeignete Bergsporn wurde seit frühester Zeit für militärische Anlagen genutzt.
Geschichte der militärischen Nutzung
Vorgeschichte
Die Besiedlung des Ehrenbreitsteins ist schon für die Zeit um 4000 v. Chr. nachgewiesen. Bei Ausgrabungen im Frühjahr 2005 wurden unter der Großen Traverse (genauer: unter dem östlichen Kuppelsaal) Reste eines Pfahlgrabens aus dem 10. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Er war Teil einer bronzezeitlichen Wehranlage, die sich auf dem Südteil des Bergsporns befand. An einer nur etwa 30 Meter breiten Stelle sicherte die von hinten mit Erde verstärkte Palisade den südlichen Teil des Bergsporns gegen die einzige Zugangsmöglichkeit im Norden. Bei einer archäologischen Ausgrabung wurden 2003 unter dem Fahnenturm Reste eines keltischen Adelssitzes entdeckt. Aus der Römerzeit stammen Funde von Pfeilschleudergeschossen, Gefäßen und Münzen, die eine römische Nutzung des Felsens erkennen lassen. Auf dem südlichen Felssporn befand sich etwa von 250 bis 450 ein spätrömischer Burgus zum Schutz der Moselmündung, der Römerstraßen und des nahe gelegenen Limes. Keramikfunde aus karolingischer Zeit lassen eine mittelalterliche Befestigung im 8. oder 9. Jahrhundert vermuten.
Burg Ehrenbreitstein
Um das Jahr 1000 befand sich hier wohl die von Erembert oder Ehrenbrecht aus lahngauisch-konradinischem Grafengeschlecht errichtete Burg Ehrenbreitstein. Nach einer ersten urkundlichen Erwähnung ging sie nach Kauf durch Erzbischof Poppo von Babenberg um 1020 in den Besitz der Fürstbischöfe von Trier über. Die Burg war der Brückenkopf für den rechtsrheinischen Besitz des Kurfürstentums Trier und galt als dessen sicherste Burg. So wurden hier in unsicheren Zeiten bedeutende Heiligtümer des Landes aufbewahrt, z. B. der Kopf des heiligen Matthias (Bistumspatron) von 1380 bis 1422 und der Heilige Rock mit wenigen kurzen Unterbrechungen von 1657 bis 1794.
Die Burg wurde um 1160 von Erzbischof Hillin von Fallemanien ausgebaut. Ein in dieser Zeit gebauter Halsgraben, der sogenannte Hellengraben, konnte unter der Großen Traverse nachgewiesen werden. Er erneuerte die erzbischöflichen Häuser, vertiefte den Halsgraben, errichtete dahinter den fünfeckigen Bergfried und ließ eine Zisterne anlegen. Es folgten noch weitere Aus- und Umbauten, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert der Ausbau der Burg zur Festung. Gelegentlich taucht der Name Festung Hermannstein in alten Grafiken auf. Er beruht offensichtlich auf Fehlern der Grafiker.
Südlich entstand um 1160 auf einem Bergsporn die Burg Helfenstein, die von der Familie von Helfenstein bis ins 14. Jahrhundert bewohnt wurde und danach verfiel. Mit Bau der preußischen Festung wurde die Burgruine vom Fort Helfenstein überbaut.
Ausbau zur kurtrierischen Festung
Erzbischof Richard von Greiffenklau zu Vollrads begann im frühen 16. Jahrhundert wegen der voranschreitenden Kriegstechnik mit dem Ausbau der Burg zu einer Festung. Die Anlage wurde auf der Nordseite mit einem Graben und Bastionen versehen. Die Errichtung des Zeughauses geht ebenfalls auf seine Initiative zurück. Greiffenklau ließ auch die ersten Kanonen für die neue Festung gießen. Die größte dieser Kanonen ist die 1524 von Meister Simon aus Frankfurt am Main gegossene, neun Tonnen schwere und 4,66 Meter lange Belagerungskanone Greif. Nach der Eroberung des Ehrenbreitsteins durch die Franzosen 1799 wurde die Kanone nach Frankreich gebracht. 1940, nach der Eroberung Frankreichs, kam sie kurzzeitig zurück, wurde aber 1946 wieder nach Paris gebracht. 1984 kam sie während der Amtszeit des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, der auf dem Ehrenbreitstein einen entsprechenden Vertrag mit Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichnete, als Dauerleihgabe auf die Festung zurück.
Um 1600 entstand unter der Leitung des Festungsbaumeisters Johann (II.) von Pasqualini, einem Enkel von Alessandro Pasqualini, eine Bastion vor der Festung. Unterhalb und im Schutze dieser ließ Kurfürst und Erzbischof Philipp Christoph von Sötern 1626 bis 1629 das Schloss Philippsburg erbauen und verlegte 1629 seine Residenz aus dem inzwischen unsicher gewordenen Trier hierher. Im Dreißigjährigen Krieg wechselte die Festung Ehrenbreitstein zweimal den Besitzer, nachdem der Erzbischof 1631 zunächst Frankreich das Besatzungsrecht eingeräumt hatte und französische Truppen am 5. Juni 1632 die Festung besetzt hatten. Drei Wochen später kapitulierte die Stadt Koblenz und wurde ebenfalls besetzt. Im Oktober 1635 traten die Franzosen nach einem Bündnis mit dem Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar in den Krieg ein. Nachdem der Erzbischof 1635 von kaiserlichen Truppen gefangen genommen und Trier erobert worden war, befreiten diese im Mai 1636 auch Koblenz. Die Franzosen kontrollierten jedoch weiter die Festung als Brückenkopf auf der rechten Rheinseite. Um den Ehrenbreitstein zur Übergabe zu bringen, zog schließlich Johann von Werth, der bereits über 30 Siege gegen die Franzosen errungen hatte und daher als der Franzosenschreck bekannt war, von Köln aus gegen die Festung. Nach einer Belagerung, bei der es ihm gelang, die französischen Truppen auszuhungern, kapitulierte die Festung am 27. Juni 1637 und blieb bis zum Kriegsende unter kaiserlicher Besatzung.
Der Ehrenbreitstein fiel 1650 wieder zurück an Kurtrier. Die Erzbischöfe Karl Kaspar von der Leyen und Johann Hugo von Orsbeck ließen im 17. Jahrhundert die Festung weiter ausbauen. Letzterer ließ den Hellengraben nach den Beschießungen der Stadt Koblenz 1688 im Pfälzischen Erbfolgekrieg mit Trümmerschutt verfüllen und darüber einen mehrgeschossigen repräsentativen Residenzbau errichten. Erzbischof Franz Georg von Schönborn begann 1729 mit dem weiteren Ausbau der Anlage zu einer barocken Festung. Den beiden Wällen im Norden ließ er noch die neuen Schönborn-Werke vorlegen. Balthasar Neumann plante diesen Wall mit Graben, gedecktem Weg und Gegenminensystem um 1730. Auf der Rheinseite und dem Helfenstein wurden zusätzliche Batterien aufgestellt.
Am 23. Oktober 1794 eroberten französische Revolutionstruppen im Ersten Koalitionskrieg die Stadt Koblenz und belagerten ab 1795 viermal die Festung. Am 27. Januar 1799 wurde sie nach fast einjähriger Blockade übergeben, weil die Besatzung kaum noch Verpflegung hatte. Durch den Frieden von Lunéville waren die Franzosen 1801 gezwungen, das rechte Rheinufer aufzugeben, also auch den Ehrenbreitstein. Um sie nicht den Gegnern zu überlassen, sprengten sie die barocke Festung planmäßig. Das darunter liegende Schloss Philippsburg wurde bei der Sprengung so in Mitleidenschaft gezogen, dass es abgebrochen werden musste. Die Ruinen der Festung gingen 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss für kurze Zeit an das Fürstentum Nassau-Weilburg (das spätere Herzogtum Nassau) über.
Neubau als preußische Festung
Nach den Wiener Kongress 1814/1815 ging das Territorium des Trierer Kurstaates als Teil der Rheinprovinz an das Königreich Preußen über. Am 11. März 1815 erließ König Friedrich Wilhelm III. die „Order zur Neubefestigung der Stadt Coblenz und der Festung Ehrenbreitstein“. In den folgenden Jahren entstand die Festung Koblenz, eines der umfangreichsten Festungssysteme Europas, gebaut nach den damals modernsten Erkenntnissen, der „Neupreußischen Befestigungsmanier“.
Die drei Hauptbefestigungswerke der Festung Koblenz sollten die Namen der drei Monarchen der an den Befreiungskriegen beteiligten Länder Preußen, Österreich und Russland erhalten, die sich zur Heiligen Allianz zusammengeschlossen hatten. Es gab offenbar kurzzeitig Überlegungen, die Festung Ehrenbreitstein nach dem preußischen König Feste Friedrich Wilhelm zu nennen, doch man entschied sich schließlich für den historischen Namen Ehrenbreitstein.
Unter Einbeziehung von Resten der zerstörten kurtrierischen Festung auf dem Ehrenbreitstein errichteten die preußischen Militärs und führenden Ingenieuroffiziere General der Infanterie Gustav von Rauch, Generalinspekteur der preußischen Festungen, Generalmajor Ernst Ludwig von Aster, Inspekteur der rheinischen Festungen, Generalmajor Claudius Franz Le Bauld de Nans und Generalmajor Gotthilf Benjamin Keibel eine weitläufige Zitadelle, die bis heute das Stadtbild beherrscht.
In Koblenz entstand eines der größten militärischen Bollwerke am Rhein, von dem heute nur noch der Ehrenbreitstein nahezu vollständig erhalten ist. Der Bau der neuen Feste Ehrenbreitstein dauerte von 1817 bis 1828. Sie war jedoch nur ein Teil der groß angelegten preußischen Festung Koblenz und Ehrenbreitstein, die erst 1834 fertiggestellt wurde. Die größte in der Zeit gebaute Feste, die Feste Kaiser Alexander, stand auf dem Bergrücken über dem ehemaligen Kloster, der Karthause. Nach der Fertigstellung der Festung Ehrenbreitstein wurden vorgelagert noch das Werk Nöllenkopf und das Werk Pleitenberg zur Verstärkung angelegt.
An der Errichtung der Festung waren unter der Leitung von Carl Schnitzler nachfolgende Ingenieur-Offiziere in der Aufbauphase bis etwa 1832 beteiligt:
Julius Theodor Berggold (* 7. Mai 1798 in Dresden; † 12. Juli 1842 in Münster), kam 1816 als sächsischer Tranchee-Sergeant ins preußische Ingenieur-Korps, 1828 in Koblenz (Werke Nöllenkopf und Pleitenberg, Ober-Ehrenbreitstein), zuletzt Hauptmann und Garnison-Baudirektor in Münster.
August Donant
Carl (Johann Georg David) Moser (* 10. August 1786 in Berlin; † 26. Januar 1842 in Neisse), 1813 Sekondeleutnant im preußischen Ingenieur-Korps, 1816–1820 in Koblenz, zuletzt Major und Platz-Ingenieur in Neisse.
Johann Ludwig Piepersberg (* 6. Mai 1796 in Emden; † 21. April 1858 in Berlin), 1820 ins preußische Ingenieur-Korps gekommen, 1831–1832 in Koblenz, zuletzt Hauptmann und Plankammer-Inspekteur in Berlin.
Freiherr von Rosenberg († 7. Januar 1849 in Ziegenhals im Landkreis Neisse), 1813 Sekondeleutnant im preußischen Ingenieur-Korps, 1817–1822 in Koblenz (Ober- und Nieder-Ehrenbreitstein), zuletzt Hauptmann und Platz-Ingenieur in Neisse, 1839 als Major verabschiedet.
Friedrich Sterzel
Wilhelm Theodor Ludwig von Winterfeld
Zeit der Weltkriege
Nach 1919 sollte der Ehrenbreitstein gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags geschleift werden. Jedoch sah die Interalliierte Militär-Kontrollkommission (IMKK) in Berlin am 25. Februar 1922 davon ab, nachdem unter anderem auf Seiten der Alliierten der US-amerikanische General Henry Tureman Allen und auf deutscher Seite der Oberstleutnant a. D. Eduard Hüger, bis 1924 Leiter des Koblenzer Entfestigungsamtes, sich mit Hinweis auf den kulturellen Wert der Festung vehement für deren Erhalt eingesetzt hatten. Zunächst besetzten 1918 amerikanische Truppen den Ehrenbreitstein. Ihnen folgten in den Jahren 1923 bis 1929 französische Soldaten. Am 25. Februar 1922 verfügte die I.M.K.K. offiziell die Erhaltung der Festung Ehrenbreitstein.
Im Zuge der Remilitarisierung des Rheinlands zogen 1936 wieder deutsche Soldaten auf den Ehrenbreitstein ein. Von Herbst 1936 bis Juni 1939 nutzte eine Panzerabwehreinheit, die 14. Kompanie des Infanterie-Regiments 80, Landbastion und Hohe Ostfront als Kaserne. Im Zweiten Weltkrieg lagerten in den Kasematten Kunstgüter und Archivbestände aus Koblenz, Köln und Wuppertal. Zufällige Bombentreffer zeigten jedoch, dass die Kasematten keinen ausreichenden Schutz gegen Bomben boten. Als Teil der Luftverteidigung von Koblenz standen seit spätestens 1941 auf der Festung drei Flak-Geschütze (Dächer der Rheinbastion, Contregarde Links und der Niedere Ostfront). Im Felsen unter der Festung, genauer unter dem Helfenstein, entstand 1943 ein Luftschutzbunker, dessen Stollen bis zu 10.000 Menschen aus Ehrenbreitstein und umliegenden Stadtteilen sowie Reisenden vom Bahnhof Ehrenbreitstein Schutz gegen Luftangriffe bieten sollten. Obwohl die Stadt Koblenz durch Luftangriffe zu 87 % zerstört wurde, erlitt die Festung kaum Schäden (lediglich im Bereich der Langen Linie und des Fahnenturms).
Am 19. Dezember 1944 fuhren von der Festung erste Eisenbahnwaggons mit Archivalien ab. Im Ganzen zwölf Waggons wurden nach und nach mit wertvollen Beständen der Staatsarchive Koblenz und Düsseldorf beladen und nach Salzdetfurth geschickt.
Am 27. März 1945 besetzten US-Soldaten die Festung. Mitte 1945, als die französische Besatzungszone geschaffen wurde, lösten französische Soldaten sie ab.
Strategische Bedeutung
Der Ehrenbreitstein bildete das Hauptbollwerk der Festung Koblenz, die einen Gesamtumfang von 14 km besaß. Damit war die Festung Koblenz, nach ihrem Ausbau in preußischer Zeit, eine der größten Befestigungsanlagen Europas. Sie erlangte zwar nie die strategische Bedeutung Gibraltars oder der, zwischen 1867 und 1883 geschleiften Festung Luxemburg („Gibraltar des Nordens“); die Festung Koblenz galt aber, wie Gibraltar selbst, zumindest zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung als uneinnehmbar. Vom Umfang der Festungswerke her war die Festung Koblenz in etwa gleichauf mit den Paris und der Festung Köln.
Der Ehrenbreitstein wurde auf die Verteidigung gegen alle damals bekannten Waffen und Angriffsarten optimiert. Unter anderem bestimmten die Schussweiten der damaligen Feuerwaffen die Dimensionen der Anlage. Im Kriegsfall sollten 1500 Soldaten mit 80 Geschützen den Ehrenbreitstein verteidigen. Die Festung wurde wegen außenpolitischer Ereignisse und Revolutionen insgesamt acht Mal armiert, d. h. verteidigungsbereit gemacht, doch sie wurde nie angegriffen, abgesehen von acht Luftangriffen im Ersten Weltkrieg auf Koblenz ab Oktober 1917.
Im Gegensatz zu der vormaligen kurtrierischen Festung wurde die Anlage nicht mit Söldnern, sondern ausschließlich mit Berufssoldaten und Wehrpflichtigen bemannt. Nach der Heeresreform von 1808 war der Aufenthalt sogar verhältnismäßig komfortabel. So hatte beispielsweise jeder Soldat sein eigenes Bett, und die neu errichteten Kasematten (gegen Kanonenbeschuss und Bomben gesicherte Räume), die hier auch als Unterkunft dienten, wurden mit Ofenheizung und Fenstern ausgestattet.
Die gesamte Festung Koblenz stand bis 1890 im aktiven Dienst, wurde aber ab 1886 bereits als Festung minderer Wichtigkeit geführt. Ab 1890 begann wegen der fortschreitenden Kriegstechnik die Auflassung der linksrheinischen Festungswerke. Die rechtsrheinischen Festungswerke mit dem Ehrenbreitstein blieben, mit Ausnahme der Bienhornschanze, noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges einsatzbereit. Die letzte Besatzung des Ehrenbreitsteins bildeten das III. Bataillon des Infanterie-Regiments „von Goeben“ (2. Rheinisches) Nr. 28 und das II. Bataillon des Schleswig-Holsteinischen Fußartillerie-Regiments Nr. 9, im Ersten Weltkrieg dann vor allem noch die Ersatzformationen des letzteren Regiments.
Geschichte der zivilen Nutzung
Haftort in preußischer Zeit
Die Hauptnutzung der preußischen Festung Ehrenbreitstein war die als Verteidigungsbauwerk und Kaserne. Daneben dienten einige Teilbereiche jedoch dem Strafvollzug. Von den 1830er Jahren bis 1909 verbüßten dort Offiziere wie Zivilisten Festungsarrest bzw. Festungshaft, eine Strafe, die nicht als ehrenrührig galt. Die Hafträume befanden sich zunächst in der Oberen Terrassenbatterie, vielleicht auch zeitweise auf dem Helfenstein, und ab 1878 als „Festungs-Stubengefangenen-Anstalt“ in der Landbastion. Hier saßen vor allem politische Gefangene und Duellanten ein. Wer wegen anderer Straftaten eine Festungshaft verbüßen musste, erfuhr dadurch einen Gnadenerweis. Zu den Festungshäftlingen auf dem Ehrenbreitstein gehören der Arzt und Java-Forscher Franz Junghuhn (1832/33), der Diplomat Alfred von Kiderlen-Waechter (1894) und der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers (1897).
Daneben saßen von den 1830er Jahren bis 1878 Festungssträflinge auf dem Ehrenbreitstein ein, die zu Festungs-Bauarbeiten verurteilt waren. Diese Form der gerichtlich verordneten Zwangsarbeit galt indes für Delinquenten als ehrenrührig bzw. unehrenhaft und führte zu einem zeitweiligen oder dauerhaften Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Zellen der Sträflinge befanden sich auf dem Helfenstein und zuletzt in der Landbastion. In der Langen Linie bestand von 1878 bis 1909 eine „Arbeiter-Abteilung“, deren Insassen auch zu Bauarbeiten herangezogen wurden. In der Langen Linie wurde im November 1914 eine Arrestanstalt eingerichtet, die die Überbelegung der Militär-Arrest-Anstalt in Koblenz ausgleichen sollte. Sie wurde nur für eine begrenzte Zeit benutzt und 1917 noch einmal reaktiviert. Soldaten, die in Koblenz und Ehrenbreitstein stationiert waren, verbüßten hier Arreststrafen, die häufigsten Strafen in der Truppe. Vier der Arrestzellen können seit dem 15. April 2011 als Teil des „Wegs zur Festungsgeschichte“ besichtigt werden. Zusätzlich waren schon 1863 in die rechte Kasematte des Grabentors zwei Zellen für den strengen Arrest eingebaut worden. Diese standen unter der Aufsicht der Grabentorwache, die als Garnisonwache ständig besetzt war.
Archiv und Bergungsort
Über ihre Bedeutung als Wehranlage hinaus war die kurtrierische Festung Ehrenbreitstein als sicherster Ort des Erzbistums und Kurfürstentums Trier auch zeitweise Bergungsort des Heiligen Rocks, der wichtigsten Reliquie im Trierer Dom. Schon die Burg Ehrenbreitstein hatte eine besondere Reliquie geborgen, das Haupt des Apostels Matthias, das zwischen 1362 und 1381 aus der Koberner Matthiaskapelle auf den Ehrenbreitstein kam und frühestens 1418 in den Trierer Domschatz überführt wurde. Die erste Bergung des Heiligen Rocks auf der Festung Ehrenbreitstein erfolgte im Dreißigjährigen Krieg und endete 1628. Erneut befand er sich in einem Gewölbe nahe dem Großen Zeughaus in den Jahren 1632–1652, 1657, 1667–1759, 1765 bis ca. 1790 und 1792–1794. In den Jahren 1667–1759 wurde die Reliquie einigen besonderen Gästen des Erzbischofs gezeigt. Am 4. Mai 1765, von 8 bis 12 Uhr, gab es eine öffentliche Zeigung der Tunika Christi auf dem Ehrenbreitstein.
Im Zweiten Weltkrieg wurden 1941 zum Schutz vor den Luftangriffen auf Koblenz die Archivalien des Staatsarchivs Koblenz in die Festung Ehrenbreitstein ausgelagert. Nach einem Bombentreffer wurden diese im Dezember 1944 kurzzeitig in das Kalibergwerk Salzdetfurth bei Hildesheim ausgelagert, bevor sie 1946 wieder auf den Ehrenbreitstein zurückkehrten. Mit Bau eines neuen Archivgebäudes kamen sie 1956 zurück in die Obhut des Staatsarchivs, das heutige Landeshauptarchiv Koblenz.
Verschiedene weitere Archive brachten Bestände auf den Ehrenbreitstein, die Staatsarchive Aurich, Düsseldorf, Hamburg, Kiel, Luxemburg, Osnabrück und Wiesbaden, die Stadtarchive Köln, Mainz, Neuwied, Moers, Recklinghausen und Nieder- und Oberlahnstein, dazu das Rheinische Provinzialkirchenarchiv Bonn und das Fürstlich Wiedische Archiv Neuwied. Insbesondere Kölner Museen brachten auch Teile ihrer Bestände auf den Ehrenbreitstein, so das Wallraf-Richartz-Museum, das Schnütgen-Museum, das Kunstgewerbemuseum und das Museum für ostasiatische Kunst. Das Städtische Museum Wuppertal-Elberfeld (heute: Von-der-Heydt-Museum) brachte Bestände auf die Festung. Auch Bibliotheken verbrachten Bestände auf den Ehrenbreitstein, so die Stadtbibliotheken Düsseldorf, Essen und Wuppertal-Elberfeld. Ebenfalls auf dem Ehrenbreitstein geborgen wurden die Zweitschriften bzw. Nebenschriften der Standesämter und Kirchenbücher, die das Landessippenamt in Düsseldorf verwahrte.
Vielfältige Nutzung seit Ende des Zweiten Weltkrieges
Seit etwa 1946 unterhielt die Internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) auf der Festung ein Lager für Displaced Persons. Eine besondere Kolonie bildeten ungarische Flüchtlinge (zeitweise bis zu 350 Personen), die für die Franzosen als Bautrupp im Rahmen des Wiederaufbaus arbeiteten. Sie bauten einen Teil des Kriegs-Pulvermagazins der Contregarde rechts zu einer katholischen Kapelle um, der „Ungarn-Kapelle“. Das Lager wurde am 15. Oktober 1950 aufgelöst. Ab Sommer 1949 zogen verstärkt Koblenzer Familien in die Festung ein, die erst jetzt aus der Evakuierung zurückkehrten und obdachlos waren. Als Wohnungen genutzt wurden Kasematten des Turms Ungenannt, der Langen Linie, des Östlichen Grabenschlusses des Hauptgrabens, des Ravelins, der Contregarde links, der Kurtine, der Hohen Ostfront, der Wache am Felsenweg und des Helfensteins sowie die Blockhäuser am gedeckten Weg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging als Rechtsnachfolger Preußens die Festung Ehrenbreitstein in das Eigentum des Landes Rheinland-Pfalz über. Mitte der 1960er Jahre wurden zwei Kasematten der Contregarde rechts für die Lagerung von kleineren Mengen Atommüll, Forschungsabfällen der Universität Mainz, umgebaut. Aufgrund von Bürgerprotesten sah man aber davon ab, diese Räume in Betrieb zu nehmen.
Der Ehrenbreitstein dient heute verschiedenen Institutionen. Das Landesmuseum Koblenz nutzt seit den 1950er Jahren die Hohe Ostfront und die Contregarde rechts als Ausstellungsbereich, hingegen ist in der Niederen Ostfront sowie der Südtraverse eine Jugendherberge untergebracht. Die Landbastion beherbergte bis 2009 das Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz (Abteilung archäologische Denkmalpflege); die Contregarde links ist Bürotrakt der Direktion Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz der Generaldirektion Kulturelles Erbe.
Das massive Mauerwerk hält das Raumklima in der Festung weitestgehend konstant, deshalb lagerte dort bis 1998 das Bundesfilmarchiv umfangreiche Magazinbestände. Hierunter befanden sich auch besonders feuergefährliche Zelluloidfilme, die 1988 einen Brand verursachten, bei dem Teile der Archivbestände vernichtet wurden.
Bundesgartenschau 2011
Die Stadt Koblenz erhielt den Zuschlag für die Austragung der Bundesgartenschau 2011. Das Vorgelände der Festung, dort entstand ein Landschaftspark, und die Festung selbst wurden dafür genutzt. Am nördlichen Ende des Landschaftsparks bietet seitdem eine hölzerne Aussichtsplattform den Besuchern einen freien Blick ins Rheintal.
Der Festungsplatz (Schlosshof) und die Fassaden der Festungsbauwerke sowie deren Dächer wurden 2009–2011 vom Land Rheinland-Pfalz vollständig saniert. Der Kasemattenbau Lange Linie, der im Zweiten Weltkrieg einen Bombentreffer erhielt, wurde erstmals wiederhergerichtet und Besuchern zugänglich gemacht. An Stelle der Sesselbahn, die sich an der Ostseite befand und das Ehrenbreitsteiner Tal mit der Festung verband, wurde 2011 ein Schrägaufzug in Betrieb genommen. Im Keller unter der Großen Traverse, wo eine 3000-jährige Befestigung des Orts nachgewiesen werden konnte, wurde die multimediale Ausstellung Ein Berg im Wandel – 3000 Jahre befestigter Ort eingerichtet. Die kontinuierliche Befestigung eines Ortes über einen so langen Zeitraum konnte bisher sonst nirgends in Deutschland nachgewiesen werden.
Festungsbauten
Zur Verteidigung der Festung Ehrenbreitstein wurden nach Norden und Osten hin die stärksten Befestigungen angelegt. Hauptmerkmale sind hier zwei bis fünf Meter tiefe und 20 bis 25 m breite Hauptgräben sowie kasemattierte Wälle mit bis zu drei Metern dicken Außenmauern, die bis zu drei übereinanderliegende Reihen von Kanonenscharten aufweisen. Die Festung Ehrenbreitstein sollte jedoch nicht nur funktional und wehrhaft sein, sondern auch den preußischen Staat repräsentieren. So zeigt sie sich dem Besucher auch heute noch mit zwei Gesichtern. Nach außen hin, gegen den Angreifer, gibt sie sich abschreckend mit dicken, unverputzten Mauern und bedrohlich wirkenden Geschützscharten. Nach innen erweckt insbesondere der Obere Schlosshof den Eindruck eines herrschaftlichen Schlosses. Die klassizistischen Fassaden waren – wie heute teilweise wieder rekonstruiert – verputzt und gelb gestrichen. Die sparsam eingesetzte, die innere Struktur spiegelnde Architekturgliederung wurde aus roten Sandstein-Quadern hervorgehoben. Als Baumaterial wurde Bruchstein aus Schiefer und Grauwacke verwendet.
Betritt man von Nordosten die Festung durch das Feldtor, so liegt zunächst auf der linken Seite der Turm Ungenannt. Er hat diesen merkwürdigen Namen der Anekdote nach deswegen, weil am 20. Juni 1821 der preußische Prinz und der russische Zarensohn am Bau mitwirkten. Bei der Namensgebung wollte jeder dem anderen den Vortritt lassen, wodurch der Kompromiss zustande kam. Allerdings gab es bereits zur Zeit der barocken Festung Ehrenbreitstein an derselben Stelle eine gleichnamige Geschützstellung. Der heutige erdgedeckte Turm ist vier Stockwerke hoch und beherrscht den Hang sowie das Tal und die gegenüberliegende Höhe von Ehrenbreitstein. Der Turm richtet sich annähernd halbkreisförmig nach Nordosten und besitzt auf drei der Stockwerke (außer dem Keller) jeweils neun Geschützkasematten. Im Keller befand sich ursprünglich ein Pumpwerk zur Wasserversorgung.
Ihm folgt die Lange Linie, ein zweigeschossiger langgezogener Kasemattenbau, der parallel zum Weg verläuft und seit 2011 mit dem Turm Ungenannt über eine Brücke verbunden ist. Als Besucher läuft man dann genau auf das Grabentor zu, das mit einer Poterne unter dem gedeckten Weg einen Durchlass in den Hauptgraben ermöglicht. Man befindet sich jetzt im Hauptgraben, vor dem etwa 12 m hohen Ravelin oder Mittelsaillant, der von Contregarde Rechts und Contregarde Links flankiert wird, die zusammen den Hauptwall bilden. Das 12–13 m hohe Ravelin hat zwei unterschiedlich lange Facen und erhebt sich mit Geschützscharten versehen hoch über den Hauptgraben.
Durch eine etwa 50 m lange Poterne, einen Tunnel im unteren Geschoss des Ravelins, geht man in den Retirierten Graben, der in der Mitte von der 18 m hohen Kurtine sowie der Rheinbastion und der Landbastion abgeschlossen wird. Während die Landbastion eine vollständige Bastion mit etwa gleich langen Facen und Flanken darstellt, ist die Rheinbastion nur eine Halbbastion mit einer Face. Beide haben zwei Geschosse und sind kasemattiert. Nach dem Passieren dieser Kurtine, einer dreigeschossigen krenelierten Bogenmauer, durch ein weiteres Tor, über dem ein gusseiserner preußischer Adler hängt, steht man schließlich auf dem Oberen Schlosshof. Der großartige Blick von dort auf Rhein und Mosel war schon im 19. Jahrhundert berühmt und ein beliebtes Ziel der Touristen, die von Unteroffizieren über den Felsenweg dorthin geführt wurden.
Zur anderen Talseite und zum Rhein hin sicherten die Bastion Fuchs, die Hohe Ostfront, die Große Traverse, die Niedere Ostfront, die Südtraverse, der Südliche Abschnitt, der Helfenstein, der Wetterturm und weitere Festungsanlagen das Gelände. Die Große Traverse besteht aus zwei hintereinander liegenden Kuppelräumen. Hierhin führte am westlichen Berghang eine Schienenanlage, auf der Baumaterial vom Rhein auf den Berg transportiert wurde. Das von Pferden angetriebene Göpelwerk für diesen Aufzug war in den beiden Kuppelsälen aufgestellt. Die Hohe Ostfront, die heute das Landesmuseum beherbergt, ist ein eingeschossiger kasemattierter Bau mit einem mächtigen dreiachsigen Wachportikus als Arkadenvorbau, der in der Mitte zum Oberen Schlosshof zeigt und vormals der Eingang zu den Dienstzimmern des Festungskommandanten war. Rechts daneben befindet sich der Eingang zur Festungskirche, eine dreischiffige Emporenbasilika. Der Kasemattenbau der Niedere Ostfront mit dem Niederen Schlosshof davor wird heute als Jugendherberge genutzt.
Wenn man den Oberen Schlosshof durch das Felsentor verlässt, gelangt man entlang des Felsenwegs über das im Süden vorgelagerte Fort Helfenstein hinunter über mehrere Tore zum Ort Ehrenbreitstein. Der Felsenweg endet im Bereich des ehemaligen Nieder-Ehrenbreitstein, der bis 1903 das Rheinufer sicherte. Vormals stand hier das 1801 zerstörte Schloss Philippsburg, dessen erhaltene Pagerie vom Felsenweg noch zu sehen ist. Die als Festungspfortenbau 1690–1692 errichtete Pagerie ist der einzig erhaltene Bau der barocken Festung aus der kurtrierischen Zeit. Den Westhang darüber sichern an der Rheinbastion beginnend die Obere und Niedere Terrassenbatterie. In der Mitte des Hangs entlang einer Mauer steht der Johannisturm. Unterhalb der Großen Traverse befindet sich im Hang ein bis 1864 genutztes Kriegs-Pulvermagazin, das vielfach Beinhaus genannt wird, obwohl nicht sicher ist, inwieweit es nach 1864 als Leichenkammer eingeplant war.
Denkmäler
Das Ehrenmal des Deutschen Heeres wurde von Hans Wimmer zur Erinnerung an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs in der Front des Ravelins eingebaut und am 29. Oktober 1972 feierlich in die Obhut der Bundeswehr (Heer) übergeben. Im November 2006 wurde es um eine Stele erweitert und erinnert nun auch an die in der Ausübung ihres Dienstes zu Tode gekommenen Soldaten der Bundeswehr.
Am Westrand des Oberen Schlosshofs wurde 1844 das Brunnendenkmal errichtet. In einem quadratischen Basaltbecken mit Pfeifenmuster und kleinen halbkreisförmigen Vorbecken auf jeder Seite steht ein Brunnenpfeiler mit einer Kugel als Bekrönung. Auf der Vorderseite steht zu lesen:
„Von dem Erzbischof Hillinus ward Ehrenbreitstein ums Jahr MCLX erbaut durch den Feind zerstört im Jahr MDCCCI. Aus seinen Trümmern wiederhergestellt und stärker befestigt von Friedrich Wilhelm III vom Jahr MDCCCXVII–MDCCCXCVII.“
Auf dem Helfenstein befindet sich das 1935 eingeweihte Kriegerdenkmal für gefallenen Soldaten des Infanterie-Regiments „von Goeben“ (2. Rheinisches) Nr. 28, das immer wieder für längere Zeit auf dem Ehrenbreitstein in Garnison lag.
Institutionen auf der Festung
„Blaue Route“
Das „Landesmuseum Koblenz“ ist seit 1956 auf der Festung Ehrenbreitstein beheimatet. Als Dauerausstellungen über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Region sind in den Abteilungen Haupthaus am oberen Schlosshof, „Haus der Fotografie“, „Haus des Genusses“, „Haus der Archäologie“ und „Haus der Sammlung Poignard“, Ausstellungen an Mittelrhein und Mosel zu sehen.
Zeitweise stand auf der Festung eine Rekonstruktion einer römischen Pfahlramme, wie sie Caesar bei seinem Bau der Rheinbrücke 55 v. Chr. genutzt haben könnte. Die größte Attraktion ist jedoch die Festung selbst. Neben der Geschichte der Festung Ehrenbreitstein kann die original erhalten gebliebene Kanone Greif aus dem 16. Jahrhundert besichtigt werden. Zusätzlich zu den Dauerausstellungen werden wechselnde Sonderausstellungen auf der Festung präsentiert.
„Rote Route“
In der Niederen Ostfront der Festung ist die Jugendherberge Koblenz mit 157 Betten und fünf Aufenthalts- und Seminarräumen untergebracht. Ab November 2008 wurde die Jugendherberge, die vom Deutschen Jugendherbergswerk betrieben wird, grundlegend modernisiert. Sie wurde am 28. Dezember 2010 mit der DJH-Kategorie IV wiedereröffnet. Das Haus mit Tagungs- und Veranstaltungsräumen bietet eine Vielzahl von Sport- und Unterhaltungsangeboten.
Auch der preußische „Fahnenturm“ ist Teil der „roten Route“. Im sogenannten „Entreegebäude“ befinden sich Festungsshop, Eingang, Toiletten, Information und Café.
Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz
Die Verwaltung der im Eigentum des Landes Rheinland-Pfalz stehenden Burgen, Schlösser und Altertümer hat ihren Sitz auf der Festung Ehrenbreitstein. Sie wurde im Mai 1998 unter der Bezeichnung Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz (BSA) zunächst als Abteilung des Landesamtes für Denkmalpflege neu gebildet und ist heute eine Direktion der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (GDKE). Sie ist Nachfolgerin der Verwaltung der staatlichen Schlösser Rheinland-Pfalz. Die mehr als 2000 Jahre alte Geschichte des eigentlich noch jungen Landes Rheinland-Pfalz brachte eine Vielzahl von Römerbauten, Burgen und Schlössern hervor. Die Pflege dieser Kulturbauten und Erhaltung für künftige Generationen ist Aufgabe der GDKE. Gleichzeitig sollen die Denkmäler touristisch erschlossen und einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.
Gastronomie
Zielort der Seilbahn Koblenz
Die im zeitlichen Vorfeld der Bundesgartenschau 2011 errichtete Seilbahn Koblenz ist die größte Luftseilbahn Deutschlands. Seit dem 2. Juli 2010 befördert sie die Besucher von den Rheinanlagen über den Rhein auf das Plateau vor der Festung. Mit einer Förderkapazität von bis zu 7.600 Menschen pro Stunde ist sie weltweit unübertroffen. Im Jahr nach der Bundesgartenschau besuchten etwa 500.000 Menschen die Festung. Diese erhebliche Steigerung der Besucherströme geht auf die verbesserte Erreichbarkeit mittels der Seilbahn und die vielen Veranstaltungen auf dem Festungsgelände zurück. Die UNESCO hat am 19. Juni 2013 in Phnom Penh auf der 37. Sitzung des Welterbekomitees beschlossen, den Betrieb der Seilbahn bis 2026 zu erlauben. In diesem Jahr endet die technisch längstmögliche Betriebsdauer. Dies bedeutet für die Festung Ehrenbreitstein einen weiteren Ausbau der kulturellen Aktivitäten. Dank der Seilbahn besuchten 2013 etwa 550.000 Menschen die Festungsanlage, eine weitere Steigerung zum Vorjahr und mehr als doppelt so viele wie vor der Bundesgartenschau erwartet wurde.
Veranstaltungen
Events
Das Höhenfeuerwerk „Rhein in Flammen“ wird alljährlich am zweiten Samstag im August von der Festung Ehrenbreitstein gegenüber von Koblenz abgeschossen. Hunderttausende Besucher entlang der Rhein- und Moselpromenaden und auf den Schiffen des größten Schiffskorsos Europas verfolgen dieses Spektakel.
2011 und 2012 war die Festung Ehrenbreitstein Spielstätte der Lichtströme. Unter der künstlerischen Leitung von Bettina Pelz und Tom Groll zeigten internationale Künstler und Designer ortsspezifische Installationen. Seit 2013 findet im Frühjahr das FestungsLeuchten, ein Lichtkunstfestival aus Lichtern und Klängen statt.
Es findet eine Vielzahl von weiteren Veranstaltungen statt, beispielsweise die Historienspiele, eine der größten Historienveranstaltungen Deutschlands, oder die Preußentage. Die Historienspiele lassen eine 3000-jährige Geschichte von den Kelten, Römern und Rittern bis zu den Kurtrierern und Preußen lebendig werden. Musikkonzerte von Klassik über Rock bis hin zu mittelalterlicher Musik werden ebenfalls auf der Festung ausgerichtet sowie das Zwischenwelten-Festival und das Weltmusikfestival Horizonte. Auch das Heeresmusikkorps Koblenz nutzt die Festungsanlage als Kulisse für seine Konzerte. Beim Festungsfest im Juni fand 2016 das erste Craft-Beer-Festival statt.
In den Wintermonaten findet 10:00 bis 17:00 Uhr samstags und sonntags die Jagd nach der Goldenen Kanonenkugel statt. Es handelt sich hierbei um eine Schnitzeljagd mit einem Fragebogen für Kinder und Jugendliche.
Unter dem Motto „GAUKLERFESTung“ fand 2013 erstmals die Gaukler- und Kleinkunstfestival nicht mehr in der Koblenz-Altstadt, sondern auf der Festung Ehrenbreitstein statt.
Ausstellungen in der Festung
Das Landesmuseum Koblenz gehört zur Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz und hat seit seiner Gründung 1956 seinen Sitz in der Festung Ehrenbreitstein.
Derzeit bespielt es in der Festung vier große Ausstellungshäuser mit Dauer- und Wechselausstellungen. Schwerpunkte sind Fotografie, Weinbau, Archäologie und Genuss sowie Wirtschafts- und Kulturgeschichte.
Im „Haus der Fotografie“ im „Turm Ungenannt“ präsentiert sich die „Landessammlung zur Geschichte der Fotografie“. Die Dauerausstellung vermittelt einen Überblick über die Geschichte des Mediums von den Anfängen bis in die Gegenwart. Alljährlich werden hier zudem wechselnde Präsentationen zum Medium Fotografie gezeigt; seit 2015 u. a. die Ausstellung des renommierten Nachwuchsförderungsprojektes „gute aussichten – junge deutsche fotografie“.
Im „Haus des Genusses“ in der „Langen Linie“, befindet sich die Dauerausstellung „WeinReich Rheinland-Pfalz“. Sie wird ergänzt durch Verkostungen und eine Weinstube sowie thematisch passende Sonderpräsentationen.
Im „Haus der Archäologie“ zeigt das Landesmuseum die Dauerausstellung „Geborgene Schätze. Archäologie an Mittelrhein und Mosel“ sowie unter dem Titel „Der aktuelle Fund“ wechselnde Präsentationen der Landesarchäologie. Auf dem Dach befinden sich die zur Bundesgartenschau 2011 geschaffenen „Archäologischen Zeitgärten“ mit verschiedenen historischen Themengärten. Im angeschlossenen Hands on-Erlebnisbereich können die Besucher Geschichte (be-)greifen und Objekte anfassen, die sonst in Vitrinen stehen.
Im „Haus der Kulturgeschichte“ am Oberen Schlosshof werden regelmäßig große Wechselausstellungen zu unterschiedlichen Themen gezeigt; darunter jährlich eine Kinder- und Familienausstellung, in der sich die Gäste interaktiv mit Kulturgeschichte auseinandersetzen können.
Denkmalschutz
Die Festung Ehrenbreitstein ist ein geschütztes Kulturdenkmal nach dem Denkmalschutzgesetz (DSchG) und in der Denkmalliste des Landes Rheinland-Pfalz eingetragen. Sie liegt in Koblenz-Ehrenbreitstein in der Denkmalzone Festung Ehrenbreitstein.
Seit 2002 ist die Festung Ehrenbreitstein Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal. Sie ist ein geschütztes Kulturgut nach der Haager Konvention und ist mit dem blau-weißen Schutzzeichen gekennzeichnet.
Siehe auch
Liste von Fachbegriffen im Festungsbau
Liste der Festungen in Deutschland
Liste von Burgen, Festungen und Schlössern in Rheinland-Pfalz
Literatur
alphabetisch geordnet
Axel von Berg: Archäologische Untersuchungen im Bereich der „Großen Traverse“ auf der Festung Ehrenbreitstein, Koblenz. In: Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz – Abteilung Archäologische Denkmalpflege (Hrsg.): Archäologie in Rheinland-Pfalz, 2004. Zabern, Mainz 2005, S. 109–113.
Manfred Böckling: Dunkle Geschichten aus Koblenz – Schön & schaurig. Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2018, ISBN 978-3-8313-2976-2, S. 9–11, 50–52, 76–79.
Manfred Böckling: Einfach spitze! Koblenz. 100 Gründe, stolz auf diese Stadt zu sein. Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2015, ISBN 978-3-8313-2905-2, S. 5 f., 15, 19 f., 32, 36–38, 60 f., 83 f., 105 f.
Manfred Böckling: Festung Ehrenbreitstein. Fotos: Heinz Straeter. 2., erw. Aufl. Landesamt für Denkmalpflege – Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz, Koblenz 2002 (= Führungshefte von Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz, Führungsheft 17).
Manfred Böckling: Festung Ehrenbreitstein. 2., aktualisierte Auflage. Edition Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz. Führungsheft 17. Schnell & Steiner, Regensburg 2012 [1. Aufl.: 2004], ISBN 978-3-7954-2474-9.
Manfred Böckling: Festung Ehrenbreitstein. Edition Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz, Kurzführer Nr. 4. 3., vollst. neu bearb. Aufl. Schnell & Steiner, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7954-6394-6.
Manfred Böckling: Ein bewachter Aussichtspunkt am Rhein. Fremdenführungen auf der Feste Ehrenbreitstein im 19. Jahrhundert. In: Landeskundliche Vierteljahrsblätter. Trier 47.2001, , S. 17–36.
Viktor Joseph Dewora: Ehrendenkmal. Quellen zur Geschichte der Koalitionskriege 1792–1801. Hrsg. v. Michael Embach. Mitteilungen und Verzeichnisse aus der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars zu Trier, Bd. 8. Paulinus-Verlag, Trier 1994, ISBN 3-7902-0155-3.
Oliver Feinauer u. a.: Festung Ehrenbreitstein. Bilder des Wandels. Schnell & Steiner, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7954-2516-6.
Matthias Kellermann: Die preußische Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Zur Geschichte der rechtsrheinischen Festungswerke. Fölbach, Koblenz 2011, ISBN 978-3-934795-63-1.
Matthias Kellermann: Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Entfestigung 1920–1922. Fotografien von Joseph Ring. Koblenz 2018, ISBN 978-3-95638-413-4.
Dieter Kerber: Herrschaftsmittelpunkte im Erzstift Trier. Hof und Residenz im späten Mittelalter (= Residenzforschung, Bd. 4). Thorbecke, Sigmaringen 1995, ISBN 3-7995-4504-2.
Udo Liessem: Bemerkungen zu einigen Burgen der Salierzeit im Mittelrheingebiet. In: Horst Wolfgang Böhme (Hrsg.): Burgen der Salierzeit (2 Bde.), Teil 2. 3. Auflage. Thorbecke, Sigmaringen 1992, ISBN 3-7995-4134-9, S. 81–111.
Fritz Michel: Der Ehrenbreitstein. Krabben’sche Buchdruckerei, Koblenz 1933.
Fritz Michel: Festung Ehrenbreitstein. Krabben’sche Buchdruckerei, Koblenz 1933.
Neue Forschungen zur Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Band 1. Hrsg. v. Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz u. Deutsche Gesellschaft für Festungsforschung. 2., überarb. Auflage. Schnell & Steiner, Regensburg 2005, ISBN 3-7954-1764-3
Neue Forschungen zur Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Band 2. Hrsg. von Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz und der Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung. Schnell & Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-1910-7. Dieser Band mit Schwerpunkt Festung Ehrenbreitstein vereint unter anderem Beiträge zu den Ausgrabungen auf dem Ehrenbreitstein, zur französischen Belagerung, zur Versorgung der preußischen Festung, zu den Planungen eines Militärmuseums und zur Geschichte der Festung in den 1940er Jahren.
Neue Forschungen zur Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Band 3. Hrsg. von Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz und Deutsche Gesellschaft für Festungsforschung. Schnell & Steiner, Regensburg 2012, ISBN 978-3-7954-2475-6. Dieser Band enthält u. a. Beiträge zum Ehrenbreitstein im Dreißigjährigen Krieg, die Auswirkungen der Belagerungen der Festung 1795–1799 auf die Bevölkerung, die Nutzung des Ehrenbreitsteins als Ort des Strafvollzugs im 18. Jh. und vor allem in der preußischen Zeit bis 1918, sowie zur jüngsten Sanierung und Neuerschließung des Ehrenbreitsteins.
Andreas Pecht: Festung Ehrenbreitstein. Fotograf: Ulrich Pfeuffer. Hrsg. von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz. Redaktion: Terry Blake, Manfred Böckling, Angela Kaiser-Lahme, Iris Ketterer-Senger. Edition Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz, Bildheft 3. Schnell & Steiner, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7954-1975-2.
Wolfgang Seibrich: Die Heilig-Rock-Ausstellungen und Heilig-Rock-Wallfahrten von 1512 bis 1765. In: Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi. Anläßlich der Heilig-Rock-Wallfahrt 1996 im Auftrag des Bischöflichen Generalvikariates hrsg. v. Erich Aretz u. a. Paulinus-Verlag, Trier 1995, ISBN 3-7902-0173-1, S. 175–217.
Thomas Tippach: Koblenz als preußische Garnison- und Festungsstadt. Wirtschaft, Infrastruktur und Städtebau. Städteforschung. Reihe A. Darstellungen. Bd. 53. Böhlau, Köln 2000, ISBN 3-412-08600-2.
Klaus T. Weber: Die preußischen Festungsanlagen von Koblenz (1815–1834) (= Kunst- und Kulturwissenschaftliche Forschungen. Band 1). Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2003, ISBN 3-89739-340-9.
Petra Weiß: Die Bergung von Kulturgütern auf der Festung Ehrenbreitstein. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 26. Koblenz 2000, , S. 421–452.
Rüdiger Wischemann: Letzte Belagerung der Festung Ehrenbreitstein. Die kurtrierischen Truppen in den Revolutionskriegen und die Belagerung der kurtrierischen, kaiserlichen und Reichsfestung Ehrenbreitstein durch die französischen Revolutionstruppen 1795 bis 1799. dissertation.de, Berlin 2003, ISBN 3-89825-636-7.
Rüdiger Wischemann: Zur Geschichte der Festung Ehrenbreitstein. Landesmuseum Koblenz, Koblenz 1998, ISBN 3-925915-63-X (= Veröffentlichungen des Landesmuseums Koblenz, Bd. 63).
Ulrike Weber (Bearb.): Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Band 3.3: Stadt Koblenz. Stadtteile. Werner, Worms 2013, ISBN 978-3-88462-345-9.
Weblinks
Offizielle Website der Festung Ehrenbreitstein
Festung Koblenz
Landesmuseum Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein
Förderkreis Kulturzentrum Festung Ehrenbreitstein e. V.
Kuratorium für das Ehrenmal des deutschen Heeres auf der Festung Ehrenbreitstein
Rekonstruktionszeichnung der Burg Ehrenbreitstein
Podcast zur „Jagd nach der goldenen Kanonenkugel“
Jugendherberge Koblenz
Einzelnachweise
Ehrenbreitstein
Befestigungsanlage (Frühe Neuzeit)
Dreißigjähriger Krieg
Kulturdenkmal in Koblenz
Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal
Nach der Haager Konvention geschütztes Kulturgut in Koblenz
Erbaut in den 1820er Jahren
Wikipedia:Artikel mit Video
Ehrenbreitstein
Denkmalzone (Rheinland-Pfalz) |
102875 | https://de.wikipedia.org/wiki/Snofru | Snofru | Snofru (auch Snefru, Sneferu oder Seneferu; griechisch Soris) war der erste altägyptische König (Pharao) der 4. Dynastie im Alten Reich. Er herrschte etwa von 2670 bis 2620 v. Chr. In seiner Regierungszeit fanden Kriegszüge nach Libyen und Nubien sowie eine große Handelsexpedition in den Libanon statt. Berühmtheit erlangte Snofru hauptsächlich durch seine Bautätigkeit. Als einziger Pharao ließ er drei monumentale Pyramiden errichten, deren Gesamtvolumen mit circa 3,4 Mio. Kubikmeter das der größten Pyramide Ägyptens, der Cheops-Pyramide, deutlich übersteigt. Architektonisch leiteten sie den Wandel von den früheren Stufenpyramiden zur echten Pyramide ein.
Snofru wurde im gesamten späteren Verlauf der altägyptischen Geschichte in hohem Maße verehrt und der ihm zu Ehren zelebrierte Totenkult dauerte lang an. Er galt als Idealbild des gerechten Herrschers, als welcher er in mehreren literarischen Werken gewürdigt wurde.
Herkunft und Familie
Die Herkunft Snofrus liegt weitgehend im Dunkeln. Mit einiger Sicherheit lässt sich nur seine Mutter bestimmen, die Meresanch I. hieß. Sie ist allerdings nicht zeitgenössisch belegt, sondern nur auf dem aus der 5. Dynastie stammenden Palermostein und in einem Graffito aus der 18. Dynastie. Auch wenn Snofru häufig als Sohn seines Amtsvorgängers Huni angesehen wird, konnte bisher weder für ihn noch für Meresanch I. irgendeine familiäre Verbindung zu Huni nachgewiesen werden. Pierre Montet vermutete daher bereits in den 1960er-Jahren, dass Snofru nicht mit dem Königshaus verwandt war, sondern ursprünglich ein Provinzbeamter aus der Gegend von Beni Hasan war. Grund für diese Annahme war die Nennung des Ortsnamens „Menat-Snofru“ im Totentempel von Snofrus Meidum-Pyramide. In Beni Hasan selbst wiederum wird in einigen Gräbern ein Ort namens Menat-Chufu genannt. Montet vermutete, dass beide Orte identisch sind und lediglich nach dem Amtsantritt von Snofrus Nachfolger Cheops (Chufu), der laut Montet ebenfalls von hier stammte, eine Umbenennung erfolgte. Ohne weitere Belege müssen diese Überlegungen vorerst hypothetisch bleiben.
Die einzige bekannte Ehefrau Snofrus war Hetepheres I., die allerdings nicht den Titel einer Königsgemahlin trug und daher wohl nur als Nebenfrau anzusehen ist. Aus dieser Verbindung gingen zwei Söhne hervor, zum einen Snofrus Thronfolger Cheops und nach neueren Erkenntnissen wohl auch Kawab, der bisher als jung verstorbener Kronprinz des Cheops angesehen wurde.
Mehrere weitere Kinder stammten von unbekannten Ehefrauen. Söhne waren Rahotep, Nefermaat, Anchhaf (den Rainer Stadelmann allerdings für einen Sohn des Cheops hält), Netjeraperef sowie möglicherweise Ranefer, Kanefer und Iynefer. Hinzu kommt noch ein weiterer Prinz, der nur durch sein monumentales Mastaba-Grab M17 in Meidum bekannt ist, dessen Name allerdings nicht überliefert ist. Töchter Snofrus waren Hetepheres, die Ehefrau des Anchhaf, sowie Neferetkau und Neferetnesu. Meritites I., eine Gemahlin des Cheops, wird ebenfalls als Tochter des Snofru angesehen. Nach einem neueren Vorschlag könnte sie statt einer Tochter eine Nebengemahlin des Snofru gewesen sein und wurde nach dessen Tod die Königsgemahlin von Cheops.
Herrschaft
Die Regierungszeit des Snofru ist im Gegensatz zu den meisten anderen Herrschern des Alten Reiches recht detailliert überliefert. Die wichtigsten Quellen stellen dabei der bereits erwähnte Palermostein (Palermo-Fragment) und das Kairo-Fragment Nr. 4 (C4 / K4 – nach W. Helck) dar, die vermutlich beide aus dem ehemaligen, unter Neferirkare angefertigten Annalenstein der 5. Dynastie stammen und wichtige Ereignisse aus den Regierungszeiten aller früheren Könige auflisten. Im Falle von Snofru werden beispielsweise eine Handelsexpedition und zwei Kriegszüge genannt, aber auch religiöse Feste oder die Fertigung von Statuen und Holzgegenständen, darunter auch einer Harfe, die hier zum ersten Mal in der ägyptischen Geschichte bezeugt ist.
Regierungsdauer
Die genaue Regierungsdauer des Snofru ist unsicher. Der Königspapyrus Turin, der im Neuen Reich entstand und ein wichtiges Dokument zur ägyptischen Chronologie darstellt, gibt 24 Jahre an, der im 3. Jahrhundert v. Chr. lebende ägyptische Priester Manetho 29. Das höchste zeitgenössisch belegte Datum ist ein „24. Mal der Zählung“, womit eine landesweite Zählung des Viehs zum Zwecke der Steuererhebung gemeint ist. Problematisch hieran ist, dass diese Zählungen ursprünglich alle zwei Jahre stattfanden (das heißt auf ein „x-tes Jahr der Zählung“ folgte ein „Jahr nach dem x-ten Mal der Zählung“), später aber zum Teil auch jährlich stattfinden konnten (auf ein „x-tes Jahr der Zählung“ folgte das „y-te Jahr der Zählung“). Für Snofrus Regierungszeit ist zumindest eine jährliche Zählung bezeugt: Laut dem Palermostein folgte auf das „7. Mal der Zählung“ unmittelbar das „8. Mal“. Hinzu kommt, dass aus seiner Regierungszeit Datumsangaben für 12 Jahre der Zählung überliefert sind, aber nur für drei Jahre nach der Zählung. Es ist daher wohl mit einer unregelmäßigen Zählung unter Snofru zu rechnen.
Von ägyptologischer Seite wird dennoch häufig eine sehr lange Regierungsdauer angenommen. So nimmt etwa Thomas Schneider an, dass die im Turiner Königspapyrus angegebenen 24 Jahre eigentlich auf Zählungen zurückgehen und Snofru somit mindestens 48 Jahre regiert hätte. Auch Rainer Stadelmann geht aufgrund der enormen Bautätigkeit des Snofru von einer Regierungsdauer von 45 bis 48 Jahren aus. Rolf Krauss hingegen hat mit Hilfe von Datumsangaben, die von der Roten Pyramide in Dahschur stammen, errechnet, dass alle drei Pyramidenanlagen durchaus in einem Zeitraum von nur 31 Jahren erbaut werden konnten.
Innenpolitik
Unter Snofru fand eine bedeutende Umgestaltung der administrativen Gliederung Ägyptens statt. Während die Verwaltung sich ursprünglich nur auf einzelne landwirtschaftliche Güter stützte, wurde seit dem Beginn des Alten Reiches damit begonnen, das ganze Land in Gaue einzuteilen. Bis zum Ende des Alten Reiches existierten 38 Gaue, deren Zahl sich durch Teilungen bis in die Römerzeit auf 42 erhöhte. Aus der Zeit des Djoser, des ersten Herrschers des Alten Reiches, ist lediglich der Name eines Gaues überliefert. Erst unmittelbar vor und während der Regierungszeit des Snofru stieg die Zahl der Gaue sprunghaft an. So werden sechs Gaue erstmals im Grab eines hohen Beamten namens Metjen in Abusir genannt, der in der Zeit des Übergangs von der 3. zur 4. Dynastie lebte. Zehn weitere Gaue werden erstmals im Taltempel der Knickpyramide in Dahschur erwähnt, zwei auf einer Stele von Snofrus Sohn Netjeraperef und zwei im Grab des Beamten Pehernefer in Sakkara. Bis zum Ende der Regierungszeit des Snofru war die Zahl der Gaue auf mindestens 22 gewachsen. Der Palermostein berichtet außerdem noch von der Einrichtung von 35 Gütern sowie dem Bau einer Festung.
Außenpolitik
Handel
Für das „Jahr nach dem 6. Mal der Zählung“ berichtet der Palermostein vom Bau von Schiffen und der Ankunft von 40 Schiffsladungen Zedernholz aus dem Libanon. Aus diesem Holz wurden im folgenden Jahr weitere Schiffe gebaut und im „Jahr der 8. Zählung“ wurden aus dem verbliebenen Holz Palasttüren gefertigt.
Feldzüge
Der Palermostein enthält Angaben zu zwei Feldzügen. Der erste fand im „Jahr nach dem 6. Mal der Zählung“ statt und richtete sich gegen Nubien. Hierbei wurden angeblich 7.000 Gefangene gemacht und 200.000 Stück Vieh erbeutet. Zusätzliche Angaben zu diesem Feldzug liefern zwei Felsinschriften bei Khor el-Aquiba, gegenüber von Karanog, nördlich des zweiten Nilkataraktes. Die erste stammt vom Beginn des Feldzuges. Sie nennt einen Hofbeamten namens Chaibaubata als Befehlshaber und beziffert die Stärke des ägyptischen Heeres mit 20.000 Soldaten. Die zweite Inschrift wurde nach der Rückkehr des Heeres angebracht und berichtet von 7000 gefangenen Nubiern. Als Befehlshaber wird dieses Mal ein weiterer Hofbeamter namens Sauibi genannt. Ob der Oberbefehl während des Feldzugs wechselte (vielleicht durch den Tod des Chaibaubata) oder ob die Befehlsgewalt bei beiden Beamten lag, geht aus den Inschriften nicht hervor.
Der zweite Feldzug richtete sich gegen Libyen und fand gegen Ende von Snofrus Regierungszeit statt. Er endete mit der Gefangennahme von 1.100 Libyern und der Erbeutung von 13.100 Stück Vieh. Möglicherweise fand unter Snofru eine militärische Sicherung der Sinai-Halbinsel mit ihren Kupfer- und Türkisvorkommen statt. Lange Zeit war die einzige Quelle hierfür eine Felsinschrift im Wadi Maghara, auf der Snofru einen Beduinen erschlägt. Über Art und Umfang der Gebietssicherung werden keine Angaben gemacht. Durch einen jüngst gefundenen Siegelabdruck ist belegt, dass die Hafenanlage des Wadi al-Garf den Ausgangspunkt für Snofrus Militärexpedition bildete.
Der Hofstaat
Neben den beiden bereits erwähnten hohen Beamten Metjen und Pehernefer waren es vor allem seine Söhne, denen Snofru die wichtigsten Ämter übertrug. Sein Sohn Rahotep wurde zum General und Hohepriester in Heliopolis befördert und zugleich „Erster der Großen der Halle“, „Vorsteher der Lastträger“ und als „Magazinältester“ der Leiter des großen pharaonischen Nahrungsspeichers. Nefermaat hatte als Wesir das höchste Amt im Staate inne. Beide sind in großen Mastabas in Meidum begraben worden. Auch Anchhaf und Kawab bekleideten im späteren Verlauf der 4. Dynastie das Amt des Wesirs.
Bautätigkeit
Die Meidum-Pyramide
Wohl schon gleich zu Beginn seiner Herrschaft wurde in Meidum mit dem Bau der ersten monumentalen Pyramide Snofrus begonnen. Lange Zeit wurde sie Huni zugeschrieben und Snofru nur als ihr Vollender angesehen. Da bis heute keinerlei Belege für Huni in Meidum gefunden werden konnten, wird inzwischen allgemein davon ausgegangen, dass Snofru der alleinige Bauherr war.
Obwohl ursprünglich als Stufenpyramide konzipiert, enthielt das Bauwerk bereits von Beginn an Elemente, die für die späteren echten Pyramiden typisch waren. Die Meidum-Pyramide entstand in drei unterschiedlichen Bauphasen: Der ursprüngliche Plan (E1) sah eine siebenstufige Pyramide vor. Als der Bau bis auf vier oder fünf Stufen angewachsen war, erfolgte etwa im 4. oder 5. Jahr der Zählung eine Planänderung (E2): Die Pyramide sollte um eine Stufe auf insgesamt acht erweitert werden. Etwa im 8. Jahr der Zählung war das Bauwerk vorläufig vollendet. Ein bis zwei Jahre später jedoch, im 9. Jahr der Zählung und unmittelbar nach dem Beginn der Bauarbeiten an Snofrus zweitem Großprojekt, der Knickpyramide, erfolgte schließlich noch ein letzter Umbau (E3). Hierbei wurde das achtstufige Bauwerk mit einer glatten Verkleidung versehen und so zu einer echten Pyramide gemacht. Der vollendete Bau hatte eine Seitenlänge von 144 m. Mit einer Höhe von knapp 92 m war er bis zur Vollendung der Knickpyramide das höchste Bauwerk der Welt.
An der Nordseite befindet sich in etwa 15 m Höhe der Eingang. Von dort aus führt zunächst ein langer Gang schräg hinab, verläuft dann unterhalb der Pyramidenbasis noch einige Meter waagerecht und mündet schließlich über einen senkrecht nach oben führenden Abschnitt in die Grabkammer. Diese ist allerdings nie benutzt worden. Im Zugangskorridor wurden zwar Reste eines Holzsarges gefunden, dieser stammte allerdings aus späterer Zeit. Sowohl der hoch gelegene Eingang als auch die Bauweise der Grabkammer stellten architektonische Neuerungen dar. Während bei älteren Pyramiden die Grabkammern stets sehr tief unter dem eigentlichen Pyramidenkörper lagen, wurde sie hier auf dem Niveau der Basis angelegt. Auch die Deckenkonstruktion, für die ein Kraggewölbe verwendet wurde, stellt eine Neuerung dar. Lediglich mit der nordsüdlichen Ausrichtung ihrer Längsachse blieb die Grabkammer noch den älteren Bautraditionen verbunden, während die Grabkammern späterer Pyramiden stets ostwestlich ausgerichtet wurden.
Der Totentempel der Pyramide wurde erstmals an deren Ostseite und nicht wie früher üblich an der Nordseite errichtet. Er gilt als der am besten erhaltene Tempel des Alten Reiches, die Deckenplatten befinden sich noch an ihrem ursprünglichen Platz. Dafür ist er sehr einfach gebaut. Er besteht aus zwei Räumen, die zu einem kleinen offenen Hof führen, in dem ein Altar und zwei große, unbeschriftete Stelen stehen. An der Südseite der Pyramide stehen die Überreste einer kleinen, ursprünglich auch in Stufenform errichteten Kultpyramide, die als symbolisches Grab für das Ka des Pharao diente. Es handelt sich hierbei um die erste bekannte Nebenpyramide. An der Nordseite der Pyramide liegt eine Mastaba, die vielleicht als Königinnengrab diente. Alle drei Bauwerke sind von einer Umfassungsmauer umgeben. Außerhalb dieser Mauer, unmittelbar an ihrer Nordostecke, steht die monumentale Mastaba M 17, in der ein unbekannter Prinz bestattet wurde. Der Taltempel der Meidum-Pyramide ist bisher nicht entdeckt.
Das Grabmal befindet sich heute in einem ruinösen Zustand, was daran liegt, dass seine äußere Verkleidungsschicht irgendwann abgerutscht ist. Popularität erlangte in diesem Zusammenhang die Theorie des Physikers Kurt Mendelssohn, der meinte, dass dieses Abrutschen bereits während des Baus passiert sei. Diese Theorie konnte allerdings dadurch entkräftet werden, dass im Totentempel Graffiti gefunden wurden, die aus dem Neuen Reich stammen. Im Schuttgürtel um die Pyramide wurden außerdem Gräber gefunden, von denen die ältesten aus der 22. Dynastie stammen. Daher wird heute allgemein von einem schrittweisen Abrutschen der Verkleidung ausgegangen.
Die Knickpyramide in Dahschur
Etwa in das 8. Jahr der Zählung fällt der Baubeginn der Knickpyramide in Dahschur. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin in Meidum war sie wohl von Anfang an als echte Pyramide geplant, jedoch führten Fehler in der Bauplanung dazu, dass ihr Aussehen mehrmals geändert werden musste. Der ursprüngliche Plan sah eine Pyramide mit einem sehr steilen Neigungswinkel von etwa 60° vor. Als dieser Winkel sich als zu steil erwies, wurde die Pyramidenbasis verbreitert und der neue Neigungswinkel auf 54° verringert. Als das Bauwerk schließlich eine Höhe von 45 m erreicht hatte, kam es erneut zu einer Planänderung: Bei allen höher liegenden Steinlagen wurde der Neigungswinkel nun auf nur noch 43° reduziert, wodurch die Pyramide ihre charakteristische Form erhielt. Nach ihrer Fertigstellung hatte sie schließlich eine Seitenlänge von 183 m und eine Höhe von knapp 105 m.
Als Grund für diese mehrmaligen Änderungen wird meist der relativ weiche Untergrund aus Tonschiefer in Verbindung mit dem ursprünglich zu steilen Neigungswinkel gesehen, was zu Rissen im Bau führte. Einige Forscher vertreten allerdings auch die Ansicht, dass die außergewöhnliche Form dieser Pyramide gar keine Notlösung darstellte, sondern in Wirklichkeit von vornherein so geplant war. So wurde etwa die Hypothese aufgestellt, die unterschiedlichen Böschungswinkel könnten die Einheit von Ober- und Unterägypten symbolisieren. Nach einer anderen Idee stehen die acht Seiten- sowie die Grundfläche für die Götterneunheit von Heliopolis.
Ganz und gar ungewöhnlich ist das Kammersystem, welches zweigeteilt ist. Das erste ist durch einen Eingang an der Nordseite der Pyramide zu erreichen. Ein absteigender Gang mündet weit unterhalb der Pyramidenbasis in eine Vorkammer, von der aus eine steile Treppe hinauf zu der sogenannten „unteren Kammer“ führt. Südlich dieser Kammer liegt ein senkrechter Schacht, „Kamin“ genannt, der direkt in der senkrechten Pyramidenachse liegt. Die sogenannte „obere Kammer“ liegt deutlich höher und ist durch einen Gang erreichbar, der von der Westseite der Pyramide herabführt. Die obere und untere Kammer sind nur durch einen schmalen, grob ins Mauerwerk geschlagenen Gang miteinander verbunden. Beide Kammern und die Vorkammern besitzen Decken, die als Kraggewölbe gefertigt sind.
An der Ostseite des Bauwerks lag eine offene Opferstelle, die aus einem Altar und zwei Stelen, die Name und Titulatur des Snofru trugen, bestand. In späterer Zeit wurde diese Opferstelle allmählich zu einem kleinen Tempel ausgebaut. An der Südseite der Knickpyramide wurde erneut eine Kultpyramide errichtet, dieses Mal allerdings nicht mehr in Stufenbauweise. Mit einer Seitenlänge von 52,5 m stellt sie sowohl in absoluter Größe als auch in Relation zur Hauptpyramide das mit Abstand größte Exemplar aller Kultpyramiden dar. Der gesamte Pyramidenbezirk wurde von einer Mauer aus Kalkstein umschlossen. Den Zugang bildete ein Aufweg, der von Osten kommend in die Nordseite der Umfassungsmauer mündet. Er verbindet den Komplex mit dem Taltempel, der das älteste bisher bekannte Exemplar dieses Gebäudetyps darstellt. Dieser Tempel besteht aus drei Abschnitten: Der südliche besteht aus Magazinräumen. Die Wände dieses Tempelabschnitts sind mit Reliefs verziert, die eine Prozession von personifizierten Opferstiftungen darstellen. Den Mittelteil des Tempels bildet ein offener Hof, den Nordteil schließlich ein Portikus mit zehn dekorierten Pfeilern, auf denen Snofru beim Feiern des Sed-Festes zum 30-jährigen Thronjubiläum dargestellt ist. Hinter den Pfeilern befinden sich sechs Nischen, in denen ursprünglich Statuen des Herrschers standen.
Die Rote Pyramide in Dahschur
Wohl im 14. Jahr der Zählung wurde nur zwei Kilometer nördlich der Knickpyramide der Bauplatz für die Rote Pyramide vorbereitet. Die eigentliche Grundsteinlegung ist für das 15. Jahr der Zählung inschriftlich belegt. Dieses Mal wurde mit einem Neigungswinkel von kleiner 45° von Anfang an ein deutlich flacherer Neigungswinkel verwendet als bei den Vorgängerbauten. Nachträgliche Bauänderungen konnten somit vermieden werden. Im 24. Jahr der Zählung waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Die fertige Pyramide hatte eine Seitenlänge von etwa 219 m und eine Höhe von etwa 104,5 m. Die Kalkstein-Verkleidung wurde in späterer Zeit fast völlig abgetragen, dennoch sind Fragmente eines Abschlusssteins gefunden worden. Bei diesem Pyramidion handelt es sich um den bisher ältesten Fund seiner Art. Es weist allerdings mit etwa 54° eine steilere Neigung auf als die erhaltenen Reste der Roten Pyramide bzw. auch des oberen Abschnitts der benachbarten älteren Knickpyramide (beide rund 43°), deren steilerer unterer Teil einen ähnlich großen Neigungswinkel hat.
Der Eingang zum Kammersystem befindet sich an der Nordseite des Bauwerks in knapp 31 m Höhe. Ein absteigender Gang führt von dort aus zu zwei hintereinander gelegenen, nordsüdlich ausgerichteten Kammern, die sich nur wenige Meter über der Pyramidenbasis befinden. Beide besitzen Decken, die als Kraggewölbe erbaut wurden. Vom südlichen Raum aus führt ein kurzer Gang weiter zur etwas höher gelegenen eigentlichen Grabkammer. Auch sie besitzt ein Kraggewölbe. Eine Neuerung bildet ihre ostwestliche Ausrichtung.
Die weiteren Gebäude des Pyramidenkomplexes scheinen erst nach dem Tod Snofrus vollendet worden zu sein. Der Totentempel ist heute weitgehend zerstört. Sein Zentrum bildete eine Opferstätte mit einer Scheintür. Um sie herum wurden Magazinräume aus Lehmziegeln errichtet. Pyramide und Tempel waren ursprünglich von einer Umfassungsmauer umgeben. Südöstlich der Anlage wurde ein größerer Ziegelbau gefunden, der offenbar Werkstätten beherbergte. Der Aufweg blieb unvollendet, ein Taltempel konnte bisher nicht entdeckt werden. Nahe dem Niltal wurden allerdings die Reste einer Umfassungsmauer entdeckt, die zur einstigen Pyramidenstadt gehört haben könnte, von der Rainer Stadelmann hingegen glaubt, dass sie zum Taltempel gehörte.
Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, in welcher Pyramide Snofru schließlich bestattet wurde. Achmed Fakhry hielt das obere Kammersystem der Knickpyramide für seine letzte Ruhestätte, Rainer Stadelmann hingegen die Rote Pyramide. Eindeutige Belege gibt es bisher für keine der beiden Varianten. In keiner von Snofrus Pyramiden wurde ein Sarkophag gefunden. Zwar wurden in den 1950er-Jahren in der Roten Pyramide Mumienreste gefunden, aber auch diese ließen sich nicht Snofru zuordnen und stammten mit großer Wahrscheinlichkeit aus einem späteren Begräbnis. Anderseits wurde festgestellt, dass nur die Knickpyramide bestimmte Elemente aufweist, die normalerweise auf eine genutzte Begräbnispyramide hindeuten, so zum Beispiel Nebenpyramiden, eine Umgrenzungsmauer und anderes mehr.
Die kleinen Stufenpyramiden
Über ganz Ägypten verstreut liegen mindestens sieben einander recht ähnliche kleine Stufenpyramiden. Die südlichste von ihnen steht auf der Nilinsel Elephantine. Die anderen befinden sich in el-Kula nahe Hierakonpolis, in Edfu-Süd, Ombos nahe Naqada, Sinki nahe Abydos, Saujet el-Meitin und Seila am Rand der Faijum-Oase. Möglicherweise gehörte auch die heute nicht mehr erhaltene Pyramide von Athribis zu dieser Gruppe.
Diese Bauwerke haben eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften: Sie besitzen etwa die gleichen Ausmaße, bestehen aus nur grob behauenen Steinen von lokaler Herkunft, und ihre Seiten sind nicht nach den Himmelsrichtungen, sondern nach dem Verlauf des Nil ausgerichtet. Das markanteste Merkmal ist allerdings das völlige Fehlen eines Kammersystems; sie konnten also offensichtlich nicht als Gräber gedient haben. Welche Funktion sie stattdessen hatten, ist bis heute nicht geklärt. Ältere Theorien gehen davon aus, dass es sich um Kenotaphe (Scheingräber) handelt, die entweder für den König oder für Königinnen dienten. Eine spätere Theorie sieht sie als Zeugnisse königlicher Macht in Zusammenhang mit einem Pfalzsystem. Stephan Seidlmayer, der die bisher neueste Theorie zur Funktionsweise dieser Bauwerke aufgestellt hat, hält sie für Repräsentations- und Verehrungsstätten des Königs in den Verwaltungs- und Wirtschaftszentren Ägyptens. Er geht davon aus, dass ursprünglich in jedem Gau Ägyptens ein solches Monument gestanden haben könnte.
Nur die Pyramide von Seila lässt sich zweifelsfrei Snofru zuordnen. Dort wurden bei Ausgrabungen Ende der 1980er Jahre zwei Stelen gefunden, von denen eine den Namen dieses Herrschers trägt. Bei den anderen Pyramiden fehlen solche eindeutigen Funde. Zwar wurde in den Trümmern der Pyramide von Elephantine ein Granit-Kegel gefunden mit einer Inschrift des Namens von Snofrus Vorgänger Huni, jedoch nimmt diese Inschrift nur Bezug auf die Gründung einer Festung und geht nicht auf die Pyramide ein. Es ist daher vermutet worden, dass dieser Kegel lediglich als Baumaterial wiederverwendet wurde. Da somit nur die Stele in Seila für eine eindeutige Datierung übrig bliebe, wären alle kleinen Stufenpyramiden in die Regierungszeit Snofrus zu datieren.
Diese Ansicht ist allerdings nicht unumstritten. So gehen einige Forscher mittlerweile davon aus, dass es sich bei der Pyramide von Seila um eine architektonische Weiterentwicklung handelt. So ist sie im Gegensatz zu den anderen kleinen Stufenpyramiden vier- und nicht dreistufig. Außerdem besitzt sie eine etwas größere Seitenlänge. Demnach wären die anderen Pyramiden noch unter Huni errichtet worden und lediglich die Pyramide von Seila unter Snofru. In welchen Abschnitt seiner Regierungszeit ihre Errichtung fällt, ist allerdings aufgrund fehlender Schriftzeugnisse unklar. So wird es etwa von Roman Gundacker an deren Beginn gesetzt, von Miroslav Verner hingegen an ihr Ende.
Die Talsperre von Sadd el-Kafara
Auf dem Palermostein wird für das „Jahr nach dem 6. Mal der Zählung“ vom Bau einer „Mauer Ober- und Unterägyptens“ berichtet. Damit könnte die Talsperre Sadd el-Kafara im Wadi Garawi bei Helwan am östlichen Nilufer gemeint sein. Da sich das Wadi Garawi direkt gegenüber der am westlichen Nilufer gelegenen Nekropole von Dahschur befindet, könnte die Talsperre als Schutzwehr für die Nekropole gedient haben. Für eine Gleichsetzung des im Palermostein erwähnten Baus mit der Talsperre sprechen auch Keramikfunde, die in ihren Ruinen gemacht wurden und ihre Bauzeit eindeutig in die 3. bis 4. Dynastie datieren. Sadd el-Kafara wurde allerdings nie fertiggestellt, denn bereits während der Bauarbeiten scheint die Talsperre durch Regenfluten zerstört worden zu sein. Nur die Ansätze des Bauwerks an den Rändern des Wadi haben sich erhalten. Aus ihnen lässt sich rekonstruieren, dass es ursprünglich eine Länge von 110 m und eine Höhe von 14 m hatte. Das Innere des Bauwerks bestand aus einem 33 m breiten Erdkern, der von zwei steinernen, treppenförmigen Stützkörpern umschlossen wurde. Die Breite an der Basis betrug 98 m und an der Krone 56 m.
Statuen
Das bislang einzige sicher belegte und in größeren Teilen erhaltene rundplastische Abbild des Snofru ist eine von Ahmed Fakhry in Dahschur ausgegrabene, publizierte und von Rainer Stadelmann im Jahr 1994 per Zufall im Antikenmagazin von Gizeh wiedergefundene, stark beschädigte Kalkstein-Statue. Sie ist 200 cm hoch und war ursprünglich bemalt. Der König trägt die weiße Krone Oberägyptens, einen breiten Halskragen, ein Armband und einen kurzen Schurz. Auch bei der Pyramide von Seila wurden Reste einer Statue des Snofru aus Alabaster gefunden, diese war allerdings nur noch in Fragmenten erhalten. Der Palermostein berichtet von zwei weiteren Statuen, von denen eine aus Kupfer und die andere aus Gold gefertigt war. Von diesen Statuen ist allerdings nichts erhalten.
Snofru im Gedächtnis des Alten Ägypten
Altes Reich
Snofru genoss während des Alten Reiches einen umfangreichen Totenkult. Bis zum Ende der 6. Dynastie sind insgesamt 18 Totenpriester und mit dem Totenkult in Zusammenhang stehende Beamte belegt. Vier von ihnen sind aus Gizeh bekannt, einer aus Abusir, einer aus Meidum und zwölf aus Dahschur. Offensichtlich war also letzterer Ort das Zentrum von Snofrus Verehrung. Geht man nur von der reinen Zahl der bekannten Totenpriester und Beamten aus, war dies sicherlich nicht der umfangreichste Totenkult für einen König der 4. Dynastie. So sind etwa für Cheops 73 und für Chephren 32 Totenpriester und Beamte bezeugt. Dafür hielt er deutlich länger an. Während der Totenkult von Cheops und Chephren in der 6. Dynastie allmählich zum Erliegen kam, erließ in dieser Zeit Pharao Pepi I. sogar noch ein Dekret, in dem er Snofrus Beamtenschaft in Dahschur besondere Privilegien zugestand. Der Kult hielt sich schließlich bis in die Erste Zwischenzeit und blühte im Mittleren Reich erneut auf.
Ein solcher Totenkult hatte stets auch große wirtschaftliche Bedeutung, da für die Versorgung mit Opfergaben zahlreiche landwirtschaftliche Güter (Domänen) eingerichtet wurden. Für Snofru lassen sich 16 solcher Domänen nachweisen. Hinzu kommen noch elf Ortsnamen, die mit dem Namen des Snofru gebildet wurden.
Mittleres Reich
Der Totenkult des Snofru erfuhr im Mittleren Reich eine Fortsetzung. Aus Dahschur sind für diesen Zeitraum zehn Totenpriester und Beamte belegt. Weiterhin wurden hier zahlreiche Denkmäler gefunden, in denen Snofru in Opferformeln gemeinsam mit Göttern angerufen wird. Er scheint also im Mittleren Reich bereits selbst als Gott verehrt worden zu sein. Die Beamtenschaft von Dahschur sah ihn aber auch noch als obersten Dienstherren an, dessen kultische Verehrung letztlich ihre eigene Existenzgrundlage bildete.
Die Lehre für Kagemni
Die Lehre für Kagemni ist nur unvollständig erhalten. Der Papyrus Prisse, auf dem sie überliefert ist, stammt aus der 12. Dynastie, die Lehre selbst könnte aber schon in der 9./10. Dynastie entstanden sein. Snofru spielt in diesem Text keine aktive Rolle, Hauptfigur ist vielmehr Kagemni, der sich die in der Lehre beschriebenen Maximen zu eigen gemacht hat und dafür nach dem Tod des Huni und dem Regierungsantritt des Snofru zum Wesir befördert wird. Ein Wesir namens Kagemni ist tatsächlich historisch belegt, er lebte allerdings erst unter Pharao Teti II. in der 6. Dynastie und wird hier anachronistisch an den Beginn der 4. Dynastie gesetzt.
Die Prophezeiung des Neferti
Bei der Prophezeiung des Neferti handelt es sich um eine Erzählung, die zu Beginn der 12. Dynastie unter Amenemhet I. entstand. Im Gewand einer vermeintlich alten Prophezeiung sollte sie die Machtübernahme dieses Königs legitimieren, der in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zur vorherigen Königsfamilie der 11. Dynastie stand. Die Handlung spielt am Königshof von Snofru. Dieser lässt sich vom Vorlesepriester Neferti zukünftige Ereignisse berichten. Neferti malt zunächst ein düsteres Bild der Zukunft: Der Nil trocknet aus, Ausländer siedeln sich im Norden des Landes an und der Sonnengott Re wendet sich von den Menschen ab. Er beendet seine Prophezeiung aber mit der Aussicht auf einen Retter, der dem Land wieder Ordnung bringt. Er wird als Sohn einer Nubierin beschrieben und Ameni genannt, wodurch sehr leicht erkennbar ist, dass niemand anderes als Amenemhet I. gemeint ist.
Snofru wird in dieser Erzählung als äußerst leutseliger Herrscher porträtiert. So redet er seine Untergebenen stets mit „Kameraden“ und „Freunde“ an.
Die Erzählungen des Papyrus Westcar
Als Entstehungszeit der Geschichten des Papyrus Westcar wird zumeist die 12. Dynastie angenommen, obgleich mittlerweile vermehrt Argumente angeführt werden, sie in die Entstehungszeit des Papyrus selbst, also in die 17. Dynastie zu datieren. Die Handlung spielt am Königshof und dreht sich um Cheops als Hauptperson. Um sich die Langeweile zu vertreiben, lässt er sich von seinen Söhnen wundersame Geschichten erzählen. Insgesamt vier Söhne des Cheops treten auf und berichten von Zauberern und deren Taten. Die dritte Geschichte wird von Prinz Bauefre erzählt und handelt von einer Bootsfahrt, die Snofru auf einem See unternimmt. An die Ruder des Bootes lässt er 20 junge Frauen setzen, die nur mit Netzen bekleidet sind. Als einer der Frauen ein Anhänger in Form eines Fisches ins Wasser fällt, lässt Snofru seinen Vorlesepriester Djadjaemanch herbeiholen, der den Anhänger wiederfindet, indem er mittels eines Zauberspruches den See „umklappt“ und die eine Hälfte des Wassers einfach auf die andere legt.
Noch deutlicher als in der Prophezeiung des Neferti tritt hier die Leutseligkeit Snofrus hervor. Während er hier ebenso einen sehr vertrauten Umgang mit seinen Untergebenen pflegt, wird sein Nachfolger Cheops im Gegensatz dazu als äußerst ernst und teilweise frevelhaft dargestellt.
Inschriften und Denkmäler auf dem Sinai
Hohe Verehrung wurde Snofru im Mittleren Reich auch auf dem Sinai zuteil. Im Wadi Maghara, hauptsächlich aber im Hathor-Tempel von Serabit el-Chadim und in dessen näherer Umgebung, wurden ihm zu Ehren zahlreiche Stelen, Statuen und Opfertafeln aufgestellt und Felsinschriften angebracht. Snofru wurde hier einerseits als Schutzgottheit verehrt, andererseits auch als „Urkönig“, der nach ägyptischer Vorstellung den Sinai erstmals für Ägypten erschloss. Letzteres dürfte allerdings kaum den historischen Tatsachen entsprechen, sondern scheint vielmehr auf das Felsbild des Snofru im Wadi Maghara zurückzugehen.
Neues Reich
Die Priesterschaft des Snofru in Dahschur scheint im Neuen Reich nicht mehr existiert zu haben. Auch die Verehrung auf dem Sinai war zum Erliegen gekommen. Aus Serabit el-Chadim ist lediglich ein Inschriftenfragment überliefert. Dafür avancierte allerdings die Meidum-Pyramide zwischen der 18. und der 20. Dynastie zu einer Pilgerstätte. Zahlreiche hieratische Graffiti im Totentempel belegen die Verehrung Snofrus. Nach der 20. Dynastie fand aber auch diese Verehrung ein Ende und während der 22. Dynastie wurden im Schuttgürtel der Pyramide schließlich Gräber angelegt.
Ptolemäerzeit
Die letzten ägyptischen Zeugnisse, die Snofru erwähnen, stammen aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Wichtig sind hier vor allem eine Stele und ein Sarkophag, die zwei Priestern gehörten. Unter ihren zahlreichen Titeln befindet sich auch der eines „Priesters des Königs von Ober- und Unterägypten Snofru“. Die beiden Priester stammten aus Sakkara und es ist anzunehmen, dass Snofru während dieser späten Phase der ägyptischen Geschichte die Rolle eines Urkönigs und Ortsgottes der hiesigen Nekropole einnahm und vielleicht in der Nähe des Serapeums eine Kultstätte erhielt.
Moderne Rezeption
Der französische Schriftsteller und Archäologe Guy Rachet veröffentlichte in den Jahren 1997 und 1998 fünf Romane über die Pyramidenbauer der 4. Dynastie. Die beiden ersten Bände Die Sonnenpyramide und Traum aus Stein spielen während der Regierungszeit des Snofru und haben dessen Nachfolger Cheops als Hauptperson.
Ein 1960 entdeckter Hauptgürtel-Asteroid trägt Snofrus Namen in englischer Schreibweise: (4906) Seneferu.
Literatur
Allgemeines
Peter A. Clayton: Die Pharaonen. Bechtermünz, Augsburg 1994, ISBN 3-8289-0661-3, S. 40 ff., 49, 88.
Martin von Falck, Susanne Martinssen-von Falck: Die großen Pharaonen. Von der Frühzeit bis zum Mittleren Reich. Marix, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-0976-6, S. 90–101.
Alan Gardiner, Eckart Kißling: Geschichte des Alten Ägypten. Eine Einführung (= Kröners Taschenausgabe. Band 354). Kröner, Stuttgart 1965, , S. 43, 78, 79, 81 ff., 96, 106, 137, 152, 460, 467.
Roman Gundacker: Untersuchungen zur Chronologie der Herrschaft Snofrus (= Beiträge zur Ägyptologie. Band 22). Wien 2006.
Roman Gundacker: Anmerkungen zum Bau der Pyramiden des Snofru. In: Sokar. Nr. 11, 2005.
Pierre Montet: Das alte Ägypten. Magnus, Essen 1975, S. 14, 73, 84, 96, 104, 110, 117 ff., 156, 205, 283, 310, 312 ff., 319, 325, 342, 367, 377, 436, 446.
Pierre Montet: Das Leben der Pharaonen. Propyläen, Frankfurt/ Pawlak, Herrsching 1960, 1970, 1995, S. 13–21.
Thomas Schneider: Lexikon der Pharaonen. Albatros, Düsseldorf 2002, ISBN 3-491-96053-3, S. 278–279.
Zum Namen
Jürgen von Beckerath: Handbuch der Ägyptischen Königsnamen. Deutscher Kunstverlag, München/ Berlin 1984, ISBN 3-422-00832-2, S. 52, 178.
Alan Henderson Gardiner, Thomas Eric Peet, Jaroslav Černý: The Inscriptions of Sinai Band 1: Introduction and plates (= Memoir of the Egypt Exploration Fund. Band 45, ). 2nd edition, revised and augmented by Jaroslav Černý, Egypt Exploration Society, London 1955, Tafel 4, Bild 6.
John Garstang: Mahâsna and Bêt Khallâf.Quaritch, London 1902, Reprint 1986, ISBN 1-85417-039-2, Tafel 25.
Siegfried Schott: Hieroglyphen. Untersuchungen zum Ursprung der Schrift. In: Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften. Nr. 24, Wiesbaden 1950, S. 6, Figur 5, .
Zu den Pyramiden
Zahi Hawass (Hrsg.): Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2003, ISBN 3-8289-0809-8, S. 112–119.
Mark Lehner: Geheimnisse der Pyramiden. Econ, Düsseldorf 1997, ISBN 3-572-01261-9, S. 96–105.
Frank Müller-Römer: Der Bau der Pyramiden im Alten Ägypten. Utz, München 2011, ISBN 978-3-8316-4069-0, S. 151 ff.
Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1142-7, S. 80–105.
Rainer Stadelmann: Snofru und die Pyramiden von Meidum und Dahschur. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. (MDAIK) Band 36. von Zabern, Mainz 1980, , S. 437–449.
Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1, S. 185–195, 201–218.
Für weitere Literatur zu den Pyramiden siehe unter Meidum-Pyramide, Knickpyramide, Rote Pyramide und Pyramide von Seila.
Detailfragen
Jürgen von Beckerath: Chronologie des pharaonischen Ägypten. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-2310-7, S. 15, 26, 39, 56, 156–160, 162, 175, 187.
Christoph Eger: Steingeräte aus dem Umfeld der Roten Pyramide in Dahschur. In: MDAIK. Band 50, von Zabern, Mainz 1994, ISBN 3-8053-1587-2, , S. 35–42.
Diana Faltings: Die Keramik aus den Grabungen an der nördlichen Pyramide des Snofru in Dahschur. Arbeitsbericht über die Kampagnen 1983–1986. In: MDAIK. Band 45. von Zabern, Mainz 1989, ISBN 3-8053-1106-0, , S. 133–154.
Wolfgang Helck: Ein Siegelabdruck aus der Pyramidenstadt des Snofru. In: Göttinger Miszellen. (GM) Band 119. Göttingen 1990, , S. 43–44.
Wolfgang Helck: Snofru. In: Studien zur altägyptischen Kultur. (SAK) Band I. Buske, Hamburg 1974, , S. 215–225.
Mark Lehner: The Pyramid-Tomb of Hetepheres and the Satellite Pyramid of Khufu. von Zabern, Mainz 1985, ISBN 3-8053-0814-0.
E. Schott: Das Goldhaus unter König Snofru. In: Göttinger Miszellen. Band 3), Göttingen 1972, S. 31–36.
Rainer Stadelmann: Beiträge zur Geschichte des Alten Reiches. Die Länge der Regierung des Snofru. In: MDAIK. Band 43. von Zabern, Mainz 1987, ISBN 3-8053-0537-0, , S. 229–240.
Miroslav Verner: Archaeological Remarks on the 4th and 5th Dynasty Chronology. In: Archiv Orientální. Band 69, Prag 2001, S. 363–418, (PDF; 31 MB).
Dietrich Wildung: Die Rolle ägyptischer Könige im Bewußtsein ihrer Nachwelt. (= Münchener Ägyptologische Studien. (MÄS) Band 17. Teil 1). Deutscher Kunstverlag, München/ Berlin 1969, S. 105–152.
Weblinks
Snofru auf Digital Egypt (englisch)
The Ancient Egypt Site (englisch)
Steckbrief Snofru
Anmerkungen
Einzelnachweise
Altägyptischer König (Altes Reich)
Geboren im 27. Jahrhundert v. Chr.
Gestorben im 27. Jahrhundert v. Chr.
Mann
4. Dynastie (Ägypten)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden |
132613 | https://de.wikipedia.org/wiki/Operation%20Market%20Garden | Operation Market Garden | Operation Market Garden war der Deckname für eine Luft-Boden-Operation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Sie fand zwischen dem 17. und dem 27. September 1944 in den niederländischen Provinzen Noord-Brabant und Gelderland (und in äußerst geringem Umfang am Niederrhein in Deutschland) statt und hatte das Ziel, den deutschen Westwall zu umgehen und den britischen und amerikanischen Truppen einen raschen Vorstoß ins Deutsche Reich zu ermöglichen.
Der Plan bestand aus zwei Teilen, der Luftlandeoperation Market und der Operation Garden. Die Teiloperation Market umfasste den bis dahin massivsten Einsatz von aus der Luft abgesetzten Fallschirmjägern und ist das bis heute größte, aber auch umstrittenste Luftlandeunternehmen geblieben. In drei Wellen wurden zwischen dem 17. und dem 23. September 1944 insgesamt 39.620 Fallschirmjäger hinter den feindlichen Linien abgesetzt. Nur die Operation Varsity vom 24. März 1945, während der im Rahmen der Rheinüberquerung 14.365 Soldaten landeten, übertraf die Anzahl der innerhalb eines Tages abgesetzten Luftlandetruppen.
Später meinte Eisenhower, die Operation sei zu 50 Prozent ein Erfolg gewesen: Zwar verschoben die Alliierten die Frontlinie von Belgien aus nördlich bis Nijmegen, aber das Ziel, die deutschen Verteidigungslinien durch Überschreiten des Nederrijn bei Arnheim zu umgehen, wurde nicht erreicht. Der unerwartet starke deutsche Widerstand in Arnhem verhinderte die Einnahme der wichtigen Rheinbrücke. Die Alliierten mussten sich schließlich unter hohen Verlusten an Menschen und Material zurückziehen. Laut Montgomery war die Operation sogar ein 90-prozentiger Erfolg, was den Prinzen der Niederlande zu der sarkastischen Äußerung veranlasste, sein Land werde wohl keinen zweiten Erfolg Montgomerys überstehen.
Die Planung
Nach der erfolgreichen Landung in der Normandie (ab 6. Juni 1944), der Landung an der Rhonemündung (Operation Dragoon ab 15. August 1944) und der darauf folgenden weitgehenden und relativ schnellen Befreiung Frankreichs fühlten sich die Westalliierten bestärkt, einen risikoreichen Plan, der aber ein schnelles Ende des Krieges in Aussicht stellte, für ein frühzeitiges Überschreiten des Nederrijn auszuarbeiten. Dieser Plan sah die Besetzung der Rheinbrücke in Arnhem sowie mehrerer weiterer Brücken über vorgelagerte Flüsse und Kanäle durch Luftlandekräfte vor. Dabei war klar, dass dies nur für eine kurze Zeit möglich sein konnte und dass darin das größte Risiko der Operation lag. Dieser Teil des Plans hatte den Namen Market. Die von den Luftlandekräften gehaltenen Brücken sollten dann so schnell wie möglich von Landstreitkräften überschritten und der gewonnene Raum somit dauerhaft gehalten werden. Dieser Teil des Plans hatte den Namen Garden. Das Überschreiten des Rheins, der ein natürliches, schwer überwindbares Hindernis zum deutschen Kernland bildete, sollte die Invasion Deutschlands noch im Jahr 1944 ermöglichen.
Während des westalliierten Vormarsches über Nordfrankreich nach Belgien verschlechterte sich die Nachschubsituation (→ Red Ball Express); die „Operation Market Garden“ nahm nun mehr und mehr Gestalt an. Dazu kam der sich verfestigende deutsche Widerstand, so dass die Armee zum Halten gezwungen war. Generalfeldmarschall Model, dem seit dem 17. August 1944 die deutsche Heeresgruppe B unterstand, war es in relativ kurzer Zeit gelungen, seine Einheiten umzuorganisieren.
Beginnend im August 1944 entwickelte Montgomery den Plan, mit seiner 21. Heeresgruppe und mit Unterstützung der 1. US-Armee (Generalleutnant Courtney H. Hodges) über Nordfrankreich, Belgien und die Niederlande von Nordwesten her ins Deutsche Reich vorzudringen, da für einen schnellen gemeinsamen Vorstoß aller drei Heeresgruppen über die gesamte Frontlänge nicht genügend Nachschub in kurzer Zeit verfügbar war. Omar Bradley dagegen, der Kommandeur der 12. US-Heeresgruppe, sprach sich für einen Vorstoß der 3. US-Armee unter Generalleutnant George S. Patton durch Lothringen und ins Saarland aus.
Der Angriff am Nederrijn versprach, mehrere Vorteile zu verbinden: Ein Gelingen der Operationen hätte bei der Umgehung des Westwalls zu einem alliierten Brückenkopf über den Rhein bei Arnhem geführt, noch bevor die sich zurückziehenden Deutschen eine hinreichende Verteidigung hätten aufbauen können. Ein schneller Vorstoß der Alliierten in die Richtung der wichtigen Industrieanlagen des Ruhrgebiets wäre dann möglich geworden. Dadurch wäre dem Deutschen Reich eine Fortsetzung des Krieges wirtschaftlich weitgehend unmöglich gemacht worden. Die deutsche 15. Armee in den Niederlanden wäre eingeschlossen worden, gleichzeitig wären die auf London und Paris gerichteten V2-Angriffe unterbunden und die alliierte Nachschubsituation durch die Sicherung der Zufahrt zum Hafen von Antwerpen über die Schelde verbessert worden. Das Angriffsgebiet lag zudem in günstiger Reichweite für die von England aus operierenden alliierten Luftstreitkräfte.
Am 10. September entschied sich Eisenhower, den Plan Montgomerys anzunehmen und dabei die Anfang August in Großbritannien aufgestellte 1. Alliierte Luftlandearmee einzusetzen. Er sah sich auch dem Druck der US-Regierung ausgesetzt, bis zum Ende des Krieges eine erfolgreiche große Luftlandeoperation durchzuführen, wie sie den Deutschen auf Kreta während des Unternehmens Merkur gelungen war. Allerdings reservierte er einen Teil der alliierten Lufttransportkapazität für die Versorgung der amerikanischen Armeen im Süden.
Operation Market
Für diesen Teil war das Absetzen von mehr als drei Divisionen der 1. Alliierten Luftlandearmee unter Generalleutnant Brereton nahe Eindhoven, Nijmegen und Arnhem vorgesehen, um die niederländischen Brücken über die Flüsse Maas, Waal, den Nederrijn sowie mehrere Kanäle zu nehmen. Diese Einheiten waren die 101. US-Luftlandedivision unter Generalmajor Taylor, die 82. US-Luftlandedivision unter Brigadegeneral Gavin, die britische 1. Luftlandedivision unter Generalmajor Urquhart und die polnische 1. Fallschirmjägerbrigade unter Generalmajor Sosabowski. Das operative Kommando über diese Einheiten in Stärke von 34.600 Mann lag während der Operation beim britischen I. Luftlandekorps unter General Browning.
Als entscheidend wurde der detailliert ausgearbeitete Zeitplan angesehen, der vorsah, dass das XXX. Korps nach drei Tagen die britischen Fallschirmjäger in Arnhem erreicht haben sollte. Dies war aber nur unter der Annahme realistisch, dass die Wehrmacht oder die Waffen-SS in den betroffenen Gebieten nicht mehr über schlagkräftige Einheiten verfügte. Vereinzelte Aufklärungsergebnisse sprachen gegen diese Annahme; diesbezügliche Bedenken wurden von der alliierten Führung jedoch verworfen.
Durch die zu überbrückende Distanz von den englischen Flugplätzen bis zu den Landezonen und die bereits kürzer werdende Tageslichtphase waren drei Tage mit je einem Anflug geplant, da mehr Flüge zu vermehrten Ausfällen durch die Erschöpfung der Piloten und Besatzungen führen würden. Am vierten Tag waren Nachschubflüge eingeplant und für den fünften und sechsten Tag war angekündigt, die 52. Division auf Landeplätzen nördlich von Arnhem einzufliegen.
Die Landezonen
Für die Landungen der Fallschirmeinheiten waren kompakte Landezonen vorgesehen, die jeweils etwa 10 Kilometer vom eigentlichen Ziel entfernt lagen. In einem schnellen Vorstoß sollte dann das Ziel eingenommen werden. Innerhalb der drei Tage musste jede der Divisionen einen Bereich mit einem Radius von etwa 20 Kilometern um das Ziel halten.
Eindhoven
Die erste und südlichste Landezone war für die 101. US-Luftlandedivision unter Generalmajor Maxwell Taylor nördlich von Eindhoven vorgesehen. Die Division sollte Brücken über die Aa, den Willemskanal, die Dommel bei Sint-Oedenrode und den Wilhelminakanal bei Son einnehmen und sich anschließend der Einnahme von Eindhoven zuwenden. Damit war für die 101. ein Bereich von nahezu 65 Kilometern von Eindhoven bis nach Grave zu kontrollieren. Auf Einspruch des britischen Generals Miles Dempsey wurde es der 101. erlaubt, bei Veghel zu halten. Allerdings entstand dadurch eine etwa 20 Kilometer breite Lücke zum nächsten Verteidigungsbereich, der von der 82. US-Luftlandedivision gehalten werden sollte.
Nijmegen
Auch die 82. US-Luftlandedivision hatte einen großen Bereich zu kontrollieren. Vorrangig waren die Groesbeek-Höhen einzunehmen, ein bewaldeter Bezirk etwa zwölf Kilometer östlich von Nijmegen. Die Brücken über die Maas, den Maas-Waal-Kanal und vor allem die Waalbrücke im Zentrum von Nijmegen waren als die endgültigen Ziele der 82. vorgesehen.
Arnhem
Das Heideland westlich von Arnhem war als Landezone für die britische 1. Luftlandedivision vorgesehen. Ihre Hauptziele waren die Straßenbrücke im Stadtzentrum, die heutige John Frostbrug, die westlich über den Nederrijn führende Eisenbahnbrücke und eine Pontonbrücke, die gegen Ende der Operation abgebaut werden sollte. Um also von Süden ausgehend auf die rechte deutsche Rheinseite (mit dem Ruhrgebiet) zu gelangen, ist eine Überquerung sowohl der Waal (etwa bei Nijmegen) als auch des Leks (oder Nederrijns, wie bei Arnhem) erforderlich.
Operation Garden
Durch den neu geschaffenen Korridor der Operation Market sollten Streitkräfte der britischen 2. Armee – genauer das XXX. Korps unter Lieutenant General Brian Horrocks – mit Flankenschutz durch das VIII. und XII. Korps vom belgischen Maas-Schelde-Kanal südlich von Eindhoven in zwei bis vier Tagen 160 Kilometer bis zur Linie Nunspeet–Epe–IJssel vorstoßen. Diese Zeit war vorgesehen, da trotz des zu durchquerenden flachen Landes die sandige Erde, viele Plantagen, kleinere Wälder, Flüsse und Bäche den Vormarsch behindern würden.
War erst einmal Kontakt mit der ersten Luftlandeeinheit geschlossen, sollte diese unter das eigene Kommando gestellt werden. Mögliche zerstörte Brücken wären durch einen geeigneten von der 43. Division zu bauenden Übergang zu ersetzen. Die Panzereinheiten waren angewiesen, die Flussufer abzusichern.
Zum Frontdurchbruch war die Kampfgruppe „Walther“ des deutschen LXXXVI. Korps zu überwinden, die mit zehn vom Kampf geschwächten Bataillonen und zehn Artilleriegeschützen unmittelbar vor der Durchbruchzone lag.
Für den 17. September waren von den Meteorologen mindestens zwei Schönwettertage angekündigt, so dass dieser Termin als erster Landungstag gewählt wurde.
Die Voraufklärung
Bedingt durch eine mangelnde Koordination zwischen dem SHAEF, der 21. Heeresgruppe und der 1. Alliierten Luftlandearmee, kam es zu schwerwiegenden Aufklärungs- und Übermittlungsfehlern. Die Alliierten rechneten bei Arnhem lediglich mit einigen Volkssturmeinheiten und Hitlerjungen als Gegner, da reguläre deutsche Einheiten sich entweder an der Front befänden oder zur Umgruppierung hinter die deutsche Grenze zurückgezogen hätten.
Als Anfang September vom niederländischen Widerstand die Verlegung von Teilen des II. SS-Panzerkorps unter SS-Obergruppenführer Wilhelm Bittrich in das Gebiet um Arnhem gemeldet wurde, herrschte die Meinung vor, die Kampfstärke dieser Einheiten sei aufgrund ihrer vorherigen Verluste an Personal und schwerer Ausrüstung zu gering und sie selbst zu weit auseinandergezogen, um den Erfolg der Operation ernsthaft zu gefährden. Obwohl die alliierte Luftaufklärung in der Woche vor dem Angriff die Anwesenheit deutscher Panzer festgestellt hatte, fand diese Information bei der Planung der folgenden Phase keine Berücksichtigung mehr.
Die Situation der deutschen Streitkräfte
Deutschland hatte keinen Gegenplan zur Operation Market Garden. Zwar wurde am Maas-Schelde-Kanal bei Lommel und Neerpelt mit einem Durchbruch gerechnet, aber wegen mangelnder Möglichkeiten zur Luftaufklärung waren weder ein Termin noch die möglicherweise beteiligten Einheiten und deren Stärke bekannt. Der deutsche Verteidigungsplan zog zwei Möglichkeiten in Betracht:
Entweder eine alliierte Küstenlandung der britischen 4. Armee (die tatsächlich nicht existierte) an der niederländischen Küste, um von dort aus die Reste der deutschen 15. Armee anzugreifen,
oder einen alliierten Durchbruch nach Wesel (wie er nach der Operation Market Garden tatsächlich durchgeführt wurde), um von dort aus weiter zum Ruhrgebiet vorzurücken. Daher wurde auch mit einer Fallschirmlandung im Norden des Ruhrgebiets gerechnet, damit die anderen Operationen unterstützt werden konnten.
Model bezog mit seinem Stab das Hotel De Tafelberg in Oosterbeek. Ein weiterer Teil seines Stabs kam im Hotel Hartenstein unter, östlich der britischen Landezone bei Arnhem. SS-Obergruppenführer Wilhelm Bittrich hatte sein Hauptquartier in Doetinchem, etwa 25 Kilometer östlich von Arnhem. Seine Truppen waren im gesamten Areal zwischen Arnhem und Deventer verteilt. Nördlich von Arnhem lagen die 9. und 10. SS-Panzer-Division unter SS-Obersturmbannführer Walter Harzer, deren Fahrzeuge zu Wartungszwecken nach Deutschland abrücken sollten. Die SS-Kampfgruppe „Hohenstaufen“, die das Überbleibsel der ehemaligen 9. SS-Panzer-Division „Hohenstaufen“ bildete, war mit ihren Panzern auf dem Weg nach Siegen, um dort die Fahrzeuge überholen zu lassen. Die letzten Panzer sollten am 17. September abziehen. Die 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ war nach Aachen abkommandiert worden (das am 21. Oktober 1944 nach sechswöchiger Schlacht fiel).
Um mehr Reserveeinheiten zum Schutz des Ruhrgebiets abkommandieren zu können, war SS-Brigadeführer Heinz Harmel von Bittrich nach Berlin geschickt worden, um diese Bitte im SS-Hauptquartier zu unterbreiten. Währenddessen wurden alle Truppen auf ein Abrücken nach Osten vorbereitet. Von den Luftlandungen der Alliierten wurden die Deutschen beinahe völlig überrascht.
Die Landung
Vorbereitungsaktionen
Am Samstag, dem 16. September 1944, bombardierten kurz vor Mitternacht zur Vorbereitung der Operation 200 britische Lancaster und 23 Mosquitos vier deutsche Flugfelder im Norden der Niederlande. Am nächsten Morgen flogen 822 B-17 der 8th Air Force Luftangriffe auf die 117 bekannten deutschen Flak-Stellungen, die entlang der Einflugschneisen für die Truppentransporter der Fallschirmdivisionen lagen. Weiterhin bombardierten sie Flugfelder in Eindhoven, Deelen und Ede. Als Reserveflugeinheiten waren noch 54 Lancaster mitgeflogen. Zusätzlich attackierten 85 Lancaster und 5 Mosquitos die Insel Walcheren im Süden der Niederlande. Es gab kaum nennenswerte deutsche Gegenwehr, lediglich zwei Lancaster, zwei B-17 und drei Mosquitos waren als Verlust zu verzeichnen.
Zur Unterstützung der Operation rief die niederländische Exilregierung aus London alle Transportarbeiter im Heimatland zu einem Streik auf. Bis zum Ende der deutschen Besatzung beteiligten sich 30.000 Eisenbahner an diesem Streik.
Der Anflug (17. September)
Der 17. September war ein sonniger Tag. Die Flugzeuge mit den Lastenseglern im Schlepptau starteten gegen 9:30 Uhr von den Flugplätzen in Großbritannien. Danach folgten die Douglas DC-3/C-47 mit den an Bord befindlichen Fallschirmtruppen. Die 101. US-Luftlandedivision flog die südliche Route in die Niederlande, während die 82. US-Luftlandedivision und die britische 1. Luftlandedivision die Nordroute flogen. Die beiden Flugzeugkolonnen erstreckten sich über eine Länge von mehr als 150 Kilometer und erreichten eine Breite von nahezu fünf Kilometern. Insgesamt waren 1051 Truppentransporter und 516 Lastensegler-Schleppkombinationen auf dem Weg.
Als Geleitschutz flogen auf der Nordroute 371 Spitfire, Tempest und Mosquitos mit. Auf der Südroute schützten 548 Thunderbolts, Lightnings und Mustangs die Transportflugzeuge. Zur Sicherheit wurden die deutschen Flak-Stellungen noch einmal von 212 Thunderbolts beschossen. Gleichzeitig bombardierten 48 Mitchells und 24 Bostons militärische Einrichtungen bei Nijmegen, Deelen, Ede und Kleve.
Auch an diesem Tag gab es kaum deutsche Gegenwehr, lediglich im Raum Eindhoven gab es einige Angriffe deutscher Jagdflugzeuge. Während des Anflugs verloren die Alliierten 68 Truppentransporter und 71 Lastensegler-Schleppkombinationen. Die Royal Air Force meldete zwei und die United States Army Air Forces 18 Verluste von Jagdflugzeugen.
Market-Landungen
Kurz nach Mittag landeten die ersten Lastensegler der britischen 1. Luftlandedivision, gefolgt von der Divisionsartillerie und den abspringenden Truppen. Es gab nur vereinzelte Gleiterverluste. Dass zwei Lastensegler mit je einem Panzerabwehrgeschütz nicht ihr Ziel erreichten, war der wohl schwerste Verlust.
In der Absprungzone Eindhoven landete das 501. Fallschirminfanterieregiment der 101. US-Luftlandedivision genau in ihrer Landezone südlich von Veghel. Das 1. Bataillon verfehlte den Landepunkt und kam bei Heeswijk auf der falschen Seite des Willemskanals und der Aa herunter. Das 502. und das 506. Regiment landeten mit dem Divisionshauptquartier nördlich des Sonschen Waldes.
Die 82. US-Luftlandedivision verlor bei ihrer Landung nur zwei DC-3. Das 504. Fallschirminfanterieregiment landete nördlich von Grave – allerdings verfehlte eine Kompanie des zweiten Bataillons das Ziel und landete westlich der Maasbrücke. Die 505. und die 508. Fallschirminfanterie kamen direkt bei den Groesbeek-Höhen herunter. Hier landete auch das 376. Fallschirmartilleriebataillon; die erste Artillerielandung, die jemals in einer Kampfsituation durchgeführt wurde. Das britische Hauptquartier landete gegen 13:30 Uhr ebenfalls bei Groesbeek. Ein kleiner Trupp der 82. marschierte auf direktem Weg zu seinem Sammelpunkt. Da das Operationsgebiet nahe der deutsch-niederländischen Grenze lag und die Grenzführung dort bis heute sehr irreführend geregelt ist, überquerten die Soldaten dieses Trupps bei Weeze als erste Alliierte die deutsche Grenze; sie verließen das Reichsgebiet nach etwa hundert Metern wieder, ohne Feindkontakt gehabt zu haben. Von dieser Begebenheit existieren keine Bilder und niemandem des Trupps war es wohl bewusst; auch die Deutschen schienen es nicht bemerkt zu haben, es fiel erst nach dem Krieg auf.
Bei Arnhem vollendeten die Briten ihre Landungen. Die britische 1. Fallschirmbrigade konnte ihre Landezone gegen 13:53 Uhr westlich von Arnhem erreichen.
Insgesamt wurden während der Operation Market 20.000 Soldaten, 511 Fahrzeuge, 330 Kisten für die Artillerie und 590 Tonnen Nachschub erfolgreich in die Niederlande gebracht. Brereton flog mit der ersten Welle wieder zurück nach England in das Hauptquartier, um die zweite Welle auf den Weg zu bringen.
Garden-Offensive
Um 14 Uhr eröffneten 408 Geschütze des XXX. Korps in Lommel an der eine Woche zuvor eroberten Brücke Joe’s Bridge das Feuer auf die gegenüberliegende deutsche Kampfgruppe „Walther“ des deutschen LXXXVI. Korps am Schelde-Maas-Kanal. Die Brücke war bereits im Jahre 1940 von den Belgiern gesprengt worden, die Deutschen hatten direkt daneben aber eine hölzerne Pontonbrücke errichtet, die von einem 8,8-cm-Geschütz aus einem kleinen Haus am Ufer beschützt wurde. Als die alliierten Panzer vorrückten, setzte von deutscher Seite Gegenfeuer ein, das die ersten in Zweierreihe vorrückenden Panzer außer Gefecht setzte. Der den Vorstoß leitende Lieutenant Colonel J.O.E. Vandeleur rief zur Luftunterstützung eine Typhoon-Staffel herbei, welche die deutschen Stellungen kurz darauf heftig unter Feuer nahm. Danach war deren Widerstand gebrochen und dem Vormarsch des XXX. Korps stand nichts mehr im Weg.
Die Panzerdivision unter Major General A. Adair erreichte gegen 19:30 Uhr das Städtchen Valkenswaard. Das XII. Korps unter Lieutenant General Neil Ritchie attackierte zusammen mit der 15. und der 53. Division weiter nördlich die deutsche Kampfgruppe „Chill“, eine Einheit des LXXXVIII. deutschen Korps, und erreichte dabei nur langsame Fortschritte.
Unterdessen hatte die 101. US-Luftlandedivision die meisten Straßen- und Eisenbahnbrücken im Raum Heeswijk-Veghel unter Kontrolle. Doch bei Son wurde direkt vor ihren Augen die Straßenbrücke über den Wilhelminakanal von den Deutschen gesprengt. Ein Vorstoß des 2. Bataillons der 502. Fallschirminfanterie gegen eine andere Brücke wurde zurückgeworfen.
Die Schlacht um die Brücken
Die 508. und 505. Fallschirminfanterieregimenter hatten beiderseits von Groesbeek ihre Verteidigungsstellungen aufgebaut, während das 504. die Brücke über die Maas bei Grave einnahm. Als die beiden anderen Regimenter zum Maas-Waal-Kanal vorrückten, sprengten deutsche Kommandos zwei der drei Brücken, doch die südliche Brücke bei Heumen fiel in die Hände der Amerikaner. Ein Vorauskommando des 508. sollte in Nijmegen die Lage an der Waalbrücke erkunden, wurde aber von der deutschen Kampfgruppe „Heinke“ – einer Einheit des deutschen LXXXVI. Korps – daran gehindert.
Deutsche Reaktionen
Als Generalfeldmarschall Model von den alliierten Landungen erfuhr, wechselte er seinen Aufenthaltsort und verlegte die Kommandostelle aus dem Hotel Hartenstein nach Terborg etwa 30 Kilometer weiter östlich und übernahm persönlich das Kommando über das II. SS-Panzerkorps. Entgegen der Meinung von Bittrich, beide Brücken in Arnhem zu sprengen, war Model der Meinung, dass sie dringend für eine deutsche Gegenoffensive gebraucht würden.
In Ostpreußen wurde auch Adolf Hitler, der sich in seinem dortigen Hauptquartier, der Wolfsschanze aufhielt, von den alliierten Landungen unterrichtet. Er beschloss, dass deren Bekämpfung die absolute Priorität hatte, und delegierte alle Luftwaffeneinheiten der dortigen Frontlinie, die aus etwa 300 Kampfflugzeugen bestanden, an Model. Ebenso wurden alle Einheiten der Reserve und Ausbildung des Wehrkreises VI, der der niederländischen Grenze am nächsten lag, sowie alle Einheiten, die gerade im Überführungsstatus bei Wesel lagen oder die Stadt verlassen wollten (etwa 3000 Soldaten), Model zugeteilt. Die Panzerkräfte des niederländischen Kommandos der Wehrmacht unter General Friedrich Christiansen sagten zu, Verstärkung unter Generalleutnant Hans von Tettau zu senden, der Leiter der SS-Schule in Arnhem war.
General Kurt Student wurde angewiesen, die Verteidigung von Eindhoven zu übernehmen. Die Kampfgruppe „Chill“, eine Einheit des deutschen LXXXVIII. Korps, sollte gegen das XII. und das britische XXX. Korps eingesetzt werden. Zusätzlich hatte das Oberkommando West zugesagt, die 59. Infanterie-Division und die 107. Panzerbrigade in Marsch zu setzen, um diese bei Eindhoven gegen die 101. US-Luftlandedivision einzusetzen. Die Kräfte des Wehrkreises VI unter General Kurt Feldt (Generalkommando Feldt) sollten mit Hilfe des II. Fallschirmkorps aus Köln die Groesbeek-Höhen von der 82. US-Luftlandedivision zurückerobern. Die SS-Kampfgruppe „Frundsberg“ hatte den Auftrag, jegliche gegnerische Überquerung der Brücke von Arnhem zu verhindern, und die SS-Kampfgruppe „Hohenstaufen“ sollte die Briten westlich von Arnhem aufhalten. Beide Einheiten gehörten zum II. SS-Panzerkorps.
Fortschritte der Alliierten
Gegen Nachmittag hatte die 1. Luftlandebrigade westlich von Arnhem damit begonnen, die Landezonen abzusichern. Dabei stießen sie auf das deutsche SS-Panzergrenadierregiment 16 unter Hauptsturmführer Sepp Krafft. Diesem Regiment angeschlossen hatten sich Männer einer SS-Trainingsschule aus Arnhem, der Kampfgruppe „Weber“ zugehörende Luftwaffenangehörige aus Deelen sowie Angehörige eines SS-Wachbataillons eines Konzentrationslagers, das der Einheit „Höherer SS- und Polizeiführer Nordwest“ angehörte. Die Briten machten 47 Gefangene, die aus 27 verschiedenen Einheiten kamen.
Die 1. Fallschirmjägerbrigade unter Brigadier G. W. Lathbury begann damit, auf Arnhem vorzurücken. Dazu teilte sie sich in drei Gruppen auf. Die Gruppe „Lion“ ging den zentralen Weg auf Oosterbeek zu. Die Gruppe „Leopard“ nahm den nördlichen und die Gruppe „Tiger“ den südlichen Weg. Zu diesem Zeitpunkt funktionierte die Funkkommunikation noch gut, doch als die einzelnen Gruppen sich voneinander entfernten, begannen die Funkprobleme. Dadurch entstanden auch einige Falschmeldungen oder Falschdeutungen von Funksprüchen. Eine davon lautete, dass die Lastensegler der Aufklärungsschwadron nicht angekommen seien. Daher beschlossen die Gruppen, auf eigene Faust nach Arnhem vorzurücken. In Oosterbeek trafen die Briten auf die deutsche Kampfgruppe „Spindler“, Teil der SS-Kampfgruppe „Hohenstaufen“, die in den Morgenstunden des 18. September den Großteil der 1. Fallschirmjägerbrigade daran hinderte, sich weiter auf die Brücke über den Nederrijn zuzubewegen. Unterdessen gelang es einer anderen Gruppe unter Lieutenant Colonel John Frost, das Stadtzentrum zu erreichen und das Nordende der Brücke einzunehmen. Als Teile der SS-Kampfgruppe „Frundsberg“ unter Brigadeführer Harmel den Weg nach Nijmegen über die Brücke einschlagen wollten, sahen sie, dass ihnen der Weg durch die Briten versperrt war.
18. September
Für den 18. September waren die Wettervorhersagen der alliierten Meteorologen zwar optimistisch, doch die Wetterlage über der britischen Insel machte dann doch den Start der zweiten Welle zunächst unmöglich. Auch die Luftunterstützung für die Operation wurde gekürzt. Dies lag zum einen am Wetter, aber auch an der schlechten Zusammenarbeit zwischen Briten und Amerikanern. So bestand Brereton unter anderem darauf, dass die alliierten Flugzeuge in Belgien am Boden blieben, seine Maschinen aber Einsätze flogen. Über den Niederlanden klarte gleichzeitig das Wetter auf, so dass die deutsche Luftwaffe sehr gute Sicht hatte und mit voller Stärke einzugreifen begann. So war Market Garden die einzige alliierte Operation in Nordwesteuropa mit deutscher Luftüberlegenheit, die hauptsächlich auf das Konto der internen alliierten Streitigkeiten ging.
Die Panzer des XXX. Korps rollten weiter auf Eindhoven vor. Die 213. Brigade blieb als Sicherung in Valkenswaard zurück, und die restlichen Einheiten nahmen den Weg in Richtung Helmond, östlich von Eindhoven. Dort setzte aber die deutsche Kampfgruppe „Walther“ dem Vormarsch vorerst ein Ende, indem sie die Panzer zum Halten zwang und Widerstand leistete.
In Eindhoven hatten unterdessen die Einheiten der 101. US-Luftlandedivision die Lage weitgehend im Griff und mit Hilfe des niederländischen Widerstands die wenigen deutschen Soldaten aus der Stadt vertrieben. Sie erreichten die zerstörte Brücke über den Wilhelminakanal bei Son und begannen mit dem Aufbau einer Bailey-Brücke. Ein Versuch, die Brücke bei Best einzunehmen, scheiterte, da diese kurz zuvor durch die deutsche 59. Infanterie-Division gesprengt worden war.
Auf deutscher Seite erreichte das LXXXVI. Korps unter General Hans von Obstfelder zusammen mit der 176. Infanterie-Division und der Division „Erdmann“ ihren Zielpunkt zwischen Weert und Helmond.
Während in Nijmegen die Amerikaner wieder und wieder versuchten, die Brücke über die Waal zu erobern, setzten südöstlich von Arnhem Soldaten der Kampfgruppe „Frundsberg“ über den Pannerdens-Kanal (einen kanalisierten Teil des Nederrijn), um nach Nijmegen zu gelangen. Auch die ersten Einheiten des Generalkommandos Feldt erreichten ihren Einsatzort und begannen, die Groesbeek-Höhen anzugreifen. Die Kampfgruppe von Tettau nahm auf ihrem Weg nach Renkum im Westen von Arnhem alle deutschen Soldaten auf, denen sie begegnete, und griff die Briten aus diesem Raum heraus an. Diese waren aus der Richtung Oosterbeek mittlerweile bis auf zwei Kilometer an die Arnhemer Brücke herangekommen. In Arnhem selbst entbrannte der Kampf zwischen den Briten um Frost und der SS-Kampfgruppe „Knaust“ auf das heftigste. Auch aus Nijmegen kamen deutsche Einheiten in den Norden Arnhems und nahmen das Gefecht mit Frosts Einheiten auf. Diese hatten lediglich für 48 Stunden Rationen dabei, auch ihre Munition war nicht unbegrenzt. Die Zeit arbeitete für die Deutschen, denen es weiter gelang, Verstärkung aus Deutschland in das Kampfgebiet zu verlegen.
Von diesen Problemen war Browning nicht viel bekannt, da es immer wieder Probleme mit den Funkverbindungen zu den Einheiten gab. So mussten andere Möglichkeiten der Kommunikation genutzt werden. Das GHQ Liaison Regiment hielt mit seiner speziellen Ausrüstung Kontakt mit London, und auch ein BBC-Nachrichtenteam war anwesend. Die britische 1. Luftlandedivision hatte direkte Verbindung mit ihrem Hauptquartier in Moor Park, England, über das wiederum die Verbindung mit Browning lief. Der niederländische Widerstand konnte die 82. US-Luftlandedivision von den Schwierigkeiten der Briten in Arnhem über ein weitreichendes Telefonsystem unterrichten, dessen Leitungen sogar bis nach Son zur 101. US-Luftlandedivision reichten. Die Briten ließen am nächsten Tag über Moor Park eine direkte Verbindung zu den Landeeinheiten in Arnhem einrichten, doch die Kontrolle war ihnen längst entglitten.
19. September
Die zweite Welle startete verspätet am nächsten Morgen und landete bei Eindhoven mit zwei Bataillonen zur Unterstützung der 101. US-Luftlandedivision. Zusammen mit den britischen Panzern attackierte die 502. Fallschirminfanterie die deutsche 59. Infanterie-Division in deren Stellungen bei Best und machte über 1000 Gefangene. Unterdessen überrannte das Generalkommando Feldt Teile der Landezonen der 101., wurde jedoch kurz darauf von der 505. Fallschirminfanterie wieder zurückgeworfen.
Auch bei Arnhem traf die zweite Welle bei den Briten ein, konnte jedoch nicht zu den kämpfenden Einheiten vordringen, da die Landezonen mittlerweile von SS-Truppen kontrolliert wurden. Bei diesen landeten auch viele für die Briten wichtige Nachschublieferungen. Für die Briten war nun ein Brückenkopf über den Nederrijn wichtig, um eine Verbindung zum von Süden anrückenden XXX. Korps der Briten zu schaffen. Dazu sollte südwestlich von Oosterbeek die Kontrolle über die Fähre bei Heveadorp erlangt werden.
Das XXX. Korps hatte mittlerweile das Areal zwischen Eindhoven und Nijmegen bei Son erreicht, mittlerweile stand nun die 101. US-Luftlandedivision unter ihrem Befehl. Das VIII. Korps begann nun auch mit seinem Flankenvorstoß. Allerdings konnten sie keinerlei Überraschungseffekt mehr ausnutzen und kamen nur sehr langsam voran. Die Deutschen unter General Model bereiteten unterdessen ihre Gegenoffensive vor.
Die deutsche Gegenoffensive
Auch am 19. September hatte sich das Wetter nicht wesentlich verbessert. Aus diesem Grund konnte weitere wesentliche Unterstützung durch ein Infanterieregiment und zusätzliche Artillerie nur im Raum Eindhoven bei der 101. US-Luftlandedivision eintreffen. Zwei Infanteriebataillone für den Raum Nijmegen und die polnische 1. Fallschirmjägerbrigade erreichten ihr Ziel nicht. Dies lag nicht zuletzt an der deutschen Luftwaffe, die für diesen Tag 125 Einsätze verzeichnete.
In Arnhem startete die britische 1. Fallschirmbrigade ihre Attacke ostwärts entlang des Nederrijn in Richtung der Brücke noch vor dem Morgengrauen. Als sich der Morgennebel verzog, befanden sie sich aber im Kreuzfeuer der Flak-Geschütze im Süden und der aus dem Norden feuernden SS-Kampfgruppe „Spindler“. Die deutsche Gegenwehr war so heftig, dass der Vormarsch gegen Mittag unter großen Verlusten abgebrochen werden musste. Auch die anderen britischen Vorstoßversuche brachten kaum Erfolge, allerdings gelang es General Urquhart, sich aus der deutschen Umklammerung zu befreien. Er konnte sich direkt mit einem Jeep zum Divisionshauptquartier begeben, wo er umgehend mit der Reorganisation der Restdivision begann. Damit die 1. polnische Fallschirmjägerbrigade nicht in der vorgesehenen Absprungzone landete, die unter deutscher Kontrolle war, wurde ein entsprechender Funkspruch abgesetzt.
Nördlich von Eindhoven war bei Son mittlerweile die Bailey-Brücke fertiggestellt worden und die Panzereinheiten rückten im Morgengrauen über den Wilhelminakanal vor. Am Mittag hatten sie bereits Grave südwestlich von Nijmegen erreicht. Damit ging das Kommando über die 82. US-Luftlandedivision an Horrocks über, dessen Lage sich aber zunehmend verschlechterte. Bei Heumen wurde von Browning, Gavin, Adair und Horrocks ein gemeinsames Kommandozentrum eingerichtet. Da weiterer Entsatz sich immer noch verspätete, organisierte Gavin ein neues Bataillon, das er aus 450 Lastenseglerpiloten bildete. Ein weiterer Angriff auf die Brücke über die Waal schlug jedoch fehl, und so erwog er einen amphibischen Angriff über den Fluss, um so beide Brückenseiten in Besitz zu nehmen. Daraufhin ordnete Horrocks an, die Boote des XXX. Korps von Hechtel zur Front zu bringen.
Einem geplanten Angriff der deutschen 59. Infanterie-Division von General Student kam die 101. US-Luftlandedivision zusammen mit der 8. Panzerbrigade zuvor, so dass sich die Deutschen wieder zurückziehen mussten. Allerdings überrannte die deutsche 107. Panzerbrigade das Hauptquartier von Taylor, bevor eine Verteidigung organisiert werden konnte. Weitere Lastensegler mit Divisionstruppen trafen ein, darunter auch die Hälfte der erwarteten Artillerie. Jedoch erreichten nur knapp 40 Tonnen Nachschub ihr Ziel.
In Arnhem musste der britische Vorstoß unterdessen unter hohen Verlusten gestoppt werden, da kaum noch Munition vorhanden und die Soldaten total erschöpft waren. Im Gegensatz dazu erhielt die deutsche Seite immer mehr Unterstützung. Die 208. Kampfbrigade aus Dänemark und die Flakbrigade „Von Swoboda“ waren inzwischen eingetroffen. Zwar gelang es den Deutschen noch nicht, ihre Attacken sauber zu koordinieren, aber die britische 4. Fallschirmbrigade wurde am weiteren Vorrücken gehindert. Taylor blieb nichts weiter übrig, als seine Männer wieder zurückzuziehen.
Einige polnische Lastensegler erreichten tatsächlich ihre Landezone bei Arnhem, da sie nicht mehr rechtzeitig gewarnt werden konnten. Als die polnischen Soldaten die Gefahr erkannten, sammelten sie sich schnell und versuchten, nach Westen zu den Briten durchzubrechen. Auch die erhofften Nachschublieferungen konnten nur teilweise ihr Ziel erreichen. Knapp 400 Tonnen wurden über Arnhem von 63 DC-3 und 100 Stirlings abgeworfen. Ein Großteil davon landete wieder bei den Deutschen.
Inzwischen hatte das britische XII. Korps auf der linken Flanke die Straße von Turnhout nach Eindhoven erreicht. Auf der rechten Flanke war Weert erreicht, und der Vormarsch ging weiter in Richtung Helmond.
20. September
Das schlechte Wetter verhinderte wiederum auch am folgenden 20. September, dass zusätzliche alliierte Truppen eingeflogen werden konnten. Lediglich Nachschubflüge waren möglich. Die 82. US-Luftlandedivision erhielt fast 80 Prozent der erwarteten Tonnage. Die Briten hatten sich zu der Zeit auf eine Position bei Oosterbeek zurückgezogen, und Urquhart legte zusammen mit dem Korpshauptquartier über Funk eine neue Landezone für die einzufliegenden polnischen Truppen bei Driel fest, wo sie einen Brückenkopf bilden sollten. Auch für die Nachschubabwürfe wurde die Landezone nach Oosterbeek verlegt. Wegen heftigen deutschen Abwehrfeuers war das Abwerfen des Nachschubs in die Straßen und Wälder jedoch ein schwieriges Unterfangen. Daher erreichte die Briten nur knapp 13 Prozent des erwarteten Nachschubs. Die sich bekämpfenden Soldaten trafen in den Wäldern und Häusern des Ortes aufeinander und Scharmützel mit Mörsern und Scharfschützen bestimmten das Bild. Dies ging so weit, dass die Briten und die Deutschen verschiedene Etagen in einzelnen Häusern gegeneinander verteidigten.
Die Versorgung der vielen Verwundeten auf beiden Seiten wurde in diesem Bereich fast unmöglich, so dass die Briten mit den Deutschen gegen Mittag auf Vorschlag Obergruppenführer Bittrichs einen dreistündigen Waffenstillstand vereinbarten. Die Verwundeten beider Seiten wurden dabei von deutschen Sanitätseinheiten in ein Arnhemer Krankenhaus gefahren.
In Arnhem selbst zog sich der Ring um die kämpfenden Briten immer weiter zusammen. Die Deutschen versuchten, sie mittels Artilleriefeuer und Flammenwerfern aus den Häusern zu treiben. Dazu kamen der immer weiter schrumpfende Vorrat an Wasser, der nur noch für einen Tag reichte, und die wenige verbleibende Munition. In einer kurzzeitigen Waffenruhe wurden auf beiden Seiten insgesamt mehr als 200 Verwundete weggebracht, unter ihnen auch Lieutenant Colonel John Frost.
Auch weiter südlich bei Eindhoven erfolgten gegen Morgen wieder deutsche Angriffe auf den „Hell’s Highway“, wie die Straße nach Nijmegen nun von den Amerikanern genannt wurde. Die deutsche 107. Panzerbrigade versuchte, nach Son durchzubrechen, wurde aber von Einheiten der 101. US-Luftlandedivision und der 8. Panzerbrigade ein weiteres Mal zurückgedrängt. Das XXX. Korps konnte nur äußerst langsam weiter nach Norden vordringen. In Nijmegen bereiteten sich Truppen auf den Brückenangriff vor, indem sie die Vororte „säuberten“ und auf die Brücke vorrückten. Am Nachmittag waren endlich die Boote eingetroffen, und nachdem eine Rauchwand gelegt worden war, überquerten die Boote insgesamt sechs Mal unter starkem deutschen Artilleriefeuer den Fluss. So wurden zwei Kompanien auf die andere Seite der Waal gebracht.
Die Deutschen waren nun bereit, die Brücke über die Waal zu sprengen, doch als der Befehl von Brigadeführer Harmel erteilt wurde, waren die Sprengladungen bereits von britischen Pionieren entfernt worden. Er ließ an das Hauptquartier funken: „Sagen Sie Bittrich, sie sind über die Waal“.
Bei Groesbeek konnten verstärkte deutsche Einheiten erhebliche Erfolge verzeichnen, aber noch gelang es den Amerikanern, ihre Positionen dort zu halten. An diesem Tag war die Aufstockung des deutschen Kontingents erheblich, und weiterer Truppennachschub wurde erwartet. Nijmegen sollte am nächsten Tag zurückerobert werden, damit die nur drei Bataillone der Kampfgruppe „Frundsberg“, die zwischen Nijmegen und Arnhem lagen, von dort unterstützt werden konnten.
21. September
Der folgende Donnerstag war kalt, und das Wetter verhinderte weiterhin die Nachschubflüge. Die Deutschen festigten ihre Stellungen bei den Groesbeek-Höhen, da das Generalkommando Feldt zu erschöpft war, um die vorrückenden Panzer der Amerikaner auf der Straße nach Nijmegen zu erreichen. Alle deutschen Truppen nördlich kamen nun unter das Kommando der 2. SS-Panzerbrigade, die in Arnhem weiter vorrückte. Der Rest wurde der 1. Fallschirm-Armee unter General Student zugewiesen, der versuchte, einen Zangenangriff der deutschen LXXXVI. und LXXXVIII. Korps zu organisieren.
In Arnhem begann der letzte Kampf gegen 9 Uhr. Die Briten versuchten einen Ausbruch durch die Reihen der Kampfgruppe „Knaust“, um zu ihrer Division zurückzukehren. Es gab keine formale Kapitulation, kleinere britische Gruppen ergaben sich jedoch, da sie keine Munition mehr hatten oder von den Deutschen überrannt worden waren. Um die Mittagszeit überquerten die Deutschen die Brücke über den Nederrijn. Der Kampf hatte 88 Stunden gedauert.
Urquhart, der wieder in Oosterbeek eingetroffen war, organisierte eilig eine neue Kommandostruktur, mit der er hoffte, die Kampfgruppe „von Tettau“ im Westen und die Kampfgruppe „Hohenstaufen“ im Osten besser bekämpfen zu können. Doch beide Seiten konnten kaum Fortschritte erreichen.
Die beiden Brücken in Nijmegen waren unterdessen von den Alliierten gesichert und die ersten Panzer des XII. Korps rollten nach Norden auf Arnhem zu. Sie fuhren zügig bis Elst und hielten dort an, da sie den Gegenangriff der Kampfgruppe „Knaust“ erwarteten, die ihnen von Arnhem entgegenkam. Zudem bot die Straße für die Panzer kaum Deckung, und die neben ihr verlaufenden Gräben waren hervorragende Verstecke für deutsche Soldaten. Die letzten Widerstandsnester in Nijmegen wurden währenddessen von Einheiten der 43. Division ausgehoben, die auf ihre letzte nachrückende Brigade wartete. Als diese eintraf, wurde sie angewiesen, sofort den anderen Panzergruppen nach Norden zu folgen und dann auf Richtung Driel einzuschwenken, um sich bei Heveadorp anschließend mit den Briten zu treffen. Ein Angriff zweier Regimenter der 82. US-Luftlandedivision auf das Generalkommando Feldt bei den Groesbeek-Höhen vertrieb die Deutschen von dort und das XXX. Korps konnte danach mit seinen Panzern weiter nach Norden vordringen. Urquhart gelang es mit der Artillerieunterstützung des Korps, den deutschen Vorstoß nördlich der Waal aufzuhalten.
Als Model von dem amerikanischen Erfolg unterrichtet wurde, verlangte er umgehend weitere Truppenunterstützung, die ihm mit der Schweren Panzer-Abteilung 506 gewährt wurde. Diese Einheit verfügte über 45 Panzerkampfwagen VI Tiger II, die sogenannten „Königstiger“. Weiterhin wurden ihm Spezialkampfgruppen und Ausrüstung zugesagt.
Die polnischen Fallschirmjäger starteten an diesem Tag von Großbritannien aus und versuchten eine Landung. Von den 114 anfliegenden DC-3 mussten jedoch nicht weniger als 41 wieder umkehren, darunter das komplette 1. Bataillon. Dies lag nicht nur am Wetter, sondern auch an den über 100 Kampfflugzeugen der deutschen Luftwaffe, die sie am Zielort erwarteten. Beim Durchbruch zwischen den angreifenden Jägern gingen noch etliche Maschinen verloren, aber Generalmajor Sosabowski gelang es, zusammen mit 750 seiner Soldaten die Landezone zu erreichen. Was ihnen allerdings fehlte, waren die schweren Waffen, die schon am Vortag bei den Lastensegleranflügen verlorengegangen waren. Der deutsche Obersturmbannführer Harzer organisierte eilig einen Sperrgürtel zwischen der Brücke von Arnhem und den polnischen Einheiten, der aus 2500 Soldaten bestand und unter dem Namen Sperrverband Harzer bekannt wurde.
Weitere Nachschubflüge brachten den Briten wiederum nur 41 Tonnen Nahrung und Ausrüstung nach Arnhem. Währenddessen bereiteten sich die Polen auf eine Überquerung des Nederrijn vor.
Am südlichen Ende des Korridors gelang es der 101. US-Luftlandedivision mittlerweile, die Deutschen auf beiden Straßenseiten zurückzuwerfen. Die Vorstöße der britischen VIII. und XII. Korps waren fast zum Halten gekommen und Generalleutnant Dempsey begann, das Hauptquartier der 2. Armee nach Sint-Oedenrode zu verlegen, während Feldmarschall Montgomery das taktische Hauptquartier der 21. Heeresgruppe südlich von Eindhoven aufschlug. Montgomery und Eisenhower waren sich in der Frage, wie bei Arnhem weiter vorgegangen werden sollte, nicht einig, und Patton forderte mehr Truppen für eine Rheinüberquerung. Aus diesem Grund fand nun endlich die erste Konferenz zwischen den Verantwortlichen seit dem Landungstag statt.
22. September
Der nächste Tag begann mit Nebel, der sich dann aber schnell verzog. Eine Attacke zweier deutscher Kampfgruppen auf dem „Hell’s Highway“ zerteilte die amerikanische 69. Brigade zwischen Uden und Grave in zwei Hälften, als sie auf Nijmegen vorrückten. Ein Gegenangriff, den die 101. US-Luftlandedivision ausführte, wurde von der 83. Gruppe der Royal Air Force mit Tieffliegerangriffen unterstützt.
General Maxwell D. Taylor war kurz zuvor vom niederländischen Widerstand über die bevorstehende deutsche Attacke unterrichtet worden und sandte Soldaten des 506. Fallschirminfanterieregiments nach Uden sowie die 502. Fallschirminfanterie nach Veghel. Horrocks war gezwungen, seine Panzer umkehren zu lassen. Den Deutschen war es in diesem Areal gelungen, die Brücke bei Veghel unter Feuer zu nehmen. Aus diesem Grund konnten an diesem Tag weder Ausrüstungsgegenstände noch Nachschub nach Nijmegen gebracht werden.
Weiter nördlich versuchte das XXX. Korps weiterhin, zu den Briten aufzuschließen. Es wurde aber in heftige Kämpfe verwickelt. Auch das Erreichen der gelandeten Polen durch britische Einheiten erwies sich als kaum durchführbar. Die Polen selbst versuchten gegen Nachmittag eine Überquerung des Nederrijn, aber nur einige Männer erreichten das andere Ufer. Weitere Versuche wurden daraufhin aufgegeben. Auch bei Oosterbeek gingen die deutschen Angriffe weiter und Urquhart forderte dringlichst Entsatz an.
Die Konferenz in Versailles
Die von Eisenhower in Versailles einberufene Konferenz deckte die Schwächen der Operation auf, und die Befehlshaber versuchten zu retten, was zu retten war.
Eisenhower bestand darauf, eine weit angelegte Front in Richtung des Rheins zu schaffen, bei der die 1. kanadische Armee zur Schelde vorrücken und Antwerpen nehmen sollte. Bradley wurde angewiesen, Patton zu stoppen, während die 1. US-Armee mit der Unterstützung des XIX. US-Korps und des britischen VIII. Korps Kurs nach Norden auf Aachen nehmen sollte. An der Stelle des XXX. Korps sollte die britische 2. Armee mit dem VIII. Korps in der Führung den Weg nach Venlo und Kleve einschlagen. So wurde die Operation des XXX. Korps als zweitrangig eingestuft, nunmehr erhielt die Rettung der britischen Fallschirmjäger Vorrang.
Die 101. US-Luftlandedivision wurde unter den Befehl des VIII. Korps gestellt und sollte zusammen mit der neu aufgestellten 50. Division und der königlich-niederländischen Brigade „Prinses Irene“ den neuen Plan gegen deutsche Angriffe aus dem Westen und Nordwesten absichern, während die 11. Panzerdivision mit der 3. Division nordöstlich zum Rhein vorrückte. Das XXX. Korps wurde mit den nördlich von Grave befindlichen Einheiten, der 43. Division, der 82. US-Luftlandedivision und der britischen Panzerdivision in seiner Stellung belassen. Das Kommando über diese bekamen die britischen Fallschirmjäger in Arnhem, deren Rückzug und Rettung nun beschlossene Sache war.
23. September
Seit der Landung war dieser Tag der erste, der wirklich gutes Wetter brachte und den alliierten Flugzeugen weitreichende Eingriffsmöglichkeiten bot. Mit dieser Unterstützung und heftigem Artilleriefeuer konnten die Briten ihre Stellungen in Arnhem weiter verteidigen, obwohl die deutschen Kampfgruppen „von Tettau“ und „Hohenstaufen“ sie in starke Bedrängnis brachten.
Generalfeldmarschall Model wurde langsam ungeduldig und gab Bittrich 24 Stunden Zeit, um die Briten aus Arnhem zu vertreiben. Er änderte auch die Kommandostruktur der deutschen Einheiten, indem er alle Truppen westlich der Operation Market Garden der 15. Armee unterstellte und die östlichen Truppen der 1. Fallschirm-Armee. Bei Veghel verstärkten sich die Bemühungen der beiden Kampfgruppen „Chill“ und „Walther“, aber die Straße konnte von der 506. Fallschirminfanterie mit britischer Panzerunterstützung wieder freigekämpft werden.
Am frühen Nachmittag hoben in Großbritannien die Flugzeuge der dritten Welle ab. 654 Truppentransporter und 490 Lastensegler begaben sich auf die nördliche Route. Die 82. US-Luftlandedivision bekam Verstärkung durch ein Infanterieregiment und die 101. US-Luftlandedivision durch ein Feldartillerieregiment und den Rest eines Infanterieverbandes, deren erste Soldaten schon mit der zweiten Welle gelandet waren. Das 1. polnische Bataillon landete bei Oude Keent, einem kleinen Flugplatz, der für die Nachschublieferungen ausgesucht worden war. Es setzte sich sofort nach Norden in Bewegung, um zu den anderen beiden Bataillonen aufzuschließen, die mittlerweile unter der Führung der zur 43. Division gehörenden 130. Brigade standen.
Gegen die deutsche Kampfgruppe „Frundsberg“ konnten nur schrittweise kleinere Erfolge verzeichnet werden, während im Süden der Korridor weiter von deutschen Einheiten freigekämpft wurde. Die 130. Brigade war nun bei den polnischen Einheiten bei Driel angekommen, und nach Einbruch der Dunkelheit setzten auf Befehl Sosabowskis 200 Männer zu den Briten über.
24. September
Dank des anhaltend guten Wetters flog die britische Air Force weitere Einsätze im Raum Arnhem. Mit der Unterstützung der Tiefflieger und der Artillerie des XXX. Korps gelang es, das von den Briten gehaltene Gebiet erfolgreich zu verteidigen. Zwischen den Kampfhandlungen vereinbarten beide Seiten immer wieder kurze Waffenstillstände, um Verwundete bergen zu können. Briten und Deutsche waren mit den Kräften am Ende und es gab kaum Nachschub. Nach einer Woche erbitterten Kampfes ohne Pause würde der Erfolg der Seite sicher sein, der es als erste gelang, die Ablösung durch frische Truppen sicherzustellen. Das geschah bei den Deutschen durch die Ankunft der Schweren Panzer-Abteilung 506, die zwei Kompanien zur Unterstützung der Kampfgruppe „Frundsberg“ nach Elst entsandte und eine Kompanie östlich nach Oosterbeek. Das XXX. britische Korps eroberte derweil das Örtchen Bemmel.
Lieutenant General Horrocks, Major-General Ivor Thomas von der 43. Wessex-Division und General Sosabowski beobachteten die Lage auf der anderen Seite des Nederrijn vom Turm der Drieler Kirche. Thomas verließ die Gruppe in der Annahme, dass Horrocks den Befehl zum Rückzug der britischen 1. Luftlandedivision gegeben habe, und bereitete sich darauf vor. Horrocks selbst traf im Hauptquartier der britischen 2. Armee mit Dempsey zu einer Besprechung zusammen. Später behauptete er, nie diesen Rückzugsbefehl gegeben zu haben. Jedenfalls informierte Montgomery London von der Entscheidung und vom geringen Erfolg des XXX. Korps.
Die Deutschen begannen währenddessen einen erneuten Angriff auf den Korridor, doch die meisten Attacken konnten zurückgeworfen werden. Allerdings trennte eine Kompanie Jagdpanther der 559.s.Panzerjägerabteilung (Panther) der Wehrmacht zusammen mit Soldaten des Fallschirmjägerbataillons „Jungwirth“ die Wege bei Veghel. Aus diesem Grund konnte Horrocks nicht zum XXX. Korps zurückkehren und blieb bei Dempsey. Östlich von Helmond eroberte die britische 11. Panzerdivision Deurne und zwang damit die Kampfgruppe „Walther“ zum Rückzug.
25. September
Sehr früh am Morgen des 25. September versuchte die britische 43. Division die Überquerung des Nederrijn. Schwere Windböen und einsetzender starker Regen zwang die Briten zum Abbruch der Aktion. Die wenigen Männer, die das andere Ufer erreicht hatten, konnten dort nur wenig ausrichten. Zu diesem Zeitpunkt bekam die deutsche Kampfgruppe „von Allworden“ ihre Verstärkung in Form der versprochenen Königstiger. Sie attackierten sofort und konnten tief in die Linien der Briten eindringen. Dank des eigenen Artilleriefeuers und der eingreifenden Jagdflieger der Royal Air Force gelang es dann den Briten, trotz des deutschen Ansturms ihre Position noch einen weiteren Tag zu halten.
Urquhart gab im Keller des Hotels Hartenstein in Oosterbeek den Befehl zum Rückzug aus den Stellungen („Operation Berlin“ genannt) in der folgenden Nacht aus. Das XXX. Korps sicherte die Ortschaften Elst und Boxmeerhof, doch westlich von Arnhem war der Nederrijn nicht unter britischer Kontrolle. Horrocks entschied sich für ein Ablenkungsmanöver, indem die 43. Division gleichzeitig bei Renkum den Rhein überqueren sollte.
Das VIII. Korps rückte weiter gegen die Kampfgruppe „Walther“ vor und die 180. Infanteriedivision mit der 11. Panzerdivision schlossen nun zum XXX. Korps bei Boxmeer an der Maas auf.
Die Operation Berlin begann am Nachmittag mit einem schweren Artilleriebeschuss durch das XXX. Korps und die 43. Division. Unter diesem Schutz überquerten britische und kanadische Pioniereinheiten den Nederrijn, um die dort festsitzenden Überlebenden wieder zurück auf die andere Seite zu bringen. Die Verwundeten wurden mit einer Anzahl an Freiwilligen zurückgelassen. Alle anderen zogen sich durch einen 700 Meter breiten freien Bereich zurück.
26. September
Der Rückzug zog sich bis zum Morgengrauen des 26. Septembers hin. Damit wurden 1816 Briten und 160 Polen gerettet. 240 weitere Soldaten wurden etwas später noch vom niederländischen Widerstand aus der Gefahrenzone gebracht. Die Überlebenden marschierten in der Dunkelheit von Driel nach Nijmegen. Die Wege waren zur Orientierung mit weißen Bändern gekennzeichnet. In Nijmegen wurden sie schon mit frischer Kleidung und Ausrüstung erwartet.
Gegen 14 Uhr hatten die Deutschen das Gebiet erobert. Sie machten nach eigenen Angaben während der gesamten Operation insgesamt 6450 Gefangene. 1485 Soldaten der 1. Luftlande-Division waren zwischen dem 17. und 25. September getötet worden. Zu den Gesamtverlusten der Operation Market Garden gibt es unterschiedliche Angaben. Alle Zahlen, die die Literatur nennt, beziehen sich auf die Gesamtzahl der Verluste. Diese Gesamtzahl beinhaltet getötete, verwundete und in Gefangenschaft geratene Soldaten. Die offizielle britische Kriegsgeschichte nennt eine Verlustzahl von 14.731. Diese ergibt sich aus der Addition der dort genannten Verluste der britischen 1. Luftlande-Division (7473 Mann), den Verlusten der beiden amerikanischen Luftlande-Divisionen (3542 Mann) sowie den Verlusten der British Second Army (3716 Mann). Dazu muss man jedoch ergänzend die Verluste der Royal Air Force zählen, die 295 Mann an tödlichen Verlusten hatte. Das IX Troop Carrier Command der US Army Air Forces hatte 155 Mann an tödlichen Verlusten zu beklagen, darunter waren 30 Lastenseglerpiloten. Damit ergibt sich eine Gesamtverlustzahl – das heißt Getötete, Verwundete, Gefangene – von 15181 alliierten Soldaten. Diese Zahl ist eine recht genaue Annäherung, andere Quellen nennen etwas höhere oder niedrigere Zahlen.
Folgen von Market Garden
Wie in der Versailleskonferenz besprochen, galt das Hauptziel der Alliierten nach diesem Misserfolg dem Vordringen zum Rhein mit dem Ziel, ihn im Frühjahr zu überqueren. Dazu griff die 1. Kanadische Armee im Oktober die deutschen Truppen in der Schelde-Mündung an, damit Frachtschiffe mit Nachschublieferungen im Hafen von Antwerpen einlaufen konnten. Die Aktion war am 28. November 1944 beendet und kostete 30.000 Opfer. Parallel dazu fand weiter östlich die Operation Aintree zur Beseitigung des verbleibenden deutschen Brückenkopfes über die Maas statt.
Um die nun entstandenen zwei Fronten ausfüllen zu können, musste Montgomery die beiden amerikanischen Luftlandedivisionen bis zum November im Einsatz belassen, was ihnen viele zusätzliche Todesopfer einbrachte. Die Alliierten waren nun vorsichtiger in Bezug auf die deutschen Truppen, da sie erkannten, dass diese bei weitem noch nicht dem Zusammenbruch nahe waren. Ihre Operationen und ihre Aufklärung wurden nun wieder sorgfältiger und langfristiger geplant.
In den folgenden Kriegsmonaten wurde der Westen der Niederlande von Lebensmittel- und Kohlenlieferungen abgeschnitten. In diesem „Hongerwinter“ fanden mehr als 18.000 niederländische Zivilisten den Tod. Ursachen waren die Trennung des Landes durch die Frontlinie, das Einfrieren der Kanäle, der Eisenbahnerstreik und die daraufhin einsetzenden Repressalien der Deutschen, die alle Lieferungen in die Niederlande stoppten, während sie den für ihre eigene Versorgung nötigen Eisenbahnverkehr mit eigenen Kräften aufrechterhielten.
Da sich die Front nun weiter nach Norden verlagert hatte, wurden in der Folge weitere amerikanische und britische Einheiten von ihren ursprünglichen Standorten bei Aachen und aus dem Ardennengebiet dorthin verlagert, um den Kontakt zur 3. US-Armee zu halten. Damit ergab sich im Ardennenraum eine extreme Schwachstelle der Alliierten, die von den Deutschen erkannt und ausgenutzt wurde. Somit führten die Fehler der Operation Market Garden direkt zur deutschen Ardennenoffensive.
Übersichtstabellen
*die Anzahl der Opfer, inklusive Verwundeter und Vermisster liegt bei rund 17.200**keine genauen Zahlen möglich, da unterschiedliche Angaben existieren
Das ehemalige Kampfgebiet heute
In den Feldern und Wäldern rund um die umkämpften Städte und dem „Hell’s Highway“ werden bis heute immer wieder Überreste der Schlacht gefunden. Besonders im Raum westlich und südlich von Arnhem sind Funde von Kriegsrückständen keine Seltenheit. Munition aller Art, aber auch Überbleibsel aus den abgeworfenen Nachschubbehältern sowie manchmal sogar persönliche Gegenstände der Soldaten, die dort gekämpft hatten, finden sich im Areal. Eine Suche danach mit Metalldetektoren ist in den Niederlanden nicht erlaubt, da die Gefahr durch Explosionen von Blindgängern zu groß ist.
In einer Scheune bei Nijmegen wurde erst 2001 hinter Brettern die sehr gut erhaltene Uniform eines Soldaten der 101. US-Luftlandedivision gefunden.
Denkmale
Gedenkstätten
Denkmal der britischen 1. Luftlandedivision in Oosterbeek beim Airborne Museum Hotel Hartenstein (To the people of Gelderland)
Airborne Monument in Oosterbeek gegenüber dem Airborne Museum
Monument auf dem Airborne Friedhof in Oosterbeek
Deutscher Soldatenfriedhof IJsselstein
Erinnerungsgarten in Arnhem am Nederrijn bei der John Frost Brug
Monument in Driel für die kanadischen und britischen Pioniere
Monument Crossroads in Heelsum
Gedenkmonumente in Groesbeek und einige andere in kleineren Städten
Airborne Monument in Veghel
Museen
Airborne Museum im Hotel Hartenstein in Oosterbeek
Arnhem War Museum 40 – 45 im Stadtteil Schaarsbergen
Nationales Befreiungsmuseum 1944–1945 in Groesbeek
Airborne Museum in Aldershot
Gebäude und Straßen
Arnhem
John Frost Brug
Airborne plein
Oosterbeek
Generaal Urquhartlaan
Renkum
Airborneweg
Hicksweg
Hacketweg
Driel
Polenplein
Sosabowskiplein
Groesbeek
Generaal Gavinstraat mit dem Monument Generaal Gavinstraat
Parachutistenstraat
Grave
Airborneplein
Nijmegen
General James Gavinweg
Veghel
Taylorweg
Eisenhowerweg
Corridor
Medien
Filme und Fernsehserien:
Die Brücke von Arnheim
Theirs is the glory / Men of Arnhem (1946)
DVD, Arnhem – A Bridge Too Far: the True Story, 2004
Folge 4: Die Neuen der Serie Band of Brothers – Wir waren wie Brüder
PC- und Videospiele:
A Bridge Too Far (Close-Combat-Serie)
Brothers in Arms: Hell's Highway
Company of Heroes: Opposing Fronts (Kampagne der Panzerelite)
Operation Market Garden: Drive on Arnhem
Battlefield 1942
Medal of Honor Airborne
Wolfenstein: Enemy Territory: Market Garden ET (Custom Map)
Post Scriptum – The bloody Seventh
Literatur
Cornelius Ryan: A Bridge Too Far. Coronet Books, London 1978, ISBN 0-340-19941-5.
George E. Koskimaki: Hell’s Highway. Chronicle of the 101st Airborne Division in the Holland Campaign, September-November 1944. One Hundred First Airborne, Sweetwater Tenn U.S.A.1989, ISBN 1-877702-03-X.
George F. Cholewczynski: Poles Apart. Sarpedon Publishers, New York 1993, ISBN 1-85367-165-7.
Louis Edmund Hagen: Arnhem Lift. A Fighting Glider Pilot Rembers. Paper Press, London 1945; Pen and Sword, Barnsley 1993, ISBN 978-0-85052-375-1.
Martin Middlebrook: Arnhem 1944. The Airborne Battle. Westview Press, Boulder 1994, ISBN 0-8133-2498-X.
Donald Burgett: The Road to Arnhem, A Screaming Eagle in Holland. Presidio Press, Novato CA 1999, ISBN 0-89141-682-X.
Diverse: Battlefront, Operation Market Garden, The Bridges at Eindhoven, Nijmegen and Arnhem. Great Britain Public Record Office, Richmond, Surrey 2000, ISBN 1-873162-83-9.
Robert J. Kershaw: Arnheim '44 – im September fällt kein Schnee. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2000, ISBN 3-613-01942-6.
Tim Saunders: Hell’s Highway, Us 101st Airborne & Guards Armoured Division. Battleground Europe, Market Garden. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2001, ISBN 0-85052-837-2.
Tim Saunders: Nijmegen, Grave and Groesbeek, US 82nd Airborne and Guards Armoured Division. Battleground Europe, Market Garden. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2001, ISBN 0-85052-815-1.
Frank Steer: Arnhem, The Fight to Sustain, The Untold Story of the Airborne Logisticians. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2001, ISBN 0-85052-770-8.
Karel Margry: Operation Market Garden Then and Now. 2 Bde. Battle of Britton International, London 2002, ISBN 1-870067-39-8, ISBN 1-870067-45-2.
Tim Saunders: The Island: Nijmegen to Arnhem. Battleground Europe, Market Garden. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2002, ISBN 0-85052-861-5.
Frank Steer: Arnhem Landing Grounds and Oosterbeek. Battleground Europe, Operation Market Garden. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2002, ISBN 0-85052-856-9.
Frank Steer: Arnhem. The Bridge. Battleground Europe, Market Garden. Leo Cooper Ltd., Barnsley 2003, ISBN 0-85052-939-5.
Antony Beevor: Arnhem. The Battle for the Bridges, 1944. Viking Penguin, London 2018, ISBN 978-0-670-91867-6. Deutsche Ausgabe: Arnheim. Der Kampf um die Brücken über den Rhein 1944, C. Bertelsmann, München 2019, ISBN 978-3-570-10373-9.
Quellen
Der Artikel basiert im Wesentlichen auf den umfangreichen und die Operation detailliert beschreibenden Websites:
marketgarden.com,
Operation Market Garden September 17 – 27 1944 und
The Pegasus Archive,
sowie Besuche und Museumsbroschüren des Airborne Museums Hartenstein in Oosterbeek und des Weltkriegsmuseum 40–45 in Schaarsbergen bei Arnhem.
Weblinks
(englisch)
(englisch)
Market Garden und andere Operationen im Rheinland (englisch)
The Battle of Arnhem Archive (englisch)
Animation der BBC zur Operation Market Garden (englisch)
Einzelnachweise
Market Garden
Market Garden
Market Garden
Niederlande im Zweiten Weltkrieg
Provinz Noord-Brabant
Geschichte (Gelderland)
Market Garden
Britische Militärgeschichte (Zweiter Weltkrieg)
Militärgeschichte der Vereinigten Staaten (Zweiter Weltkrieg)
Polnische Militärgeschichte 1939–1945
Market Garden
Westfront 1944–1945
Konflikt 1944 |
164001 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gero | Gero | Gero, auch Gero I. oder Gero der Große, († 20. Mai 965 in Gernrode) war ein ostsächsischer Graf, der von 939 bis 965 als Markgraf König Ottos I. die Tributherrschaft über die slawischen Stämme östlich der mittleren Elbe und der Saale ausübte („Sächsische Ostmark“).
Gero entstammte einem hoch angesehenen ostsächsischen Adelsgeschlecht. Aufgrund seiner Herkunft und der persönlichen Nähe zum König erhielt er nach dem Tod seines Bruders das prestigeträchtige Amt eines militärischen Oberbefehlshabers (Legat). In dieser Funktion sicherte er ab dem Jahr 937 von Sachsen aus den Anspruch Ottos I. auf die Oberhoheit über die elbslawischen Stämme. Damit trug Gero die Hauptlast der sächsisch-slawischen Grenzkämpfe und hielt dem König den Rücken frei für andere Aufgaben. Dafür zeichnete ihn Otto I. um das Jahr 940 mit dem ursprünglich karolingischen Markgrafentitel aus. Diese Auszeichnung hob Gero nochmals aus der Menge der sächsischen Grafen hervor, verlieh ihm aber keine zusätzlichen Befugnisse oder eine Mark als Amtsgebiet. Nachdem Gero fast 20 Jahre zu den engsten Vertrauten Ottos I. gehört hatte, kam es im Zuge des Liudolfinischen Aufstandes zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen König und Markgraf, in deren Folge Otto I. sich von Gero abwandte und Hermann Billung zu seinem Stellvertreter in Sachsen machte. Gero wurde in seinem Amt belassen, spielte aber bis zu seinem Tode für die Königsherrschaft Ottos I. keine Rolle mehr. Von Geros Selbstverständnis und dem sich daraus ergebenden Repräsentationsanspruch zeugt mit der romanischen Stiftkirche St. Cyriakus in Gernrode eines der bedeutendsten ottonischen Baudenkmäler.
Während mittelalterliche sächsische Quellen Geros Tatkraft rühmten, galt er national gesinnten Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland und Polen als Prototyp des Markgrafen und Symbolfigur einer mittelalterlichen „deutschen“ Eroberungspolitik im Osten. Heute geht die Geschichtswissenschaft davon aus, dass die Verleihung des Markgrafentitels ehrenhalber erfolgte und Geros Kämpfe mit den Elbslawen keine Eingliederung der slawischen Gebiete in das Ostfrankenreich zum Ziel hatten, sondern vorrangig der gewaltsamen Durchsetzung von Tributzahlungen durch die unterworfenen Slawen dienten.
Leben
Herkunft und Familie
Gero entstammte einem der mächtigsten und angesehensten Adelsgeschlechter Ostsachsens. Sein Vater Thietmar diente am Hof als Erzieher und Berater des sächsischen Herzogs und späteren ostfränkisch-deutschen Königs Heinrich I. und führte in der Schlacht bei Lenzen im Jahr 929 ein sächsisches Heer zum Sieg gegen die slawischen Redarier. Über seine Mutter Hildegard, Schwester der Gemahlin des Grafen Erwin von Merseburg, war Gero mit Thankmar verwandt, dem erstgeborenen Sohn König Heinrichs I. aus dessen erster Ehe mit Hatheburg, die wiederum eine der beiden Töchter Erwins war. Donald C. Jackman hält Geros Mutter für eine Schwester König Konrads I. und erklärt auf diese Weise die Herkunft des Namens Gero als Kurzform von Gerold aus dem konradinischen Namensgut.
Geros älterer Bruder Siegfried von Merseburg stand wie sein Vater hoch in der Gunst König Heinrichs I., mit dessen Halbschwester er in erster Ehe verheiratet war. Unter Otto I. verwaltete er das östliche Sachsen bei Abwesenheit des Königs als dessen Vertreter. Die Söhne von Geros Schwester Hidda aus der Ehe mit dem Grafen Christian erlangten bedeutende kirchliche und weltliche Ämter: Der gleichnamige Gero wurde Erzbischof von Köln, und Thietmar beerbte seinen Onkel Gero als Markgraf von Meißen.
Geros eigene Nachkommen aus der Ehe mit der ansonsten unbekannten Judith verstarben noch zu seinen Lebzeiten kinderlos. Sein Sohn Siegfried, Patenkind König Ottos I., heiratete zwar um 952 die zu diesem Zeitpunkt 13-jährige Hathui, eine Tochter des Billungers Wichmann I., verstarb aber bereits am 25. Juni 959 oder 961. Über den Sohn Gero ist nichts bekannt. Ein weiterer Sohn Christian wird vereinzelt vermutet, ist aber nicht belegbar.
Aufstieg zum Markgrafen
Nach dem Herrschaftsantritt Ottos I. begann für Gero ein beispielloser Aufstieg. In den Quellen erscheint er zunächst als Graf, dann als Legat, schließlich als Markgraf und vorübergehend sogar als Markgraf und Herzog. Bereits mit der Erhebung vom gewöhnlichen Grafen zum Legaten erhielt Gero vom König das bis dahin höchste Amt in Sachsen verliehen. Kurz darauf führte Otto I. für Gero den ursprünglich karolingischen Markgrafentitel wieder ein und hob ihn damit nochmals aus der Menge der sächsischen Grafen hervor. Bis zu seinem Tod blieb Gero einer von nur drei oder vier ottonischen Amtsträgern, die in den Chroniken und königlichen Urkunden als Markgraf bezeichnet werden. Gleichzeitig verdeutlichte Otto I. mit der Wahl dieses Titels aber auch die Bindung des Markgrafen an den König und unterschied ihn damit erkennbar von den eigenständigen Herzögen mit ihren teilweise königsgleichen Herrschaften.
Graf
Gero wurde urkundlich erstmals im Jahr 937 als Graf (comes) erwähnt. Er war einer von mehreren Grafen in dem westlich von Magdeburg gelegenen Nordthüringgau. Vermutlich hatte er die Grafenwürde mit dem Tod seines Vaters Thietmar im Jahr 932 geerbt. Als Graf war Gero ein eigenständiger Herrschaftsträger. Ihm standen die gerichtlichen, militärischen und administrativen Befugnisse über die auf seinem allodialen Grund und Boden arbeitenden und wohnenden Menschen zu. Anfangs bestand sein Besitz nur aus einigen wenigen Dörfern im Südosten des Nordthüringgaues. Ein Zuwachs an Besitz und Macht konnte nur durch königliche Verleihung zusätzlicher Kompetenzen erfolgen, die eine besondere Nähe zum Herrscher voraussetzte. Diese Nähe zu Otto I. muss früh bestanden haben, denn bereits vor seinem Herrschaftsantritt hatte Otto die Patenschaft für Geros 934/935 geborenen Sohn Siegfried übernommen.
Legat
Mit dem Tod von Geros Bruder Siegfried im Sommer 937 wurde dessen Legation für das östliche Sachsen vakant. Als Legat hatte Siegfried im Verteidigungsfall die militärische Gewalt über die Merseburg benachbarten Grenzgrafschaften ausgeübt. Nach einer neueren Forschungsmeinung war mit der Legation zudem die Ausübung der Tributherrschaft über die unterworfenen Slawenstämme östlich von Elbe und Saale verbunden. Das Legatenamt übertrug Otto I. auf dem Hoftag zu Magdeburg am 21. September 937 auf Gero. Damit kennzeichnete er ihn als einen seiner engsten Vertrauten. Dennoch blieben Geros Befugnisse auffällig hinter denen seines Bruders zurück. Anders als dieser wurde er nicht mit der Stellvertretung des Königs beauftragt. Außerdem scheint die Vergabe des Legatenamtes an Gero mit einer Herrschaftsverlagerung verbunden gewesen zu sein. Hatte nämlich Siegfried das Amt von Merseburg aus ausgeübt, scheint Geros Ausgangspunkt Magdeburg gewesen zu sein. Dort unterhielt er einen befestigten Wirtschaftshof mit einer dem heiligen Cyriakus geweihten Kapelle. Die Ursache dieser Verschiebung könnte auf ein vorangegangenes Amt Ottos I. in Magdeburg zurückzuführen sein: Otto hatte von dort aus zu Lebzeiten seines Vaters Heinrich I. selbst die Stellung eines Grenzhüters ausgeübt. Dann wäre Gero nicht nur in das Amt seines Bruders, sondern auch in Ottos Funktion eingerückt.
Als Legat war Gero bestimmten Grafen übergeordnet. Diese Unterstellung beschränkte sich auf den militärischen Oberbefehl. Eine lehnsherrliche oder gerichtliche Gewalt Geros über die ihm unterstellten Grafen ist nicht erkennbar. Von diesen Grafen sind sein Schwager Christian, dessen Sohn Thietmar, Dietrich von Haldensleben sowie Adalbert und Bruno namentlich bekannt.
Die Vergabe der herausragenden Stellung eines Legaten an Gero führte zu einem Konflikt Ottos I. mit seinem älteren Halbbruder Thankmar, der die legatio für sich selbst erwartet hatte. Die Empörung Thankmars führte schließlich zu einem bewaffneten Aufstand der mit ihm verschworenen Adelskreise gegen den König. Sie endete erst mit dem Tod Thankmars auf der Eresburg am 28. Juli 938. Gero beteiligte sich nicht an den Kämpfen des Königs gegen Thankmar. Stattdessen wehrte er damals möglicherweise einen Einfall der Ungarn in den Schwabengau ab, der zu seiner legatio gehörte.
Markgraf
In einer Urkunde Ottos I. aus dem Jahr 941 wird Gero erstmals als Markgraf (marchio) bezeichnet. Die Bestellung zum Markgrafen könnte der König bereits anlässlich des Magdeburger Hoftages am 7. Juni 939 vorgenommen haben. Sie war nicht mit einer Erweiterung von Geros Rechten verbunden. Anders als das Amt des Legaten erhielt Gero den Markgrafentitel als Zeichen einer sozialen Rangerhöhung innerhalb der Hierarchie des ostsächsischen Adels. Mit der Ernennung eines Markgrafen wollte Otto I. die Verringerung seiner Präsenz in Sachsen ausgleichen, dem Kerngebiet seiner Herrschaft. Dazu installierte er mit Gero einen seiner engsten Vertrauten als Mittelgewalt zwischen Adel und König, ohne dabei durch die Bestellung eines Herzogs eigene Befugnisse aufgeben zu müssen oder andere sächsische Adlige durch die Vergabe eines Herzogtitels zu brüskieren.
Lange war die Forschung davon ausgegangen, Gero sei mit der Verleihung des Markgrafentitels auch eine Markgrafschaft (marca oder marchia) als räumlich definierter Amtsbereich zugewiesen worden. Diese Vorstellung beruhte auf einer Übertragung der Staatsorganisation des 19. und 20. Jahrhunderts auf die mittelalterlichen Verhältnisse und einer daran ausgerichteten Interpretation der mittelalterlichen Schriftquellen. Danach stand der König als Herrscher einem hierarchisch aufgebautem Apparat von Amtsträgern mit eindeutig geregelten sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten vor. In dieser gedachten Struktur gebot Gero über einen militärischen Verwaltungsbezirk auf slawischem Siedlungsgebiet östlich der mittleren Elbe und der Saale. Es sollte sich um ein riesiges Territorium handeln, das im Norden an Elde und Ucker oder wahlweise sogar an die Ostsee grenzte und sich im Osten entlang von Havel und Spree bis zur Oder ausdehnte, während es im Süden bis an das Herrschaftsgebiet der Böhmen reichte. In Anlehnung an die beiden Gründungsurkunden der Bistümer Havelberg und Brandenburg wurde das Gebiet als „Mark des Gero“ oder „Geromark“ bezeichnet, bis sich in der modernen Geschichtswissenschaft der Name „Sächsische Ostmark“ durchsetzte. Diese Wortschöpfung bezieht sich auf Thietmar von Merseburg, der Gero als marchio orientalis („östlicher Markgraf“) bezeichnete. Weiterhin gebräuchlich waren die Namen „Elbmark“ und „Nordmark“.
In der neueren Forschung wird die Existenz einer Markgrafschaft als Amtsgebiet Geros zunehmend in Frage gestellt. Zu sehr unterscheide sich die ottonische Königsherrschaft mit ihrem labilen Gleichgewicht der unterschiedlichen Herrschaftsträger und den immer wieder neu zwischen König und Großen auszuhandelnden Aufgabenfeldern von der Struktur moderner Staaten, als dass sich darin die Vorstellung von Amtsträgern mit geregelten und räumlich bestimmten Kompetenzen einfügte. Darüber hinaus lasse sich den Schriftquellen keine unmittelbare Aussage über die königliche Zuweisung einer Markgrafschaft an Gero entnehmen.
Herzog und Markgraf
In der 946 ausgestellten Gründungsurkunde des Bistums Havelberg wird Gero schließlich als Herzog und Markgraf (dux et marchio) bezeichnet. Dieselbe Titelkombination führt Gero in der Stiftungsurkunde des Bistums Brandenburg aus dem Jahr 948. Die Echtheit beider Urkunden ist bis heute umstritten. Soweit die Verwendung des Herzogtitels nicht als weiteres Argument gegen die Echtheit der Urkunden angeführt wird, gibt es für die Titulierung unterschiedliche Erklärungen. Die ältere Forschung war zunächst von einer nochmaligen Erhöhung zum „Markenherzog“ und einer Zuweisung der Mark als Herrschaftsgebiet ausgegangen. Zumindest werde damit Geros Vogtei über die beiden Bistümer Havelberg und Brandenburg kenntlich gemacht. In der neueren Forschung wird die Bezeichnung als dux nicht mehr als Herrschaftstitel, sondern nur noch als militärische Führerstellung gedeutet. Neben Otto I. habe es keinen Herzog in Sachsen gegeben. Vereinzelt wird erörtert, ob die Bezeichnung als dux auf dem Höhepunkt seiner Macht und als einer der engsten Vertrauten des Königs 946/948 nicht zumindest auf eine Stellung Geros als Stellvertreter des Königs hindeuten könnte, immerhin eine Position, wie sie zuvor sein Bruder Siegfried innegehabt hatte. Gero, nach eigenem Selbstverständnis „Markgraf von Gottes Gnaden“ und von den Zeitgenossen als „Gero der Große“ bezeichnet, führte in seinen Privaturkunden keinen Herzogstitel.
Tributherrschaft über die Slawen
Gero setzte den königlichen Anspruch auf Anerkennung der Oberherrschaft über die slawischen Stämme in den Gebieten östlich der mittleren Elbe und der Saale durch die Einziehung von Tributen durch. Er sollte die slawischen Gebiete dazu jedoch nicht erobern und in das sächsische Herrschaftsgebiet eingliedern. Dementsprechend errichtete er dort auch keine Stützpunkte. Vielmehr beschränkte sich Geros Auftrag auf eine begrenzte Kontrolle der slawischen Gebiete von außen, von sächsischem Gebiet her. Für eine dauerhafte Unterwerfung der slawischen Stämme oder sogar eine Besetzung ihrer Gebiete fehlte es Gero an der notwendigen Truppenstärke und damit an militärischer Überlegenheit. Seine Truppen erlitten schon bei der gewaltsamen Einziehung der Tribute so hohe Verluste, dass sich die Überlebenden vor dem König über Gero beklagten.
Da die Slawen keine politische Einheit bildeten, sondern in eine Vielzahl von einzelnen Stämmen mit jeweils eigener Führungsspitze gegliedert waren, musste aus dem sächsischen Blickwinkel jeder Stamm gesondert unterworfen werden. Zur Durchsetzung der Tributherrschaft bediente sich Gero aller zur Verfügung stehenden Mittel, angefangen von Verhandlungen über Intrigen bis hin zu heimtückischen Morden und militärischen Strafaktionen, deren Grausamkeit abschrecken sollte. Gleichwohl endete die Anerkennung der sächsischen Oberhoheit oft mit der Regierungszeit des unterworfenen Fürsten, manchmal bereits mit dem Abzug der sächsischen Truppen, die nie ein größeres Kontingent als Besatzung in den slawischen Gebieten zurückließen.
An Elbe und Saale
Ende der 930er Jahre scheint sich die sächsische Tributherrschaft auf die der Elbe und der Saale unmittelbar benachbarten Gebiete der Sorben beschränkt zu haben. Die Elbe und in ihrer südlichen Verlängerung die Saale hatten zur Zeit König Heinrichs I. das Grenzgebiet zwischen sächsischer und slawischer Herrschaft markiert. Das an der Saale gelegene Merseburg als östlichster sächsischer Vorposten war von Heinrich I. erst ab 919 zur Königspfalz ausgebaut worden. Otto I. machte ab 937 das weiter nördlich an der Elbe gelegene Magdeburg zum nordalpinen Mittelpunkt seiner Herrschaft. Östlich davon verfügte er bis in die 940er Jahre über keinerlei Besitzungen oder sogar Burgen.
Als der König durch den Aufstand seines Halbbruders Thankmar und der mit diesem verschworenen Adelskreise ab 937 militärisch gebunden war, nutzten die slawischen Fürsten die Gunst der Stunde und sagten sich von der Tributverpflichtung los, was zu schweren und verlustreichen Kämpfen Geros mit den Slawen in den Grenzgebieten führte. Von der Härte und Grausamkeit der Auseinandersetzungen berichtet Widukind, die Slawen hätten „mit Morden und Brennen das Land verwüstet“, bis Gero an die dreißig ihrer Fürsten zu einem Versöhnungsgastmahl einlud. Derartige Gelage genossen als friedensstiftende Veranstaltungen eine hohe Wertschätzung. Da die slawischen Fürsten aber vorgeblich Geros Ermordung anlässlich dieses Gastmahls geplant hatten, soll Gero seinerseits „List gegen List“ gesetzt haben; jedenfalls räumte er seine von Wein und Schlaf trunkenen Gäste in der Nacht aus dem Weg. Heimtücke und Hinterlist galten in der mittelalterlichen Gesellschaft durchaus als geschätzte Fähigkeiten eines Truppenführers, wie Karl Leyser annimmt. Doch das nächtliche Dahinschlachten der slawischen Führungselite hatte offenbar nicht den gewünschten Erfolg. Stattdessen führten die Slawen die Auseinandersetzungen mit zunehmender Heftigkeit. Schließlich sah sich sogar der König gezwungen, mehrmals mit einer eigenen Streitmacht in die Grenzkämpfe einzugreifen, weil Gero „gegen alle Völkerschaften der Barbaren zu schwach“ gewesen sei. Doch auch mit vereinten Kräften waren die Slawen nicht zu bezwingen, da der König dem Gegner nach der Schilderung Widukinds in der Sachsengeschichte zwar viel Schaden zufügte, aber keinen vollständigen Sieg errang.
Geros jahrelange Kämpfe mit den sorbischen Kleinstämmen an Elbe und Saale führte nicht nur zu einer Wiederherstellung der sächsischen Tributherrschaft, sondern auch zu einer geringfügigen Ausweitung der ottonischen Königsherrschaft nach Osten. Aus königlichen Urkunden der Folgejahre ergibt sich, dass das Gebiet zwischen den Flüssen Saale, Fuhne, Mulde und Elbe, bestehend aus den Gauen Serimunt und Zitizi, fortan der unmittelbaren Gewalt des Königs unterstand. Dort übertrug Otto I. ab Mitte der 940er Jahre Familienangehörigen Land und vergab Lehen an Gero und andere Große. Demgegenüber unterstanden die weiter südlich gelegenen Gebiete bis zur Mulde offenbar weiterhin den lokalen sorbischen Fürsten, wenn auch unter sächsischer Tributherrschaft. Insgesamt scheint Geros Massaker an den Slawenfürsten eine sorbische Herrschaftskonzentration dauerhaft unterbunden und deren politisches Gefüge nachhaltig destabilisiert zu haben. Jedenfalls ist eine Beteiligung der Sorben am Slawenaufstand der Liutizen von 983 nicht überliefert.
Auf der anderen Seite stürzten die hohen Verluste aus den lange andauernden Slawenkämpfen Ottos noch junge Königsherrschaft in eine weitere Krise. Die sächsischen Adligen beklagten sich vor dem König über Gero, der ihnen eine als Ausgleich für ihre Verluste zu geringe Beteiligung an der Beute gewährt habe. Der Herrscher wies die Klagen jedoch zurück und stellte sich auf die Seite des Beschuldigten. Diese Situation machte sich Ottos Bruder Heinrich zunutze, der die unzufriedenen Adligen mit Geschenken und Versprechungen für sich zu gewinnen vermochte. Der Plan, Otto beim Osterfest 941 in Quedlinburg zu ermorden, scheiterte jedoch, und der Aufstand brach zusammen. Die Verschwörer, darunter viele Beteiligte an den Slawenkämpfen, wurden verhaftet und die meisten von ihnen hingerichtet.
Unterwerfungen im Nordosten
Im Nordosten unterwarf Gero 954 die Ukranen und kämpfte 955 in der Schlacht an der Raxa. Vielleicht war er 15 Jahre zuvor schon an der erneuten Unterwerfung der Heveller beteiligt gewesen.
Bereits König Heinrich I. war 928/929 in einem Winterfeldzug in das Land der Heveller eingedrungen und hatte deren Hauptburg, die Brandenburg, eingenommen. Er beließ den unterworfenen Hevellerfürsten Baçqlābič als tributpflichtigen Vasallen auf der Brandenburg und nahm dessen Sohn Tugumir sowie eine namentlich unbekannte Tochter als Geiseln mit nach Sachsen. Noch im Jahr 937 entrichteten die Heveller Tribute, die König Otto I. dem neu errichteten Mauritiuskloster in Magdeburg schenkte. Bald danach verstarb Baçqlabić und die Tributzahlungen scheinen ausgeblieben zu sein. Tugumir, inzwischen Christ, ließ sich durch viel Geld und noch größere Versprechen dazu überreden, in Ottos Dienste zu treten. Mit der Behauptung, aus der sächsischen Gefangenschaft entflohen zu sein, kehrte er 940 in die Brandenburg zurück und übernahm dort das angestammte Fürstenamt. Anschließend tötete er seinen Neffen, den letzten männlichen Verwandten, und unterstellte das gesamte Stammesgebiet wieder der Tributherrschaft des ostfränkischen Königs. Eine unmittelbare Beteiligung Geros an der Einsetzung Tugumirs ist nicht überliefert, wird aber immer wieder vermutet, weil er acht Jahre später als einziger weltlicher Fürst in der zweifelhaften Gründungsurkunde des Bistums Brandenburg erwähnt wird.
Eine ähnliche Entwicklung nahm das Verhältnis zu den in der heutigen Uckermark siedelnden Ukranen. Im Jahr 934 hatte Heinrich I. ein Heer in deren Siedlungsgebiete geführt und sie tributpflichtig gemacht. Zwanzig Jahre später musste Gero zu einem erneuten Feldzug gegen die Ukranen aufbrechen, von dem er mit reicher Beute zurückkehrte. Dass es sich dabei nicht lediglich um einen Raubzug gehandelt haben kann, sondern Geros Kämpfe im Nordosten zu einer Unterwerfung der Ukranen führten, ergibt sich aus einer Nachricht aus dem Jahr 955. Danach kämpften Ukranen – nach anderer Lesart Ranen von der Insel Rügen – in Geros Gefolge in der Schlacht an der Raxa. Dort besiegten Otto und sein Sohn Liudolf mit Hilfe Geros und eines böhmischen Kontingents am 16. Oktober 955 eine antisächsische Koalition aus Abodriten, Wilzen, Tollensanen und Zirzipanen unter dem Fürsten Stoignew.
Erst zwei Monate zuvor hatte Otto in der Schlacht auf dem Lechfeld einen triumphalen Sieg über die Ungarn errungen. Im Anschluss daran war er sogleich in die Slawengebiete gezogen. Ob Gero an den Kämpfen gegen die Ungarn teilgenommen hatte oder bereits in Kämpfe mit den Slawen verstrickt war, wird nicht berichtet. Wenn Widukind entschuldigend schreibt, die Sachsen seien während der Ungarnschlacht in Kämpfen mit den Slawen gebunden gewesen, spricht das eher gegen Geros Anwesenheit auf dem Lechfeld. Im Slawengebiet verliefen die Kampfhandlungen zunächst weniger günstig. Nachdem das sächsische Heer in slawisches Gebiet eingedrungen war, wurde es am Fluss Raxa eingekesselt, und unter den Eingeschlossenen begannen Hunger und Krankheiten zu wüten. Daraufhin beauftragte der König Gero, mit Stoignew über ein Freundschaftsbündnis zu verhandeln. Die Freundschaft des Königs sollte Stoignew nach einer öffentlichen und damit insbesondere für das slawische Heer sichtbaren Unterwerfung erlangen. Gero hielt sich jedoch nicht an die königliche Weisung. Stattdessen provozierte er Stoignew, indem er ihn verhöhnte und mit der Stärke des sächsischen Heeres prahlte, bis die über den Fluss geführte Unterredung mit wechselseitigen Beschimpfungen und der Aufforderung zum Kampf für den folgenden Tag endete. Durch eine Kriegslist Geros gelang es den Sachsen am nächsten Tag, den Fluss an einer abgelegenen Stelle unbemerkt zu überqueren. Die überraschten Slawen ergriffen die Flucht. Der angesichts der Niederlage fliehende Stoignew wurde von einem Ritter namens Hosed enthauptet und der abgetrennte Schädel auf dem Schlachtfeld aufgestellt. Um ihn herum köpften die Sieger 700 Gefangene und ließen den Ratgeber Stoignews hilflos zwischen den Leichen zurück, nachdem sie ihm die Augen ausgestochen und die Zunge herausgerissen hatten.
Feldzüge in den Südosten
Die Nachricht über einen der bekanntesten militärischen Erfolge Geros, die Unterwerfung des polnischen Piastenfürsten Mieszko I. im Jahr 962/963, scheint auf einem Missverständnis zu beruhen. Thietmar von Merseburg berichtet in seiner zwischen 1012 und 1018 verfassten Chronik, Gero habe Mieszko und alle Untertanen des polnischen Fürsten der Königsherrschaft Ottos unterworfen. Tatsächlich stellt die Aussage Thietmars aber nur eine stark vereinfachende Zusammenfassung mehrerer Kapitel aus der um 967 entstandenen Sachsengeschichte des Widukind von Corvey dar. Widukind erwähnt dort zwar auch Gero und Mieszko I., aber jeweils in Zusammenhang mit Wichmann II. Gero habe diesem die Freiheit geschenkt, und Wichmann II. habe als Anführer eines slawischen Heeres Mieszko zweimal besiegt.
Im Jahr 963 unternahm Gero in weit fortgeschrittenem Alter einen Feldzug gegen die Lusitzi. Diese siedelten in der Niederlausitz und waren von Heinrich I. im Jahre 932 tributpflichtig gemacht worden. Noch im Jahre 961 verfügte Otto zugunsten des Magdeburger Moritzklosters über einen Teil der Einnahmen aus den Ländern Lausitz und Selpoli. Wahrscheinlich hatten die Lusitzi – vielleicht unter ihrem Fürsten Dobromir – die Tributzahlungen verweigert. Sie leisteten Geros Truppen heftigen Widerstand, denn es kam zu großen Verlusten in Geros Gefolge. Gero selbst wurde schwer verletzt. Unter den vielen gefallenen Adeligen soll auch ein Neffe Geros gewesen sein.
Wiederkehrende Vermutungen über Feldzüge Geros gegen die Milzener in der Oberlausitz oder die Daleminzer im Gebiet um Meißen lassen sich nicht anhand der Schriftquellen belegen.
Entfremdung zwischen Markgraf und König
Im Vorfeld des Liudolfinischen Aufstandes 953/954 kam es zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen Markgraf und König, in deren Folge Otto I. sich von Gero abwandte und Hermann Billung zu seinem engsten Vertrauten machte. Wahrscheinlich hatte Gero mit den Aufständischen sympathisiert. Eine Teilnahme am Aufstand ist hingegen nicht anzunehmen, da Geros Stellung als Markgraf unangetastet blieb.
Verlust der königlichen Huld
Bis zum Aufstand hatte der König das vertrauensvolle Verhältnis zu seinem Markgrafen in zuvor nie dagewesener Weise durch öffentliche Gunstbezeugungen zum Ausdruck gebracht. Er übernahm die Patenschaft für Geros Sohn Siegfried, beschenkte Gero mit Ländereien und bestellte ihn gegen den Willen seines Bruders Thankmar zum Legaten. Er zog Seite an Seite mit Gero in den Kampf gegen die Slawen, verteidigte ihn gegen die Beschwerden seiner Gefolgsleute, führte für ihn den Titel eines Markgrafen wieder ein und überschüttete ihn in königlichen Urkunden mit schmückenden Beiworten (Epitheta) wie „unserem teuren Markgrafen namens Gero“ oder sogar „unseres teuersten Markgrafen Gero“.
Ab dem Jahr 951 kühlte Ottos Verhältnis zu Gero erkennbar ab. Das auffälligste Anzeichen einer Veränderung ist das schlagartige Ausbleiben Geros als Beschenkter oder Intervenient in königlichen Urkunden. Zwischen 951 und seinem Tod im Jahr 965 wird Geros Name überhaupt nur noch ein einziges Mal in einer Urkunde Ottos I. erwähnt, bezeichnenderweise ohne die bis dahin üblichen ehrenden Beiworte. Aus dem Totengedenken der Ottonen – Otto war immerhin Taufpate von Geros Sohn Siegfried – wurden Gero und seine Nachkommen vollständig verbannt. Nach Geros Tod teilte Otto die „Sächsische Ostmark“ unter verschiedenen Grafen auf. Es entstanden die Nordmark, die Mark Lausitz, die Mark Meißen, die Mark Zeitz und die Mark Merseburg. Ottos Unwille scheint sich selbst gegen Geros entferntere Verwandte gerichtet zu haben. So sträubte er sich lange, Geros gleichnamigen Neffen als Erzbischof von Köln zu bestätigen.
Zwar wurde Gero im Amt eines Markgrafen belassen, doch der Verlust der königlichen Gunst hatte deutliche Auswirkungen. Die königliche Kanzlei machte zu Geros Lebzeiten keinen Gebrauch mehr von dessen Markgrafentitel. Stattdessen wurde Herrmann Billung im Jahr 956 erstmals als Markgraf bezeichnet; nachfolgend bekam er in Abwesenheit des Königs und späteren Kaisers auch dessen Vertretung übertragen.
Mögliche Ursachen
Der Grund für diesen Wandel ist umstritten. Nach der gängigsten Erklärung hatte sich Gero in ein Beziehungsgeflecht verstrickt, das ihn am Ende mehr oder weniger ungewollt in die Nähe der Opposition zum König brachte. Gero war dem Königssohn Liudolf von Schwaben durch die Mitgliedschaft in der Saalfelder Schwureinung, einem durch Treueeid begründeten Zusammenschluss von Adligen mit dem Ziel wechselseitiger Unterstützung, zum Beistand verpflichtet. Als Liudolf in einen Konflikt mit seinem Onkel Heinrich von Baiern geriet, ergriff der König für Heinrich Partei. So fand sich Gero auf der Seite einer Gruppe, die zum König in Opposition getreten war. Aus dieser verhängnisvollen Verbindung konnte oder wollte er sich nicht mehr lösen, vielleicht aus Scheu vor einem Eidbruch. Für Geros Mitgliedschaft in der Saalfelder Schwureinung wird vorrangig sein Umgang mit den Hauptverschwörern Liudolf, Herzog Konrad von Lothringen und dem Billunger Wichmann II. angeführt. Im Juli 951 schenkte Liudolf Gero auf Betreiben Konrads von Lothringen drei Besitzungen im Gau Serimunt. Nach Beendigung des Liudolfinischen Aufstandes kämpfte der abgesetzte Lothringerherzog Konrad dann 954 auf König Ottos Befehl an der Seite Geros an der Ucker gegen die Ukranen. Möglicherweise war Gero seiner eidlichen Beistandspflicht nachgekommen und hatte Konrad zuvor bei sich aufgenommen. Mit dem Billunger Wichmann II. war Gero in besonderer Weise verbunden; dessen Schwester Hathui war mit seinem Sohn Siegfried vermählt. Nach dem Liudolfinischen Aufstand erlangte Wichmann Ottos Gnade nur deshalb wieder, weil Gero sich für ihn einsetzte und zwischen ihm und dem Herrscher vermittelte. Als Wichmann 954 eidbrüchig wurde und sich gegen seinen Onkel Hermann Billung erhob, geriet er in slawische Gefangenschaft. Die Slawen lieferten ihn an Gero aus. Der brachte den Aufrührer jedoch nicht zum König, sondern verhalf ihm zur erneuten Flucht zu den Slawen.
Wenn Gero tatsächlich der Saalfelder Schwureinung angehörte, dann muss er im Verlaufe des Aufstandes einen Weg gefunden haben, offen für den König Partei zu ergreifen, ohne gegenüber den Verschwörern eidbrüchig zu werden, denn im August 954 kämpfte er an der Seite Ottos vor Regensburg gegen die Aufständischen. Dort wurde er zum Ziel eines Ausfalls unter Führung Liudolfs. Im folgenden Jahr kämpfte Gero dann Seite an Seite mit Liudolf in der Schlacht an der Raxa, nachdem Otto seinen abtrünnigen Sohn wieder in seine Huld aufgenommenen hatte. Ein vorangegangener Eidbruch Geros hätte jedoch in den Augen aller Beteiligten eine Schande solchen Ausmaßes dargestellt, dass dies einen Aufenthalt in der Nähe der königlichen Familie ausgeschlossen hätte. Gerd Althoff vermutet, Gero habe die Rolle eines Vermittlers zwischen dem König und den Verschwörern eingenommen, um keiner Seite eine Handhabe gegen sich zu geben. Andere nehmen an, Gero habe aufgrund seines Ruhms für Otto als unantastbar gegolten oder sei lediglich als Alternative zu Hermann Billung in Amt und Würden belassen worden, um die beiden Markgrafen bei Bedarf gegeneinander ausspielen zu können.
Nach einer anderen Auffassung ist eine Mitgliedschaft Geros in der Saalfelder Schwureinung ausgeschlossen. Als Angehöriger der Verschwörergruppe hätte er nicht erfolgreich beim König für Wichmann II. eintreten können. Auch habe er Wichmann nicht pflichtwidrig freigelassen, sondern das königliche Urteil durch Verbannung zu den Slawen vollstreckt. Auslöser der Verstimmung zwischen Otto und Gero sei vielmehr eine Rivalität des Markgrafen mit Hermann Billung in den Slawengebieten gewesen. Diese habe Gero zu einem Bündnis mit Hermanns Gegner, dessen Bruder Wichmann, veranlasst. Der Pakt sei durch die Heirat von Geros Sohn Siegfried mit Wichmanns Tochter Hathui besiegelt worden. Diese Familienbande erklärten Geros spätere Parteinahme für den Verschwörer Wichmann.
Eine weitere Hypothese lautet, dass Gero durch seine Erfolge in den Slawenkämpfen so angesehen und mächtig geworden war, dass Otto, wenn er ihn weiterhin gefördert hätte, die Entstehung eines neuen geronischen Herzogtums in seinen Kernlanden sowie den angrenzenden Slawengebieten hätte befürchten müssen. Aus diesem Grund habe er ihn zu missachten begonnen.
Memorialwesen
Gero unternahm große Anstrengungen zur dauerhaften Bewahrung seines Andenkens. Dieses Memorialwesen diente sowohl religiösen Zwecken als auch der sozialen Repräsentation. Zum einen sollte das Gedächtnis an den Verstorbenen bis zum Jüngsten Tag bewahrt werden, damit er mit den Lebenden an der Erlösung teilhaben konnte. Zum anderen sollten bereits zu Lebzeiten Rang und soziale Stellung ausgedrückt werden. Gero stiftete mit Frose, Gernrode und Alsleben drei Kanonissenkonvente im Gebiet des Bistums Halberstadt und beteiligte sich an der Gründung des Klosters Kemnade an der Weser. Zudem unternahm er zwei Pilgerfahrten nach Rom.
Im Jahr 949 reiste Gero zum ersten Mal an das Grab des Heiligen Petrus nach Rom. Es handelte sich um eine religiös motivierte Pilgerfahrt. Solche Pilgerfahrten hatten meistens Dankbarkeit, Fürbitte oder Buße zum Anlass. Bei Gero könnten alle drei Gründe zusammengekommen sein. Zunächst befand er sich im Zenit seines Ansehens, so dass er sich aus großer Dankbarkeit auf den Weg gemacht haben könnte. Sodann könnte sein Sohn Gero im Jahr 949 schon schwer erkrankt oder sogar bereits verstorben sein. Schließlich wird vermutet, Gero sei wegen seiner „Grausamkeit, Härte und Treulosigkeit“ gegenüber den Slawen zu einer Bußfahrt aufgebrochen. Ob er die Reise darüber hinaus in königlichem Auftrag zur Erkundung der politischen und militärischen Verhältnisse in Oberitalien oder für Verhandlungen mit dem Papst über die Gründung eines Erzbistums Magdeburg unternahm, lässt sich mangels entsprechender Anhaltspunkte nicht klären. Die Rückreise führte Gero im Frühjahr 950 über das Kloster St. Gallen. Dort schloss er mit Abt Craloh einen Vertrag, in dem er sich zur Entrichtung von acht Pfund Silber an das Kloster und zur Intervention beim König für eine Landschenkung in Schwaben verpflichtete. Als Gegenleistung wurde Gero mit seiner gesamten Sippe in die Verbrüderung und ein ewigliches, alljährliches Gebetsgedenken für den Tag seines Eintritts am 23. März aufgenommen. Das Gebetsgedenken sollte die Verfehlungen des Verstorbenen tilgen, die er zu Lebzeiten nicht mehr sühnen konnte.
Nach seiner Rückkehr gründete oder erneuerte Gero in Frose ein seinem Schutzheiligen St. Cyriacus geweihtes Benediktinerkloster, das der König noch im selben Jahr mit Besitz im Schwabengau beschenkte.
Wohl im Jahr 961 beschlossen der inzwischen greise Gero und sein todkranker Sohn Siegfried, ihr gesamtes Vermögen in ein neu zu gründendes Kanonissenstift einzubringen, um sich auf diese Weise ein ewiges Totengedenken zu sichern, denn mit dem unmittelbar bevorstehenden Tod des kinderlosen Siegfried erlosch Geros Geschlecht. Zum Ort der Stiftung bestimmten die beiden Gründer ihre Hauptburg Geronisroth, die zu diesem Zweck über mehrere Jahre vollständig umgebaut werden musste. Gleichzeitig begann Gero die Stiftung für die Zeit nach seinem Tod gegen jeden Zugriff auf das Stiftungsvermögen rechtlich abzusichern. Zunächst bemühte er sich um Königsschutz, Immunität und die Gewährung der freien Wahl von Vogt und Äbtissin. Da Otto ihm zwar immer noch nicht gewogen war, aber ihm die fromme Bitte nicht abschlagen konnte, ohne selbst an Ansehen zu verlieren, musste der soeben gekrönte Kindkönig Otto II. die Privilegien verleihen, die sein Vater dann bestätigte. Anschließend reiste Gero zum zweiten Mal nach Rom und übertrug das Stift dem Papst, um es dem Zugriff des zuständigen Bischofs von Halberstadt zu entziehen. Von dieser Reise brachte er auch eine Armreliquie seines Schutzheiligen St. Cyriacus mit, der in Gernrode die Patrone Maria und Petrus bald in den Hintergrund drängte und damit eine unmittelbare Verbindung zum Stifter auch nach außen in Erscheinung treten ließ. Gero selbst trat das Amt des ersten Vogtes an und setzte seine Schwiegertochter Hathui als erste Äbtissin ein. In einer Urkunde aus dem Jahr 963 schloss er noch einmal alle Verwandten ausdrücklich von der Erbfolge aus, um auch von dieser Seite jede Gefährdung seiner Memorialstätte nach seinem Tod auszuschließen.
Gero verstarb am 20. Mai 965. Vermutungen, Todesursache sei die schwere Verwundung aus dem Jahr 963 gewesen, lassen sich durch Quellen nicht bestätigen. Er wurde an herausragender Stelle der Stiftung bestattet, nämlich in der Vierung der Stiftskirche St. Cyriakus. Das Grab soll mit einer heute nicht mehr vorhandenen Grabplatte abgedeckt gewesen sein. Diese war wahrscheinlich mit einer der ersten Grabplastiken in Sachsen versehen. Die Platte soll außerdem eine Inschrift getragen haben. Diese wird von dem Chronisten Andreas Popperodt in den Annales Gernrodenses aus der Zeit von 1560 bis 1571 überliefert mit Anno Domini 965 die 14. Cal. Julii obiit illustrissimus Dux et Marchio Gero, huius ecclesiae fundator, cuius anima requiescat in pace. Amen., die auf dem Tafelbild von 1510 verkürzt und fehlerhaft wiedergegeben wäre. Diesem Tafelbild soll zudem die Grabplastik als Vorlage gedient haben. Der heute vorhandene Sarkophag – die darin 1865 gefundenen Knochen stammen angeblich von einem 1,84 m großen Mann – wurde erst 1519 erbaut.
Nachwirkung
Mittelalter
Die mittelalterlichen Chronisten beurteilen Gero durchweg positiv. Widukind von Corvey, der ihn noch gekannt haben könnte, beschreibt ihn in seiner ab 967 entstandenen Sachsengeschichte als einen äußerst ritterlichen Mann. Gero sei nicht nur kriegskundig gewesen, sondern auch „ein guter Ratgeber im Frieden, nicht ohne Beredsamkeit, von vielem Wissen, auch wenn er seine Klugheit lieber durch Taten als durch Worte“ bewiesen habe. Im Erwerben habe er Tatkraft gezeigt, im Geben Freigiebigkeit, und am Vorzüglichsten sei „sein Eifer im Dienste Gottes“ gewesen. Auch wenn der Tenor Widukinds Einschätzung entsprochen haben mag, lässt sich aus der wohlwollenden Schilderung nur eingeschränkt auf Widukinds Bild von Gero schließen, denn der Geschichtsschreiber nutzte die Charakterisierung des Markgrafen vorrangig zu versteckter Kritik an dem seiner Auffassung nach zu nachgiebigen Verhalten König Ottos in der Schlacht an der Raxa. Vielleicht handelt es sich auch um einen verdeckten Hinweis auf das Zerwürfnis zwischen Gero und dem König, das an keiner Stelle erwähnt wird. Auch der Magdeburger Bischof Adalbert geht auf das gestörte Verhältnis in seiner um 966/967 verfassten Fortsetzung der Weltchronik des Regino von Prüm nicht ein, obwohl es ihm als Zeitgenossen kaum verborgen geblieben sein kann. Adalbert verwendet den von der königlichen Kanzlei vermiedenen Markgrafentitel, wenn er Gero als „den besten und vorzüglichsten unter den Markgrafen unserer Zeit“ würdigt. Die Bewertung Thietmars von Merseburg fällt ähnlich aus. Auch bei ihm klingt in der Darstellung Geros Kritik am Verhalten des Königs an. Thietmar nennt Gero einen „Verteidiger des Vaterlandes“ (defensor patriae). Das war eine Aufgabe, die der König während seiner Aufenthalte in Italien nicht erfüllen konnte. Auch die Beschreibung Geros als „großer Mann, der auch so geheißen habe“, steht in Kontrast zur Benennung Ottos, dem dieser schmückende Beiname bei Thietmar nicht zukommt.
Möglicherweise verbreiteten sich Nachrichten über Gero bereits zu seinen Lebzeiten bis in die arabische Welt. Der Geograph und Historiker al-Masʿūdī berichtet in seinem um das Jahr 947 verfassten „Buch der Goldwiesen und der Edelsteingruben“ von einem König des mächtigen Volkes der Nāmǧīn namens Giranā. Ob es sich dabei allerdings wirklich um Gero oder nur um eine Verschreibung des Wortes für Graf handelt, ist ungeklärt.
Ältere Forschung
Im Jahre 1828 legte Karl Christian von Leutsch eine erste Monographie zu Gero vor. Darin vertrat er die Auffassung, Otto I. habe nicht als „unumschränkter König“ regieren können, sondern sei zur Durchsetzung seiner Entscheidungen auf den Konsens mit den Großen seines Reiches angewiesen gewesen. In dieser Gruppe der „Mitregenten“ stufte er Gero als spiritus rector ein, ohne dessen Zustimmung kein Handeln des Königs möglich gewesen sei. Letztendlich habe Gero die Geschicke des Reiches aus dem Hintergrund planvoll gelenkt, um für sein Geschlecht die Königswürde und die slawischen Gebiete zu erlangen. Diese Forschungsergebnisse, die zunächst von namhaften Historikern rezipiert worden waren, gerieten mit dem verstärkt aufkommenden Nationalismus in die Kritik. Abgelehnt wurde nun nicht nur die Einschätzung Geros als heimlicher Lenker und bestimmender Ratgeber, sondern vor allem auch die Annahme einer Abhängigkeit des Königs von seinem mächtigen Gefolgsmann. Ein solches Bild sei „unvereinbar mit den ersten Bedingungen des echt deutschen und christlichen Kaiserthums“ und trage „einen Widerspruch in sich“. Auch Geros Kämpfe mit den Slawen, die nach von Leutsch noch am ehesten dem Aufbau einer eigenen Herrschaft dienten, wurden zunehmend national vereinnahmt. 1847 schrieb Moritz Wilhelm Heffter, die Deutschen verdankten Gero „die großen Fortschritte ihrer Waffen nach Nordosten bis zur Oder, ja! nun, nach Unterwerfung des Mieszko I., selbst bis jenseits der Oder, bis zur Warthe und Weichsel hin.“
1860 verfasste Otto von Heinemann eine neue Biographie Geros. Äußerer Anlass war die Restauration der Stiftskirche St. Cyriacus. Tatsächlich hatte sich aber die Einschätzung des Markgrafen vollständig gewandelt. So distanzierte sich Heinemann ausdrücklich vom Gerobild Leutschs und würdigte seinen Protagonisten als Helden, der „in Treue und unerschütterlicher Hingabe“ sein ganzes Leben dem Dienst am König gewidmet habe. Otto wiederum habe den Tod seines Getreuen als „Nationalunglück“ erfahren. Gero sei es gewesen, der den „planlosen Unternehmungen der Deutschen“ an ihrer östlichen Grenze ein Ende machte und ein „Angriffsystem organisirte“, auf dass er „mit Hülfe desselben das ganze Wendenland bis an die Oder der deutschen Herrschaft botmässig machte, den Schrecken vor dem deutschen Namen bis tief in die sarmatischen Ebenen trug, die Polen demüthigte“. In der 1876 von Ernst Ludwig Dümmler veröffentlichten Monographie über Otto den Großen ist Gero ein „unermüdlicher Vorkämpfer Deutschlands gegen das Slaventhum“, den man anstelle des Königs „als den eigentlichen Begründer der deutschen Herrschaft zwischen Elbe und Oder betrachten“ müsse.
Die Einschätzung Geros als treuester Gefolgsmann Ottos I., der „mit rücksichtsloser Härte das gewaltige Gebiet der Nordmark eroberte, verwaltete und eindeutschte“, blieb bis in die Nachkriegsdiskussion der 1950er Jahre bestimmend für das Bild des Markgrafen als Repräsentant einer vermeintlichen deutschen Ostexpansion des 10. Jahrhunderts. Noch 1955 begründete der Rechtshistoriker Hermann Conrad „das historische Recht des deutschen Volkes“ auf die im Zweiten Weltkrieg „entrissenen Gebiete“ mit einer Darstellung der mittelalterlichen Besiedlung des deutschen Ostens, dessen Grenze der „gefürchtete Slawenbezwinger“ Markgraf Gero gesichert habe. In seiner Kommentierung der Auflösung Preußens durch die Potsdamer Konferenz äußerte der polnische Journalist Edmund Jan Osmańczyk 1948, dass „der Drang nach Osten, durch die Mordtaten Markgraf Geros unter den Elbslawen eingeleitet, der Beginn des Hitlerismus gewesen“ sei. Ähnlich argumentierte der polnische Nationalhistoriker Zygmunt Wojciechowski, der die staatsbildende Tätigkeit Mieszkos I. als das Resultat der Erfahrung mit dem brutalen Vorgehen des „deutschen Nachbarn“, besonders des „Fürsten Gero“, ansah.
Neuere Forschung
Die neuere Forschung führte zu einer Entmystifizierung Geros. Zunächst gelang Karl Schmid im Jahr 1960 der Nachweis von Geros Herkunft. Im Zusammenhang mit Untersuchungen zu den Eintragungen im Reichenauer Verbrüderungsbuch stellte er die Abstammung des Markgrafen von Thietmar und damit die Zugehörigkeit zu den etablierten Adelskreisen fest. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Forschung davon ausgegangen, es handele sich bei Gero um einen homo novus, einen Emporkömmling aus niederen Adelskreisen. Dies hatte lange als Indiz für eine neue, auf Eroberung ausgerichtete Politik Ottos I. im slawisch-sächsischen Grenzgebiet gegolten.
Als nächstes räumte Gerd Althoff 1984 mit dem nationalistisch verbrämten Bild von Gero als bedingungslosem Gefolgsmann und treuestem Paladin des Königs auf. Althoff erkannte bei einer Untersuchung der Urkunden Ottos I., dass Gero ab dem liudolfinischen Aufstand 953 in den königlichen Diplomen keine Erwähnung mehr fand, und schloss daraus auf eine tiefgreifende Entfremdung zwischen Markgraf und König. Da er das Ergebnis anhand weiterer Befunde abzusichern vermochte, hat sich die Forschung seiner Sichtweise inzwischen einhellig angeschlossen, ohne dass Einigkeit über die Gründe für die Verstimmung erzielt werden konnte. 1999 war es erneut Gerd Althoff, der die bis dahin vorherrschende Lehrmeinung von einer planvollen Ostexpansion des Reiches, einem ottonischen Markensystem an der Slawengrenze und damit indirekt der Stellung Geros als Vollstrecker eines königlichen Willens in Frage stellte. Darauf aufbauend vermutete Hagen Keller 2007 widerstreitende Strategien im Umgang mit den Slawen. Otto I. habe sich gegenüber den slawischen Fürsten um Stabilisierung bemüht und sei zur Respektierung von deren Herrschaftsgebieten bereit gewesen, während Gero die Regeln für ein friedliches Miteinander mit tributpflichtigen Fürsten nicht habe einhalten wollen. Schon Gerd Althoff hatte Geros eigenmächtiges Handeln in den Slawengebieten hervorgehoben und am Beispiel der Schlacht an der Raxa nachgewiesen, dass Gero sich offen über den Befehl des Königs zur Führung von Friedensverhandlungen hinwegsetzte.
Den vorläufigen Schlusspunkt dieser Forschungsentwicklung setzt die 2012 erschienene Habilitationsschrift von Andrea Stieldorf. Danach habe sich die Funktion von Geros Markgrafentitel in der „Bezeichnung eines besonderen Vertrauten des Herrschers“ erschöpft, ohne dass es sich um eine „institutionelle Stellvertreterschaft“ gehandelt habe.
Besondere Beachtung findet Geros brutaler Umgang mit den Slawen. Hans K. Schulze charakterisierte Gero als gewalttätigen, kampferprobten und gefürchteten Kriegsmann, der sich ohne Skrupel gegenüber seinen Gegnern „selbst zu abscheulichen Taten“ habe hinreißen lassen. Für Johannes Laudage tat sich Gero in den Slawenkämpfen insbesondere durch seine Heimtücke und Brutalität hervor. Etwas zurückhaltender urteilt Gerd Althoff, Gero sei in der Wahl seiner Mittel in den Slawenkämpfen „alles andere als zimperlich“ gewesen.
Alltagswahrnehmung
Belletristik und populärwissenschaftliche Sachbücher prägen und prägten das Bild Geros in der Alltagswahrnehmung weitaus stärker als die Geschichtswissenschaft. Zeitgeschichtliche Hintergründe führen im Roman wie im Sachbuch jedoch zu einer Überzeichnung einzelner Gesichtspunkte. Paul Schreckenbach veröffentlichte unter dem Eindruck der russischen Brussilow-Offensive während des Ersten Weltkrieges den Roman Markgraf Gero. Ein Roman aus der Gründungszeit des alten deutschen Reiches. Darin schilderte er einen patriotischen Gero als „Vorkämpfer eines deutschen Nationalstaates unter Führung eines (preußischen) Monarchen“, der treu und loyal zum König die Verteidigungsschlachten gegen „das hündische Volk“ der Slawen anführt. Das Buch erlebte bis 1945 mehrere Auflagen und fand eine verhältnismäßig große Verbreitung.
Unter dem Eindruck der deutschen Gräueltaten während des Nationalsozialismus wandelte sich auch die Einschätzung der mittelalterlichen Auseinandersetzung mit den Elbslawen. In seinem 1991 erschienenen Roman Brennaburg räumt Wolfgang David im Rahmen einer differenzierten und ausgewogenen Darstellung von Sachsen und Slawen der Ermordung der 30 slawischen Fürsten durch Gero mit mehr als 40 Seiten auffällig viel Platz ein. Dementsprechend machte Rebecca Gablé in ihrem 2013 erschienenen Roman Das Haupt der Welt einen rücksichtslosen Gero zu einem der Gegenspieler ihrer slawischen Hauptfigur. Der populärwissenschaftliche Sachbuchautor S. Fischer-Fabian schrieb über Gero, „dieser Mann“ habe dreißig slawische Fürsten betrunken gemacht, „um sie dann einzeln abzuschlachten.“
Quellen
Paul Hirsch, Hans-Eberhard Lohmann (Hrsg.): Widukindi monachi Corbeiensis rerum gestarum Saxonicarum libri tres. = Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. 7: Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi. Bd. 60). 5. Auflage. Hahn, Hannover 1935, (Digitalisat).
Robert Holtzmann (Hrsg.): Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. = Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. 6: Scriptores rerum Germanicarum. Nova Series Bd. 9). Weidmann, Berlin 1935, (Digitalisat).
Literatur
Übersichtsdarstellungen
Helmut Beumann: Gero I. In: Lexikon des Mittelalters. Band 4: Erzkanzler bis Hiddensee. Artemis, München u. a. 1989, ISBN 3-7608-8904-2, Sp. 1349.
Untersuchungen
Jan Brademann: Defensor Patriae. Das Leben des Markgrafen Gero. In: Auf den Spuren der Ottonen. Band 2: Gerlinde Schlenker, Roswitha Jendryschik (Red.): Protokoll des Wissenschaftlichen Kolloquiums am 26. Mai 2000 in Wetzendorf/Memleben (= Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts. Bd. 17, ). Druck-Zuck, Halle 2000, S. 115–130 (Überblick).
Andrea Stieldorf: Marken und Markgrafen. Studien zur Grenzsicherung durch die fränkisch-deutschen Herrscher (= Monumenta Germaniae historica. Schriften. Bd. 64). Hahn, Hannover 2012, ISBN 978-3-7752-5764-0, (Zugleich: Bonn, Universität, Habilitationsschrift, 2007/2008).
Charlotte Warnke: Das Kanonissenstift St. Cyriacus zu Gernrode im Spannungsfeld zwischen Hochadel, Kaiser, Bischof und Papst von der Gründung 961 bis zum Ende des Investiturstreits 1122. In: Irene Crusius (Hrsg.): Studien zum Kanonissenstift (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 167 = Studien zur Germania Sacra. Bd. 24). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-35326-X, S. 201–274 (Familie und Memorialwesen).
Weblinks
Anmerkungen
Markgraf (HRR)
Geboren im 9. oder 10. Jahrhundert
Gestorben 965
Mann |
165056 | https://de.wikipedia.org/wiki/Dean%20Martin | Dean Martin | Dean Martin (* 7. Juni 1917 als Dino Crocetti in Steubenville, Ohio; † 25. Dezember 1995 in Beverly Hills, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Sänger, Schauspieler und Entertainer italienischer Abstammung. International bekannt wurde Martin nach dem Zweiten Weltkrieg durch seine zehnjährige Zusammenarbeit mit dem Komiker Jerry Lewis. Nach der Auflösung von Martin & Lewis etablierte sich Martin als Solokünstler auf der Bühne, auf der Leinwand und im Fernsehen. Er trat bis 1991 regelmäßig in Las Vegas auf, sang Welthits wie Memories Are Made of This und Everybody Loves Somebody (Sometime) und drehte über 50 Spielfilme, darunter Rio Bravo und Küss mich, Dummkopf. Ein Jahrzehnt lang präsentierte er im Fernsehen die Dean Martin Show, die ihn seinerzeit zum bestbezahlten Entertainer der Welt machte. Zusammen mit Frank Sinatra, Sammy Davis jr. und einigen anderen Künstlern wurde er in den 1960er Jahren dem sogenannten Rat Pack zugerechnet. Wegen seiner entspannten Auftritte galt er als King of Cool.
Biografie
Kindheit und frühe Jahre
Dino Crocettis Vater war der im italienischen Montesilvano geborene Landarbeiter Gaetano Crocetti (1894–1967), der 1913, wie schon einige Jahre zuvor sein Bruder, in die USA ausgewandert war. Gaetano Crocetti, der sich ab 1914 Guy nannte, ließ sich in der Industriestadt Steubenville im amerikanischen Rust Belt (Rostgürtel) nieder und eröffnete einen Friseursalon. Dean Martins Mutter war die in Ohio geborene italienischstämmige Angela „Angelina“ Barr, geborene Barra (1897–1966). Sie heirateten im Oktober 1914. Eineinhalb Jahre später wurde mit Guglielmo (später William oder Bill genannt; 1916–1968) ihr erstes Kind geboren, ein weiteres Jahr später kam am 7. Juni 1917 Dino als zweiter Sohn verfrüht zur Welt.
Dino sprach nach eigenen Angaben bis zu seinem fünften Lebensjahr nur Italienisch; er selbst bezeichnete das rückblickend als einen „Abruzzendialekt“. Er tat sich in der Schule mit dem als zweite Sprache gelernten Englisch zunächst schwer und verließ die Wells High School, die er zuvor nur noch unregelmäßig besucht hatte, schon nach der zehnten Klasse. Die Schwierigkeiten mit der englischen Sprache hielten an, bis er in den frühen 1940er-Jahren von seiner ersten Ehefrau „Betty“ Sprachunterricht erhielt.
Als Teenager ging Dean Martin unterschiedlichen Jobs nach. Unter anderem war er Arbeiter in einem der Stahlwerke Steubenvilles, Milchmann und Verkäufer in einem Supermarkt. Vorübergehend trat er unter dem Namen „Kid Crochet“ als Preisboxer im Weltergewicht an. Wiederholt kam Martin auch mit der Cosa Nostra, der örtlichen Erscheinungsform der organisierten Kriminalität, in Kontakt. Während der Prohibition half er beim Alkoholschmuggel, und ab 1936 arbeitete er als Dealer (Croupier) in einem illegalen Spielcasino seiner Heimatstadt. Er sang am Croupiertisch öfter laut vor sich hin und wurde von Freunden auf die Idee gebracht, mit dem Singen Geld zu verdienen.
Nach einigen Amateurauftritten in den 1930er-Jahren begann im Herbst 1939 Martins Karriere als professioneller Entertainer. Sie endete nach 52 Jahren mit seinem letzten Bühnenauftritt in Las Vegas.
Dino – Dean – Crocetti – Martini – Martin: Namenswechsel
Martins Taufname lautete Dino Crocetti; einen zweiten Vornamen hatte er zunächst nicht. Erst anlässlich seiner Erstkommunion im Jahr 1928 erhielt er den zweiten Vornamen Paul, mit dem ihn sein späterer Bühnenpartner Jerry Lewis bevorzugt ansprach.
In den ersten Jahren seiner Künstlerkarriere trat Martin unter seinem Geburtsnamen Dino Crocetti auf. Vor einem Engagement in Cleveland gab ihm der Bandleader Ernie McKay im November 1939 den Künstlernamen Dino Martini, der nicht – wie gelegentlich angedeutet – an den gleichnamigen Cocktail, sondern an den seinerzeit populären italienischen Operntenor Nino Martini erinnern sollte. Im November des folgenden Jahres wurde daraus auf Betreiben des Bandleaders Samuel „Sammy“ Watkins die amerikanisierte Version Dean Martin, die er bereits vor der Geburt seines ersten Kindes 1942 auch amtlich zu seinem Namen machte.
Familie
Dean Martin war dreimal verheiratet und hatte sieben leibliche Kinder, von denen fünf zumindest zeitweise ebenfalls im Showgeschäft Fuß fassten. Zu seiner Familie gehörte außerdem der Schauspieler und Entertainer Leonard „Bananas“ Barr. Er war der jüngere Bruder von Martins Mutter.
Ehen und Partnerschaften
Dean Martins erste Ehefrau war Elizabeth Anne „Betty“ Martin, geb. McDonald (* 1923; † 1989). Die 1941 geschlossene Ehe wurde 1949 geschieden. Zwei Tage nach der Scheidung heiratete Martin die in Florida geborene Dorothy Jane „Jeanne“ (auch: „Jeannie“) Biegger (* 27. März 1927; † 24. August 2016). Sie lebten in den 1950er Jahren mehrfach für kurze Phasen in Trennung, 1973 ließen sie sich scheiden. Während der Ehe mit Jeanne hatte Martin zahlreiche Affären, unter anderem mit Pier Angeli, später auch mit der Schönheitskönigin Gail Renshaw, der Schauspielerin Phyllis Davis sowie Bing Crosbys Schwiegertochter Peggy Crosby. 1973 ging Martin die Ehe mit Catherine „Kathy“ Hawn ein, die drei Jahre später geschieden wurde. Seit den 1980er Jahren lebte Martin wieder mit seiner zweiten Frau Jeanne zusammen, ohne allerdings nochmals formell die Ehe zu schließen. Jeanne Martin starb 89-jährig im August 2016, zwei Wochen nach ihrem Sohn Ricci.
Kinder
Aus der Ehe mit Betty gingen vier Kinder hervor:
Stephen Craig (* 1942), der als Craig Martin für verschiedene Fernsehsender arbeitet,
Claudia (* 16. März 1944; † 16. Februar 2001); sie spielte seit ihrer Kindheit in zahlreichen Fernsehserien und gelegentlich auch in Spielfilmen mit,
Barbara Gail (* 1945) und
Deana (* 1948 als Dina Martin); sie ist seit den späten 1960er Jahren als Sängerin und Entertainerin tätig.
Mit seiner zweiten Ehefrau Jeanne hatte Martin drei Kinder:
Dean Paul (* 17. November 1951; † 21. März 1987); er gründete Mitte der 1960er Jahre die Beatband Dino, Desi & Billy und trat später als Schauspieler auf. Er galt als Martins Lieblingssohn und starb 1987 bei einem Flugzeugabsturz.
Ricci James (* 20. September 1953; † 6. August 2016); er war Musikproduzent und Entertainer, auch Koproduzent der letzten drei Studioalben seines Vaters und verfasste 2002 eine Biografie über ihn.
Gina (* 1956).
1957 erhielt Martin das alleinige Sorgerecht für die vier Kinder aus seiner ersten Ehe, das bis dahin deren Mutter Betty gehabt hatte. Ab 1957 lebten sie in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner zweiten Familie in Beverly Hills. Martin versuchte den Kontakt der Kinder zu Betty zu unterbinden, die in den 1950er Jahren eine schwere Alkoholabhängigkeit entwickelt hatte.
Schließlich brachte Kathy Hawn aus einer früheren Beziehung eine Tochter mit in die Ehe, die von Martin adoptiert wurde.
Persönliches
Ungeachtet seines jovialen Auftretens in der Öffentlichkeit galt Martin persönlich als extrem verschlossen. Schon als Kind zog er sich oft zurück. Spätere Weggefährten und die Mitglieder seiner Familie berichteten übereinstimmend, dass er „sich selbst genug“ und an Kommunikation nicht interessiert gewesen sei; seine persönlichen Gedanken habe er auch in privatem Umfeld nicht geäußert. Ein Biograf bezeichnete ihn als Incommunicado. Jerry Lewis sprach von einer Mauer, die Martin um sein Inneres errichtet habe. Die Einladung eines Filmproduzenten, sich bei einem gemeinsamen Essen näher kennenzulernen, lehnte Martin ab: „Mich lernt niemand kennen.“ Martins Ehefrau Jeanne beklagte, dass es auch ihr nicht gelungen sei, hinter seine Fassade zu dringen: „Ich kenne ihn nicht.“ Er sei „entweder der komplizierteste Mensch der Welt oder der einfachste.“ Martins Biograf Nick Tosches führt diese Entrücktheit (ital. lontananza) auf uralte italienische Verhaltensmuster zurück, die Martin als Teenager in Steubenville bei seinen Kontakten mit Mitgliedern der organisierten Kriminalität erlebt und übernommen habe.
Martin war „kein Mensch, der gerne mit anderen zusammen war“ (Daniel Mann); er habe immer alleine sein wollen (Jerry Lewis). Enge Freunde hatte Martin nicht. Das intensivste Vertrauensverhältnis bestand zu Mack „Killer“ Gray, einem ehemaligen Boxmanager und Gelegenheitsschauspieler, der ab 1952 fast 30 Jahre lang sein Assistent und Faktotum war. Daneben waren auch der Texter Sammy Cahn, der Schauspieler Stewart Granger sowie Frank Sinatra zu Martins engerem Umfeld zu rechnen, wobei die letztgenannte Beziehung jedenfalls bis 1988 vornehmlich durch Sinatra am Leben gehalten wurde.
Sympathie empfand Martin besonders für gebrochene Charaktere; seine Tochter Deana spricht insoweit von „Underdogs.“ Zu Marilyn Monroe, mit der er 1962 an dem – nicht vollendeten – Film Something’s Got to Give arbeitete, fühlte er sich ungeachtet professioneller Differenzen persönlich hingezogen. Er bezeichnete sie nach ihrem Tod als „wunderbares Mädchen“ und weigerte sich, Kommentare zu ihrem Lebensstil abzugeben oder sich an Spekulationen über die Ursachen ihres Todes zu beteiligen. Den psychisch labilen und medikamentenabhängigen Schauspieler Montgomery Clift, der Martin seinerseits bewunderte, unterstützte er in seinen schwierigen Lebensphasen. Als Clift wegen seiner Homosexualität und seiner labilen Gesundheit Gegenstand kritischer Berichterstattung geworden war, zeigte sich Martin wiederholt in dessen Gesellschaft, um öffentlich seine Solidarität mit ihm zu demonstrieren.
Martin war bereits seit den 1930er-Jahren passionierter Golfspieler. Wann immer er konnte, zog er sich auf einen Golfplatz zurück. Bei den Dreharbeiten zu seinen Filmen ließ er sich am Set vielfach eine provisorische Driving Range aufbauen, auf der er in den Drehpausen Schläge übte. In späteren Jahren entwickelte sich Martin zu einem Automobilliebhaber, der vor allem amerikanische und italienische Sportwagen sammelte. Zu den exklusiven Exponaten seiner Sammlung gehörte ein in nur wenigen Exemplaren hergestellter Dual-Ghia, den er auch als Requisit in dem Spielfilm Küss mich, Dummkopf nutzte.
Krankheit und Tod
Mack Gray hatte Martin in den 1950er Jahren an das Schmerz- und Betäubungsmittel Percodan herangeführt. Spätestens seit den 1970er Jahren war Martin – ebenso wie Jerry Lewis und Gray selbst – von dem Präparat abhängig; hinzu kamen ab dem Ende des Jahrzehnts Alkoholprobleme. 1990 unternahm er einen Entzugsversuch.
Mit Beginn der 1980er Jahre ließ die Gesundheit Martins wahrnehmbar nach. Er hatte zunehmend Schwierigkeiten, sich Texte zu merken. Der Unfalltod seines Sohnes Dean Paul im März 1987, auf den eine Woche später der Tod seiner Schwiegertochter Carole Costello folgte, löste bei Martin eine anhaltende Depression aus, die sich unter anderem in einer verstärkten Gleichgültigkeit sich und der Umwelt gegenüber ausdrückte. Jerry Lewis war der Ansicht, der Tod seines Sohnes habe Martin seinen Lebenswillen genommen („That was the day he died“). Die von Sinatra angestoßene Together Again Tour des Jahres 1988 war ein erfolgloser Versuch, Martin aus seiner Lethargie zu lösen. Zwar hatte er in den folgenden Jahren noch einige Auftritte in Las Vegas; sie waren aber kurz und zeigten zuletzt „einen Dean Martin, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.“ Seine Apathie verstärkte sich noch nach dem Tod von Sammy Davis Jr. im Frühjahr 1990. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde bei Martin die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, im September 1993 zudem Lungenkrebs.
Dean Martin starb am 25. Dezember 1995 im Alter von 78 Jahren an den Folgen seiner Krebserkrankung. Am Tag seines Todes wurden die Straßen und Gebäude in Las Vegas für zehn Minuten verdunkelt. Martin wurde am 28. Dezember 1995 auf dem Pierce Bros. Westwood Village Memorial Park Cemetery in Los Angeles beigesetzt.
Karrierestationen
Martin begann seine Karriere als Sänger in Nachtclubs in Ohio. Aus einem zufälligen gemeinsamen Auftritt mit dem Komiker Jerry Lewis entstand das Team Martin & Lewis, eine der erfolgreichsten Komikerpaarungen der Nachkriegszeit, durch die Martin und sein Partner weltbekannt wurden. Nach dem Ende der zehnjährigen Zusammenarbeit mit Lewis erwarteten viele Medien zunächst das Ende von Martins Karriere; sie hielten Martin ohne Lewis für einen allenfalls durchschnittlichen Entertainer mit wenig Humor und begrenztem Charme. Auch Martin selbst war anfänglich unsicher. Martin gelang es allerdings mit Hilfe seiner Manager Mort Viner und Herman Citron, ein eigenständiges Profil als Bühnenentertainer, Schauspieler und Gastgeber einer Fernsehshow aufzubauen, das er über drei Jahrzehnte konsolidierte. Dabei halfen auch zahlreiche Schallplattenerfolge.
Die Anfänge
1934 stand Martin erstmals als Amateur in Craig Beach, Ohio, auf der Bühne, wo er, begleitet vom George Williams Orchestra, einen italienischen Standard sang. In den folgenden Jahren schlossen sich viele weitere Auftritte bei Tanzabenden und in Nachtclubs an, die er neben seiner Beschäftigung in einem Spielkasino absolvierte. Anfänglich fragte er die Bandleader, ob er eine Nummer mit ihnen singen könne; mit zunehmender regionaler Bekanntheit gingen die Bandleader von sich aus auf ihn zu. Bei einer dieser Veranstaltungen war Glenn Miller unter den Gästen; einigen Quellen zufolge fand er Martins Auftritt schwach und prognostizierte: „Der wird’s nie zu was bringen.“
Im November 1939 hatte „Dino Martini“ sein erstes professionelles Engagement mit Ernie McKays Band of Romance, das ihm ein wöchentliches Honorar von 40 US$ einbrachte. Zeitweise war er auch Mitglied des von McKay organisierten Gesangstrios The Three Wellwishers. Ab Herbst 1940 stand er, nunmehr als Dean Martin, beim Sammy Watkins Orchestra als Sänger unter Vertrag. Mit Watkins trat er vor allem in Cleveland und Umgebung auf. Martin kopierte zu dieser Zeit den Gesangsstil von Bing Crosby; einen eigenen Stil hatte er noch nicht. Watkins versuchte, Martin als neuen Frank Sinatra aufzubauen, und bewarb ihn als „neuen Stern am Gesangshimmel.“ Martin wurde zunehmend populär. In den folgenden zwei Jahren vervierfachte Watkins seine wöchentliche Gage von 35 US$ auf 150 US$. Als Martin im Herbst 1943 ein Vertretungsengagement für Sinatra im New Yorker Club Rio Bamba annehmen wollte, das mit einem anderen Termin von Watkins’ Orchester kollidierte, kam es zur Trennung. Martin bewegte Watkins zur Vertragsaufhebung, indem er ihm zehn Prozent seiner Bruttoeinnahmen der kommenden sieben Jahre abtrat. Die lokale Presse meinte nach Martins erstem Auftritt im Rio Bamba im September 1943, er sei der New Yorker Konkurrenz nicht gewachsen. Die Publikumsreaktionen hingegen fielen positiv aus, und Martins Engagement wurde mehrfach verlängert. Im Laufe der Zeit verbesserten sich auch die Kritiken. Dorothy Kilgallen etwa sah in ihm bald eine „ernsthafte Bedrohung für Frank Sinatra.“
Martin hatte in den folgenden Jahren wechselnde Engagements, die vielfach nicht lukrativ waren. 1944 war er hoch verschuldet. Nachdem er im Laufe der Zeit insgesamt 110 % seiner Einnahmen an Agenturen und Manager abgetreten hatte, erklärte er sich 1946 für zahlungsunfähig und durchlief bis Ende 1947 ein Insolvenzverfahren.
Martin & Lewis
1946 kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem neun Jahre jüngeren Komiker Jerry Lewis, die für beide den Durchbruch bedeutete.
Das erfolgreichste Comedy-Duo des Jahrzehnts
Lewis, dessen Eltern ebenfalls im Showbusiness tätig waren, trat seit 1939 mit dem auch „Pantomimikry“ genannten Record Act auf, bei dem er Schallplatten bekannter Künstler abspielte und dabei, Grimassen ziehend, tat, als ob er singe. Martin hatte ihn im Herbst 1944 in privatem Umfeld kennengelernt. Im März 1946 gastierten beide mit eigenen Nummern im Havanna-Madrid Club am Broadway. Nach dem Ende einer der Shows kamen sie außerplanmäßig noch einmal gemeinsam auf die Bühne und improvisierten „eine hemmungslose Klamauknummer,“ die außergewöhnlichen Beifall beim Publikum fand und zur Grundlage des Formats wurde, mit dem beide später weltberühmt wurden.
Ab Anfang Juli 1946 hatte Lewis ein Engagement im 500 Club in Atlantic City, New Jersey. Eine Woche später trat auch Martin dort auf. Lewis behauptete später, er habe den Inhaber „Skinny“ D’Amato überzeugt, Martin anstelle des angeblich unbeliebten Clubsängers Jack Randall zu engagieren; nach anderen Quellen hatte Martins damaliger Manager ihm das Engagement verschafft und zugleich darum gebeten, Lewis’ vor dem Ablauf stehenden Vertrag zu verlängern. Im 500 Club erschienen sie erstmals planmäßig als Duo Martin & Lewis. Inhaltlich knüpften sie an ihren improvisierten Act aus dem Havanna-Madrid an: Lewis unterband Martins Versuche, zu singen, indem er das Saallicht ausschaltete, Lärm produzierte oder die Leitung des Orchesters an sich riss. Das Magazin Billboard schrieb in einer Rezension: „Die Jungs nehmen sich gegenseitig auf die Schippe, fallen einander rücksichtslos ins Wort, schneiden die wildesten Fratzen und verwandeln den Saal in ein Tollhaus.“ Die Reaktionen des Publikums und die Kritiken in der Presse waren überschwänglich. Martin und Lewis „entfesselten Lachstürme und stahlen allen anderen die Show.“
Unter dem Management von Abner „Abby“ Greshler und mit Unterstützung von Frank Sinatras PR-Agent George Evans entwickelten sich Martin & Lewis zur „heißesten Nummer im Showbusiness,“ die Veranstaltern und später auch Filmproduzenten hohe Einnahmen und Gewinne garantierte. Ab 1947 spielten sie in den bekanntesten Nachtclubs der USA, unter ihnen das Copacabana in New York, das Chez Paree in Chicago und das Slapsy Maxie's in Los Angeles, und in kurzer Zeit vervielfachten sich ihre wöchentlichen Gagen von 750 $ (Ende 1946) über 3.000 $ (Anfang 1948) auf 15.000 $ (1949 im Casino Flamingo in Las Vegas).
Bühne, Film und Fernsehen
Martin & Lewis war in erster Linie ein Live-Act, der landesweit auf Bühnen in Nachtclubs aufgeführt wurde. Die Shows waren weitgehend improvisiert; es gab allenfalls rahmenartige Skripts, die Martin und Lewis mit spontanen, regelmäßig abgewandelten und kaum vorhersehbaren Ideen ausfüllten.
Später erhielt das Duo auch eigene Radio-Shows und Fernsehsendungen. Von 1950 bis 1955 traten sie für NBC in 189 Folgen der Colgate Comedy Hour gemeinsam auf. Diese Produktionen zeigten allerdings, dass der von offenen Handlungssträngen bestimmte Martin-&-Lewis-Act im starren Umfeld von Radio- und Fernsehsendungen an Spannung und Komik einbüßte. Die Radio- und Fernsehauftritte des Duos ließen sich daher nicht in der ursprünglich vorgesehenen Dichte umsetzen.
Ab 1949 übertrug Paramount Pictures das Format Martin & Lewis schließlich auf das Medium Spielfilm. Bis 1956 entstanden unter dem Produzenten Hal Wallis 16 abendfüllende Filme, die die bekannte Rollenverteilung zwischen Martin und Lewis in Rahmenhandlungen aus den Bereichen Militär, Marine, Showbusiness, Zirkuswelt oder Wilder Westen einbetteten. Thematisch ging es regelmäßig um Männerfreundschaften zwischen gegensätzlichen Charakteren, die durch verschiedene Zwischenfälle auf die Probe gestellt und schließlich doch bestätigt wurden. Die Filme waren dramaturgisch, handwerklich und technisch meist schlicht, teilweise sogar schlecht. Dennoch waren sie regelmäßig Kassenerfolge, die teilweise höhere Gewinne einspielten als aufwendig produzierte Filme von Alfred Hitchcock.
Sex und Slapstick
Für den außergewöhnlichen Erfolg von Martin & Lewis gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze.
Die herkömmliche Betrachtung stellt Jerry Lewis und seinen besonderen Klamauk in den Vordergrund. Martin war danach für Lewis ein bloßer Straight Man, also ein auswechselbarer Stichwortgeber, dessen Beiträge untergeordnete Bedeutung hatten. Diese Sichtweise zog sich durch die zeitgenössische Kritik. Sie war ein wesentlicher Grund für Martins wachsende Unzufriedenheit im Team, die 1956 letztlich zur Beendigung der Partnerschaft führte.
Lewis widersprach dem Jahrzehnte später. Martin sei bereits in ihrer gemeinsamen Zeit ein „brillanter Komiker“ gewesen, der von der Kritik unterschätzt wurde. Martin habe ihm die Möglichkeit gegeben, sich weiterzuentwickeln: „Jeder schaut nur auf den Witzbold, aber wenn man genau hinsieht, weiß man, wo unsere Kraft herrührte.“ Lewis meinte, er hätte mit keinem anderen Partner so weit kommen können wie mit Martin.
Heute wird der Erfolg des Teams mit der Besonderheit der Rollen von Martin und Lewis und ihrem Verhältnis zueinander begründet, das in dieser Form neuartig war. Martin & Lewis war ein „Nebeneinander eines friedlichen Halbidioten und eines smarten Schönlings“ oder – wie Jerry Lewis es nannte –„eines Leierkastenmanns und eines Affen.“ Lewis, der infantilen Klamauk bot und sich zum „jammernden, unterwürfigen Trottel“ machte, war die Verkehrung des lässigen, selbstsicheren und attraktiven Martin, dessen Coolness die Wirkung von Lewis’ „Absurditäten“ potenzierte. Der besondere Reiz des Duos lag danach in dem vorher noch nie gezeigten Gegensatz von „Sex und Slapstick.“
Inwieweit darüber hinaus die persönliche Ebene zwischen Dean Martin und Jerry Lewis die Wirkung des Duos beeinflusste, wird nicht einheitlich beurteilt. Die Qualität dieser Beziehung lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Lewis charakterisierte das Verhältnis zu seinem Bühnenpartner als Freundschaft; nach Martins Tod sprach er sogar von einer Liebesgeschichte. Martin hingegen stellte die Verbindung jedenfalls in den 1950er Jahren als bloße Geschäftsbeziehung dar und meinte, er sehe in Lewis nur ein Dollarzeichen. Einzelne Analysen verfolgen andere Ansätze. Ausgehend von der körperlichen Nähe, die beide während ihrer Auftritte gelegentlich zeigten und suchten, sowie dem Umstand, dass Lewis in einigen Filmen die Rolle einnahm, die nach den Kriterien herkömmlicher Dramaturgie der weiblichen Hauptdarstellerin zugestanden hätte, wurde und wird gelegentlich eine latente homosexuelle Beziehung zwischen Martin und Lewis vermutet.
Trennung
Seit 1953 gab es immer wieder Spannungen zwischen Martin und Lewis, die vor allem auf die unterschiedliche Rollengewichtung und -wahrnehmung zurückzuführen waren. Martin fühlte sich zunehmend unterrepräsentiert und fürchtete um seine Eigenständigkeit als Künstler. Einer vielfach wiedergegebenen Anekdote zufolge fasste Martin den Entschluss zur Trennung bei den Dreharbeiten zu dem Film Im Zirkus der drei Manegen, nachdem ihn eine Besuchergruppe am Set nicht erkannt und stattdessen gefragt hatte, wo denn Jerry Lewis zu finden sei. Außerdem teilte Martin die Ambitionen seines Partners bezüglich einer Professionalisierung und Weiterentwicklung ihrer Nummer nicht. 1955 eskalierte der Streit. Während der Dreharbeiten zu den letzten beiden gemeinsamen Filmen sprachen Martin und Lewis gar nicht mehr miteinander. Am 18. Juni 1956 verkündeten sie die Auflösung des Teams. Um bestehende Verträge zu erfüllen, gaben sie im Juli 1956 noch mehrere Auftritte. Die letzte gemeinsame Vorstellung fand auf die Woche genau zehn Jahre nach ihrem Debüt am 24. Juli 1956 im 500 Club statt.
In den folgenden Jahrzehnten hatten beide kaum noch persönlichen Kontakt. Anfänglich trugen Martin und Lewis ihre Differenzen öffentlich über die Medien aus, wobei auch Martins zweite Ehefrau in die Auseinandersetzungen hineingezogen wurde. Lewis karikierte Martin 1963 in seinem Film Der verrückte Professor, während Martin in den 1960er-Jahren abfällige Witze über Jerry Lewis in sein Bühnenprogramm aufnahm und sich von den Mitgliedern des Rat Pack dabei sekundieren ließ. 1957, 1960 und 1968 kam es zu kurzen, zumeist zufälligen Zusammentreffen. Im September 1976 brachte Frank Sinatra beide wieder öffentlich zusammen. Bei einem von Lewis moderierten Telethon holte er Martin unangekündigt live auf die Bühne. Martin und Lewis hielten unter erkennbarer Rührung, die nach Ansicht aller Beteiligten nicht gespielt war, einen kurzen Smalltalk, brachten aber keine gemeinsame Nummer. Nach dem Tod von Martins Sohn Dean Paul baute Lewis einen unregelmäßigen Telefonkontakt zu seinem früheren Partner auf. 1989 kam es zum letzten gemeinsamen Auftritt, als Lewis auf der Bühne Martin zu dessen 72. Geburtstag gratulierte.
Martin kommentierte die Zeit mit Lewis rückblickend wie folgt:
Sänger
Das Bindeglied zwischen Martins Standbeinen im Entertainment war über Jahrzehnte hinweg die Musik. Seine Bühnenprogramme waren formal als Konzertveranstaltungen angelegt. Zudem enthielten nahezu alle Spielfilme eine oder mehrere Gesangsnummern von Martin. Regelmäßige Schallplattenaufnahmen ergänzten den musikalischen Schwerpunkt seiner Arbeit.
Stil und Vorbilder
Martin war kein ausgebildeter Sänger. 1935 und 1936 hatte er sporadisch Gesangsunterricht genommen; 15 Jahre später erhielt er für die Gesangsaufnahmen zu den Martin-&-Lewis-Filmen ein kurzes Training von Ken Lane. Er kokettierte damit, keine Noten lesen zu können.
Martin galt als Crooner. Seine Stimmlage war der Bariton. Neben Bing Crosby gehörten die Mills Brothers zu seinen musikalischen Vorbildern.
Nachdem er in den ersten Jahren in erster Linie Bing Crosby imitiert hatte, entwickelte Martin nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise seinen eigenen Stil. Er wurde ab den späten 1940er Jahren unter anderem durch italienische oder „pseudo-italienische“ Lieder („faux Italian Songs“) geprägt, die bald als sein Markenzeichen galten. Die Inspiration dafür zog er aus Phil Britos 1946 veröffentlichtem Album Phil Brito Sings Songs Of Italy, das ihn beeindruckte. Martin sang nur gelegentlich Lieder originär italienischer Herkunft, wobei die Texte üblicherweise Mischungen aus den italienischen Originalzeilen und amerikanischen Übersetzungen waren (z. B. Nel blu dipinto di blu oder Torna a Surriento). In den meisten Fällen legte man ihm allerdings jüngeres, in den USA geschriebenes Material vor, das einen mediterranen Ursprung durch die Verwendung einiger italienischer Vokabeln oder eines Arrangements im pseudoitalienischen Stil nur vorspiegelte. Das galt beispielsweise für That’s Amore, Martins ersten größeren Erfolg aus dem Jahr 1953 mit der legendär gewordenen, Martin allerdings verhassten Textzeile „When the moon hits your eye like a big Pizza pie,“ ferner für Return To Me, Write To Me From Naples oder Arrividerci Roma. Sein Schallplattenlabel Capitol platzierte den pseudoitalienischen Stil schließlich sogar themenübergreifend. So ließ man Martin auf dem Album Swingin’ Down Yonder (1955) die „großartigen Songs der (US-amerikanischen) Südstaaten […] im modernen neapolitanischen Stil“ interpretieren, der diesen Liedern „ein Flair (verleiht), das so frisch und fantasievoll ist wie ein Frühstück aus texanischen Kuhbohnen und Pizza.“ In den 1960er Jahren vollzog Martin den Wechsel von Swing zu Easy Listening. Er galt nun als Antwort der Erwachsenen auf Rock ’n’ Roll und Beatmusik, die er erklärtermaßen nicht mochte.
Martin arbeitete im Laufe der Jahre mit unterschiedlichen Bands zusammen. In der Martin-&-Lewis-Ära ließ er sich auf der Bühne und im Studio regelmäßig vom Dick Stabile Orchestra begleiten, ab 1956 dann bei Studioaufnahmen vom Gus Levene Orchestra. In seiner Zeit als Soloentertainer trat er auf der Bühne mit den Hausbands der gastgebenden Casinos und Clubs auf, im Sands Hotel beispielsweise mit dem Orchester von Antonio Morelli. Ab 1957 war Ken Lane sein musikalischer Koordinator, der ihn zudem bis zu seinem letzten Auftritt 1991 regelmäßig am Piano begleitete und im Laufe der Jahre zu seinem Straight Man wurde.
Martin spielte in der Öffentlichkeit seinen Gesang herunter:
Martins Gesangs- und Vortragsstil beeinflusste einige spätere Musiker. Elvis Presley war ein bekennender Fan und wünschte sich, wie Martin singen zu können. Auch Robbie Williams und Kevin Spacey sind von Martin beeinflusst.
Schallplattenaufnahmen: Diamond, Apollo, Capitol und Reprise
Im Juli 1946 – wenige Tage bevor er zum ersten Mal mit Jerry Lewis im 500 Club auftrat – machte Martin seine ersten kommerziellen Plattenaufnahmen. Für die Diamond Record Company spielte er, begleitet von Nat Brandwynne und dem Salonorchester des Hotels Waldorf Astoria, vier Lieder ein, die im gleichen Jahr als Extended Play (EP) veröffentlicht wurden, allerdings floppten. Im November 1947 folgten sechs weitere Aufnahmen für das kleine New Yorker Label Apollo Records. Nur zwei Aufnahmen wurden zeitnah veröffentlicht; auch sie blieben erfolglos. Vier Jahre später, als Martin bereits ein Star war, veröffentlichte Apollo auch die vier bislang zurückgehaltenen Aufnahmen auf einer EP.
1948 schlossen Martin und Lewis einen Schallplattenvertrag mit Capitol Records ab. Capitol wollte zunächst vorrangig das Comedy-Programm der Künstler als Schallplattenproduktionen herausbringen. Eine erste gemeinsame Einspielung (The Money Song / That Certain Party) war allerdings weder beim Publikum noch bei der Kritik ein Erfolg. Capitol entschied sich daher dafür, Martin künftig als ernsthaften Solokünstler zu produzieren. Martin blieb bis 1962 bei Capitol. Er hatte in dieser Zeit einige Erfolge mit Liedern im italienischen Stil. Sein erster Nummer-eins-Hit, Memories Are Made of This, der am 14. Januar 1956 den Spitzenplatz der Charts erreichte und sich dort fünf Wochen lang hielt, war allerdings im Folk-Stil arrangiert. Martin, der Memories Are Made of This in einer Phase schwerer Auseinandersetzungen mit Jerry Lewis und wenige Tage nach einer Trennung von seiner Ehefrau Jeannie aufgenommen hatte, verabscheute das Lied und ließ dessen Autor Terry Gilkyson wissen, es hätte richtigerweise Memories Are Made of Shit heißen müssen. Später sang er es nur selten auf der Bühne und nur widerwillig. Martin spielte für Capitol zehn Langspielplatten ein, die weitgehend erfolglos blieben. Lediglich Dino: Italian Love Songs kam in die US-amerikanischen Charts; seine höchste Position war Platz 73. Daneben veröffentlichte Capitol bis 1959 insgesamt 11 EPs, von denen einige Lieder aus Martin-&-Lewis-Filmen enthielten.
1962 wechselte Martin zum kurz zuvor von Frank Sinatra gegründeten Label Reprise Records. In schneller Folge entstanden mehrere Alben mit unterschiedlichen Themenbereichen und Stilen. Das erste, von Neal Hefti arrangierte und produzierte Album French Style enthält Lieder, die einen Bezug zu Frankreich herstellen sollen, darunter Martins Interpretation von La Vie en Rose. Wenig später folgten das ähnlich konzipierte Album Dino Latino mit Liedern im spanischen Stil, das eine neu produzierte Version von La Paloma enthielt, sowie zwei Produktionen aus dem Bereich Country-Musik. Die ersten Jahre bei Reprise waren Martins erfolgreichste Zeit als Sänger. Alle sechs Alben, die er zwischen August 1964 und April 1966 veröffentlichte, erreichten in den USA Gold-Status. Bis 1967 nahm er regelmäßig vier Alben pro Jahr auf, die von Jimmy Bowen und später nominell auch von seinem Sohn Ricci produziert wurden. Danach ließ sein Erfolg nach. Nach 1967 ging Martin nur noch einmal im Jahr für zwei Tage ins Aufnahmestudio und brachte jährlich nur noch ein neues Album heraus. Ab 1973 erschienen von ihm einige Jahre lang gar keine Platten mehr. Die Veröffentlichung des bereits 1974 aufgenommenen Albums Once in a While musste Martin 1978 sogar gerichtlich einklagen. Martins letztes Album war die Country-Pop-Produktion Nashville Sessions, die bei Warner Bros. erschien und Platz 49 in den US-Country-Charts erreichte. Sie begleitete Martins Comeback als Schauspieler. Für das Lied Since I Met You Baby drehte Martin zudem sein einziges Musikvideo, das bei MTV in hoher Frequenz („heavy rotation“) gezeigt wurde. 1985 nahm Martin mit der Single L.A. is my home letztmals eine Schallplatte auf. Sie ist heute eine Rarität.
Everybody Loves Somebody (Sometime)
Im Frühjahr 1964 nahm Martin Everybody Loves Somebody (Sometime) auf, das zu seinem bekanntesten Lied wurde. Nachdem er den von seinem Pianisten Ken Lane geschriebenen Song bereits 1949 in einer Radiosendung von Bob Hope gesungen hatte, entstanden im März und im April 1964 zwei verschiedene Versionen des Liedes, eine zurückhaltend instrumentierte und eine weitere mit Orchester und Chor. Die reich orchestrierte Version wurde zu einem der großen Erfolge des Jahres 1964; sie stand am 15. August 1964 für eine Woche an der Spitze der Hot 100 und verdrängte A Hard Day’s Night der Beatles von der Spitzenposition. Everybody Loves Somebody (Sometime) war zugleich der erste Nummer-eins-Hit für Reprise Records. Martin leistete mit diesem Hit einen wesentlichen Beitrag zur Rettung des wirtschaftlich angeschlagenen Labels.
Martin wurde bald mit Everybody Loves Somebody identifiziert. Er sang das Lied regelmäßig bei seinen Bühnenauftritten, wobei er es im Rahmen des Drunk Act wiederholt karikierte. So wurde die Textzeile If i had it in my power beispielsweise zu If I had you in my shower („Wenn es in meiner Kraft läge“ / „Wenn ich Dich in meiner Dusche hätte“). Ein paar Takte von Everybody Loves Somebody sang er regelmäßig als Eröffnungsnummer der Dean Martin Show und auch in seinem vorletzten Spielfilm Auf dem Highway ist die Hölle los sang er einige Zeilen des Refrains. Die Titelzeile ist auch auf Martins Grabplatte eingraviert.
Duette
In ihrer gemeinsamen Zeit sangen Martin und Lewis bei ihren Bühnenauftritten und in ihren 16 Spielfilmen zahlreiche Duette. Auch bei Martins Fernsehauftritten in seinen Shows und in den Sendungen, bei denen er zu Gast war, entstanden diverse Duette. Schallplatteneinspielungen mit anderen Sängerinnen oder Sängern produzierte Martin allerdings nur selten. In seiner Capitol-Ära entstanden gemeinsame Aufnahmen mit Peggy Lee (1948), Margaret Whiting (1950), Helen O’Connell (1951), Nat King Cole (1954), Line Renaud (1955) und Judy Holliday (1960). My Rifle, My Pony And Me gab es sowohl als Solo-Aufnahme von Martin als auch als Duett mit Ricky Nelson; die zuletzt genannte Version wurde für den Film Rio Bravo produziert. Bei Reprise entstanden Duette mit Sammy Davis jr. (1962) und Nancy Sinatra (1967). Sein letztes, bei Warner Bros. erschienenes Album The Nashville Sessions (1983) enthielt schließlich je ein Duett mit Merle Haggard und Conway Twitty.
Entertainer
Ein Schwerpunkt von Martins Arbeit waren seine Live-Auftritte in Casinos und Nachtclubs. Mit der Bühnenarbeit hatte seine Karriere 1939 begonnen. Während der Ära von Martin & Lewis waren er und Jerry Lewis regelmäßig auf Bühnen zu sehen. Soloauftritte hatte Martin in dieser Zeit allerdings nur sehr vereinzelt als spontane Krankheitsvertretungen für andere Künstler oder dann absolviert, wenn Lewis krankheitsbedingt nicht auftreten konnte. Nach dem Zerbrechen von Martin & Lewis ging Martin den Wiederaufbau seiner Karriere als Solist vor allem über die Bühnenarbeit an. Nachdem er in der zweiten Hälfte des Jahres 1956 einige Engagements in kleineren Clubs wahrgenommen hatte, trat er im März 1957 erstmals regulär als Solokünstler in Las Vegas auf. Seine 38-minütige Show im Sands Hotel wurde vom Publikum und von den Kritiken positiv aufgenommen. Sie war der Grundstein für eine mehr als drei Jahrzehnte dauernde Bühnenpräsenz in Las Vegas, die bald zum festen Bestandteil des Entertainments in den Spielcasinos wurde. Sie zog Gäste aus allen Landesteilen an, die zugleich den Umsatz in den Casinos erhöhten.
Casinos und Nachtclubs
Nach seinem erfolgreichen Debüt im Sands Hotel erhielt Martin 1957 einen Vertrag, der ihn, soweit es Auftritte in Las Vegas betraf, für mehr als ein Jahrzehnt exklusiv an das Sands band. 1969 wechselte Martin zum Riviera, an dem er eine Minderheitsbeteiligung übernahm. Die Verbindung zum „Riv“ endete 1972 nach Meinungsverschiedenheiten über Martins Auftrittsfrequenz. Ab 1972 arbeitete Martin schließlich exklusiv im MGM Grand Hotel, das später zum Bally’s Las Vegas wurde und mittlerweile Horseshoe Las Vegas heißt.
Martin gastierte üblicherweise zweimal jährlich für jeweils sechs Wochen in Las Vegas. In dieser Zeit gab er abendlich zumeist zwei, teilweise auch drei Shows zu je 30 bis 45 Minuten. Martins wöchentliche Gage belief sich anfänglich auf 25.000 US$. Im Laufe der Jahre wurde sie vervielfacht und übertraf schließlich selbst die Vergütung Frank Sinatras.
Zwischen seinen Engagements in Las Vegas gab Martin auch landesweit Gastspiele, darunter in der Cal Neva Lodge, an der Frank Sinatra einen Anteil hielt, in der Villa Venice in Chicago, am Lake Tahoe und immer wieder in Atlantic City. Auftritte im Ausland waren dagegen sehr selten. Nachdem eine Tournee durch Großbritannien und Frankreich 1953 in einem Eklat geendet hatte, vermied Martin nach Möglichkeit Engagements in Europa. 1961 trat er zusammen mit Frank Sinatra in Frankfurt am Main auf. 1983 spielte er erstmals seit langem wieder in London sowie im Moulin Rouge in Paris.
Im März 1988 startete Martin zusammen mit Frank Sinatra und Sammy Davis jr. eine letzte gemeinsame Konzerttournee (Together Again Tour). Geplant waren 40 Shows in 29 amerikanischen und kanadischen Städten, die mit einem Sonderzug angefahren werden sollten. Martin, der zögerte mitzumachen, zeigte seinen Widerwillen sowohl hinter als auch auf der Bühne. Bekannt geworden ist ein Vorfall bei einem Konzert in Oakland, als er eine Zigarette ins Publikum warf und rief: „I wanna go home.“ Tatsächlich schied er bereits nach einer Woche aus. Vorausgegangen war ein Streit mit Sinatra über Martins angeblich mangelhaften Einsatz; gegenüber der Öffentlichkeit wurden allerdings gesundheitliche Schwierigkeiten als Grund für Martins Ausscheiden angegeben. Liza Minnelli ersetzte ihn. Im April stand er bereits wieder auf der Bühne des Bally’s Las Vegas. Dort gab er am 29. Juli 1991 in gesundheitlich stark angeschlagenem Zustand sein letztes Konzert.
Gesang und Comedy
Martins Bühnenprogramm war eine Verbindung von Gesang und Comedy. Er setzte damit im Kern das Konzept der Martin-&-Lewis-Acts fort. Martin hatte eine Abneigung dagegen, bei Live-Shows ernsthaft zu singen („singing seriously“). Auf der Bühne brachte er regelmäßig nur ein oder zwei Lieder zu Ende; die meisten Songs beendete er dagegen vorzeitig mit einem Witz (sogenannte Throw-Aways), der teilweise zum Thema des Liedes passte, teilweise dessen Inhalt aber auch in zynischer Weise abwertete. Zuschauern, die ihn „ernsthaft“ singen hören wollten, empfahl Martin, eines seiner Alben zu kaufen. Jerry Lewis führte die Neigung zu Throw-Aways darauf zurück, dass Martin sich seiner Fähigkeiten als Sänger nicht sicher war.
Martins Zielgruppe waren in erster Linie männliche Casino- und Clubbesucher: „Ich spiele nicht für Frauen, sondern für Männer. Hinter jeder schönen Frau steht ein Mann, der die Rechnung bezahlt. Der kommt nicht wieder, wenn ich sein Mädchen anmache.“
Martin änderte das Konzept seiner Shows bis zuletzt nicht. In den letzten Jahren wurde er als bloße Karikatur seiner selbst wahrgenommen. Kritiker hielten ihn in den 1980er-Jahren für „unhip“ und veraltet. In Anspielung darauf wurde sein Geburtsname Dino zunehmend als Abkürzung für (Show-)Dinosaurier verwendet.
Der Drunk Act
Eine Besonderheit war der Drunk Act, der ab 1958 zu einem prägenden Merkmal von Martins Bühnenauftritten wurde. Er spielte dabei einen angetrunkenen Entertainer, der mit eingeschränkter Wahrnehmung versuchte durch die Show zu führen.
Die Idee zum Drunk Act stammte von dem Texter Ed Simmons. Sie knüpfte an ein Konzept des Entertainers Joe E. Lewis an und war der Versuch, Martins Bühnenauftritten einen besonderen Charakter zu verleihen, um Martin aus der Masse anderer Sänger und Entertainer herauszuheben. Der Drunk Act korrespondierte einerseits mit Martins mangelnder Neigung, auf der Bühne „ernsthaft zu singen.“ Andererseits ermöglichte er ihm nach Ansicht von Jerry Lewis, auch auf der Bühne und dahinter persönliche Distanz zu halten: „Wenn Du vorgibst, Du hättest schon ein paar Drinks gehabt, werden sich die Leute wahrscheinlich von Dir fernhalten.“
Der Drunk Act wurde mit der Ankündigung eingeleitet, Martin komme direkt von der Bar auf die Bühne („And now the star of our show: Direct from the bar – Dean Martin“). Er gab einen unsicheren Gang und eine Orientierungslosigkeit vor, die ihn zu Beginn einer Show gelegentlich danach fragen ließ, in welcher Richtung sich das Publikum befinde; hinzu kamen undeutliche Aussprache, Verständigungsschwierigkeiten mit Bühnenpartnern bzw. dem Orchester sowie Textunsicherheiten, wobei er scheinbar zufällig einzelne Worte verwechselte. Aus George Gershwins Standard Embraceable You wurde bei Martin etwa Braceembable you. Andererseits thematisierte er das Trinken vielfach ausdrücklich selbst. So sang er manche Lieder von vornherein mit Texten, die Sammy Cahn diesbezüglich verändert hatte. Aus When You’re Smiling wurde beispielsweise häufig When You’re Drinking, aus Pennies from Heaven machte er Bourbon from Heaven. Bekannt wurde Martins Reverenz an Joe E. Lewis:
Kollegen und Geschäftspartner bestätigten allerdings, dass Martin auf der Bühne tatsächlich nie betrunken war. Er sei immer zuverlässig gewesen, habe seine Einsätze gekannt und die Shows stets sicher beherrscht. Während Martin den Drunk Act schließlich auch im Privatleben kultivierte, indem er beispielsweise seinen Stutz Blackhawk mit dem Kfz-Kennzeichen DRUNKY (betrunken) zuließ, ging er im Geschäftsleben auf deutliche Distanz zu seiner Rolle. Im Zusammenhang mit der Dean Martin Show fragte er einen Journalisten: „Würde NBC so viel Geld für einen Betrunkenen ausgeben?“
Schauspieler
Nach der Trennung von Jerry Lewis setzte Martin seine 1949 begonnene Filmkarriere allein fort. Um als Solokünstler ins Geschäft zu kommen, akzeptierte er zunächst Angebote, die deutlich schlechter bezahlt waren als in der Martin-&-Lewis-Ära.
Komödien, Musicals und Western
Martins erster Film ohne Lewis, Joe Pasternaks Zehntausend Schlafzimmer (1957), war eine leichte Komödie und enthielt mehrere Gesangsszenen. Anders als Jerry Lewis’ erstes Soloprojekt war Zehntausend Schlafzimmer ein „kommerzielles Fiasko“ und hätte nach Einschätzung von Kritikern das Ende von Martins Schauspielerkarriere bedeuten können. Auf Drängen Montgomery Clifts erhielt Martin danach anstelle des eigentlich vorgesehenen Tony Randall eine Rolle in Edward Dmytryks „hochkarätig besetztem Kriegsdrama“ Die jungen Löwen, in dem er „schauspielerisch überzeugte“ und zeigte, „dass er mehr kann als nur der große Bruder von Jerry Lewis zu sein.“ Dieser Film wird vielfach für Martins Durchbruch als seriöser Schauspieler gehalten. Daran anknüpfend entstanden in den folgenden Jahren Verdammt sind sie alle und Howard Hawks’ Western Rio Bravo, in denen Martin ebenfalls hohe Professionalität und schauspielerische Qualitäten zeigte und die als seine besten Filme angesehen werden. Martin selbst hielt die Rolle des alkoholkranken Hilfssheriffs Dude in Rio Bravo für seine größte Herausforderung. Sein letzter ähnlich anspruchsvoller Film war Puppen unterm Dach, die 1963 produzierte Adaption eines Theaterstücks von Lillian Hellman. Puppen unterm Dach wurde zum Wendepunkt in Martins Schauspielkarriere: Obwohl einige Rezensenten und der Produzent des Films sein Spiel lobten, überwog die Zahl der Kritiker, die Martin für eine derart vielschichtige Rolle im Prinzip für ungeeignet hielten und seine Besetzung als einen „schlechten Scherz“ ansahen. Martin, der erheblichen Respekt vor den Anforderungen dieser Rolle gehabt hatte, zog sich daraufhin komplett von diesem Genre zurück und wählte stattdessen künftig Rollen aus, die „möglichst viel Geld bei möglichst wenig Aufwand“ versprachen.
Nach diesem Muster drehte Martin in den 1960er Jahren jährlich mehrere Filme – Musicals, Western und Komödien –, die mit Stars wie John Wayne, Robert Mitchum, Rock Hudson, Alain Delon oder Burt Lancaster zwar hochkarätig besetzt waren, mit Ausnahme von Billy Wilders zynischer Satire Küss mich, Dummkopf aber regelmäßig schnell und preiswert gemacht waren und von der Kritik verrissen wurden. Als besonders schwach gelten die vier von 1966 bis 1969 für Columbia Pictures gedrehten parodistischen Spionagekomödien der Matt-Helm-Reihe, in denen Martin einen Geheimdienstagenten darstellte, der als amerikanischer Gegenentwurf zum britischen James Bond angelegt war. Die Filme, in denen europäische Gaststars wie Daliah Lavi, Elke Sommer oder Senta Berger auftraten, spielten bewusst mit Martins Image als „cooler Herzensbrecher.“ Von den vier Filmen war nur der erste erfolgreich; die Produktion eines ursprünglich geplanten fünften Films wurde gar nicht erst in Angriff genommen. Martins letzter kommerziell erfolgreicher Film war Airport (1970). Nachdem er sechs Jahre lang keinen Film mehr gedreht hatte, wirkte Martin 1981 an der Komödie Auf dem Highway ist die Hölle los und zwei Jahre später an deren Fortsetzung Auf dem Highway ist wieder die Hölle los mit. Beide Produktionen gelten als „absoluter Tiefpunkt seiner Filmkarriere.“
Dean Martins deutscher Stammsprecher, der ihn in seinen Filmen großteils synchronisierte, war Klaus Miedel.
Arbeitsstil
Martin arbeitete seit den 1960er Jahren am Set üblicherweise sehr zügig. Der jeweilige Regisseur bereitete die Szenen so für ihn vor, dass Martin „seine Auftritte ruck zuck abarbeiten konnte“ (Michael Gordon). Er ließ für jede Szene meist nur einen Probedurchlauf zu. Lediglich bei Bandolero verzichtete er aus Respekt gegenüber seinem Filmpartner James Stewart auf die „Ruck-Zuck-Methode.“
Kritiken
Dean Martins schauspielerisches Können wird unterschiedlich beurteilt. Einige Kritiker meinten, Martin sei „der schlechteste und zugleich selbstbewussteste Schauspieler der Welt.“ Kollegen, die mit ihm gearbeitet hatten, sahen das vielfach anders. Auch Howard Hawks, der Regisseur von Rio Bravo, hielt Martin für „einen verdammt guten Schauspieler, der allerdings ein wenig angetrieben werden muss.“ Kollegen wie John Wayne, Montgomery Clift Anthony Franciosa und Honor Blackman hielten Martin gegen seinen Ruf für sehr diszipliniert.
The Dean Martin Show
Martins nationale und internationale Bekanntheit wurde ab 1965 durch die wöchentlich im Fernsehen ausgestrahlte Dean Martin Show weiter gesteigert.
Bereits zu Beginn der 1950er Jahre hatte Dean Martin an der Seite von Jerry Lewis durch einzelne Fernsehshows geführt. Nach der Auflösung von Martin & Lewis brachte der Fernsehsender NBC von 1957 bis 1961 neun Specials mit der Bezeichnung Dean Martin Show heraus, die zweimal jährlich gesendet wurden.
1965 legte NBC die Dean Martin Show neu auf. Martin präsentierte in ihr nationale und europäische Gäste – unter ihnen Petula Clark, Line Renaud, Caterina Valente und Peter Sellers –, die mit ihm in Sketchen und in gemeinsamen Gesangsnummern zu sehen waren. Die Sendung blieb – zuletzt als The Dean Martin Comedy Hour – bis 1974 im Programm und war eine der erfolgreichsten Fernsehproduktionen der 1960er Jahre. Sie erzielte in den USA zeitweise Einschaltquoten von durchschnittlich 38 % und ließ sich weltweit verkaufen. Ab 1967 zahlte NBC Martin eine Gage von 283.000 US$ für jede Sendung. Er wurde dadurch zum bestverdienenden Entertainer der Welt.
Martins Auftreten in der Show wurde als besonders entspannt wahrgenommen. Dies und der humorvolle Umgang mit eigenen Fehlern festigte den Eindruck besonderer Coolness Martins. Tatsächlich entwickelte sich der unkonventionelle Präsentationsstil vor allem dadurch, dass Martin seine Einsätze aus Zeitnot weitestgehend improvisierte. Damit er nicht mehr als einen achtstündigen Arbeitstag für jede Sendung aufwenden musste, drehte der Produzent und Regisseur Greg Garrison die Shows in getrennten Sequenzen. Szenen der Gäste, in denen Martin nicht zu sehen war, wurden in seiner Abwesenheit gedreht und später durch Schnitttechnik mit getrennt produzierten Aufnahmen von Martin verbunden. Selbst Dialoge wurden getrennt voneinander aufgenommen. Einige Gäste der Dean Martin Show bekamen Martin überhaupt nicht zu Gesicht. Auch hier verzichtete Martin nahezu vollständig auf Proben. Er improvisierte seine Einsätze mit Hilfe von Stichwortkarten (cue cards)', die im off platziert waren. Da Martin andererseits auch bei Fehlern keine Wiederholung der Aufnahme gestattete, ließen sich Defizite in den ausgestrahlten Sendungen weder vermeiden noch verbergen. Garrison setzte Martins Fehler daraufhin dramaturgisch bewusst ein. Er ließ die cue cards, technische Ausrüstung wie Mikrofone und Crewmitglieder von den Kameras erfassen und erweckte so den Eindruck, als seien die technischen Fehler und auch die Fehler Martins nur gespielt. Damit relativierte er die Ernsthaftigkeit der Sendung. Die Mehrschichtigkeit der Rolle Martins wurde zu einem vom Publikum geschätzten Bestandteil der Sendung.
Im Laufe der Jahre wurde die Dean Martin Show zunehmend vulgärer. Die Presse kritisierte in den 1970er Jahren Martins „Trinkerwitze, Mädchenwitze und Zweideutigkeiten“ vielfach als unzeitgemäß, sexistisch und erniedrigend und gab Martin den Titel „King Leer“ (etwa: König der Zote). Christliche Presseorgane rieten zuletzt davon ab, die Sendung zu verfolgen.
Nachfolger der Dean Martin Show war die von Oktober 1974 bis Dezember 1984 in 20 Auflagen ausgestrahlte Sendung The Dean Martin Celebrity Roast.
Frank Sinatra und The Rat Pack
Zum persönlichen Umfeld Martins wurde seit den 1950er Jahren insbesondere Frank Sinatra gezählt. Beide verbanden eine ähnlich ausgerichtete Entertainmentkarriere und zahlreiche gemeinsame Bühnen- und Filmauftritte. Darüber hinaus bestand zwischen ihnen auch eine persönliche Freundschaft, die die jeweilige Familie mit einschloss.
Martin und Sinatra kannten sich seit 1943. In den frühen 1950er Jahren waren Martin & Lewis mit ihren Comedy-Programmen mehrfach Gäste in Sinatras Fernsehshows. Nach der Auflösung des Teams 1956 intensivierte sich die Beziehung zwischen Sinatra und Martin, die sich nun häufiger bei Engagements in Las Vegas trafen. Martin empfand Sympathie für Sinatra, während Sinatra Martin bewunderte und seine Gesellschaft suchte. Sinatra gruppierte in den späten 1950er Jahren eine Reihe von Entertainern um sich, die zunächst als „The Clan“ und später unter der weniger verfänglichen Bezeichnung „Rat Pack“ gemeinsam auftraten und feierten. Hierzu gehörte Sammy Davis Jr., Peter Lawford, Joey Bishop und Shirley MacLaine. Auch Martin wurde von Sinatra an diesen Kreis herangeführt; er ließ sich allerdings nicht in dem Maße vereinnahmen wie die übrigen Mitglieder. Anders als Davis, Lawford und Bishop, deren Las-Vegas-Karrieren von dem einflussreichen Sinatra abhingen, war Martin in beruflicher Hinsicht nicht auf Sinatra angewiesen. Dies zeigte er Sinatra durch Eigenwilligkeiten, die sich die anderen Rat-Pack-Mitglieder nicht leisteten, worauf Sinatra sich umso mehr um Martin bemühte.
Im Oktober 1958 nahmen Martin und Sinatra bei Capitol zusammen das Album Sleep Warm auf, für das Sinatra die Orchesterleitung übernahm. Ende Januar 1959 traten die beiden erstmals für ein gemeinsames Konzertengagement in Las Vegas auf die Bühne, nachdem sie zuvor für den Film Verdammt sind sie alle (Some Came Running, 1958) auch zum ersten Mal zusammen vor der Filmkamera gestanden hatten. 1961 wechselte Martin im Gefolge Sinatras von Capitol zu dessen neu gegründeter Plattenfirma Reprise.
Ab Januar 1960 trat Martin regelmäßig mit dem „Rat Pack“ in Las Vegas auf. Die gemeinsamen Auftritte nannten sie The Summit (den Gipfel). Die weitgehend improvisierten, mit vielen Witzen und viel Klamauk verbundenen Auftritte hatten in ihrem Mangel an Konventionalität und Vorhersehbarkeit strukturelle Ähnlichkeiten mit den frühen Acts von Martin & Lewis.
Das Rat Pack dominierte mit zahlreichen Programmen das amerikanische Showbusiness und insbesondere die Bühnen von Las Vegas ein halbes Jahrzehnt lang. Parallel zu den Konzerten entstanden gemeinsame Filme wie Frankie und seine Spießgesellen (1960), Die siegreichen Drei (1962), Vier für Texas (1963) und Sieben gegen Chicago (1964). Diese Filme wurden vier Jahrzehnte später in einer Trilogie mit George Clooney, Brad Pitt und Matt Damon erfolgreich karikiert. Mitte der 1960er Jahre endeten die regelmäßigen Bühnenauftritte des „Rat Pack“, doch standen Martin, Davis und Sinatra auch in den 1970er und 1980er Jahren gelegentlich noch gemeinsam auf der Konzertbühne.
Martins Beziehung zu Sinatra zerbrach, als Martin im Frühjahr 1988 eine gemeinsame Konzerttournee vorzeitig verließ. Beide sprachen danach kaum noch miteinander; Sinatra lud den zu dieser Zeit bereits todkranken Martin auch nicht zur breit angelegten Feier seines 80. Geburtstags ein.
Coolness oder Verachtung?
Martin wird seit den 1950er Jahren als „Personifizierung von Coolness“ angesehen. Elvis Presley prägte für ihn den Ausdruck „King of Cool“. Noch im 21. Jahrhundert werden CDs mit seinen Liedern herausgegeben, die den Begriff „cool“ im Titel führen.
Tatsächlich wurden Martins Auftritte als extrem entspannt („laid-back“) empfunden. Er weckte auf der Bühne und im Film den Eindruck größtmöglicher Leichtigkeit. Einige Beobachter hoben allerdings hervor, dass diese Leichtigkeit (jedenfalls in den 1950er Jahren) nur gespielt war: „Martin arbeitete verdammt hart, um es nicht nach harter Arbeit aussehen zu lassen.“ Ähnlich urteilte Martin Scorsese: „Dean Martin wollte immer den Eindruck erwecken, als sei alles ganz einfach – was es nicht war.“
In den 1960er Jahren kam Routine hinzu, die Martin erklärtermaßen langweilte. Mittlerweile hatte er seinen Status als Solokünstler auf den Showbühnen wie auch als Sänger gefestigt. Andererseits waren seine Versuche, sich als seriöser Schauspieler zu etablieren, von den Medien nicht angenommen worden. Dies änderte seine Einstellung zur Arbeit. So wie ihm im persönlichen Umfeld das Interesse an den Menschen fehlte, so war im zweiten Abschnitt seiner Karriere auch die Qualität seiner Arbeit für ihn ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu Sinatra, der bei seinen Schallplattenaufnahmen konzeptionelle Entscheidungen selbst traf, nahm Martin in den 1960er Jahren keinen Einfluss mehr auf das Material seiner Alben oder den Inhalt seiner Filme. Stattdessen sang und spielte er mit stoischer Ruhe alles, was ihm vorgelegt wurde. Er sah sich seine Filme nach ihrer Fertigstellung nicht an, blieb Premierenvorstellungen fern und hörte sich auch seine Studioalben nicht an. Das Desinteresse zeigte sich auch im fehleranfälligen Improvisieren bei der Dean Martin Show, im Verzicht auf Proben bei Filmaufnahmen und in der Neigung, Lieder bei Bühnenauftritten nicht zu Ende zu singen.
Während manche in dieser Arbeitsweise einen Beleg dafür sehen, dass Martin auch im richtigen Leben „cool“ gewesen sei, geht sein Biograf Nick Tosches tiefer. Er erklärt Martins zur Schau gestellte Interesselosigkeit mit einer tiefen Verachtung für das Showbusiness. Martin habe mit seinem Verhalten gezeigt, dass er das Business als verlogen und wertlos ansah. Einige Medien schlossen sich dieser Einschätzung an.
Unternehmer
Nach der Trennung von Jerry Lewis begann Martin, Einnahmequellen zu erschließen, die nicht von einem unmittelbaren Bühnenengagement seinerseits abhängig waren. 1957 räumte er einzelnen Restaurants und Bars in Los Angeles gegen Entgelt das Nutzungsrecht an seinem Namen ein. Hierzu gehörte vor allem Dino’s bzw. Dino’s Lodge am Sunset Strip, das regelmäßig in der Fernsehserie 77 Sunset Strip zu sehen war. Später übernahm er Minderheitsbeteiligungen an mehreren Casinos in Las Vegas. Ende der 1950er Jahre gründete Martin Claude Productions, ein in Anlehnung an seine Tochter Claudia benanntes Produktionsunternehmen, das viele seiner folgenden Filme und Schallplatten, ab 1965 dann auch die von NBC ausgestrahlte Dean-Martin-Show koproduzierte. Auf diesem Weg war er neben dem persönlichen Künstlerhonorar auch an den Einspielergebnissen beteiligt. Claude Productions investierte außerdem regelmäßig in Grundstücke, Bauland und Immobilien, erwarb aber auch Anteile an Unternehmen wie beispielsweise einer Zitronenanbaugenossenschaft. Im Juni 1970 fusionierte Claude Productions mit der NBC; Martin erhielt im Gegenzug Anteile an NBCs Konzernmutter RCA.
Politik und organisiertes Verbrechen
Martin hatte während seiner Karriere wiederholt Kontakte zu Politikern und äußerte sich gelegentlich auch politisch. Er war über Jahrzehnte Anhänger der Republikanischen Partei.
Über Sinatra lernte Martin den demokratischen Politiker John F. Kennedy kennen. Auf Sinatras Wunsch, der sich zu dieser Zeit in der Rolle eines Königmachers sah, unterstützte Martin Kennedys Präsidentschaftskandidatur im Laufe des Jahres 1960 durch diverse Auftritte bei Fundraising-Veranstaltungen. In den 1970er Jahren setzte er sich für den republikanischen Schauspielkollegen Ronald Reagan ein, als dieser 1971 für die Wiederwahl zum Gouverneur von Kalifornien und 1979 dann für das Präsidentenamt kandidierte.
Bereits seit den 1930er Jahren hatte Martin Kontakte zu Mitgliedern der US-amerikanischen Mafia. Sie bestanden auch in den folgenden Jahrzehnten. Ein wesentlicher Grund dafür war der Umstand, dass die meisten Casinos, in denen Martin, Lewis, Sinatra und viele andere Entertainer auftraten, direkt oder indirekt Mitgliedern der Cosa Nostra gehörten. Jerry Lewis bestätigte dem Dean-Martin-Biografen Nick Tosches, dass beide in den ersten Jahren regelmäßig in Clubs gastierten, deren Inhaber Mitglieder der organisierten Kriminalität waren. Martin und Lewis mussten teilweise auch bei privaten bzw. familiären Veranstaltungen von Mafia-Mitgliedern erscheinen.
Anders als Sinatra, der familiär mit Mafia-Mitgliedern umging und deren Nähe suchte, bewahrte Martin ihnen gegenüber Distanz. Er verzichtete auch darauf, Anteile an Casinos zu halten, die mehrheitlich in Mafia-Besitz waren. Gelegentlich tat er den Mobstern allerdings „einen kleinen Gefallen.“ So trat er im Dezember 1962 zusammen mit Sinatra und Davis zehn Abende lang ohne Gage in der Villa Venice in Chicago auf. Dieses Casino gehörte Sam Giancana, einem aus Chicago stammenden Mobster. Giancana hatte 1960 den Wahlkampf von John F. Kennedy finanziell unterstützt und sich dabei der Vermittlung Sinatras bedient, der über Peter Lawford, einen Schwager des Präsidentschaftskandidaten, Zugang zur Familie Kennedy hatte. Dieser Gratisauftritt war eine Gegenleistung für Giancanas Wahlkampfspende. Andererseits gibt es Berichte, dass sich Martin gelegentlich der Hilfe der Mobster bediente, um persönliche Probleme zu regeln.
Auszeichnungen
Dean Martin bekam drei Sterne auf dem Hollywood Walk of Fame: bei 6519 Hollywood Blvd. in der Kategorie Film, bei 6655 Hollywood Blvd. in der Kategorie Fernsehen und bei 1615 Vine Street in der Kategorie Musikaufnahmen. Außerdem sind seine Hand- und Fußabdrücke sowie sein Autogramm seit dem 21. März 1964 vor dem Grauman's Chinese Theatre (6925 Hollywood Blvd.) in Zement verewigt.
1952 – Spezialpreis der Photoplay Awards (zusammen mit Jerry Lewis)
1954 – „Golden Apple“ der Golden Apple Awards als kooperativster Schauspieler (zusammen mit Jerry Lewis)
1966 – Golden Globe für die Dean Martin Show als bester Fernsehstar
1966 – „Bronze Wrangler“ der Western Heritage Awards für den Film The Sons of Katie Elder
1969, 1970, 1972 – Emmy-Nominierungen für die Dean Martin Show
2009 wurde Martin (lange nach Sinatra und Davis) posthum mit dem Grammy Lifetime Achievement Award ausgezeichnet.
Dean Martin über Dean Martin
Als Dean Martin gefragt wurde, wie er der Nachwelt in Erinnerung bleiben möchte, antwortete er:
Biografien, Dokumentationen und Filme über Dean Martin
Biografien
Die erste umfassende Biografie über Dean Martin erschien 1992 – noch zu seinen Lebzeiten – in den USA unter dem Titel Dino: Living High in the Dirty Business of Dreams (Titel der deutschen Übersetzung von 2002: Dino. Rat-Pack, die Mafia und der große Traum vom Glück). Nick Tosches, ein ehemaliger Redakteur des Rolling Stone, erarbeitete sie auf der Grundlage von Interviews mit Jeannie Martin, Jerry Lewis und weiteren Weggefährten. Das im Stil des Gonzo-Journalismus geschriebene Buch gilt nach wie vor als Standardwerk, das alle späteren Biografien zur Grundlage nehmen oder zusammenfassen. Nach der Jahrtausendwende veröffentlichten Martins Kinder Deana und Ricci eigene Erinnerungen an ihren Vater, die insbesondere im persönlichen Bereich ergänzende Impressionen liefern, in beruflichen Details aber vielfach unscharf bleiben.
Filme über Dean Martin
In den 1990er-Jahren begann das Studio Warner Bros. mit den Planungen für einen biografischen Spielfilm über Dean Martin. Nicholas Pileggi wurde mit der Ausarbeitung eines Drehbuchs beauftragt, das Martin Scorsese als Regisseur umsetzen sollte. Für die Rolle des Dean Martin war Tom Hanks vorgesehen, Jim Carrey sollte Jerry Lewis und John Travolta Frank Sinatra spielen. Der Film wurde letztlich nicht realisiert. Scorsese führte das auf Schwierigkeiten mit dem Stoff zurück: Martin sei als Person nicht zu fassen gewesen.
1998 produzierte der amerikanische Fernsehprogrammanbieter Home Box Office (HBO) den Film Frank, Dean und Sammy tun es (Originaltitel: The Rat Pack), in dem einzelne Facetten aus der Geschichte des Rat Pack thematisiert werden. Dean Martin wurde von Joe Mantegna verkörpert.
2002 entstand bei CBS der dokumentarisch angelegte Film Martin and Lewis, der die frühen Jahre von Martins Karriere beleuchtete. Jeremy Northam übernahm hier die Rolle des Dean Martin.
Der Regisseur Atom Egoyan zog für seinen 2005 erschienenen Spielfilm Wahre Lügen Martin und Lewis als Vorbilder für die Figuren Lanny und Vince heran. Der Film sollte allerdings nicht als Biografie des Duos Martin & Lewis verstanden werden.
Der Filmemacher Tom Donahue drehte 2021 die Dokumentation Dean Martin: King of Cool (53 min).
Rezeption
Auf dem von Johnny Bruck geschaffenen Titelbild des Perry-Rhodan-Heftromans Nr. 554, Kidnapper im Weltraum, (1972), ist Dean Martin in Interaktion mit der Romanfigur Gucky abgebildet.
Übersicht: Filme und Schallplatten
Diskografie
Martin veröffentlichte von 1946 bis 1985 insgesamt 108 Singles sowie 33 Langspielplatten, von denen 12 in den USA Gold-Status erreichten. Hinzu kommen mehr als 30 Kompilationen.
Filmografie
Martin drehte von 1949 bis 1983 insgesamt 51 Spielfilme für unterschiedliche Studios. 16 davon entstanden in der Martin-&-Lewis-Ära. Außerdem trat er in einzelnen Folgen einiger Serien auf.
Literatur
Michael Althen: Dean Martin. Seine Filme – sein Leben. Wilhelm Heyne Verlag, München 1997, ISBN 3-453-13676-4.
Michael Althen: Jerry Lewis und Dean Martin: Wenn Männer zu sehr lieben. Interview mit Jerry Lewis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. März 2006.
Peter Bondanella: Hollywood Italians: Dagos, Palookas, Romeos, Wise Guys, and Sopranos. A&C Black, 2004, ISBN 0-8264-1544-X.
Oriana Fallaci: Dean Martin. Dino talks about the Mafia, women, his drinking, Sinatra, Bobby Kennedy. In: Look. 26. Dezember 1967.
Michael Freedland: Dean Martin: King of the Road. Robson, 2005, ISBN 1-86105-882-9.
David M. Inman: Television Variety Shows: Histories and Episode Guides to 57 Programs. McFarland, 2005, ISBN 0-7864-2198-3.
James Kaplan: Sinatra: The Chairman. Hachette, 2015, ISBN 978-0-7481-3038-2.
Shawn Levy: Oh brother, where art thou? Geschichte von Martin & Lewis. In: The Guardian. 21. Oktober 2005.
Jerry Lewis, James Kaplan: Dean And Me: A Love Story. Pan Macmillan, 2011, ISBN 978-1-4472-0482-4.
Deana Martin, Wendy Holden: Memories Are Made of This: Dean Martin Through His Daughter’s Eyes. Crown/Archetype, 2010, ISBN 978-0-307-53826-0.
Ricci Martin, Christopher Smith: That’s Amore. A Son Remembers Dean Martin. Taylor Trade Publications, 2004, ISBN 1-58979-140-1.
Arthur Marx: Everybody Loves Somebody Sometime (Especially Himself): The Story of Dean Martin and Jerry Lewis. Hawthorn Books, 1974, ISBN 0-8015-2430-X.
Richard D. Neely: Backstage at the Dean Martin Show. Thorndike Press, 2001, ISBN 0-7862-3234-X.
William Schoell: Martini Man: The Life of Dean Martin. Rowman & Littlefield, 2003, ISBN 1-4617-4170-X, S. 116.
Nick Tosches: Dino. Living High in the Dirty Business of Dreams. Dell, New York 1992.
deutsch: Dino. Rat-Pack, die Mafia und der große Traum vom Glück. Heyne, München 2006, ISBN 3-453-40367-3.
Weblinks
Offizielle Website (englisch)
Dean Martin auf der Internetseite www.biography.com
Anmerkungen
Einzelnachweise
Folgende Werke werden in den Einzelnachweisen abgekürzt zitiert:
Filmschauspieler
Popsänger
Entertainer
Golden-Globe-Preisträger
US-Amerikaner
Geboren 1917
Gestorben 1995
Mann |
176376 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fball-Europameisterschaft%202004 | Fußball-Europameisterschaft 2004 | Die Endrunde der 12. Fußball-Europameisterschaft (offiziell: UEFA EURO 2004) wurde vom 12. Juni bis zum 4. Juli 2004 in Portugal ausgetragen. Am Turnier nahmen 16 Nationalmannschaften teil, die in 31 Spielen zunächst in Gruppen und danach im K.-o.-System gegeneinander antraten.
Die Nationalmannschaft Griechenlands, die als Außenseiter angereist war, gewann das Turnier nach einem 1:0-Sieg über Portugal im Finale von Lissabon und wurde damit zum ersten Mal Fußball-Europameister. Mit dem Mittelfeldspieler Theodoros Zagorakis stellte Griechenland zudem den besten Spieler des Turniers. Der Vize-Weltmeister von 2002, Deutschland, scheiterte, wie auch vier Jahre zuvor, bereits in der Gruppenphase. Die Schweiz scheiterte ebenso in der Gruppenphase, Österreich bereits in der Qualifikation. Torschützenkönig wurde der Tscheche Milan Baroš.
Vergabe
Portugal bekam die Austragung der Europameisterschaft 2004 am 12. Oktober 1999 in Aachen von der UEFA zugesprochen. Das Land setzte sich dabei unter anderem gegen Spanien und Österreich/Ungarn durch. Portugal hatte Spanien die gemeinsame Austragung des Turniers angeboten, die Spanier lehnten jedoch in der Hoffnung auf den Zuschlag für eine eigenständige Ausrichtung ab.
Spielorte
In Aveiro im neu errichteten Estádio Municipal fanden zwei Spiele der Gruppe D der Europameisterschaft statt. Das Stadion fasst 30.000 Zuschauer und wurde am 15. November 2003 offiziell eröffnet. Im Ligabetrieb wird es vom Fußballklub SC Beira-Mar genutzt.
Braga im Estádio Municipal des Fußballklubs Sporting Braga. Das Stadion, in dem zwei der Gruppenspiele stattfanden, wurde neu erbaut und besitzt eine Kapazität von 30.000 Sitzplätzen.
Coimbra im Cidade-Stadion. In dem für die EM sanierten und modernisierten Stadion für 30.000 Zuschauer wurden zwei Gruppenspiele ausgerichtet. Heimatklub ist Académica de Coimbra.
Faro-Loulé im neu gebauten, 30.000 Zuschauer fassenden Estádio Algarve. Die Spielstätte war Austragungsort zweier Gruppenspiele und eines Viertelfinalspiels. Die Heimatklubs sind SC Farense und SC Olhanense.
Guimarães im Estádio Dom Afonso Henriques – Heimstätte des Fußballklubs Vitória Guimarães. Das Stadion hat Platz für 30.000 Zuschauer und wurde für die EM neu gestaltet. Im Stadion von Guimarães fanden zwei Gruppenspiele statt.
Leiria im Estádio Dr. Magalhães Pessoa des Fußballklubs União Leiria. Das renovierte und erweiterte Stadion für 30.000 Zuschauer war Austragungsort zweier Gruppenspiele.
Lissabon im Estádio José Alvalade XXI des Fußballklubs Sporting Lissabon und im Estádio da Luz – Heimstätte von Benfica Lissabon. Im José-Alvalade-Stadion, das im Vorfeld der EM errichtet wurde und Platz für 52.000 Zuschauer bietet, wurden drei Gruppenspiele, ein Viertelfinale und ein Halbfinale ausgetragen. Das ebenfalls neu entstandene Estádio da Luz war mit einer Kapazität von 65.000 Sitzplätzen das größte Stadion dieser Meisterschaft. Hier wurden drei Gruppenspiele, ein Viertelfinalspiel und das Endspiel ausgerichtet.
Porto im Estádio do Dragão – Heimstätte des FC Porto – und im Estádio do Bessa Século. XXI – Heimat von Boavista Porto. Das Estádio do Dragão, in dem die Eröffnungspartie, zwei weitere Gruppenspiele, eine Viertelfinal- und ein Halbfinalbegegnung stattfanden, wurde neu erbaut und bietet Platz für 50.000 Zuschauer. Im Bessa-Stadion wurden drei Gruppenspiele ausgetragen. Nach Modernisierung und Vergrößerung bietet es 30.000 Zuschauern Platz.
Reglement
Turnierform
Wie schon bei den letzten beiden Europameisterschaften zuvor wurde auch diesmal die Vorrunde in vier Gruppen zu vier Mannschaften bestritten. Die jeweils ersten beiden Mannschaften jeder Gruppe qualifizierten sich für das Viertelfinale.
Silver Goal
Das einzige Mal bei einer Fußball-Europameisterschaft galt ab Viertelfinale die Silver-Goal-Regel: Sollte es in einem Spiel der Finalrunde nach der regulären Spielzeit unentschieden stehen, würden zunächst 15 Minuten nachgespielt. Nur bei einem erneuten Unentschieden käme es zu einer weiteren 15-minütigen Verlängerung. Danach würde ein Elfmeterschießen ausgetragen.
Das einzige Spiel, in dem ein Silver Goal erzielt wurde, war das Halbfinale zwischen Griechenland und Tschechien, welches die Griechen gewannen.
Entscheidungskriterien für die Gruppenphase
Die Platzierung der Mannschaften in den Vorrundengruppen ergab sich nach den folgenden Kriterien in folgender Reihenfolge:
höhere Anzahl der Punkte aus allen Gruppenspielen
höhere Anzahl der Punkte im direkten Vergleich
bessere Tordifferenz im direkten Vergleich
höhere Anzahl der erzielten Tore im direkten Vergleich
bessere Tordifferenz aus allen Gruppenspielen
höhere Anzahl der erzielten Tore in allen Gruppenspielen
höherer UEFA-Koeffizient
besseres Fairplay-Verhalten während der Endrunde
Losentscheid
Falls sich am letzten Spieltag der Gruppenphase zwei Mannschaften gegenübergestanden hätten, die nach Ende der regulären Spielzeit Remis spielten und dieselbe Anzahl an Punkten und dieselbe Tordifferenz aufwiesen und es kein weiteres Team gegeben hätte, das ebenso viele Punkte verbuchen konnte, wäre die Entscheidung um die Platzierung in der Gruppe im Elfmeterschießen gefallen.
Teilnehmer
Die Qualifikationsrunde für die Europameisterschaft 2004 fand von September 2002 bis Oktober 2003 in zehn Gruppen statt, in denen jeweils fünf Mannschaften spielten. Portugal war als Gastgeber automatisch qualifiziert. Die zehn Gruppensieger qualifizierten sich automatisch für die Endrunde. Unter den zehn Gruppenzweiten wurden fünf Relegationsspiele ausgetragen, deren fünf Sieger ebenfalls die Endrunde erreichten.
Auslosung der Endrunde
Bei der Auslosung für die Europameisterschaftsendrunde am 29. November 2003 in Lissabon wurden die 16 Mannschaften entsprechend ihren Ergebnissen bei den Qualifikationen für die WM 2002 und die EM 2004 in vier Lostöpfe eingeteilt. Mannschaften aus den gleichen Lostöpfen konnten in den Gruppenspielen nicht aufeinandertreffen. Lostopf A bestand aus Frankreich (als Europameister 2000 als Gruppenkopf gesetzt), Portugal (als Gruppenkopf in Gruppe A gesetzt) Schweden und Tschechien. In Topf B fanden sich England, Spanien, Italien und Deutschland wieder. In Lostopf C befanden sich die Niederlande, Kroatien, Dänemark und Russland und in Lostopf D Bulgarien, Schweiz, Griechenland und Lettland. Die Auslosung ergab folgende Gruppeneinteilung:
Vorrunde
Gruppe A
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Der Gastgeber Portugal startete mit einer Niederlage gegen Griechenland ins Turnier, wodurch die Mannschaft von Luiz Felipe Scolari früh unter Druck geraten war. Nach dem Sieg gegen Russland musste Spanien besiegt werden, was im letzten Gruppenspiel gelang.
Griechenland gewann das Eröffnungsspiel gegen den Gastgeber Portugal, worauf im zweiten Spiel ein Unentschieden gegen Spanien folgte. Nach der Niederlage gegen das bereits ausgeschiedene Russland, die knapp zum Viertelfinaleinzug reichte, ging die Fachwelt davon aus, dass gegen Europameister Frankreich das Turnieraus kommen würde.
Spanien begann das Turnier mit einem Sieg gegen Russland. Nach dem Unentschieden gegen Griechenland hätte ein Unentschieden gegen Portugal zum Weiterkommen genügt. Die 0:1-Niederlage gegen den Nachbarn führte zum Aus, weil Griechenland nicht mit mehr als einem Tor Unterschied gegen Russland verlor. Somit hatte Spanien gegenüber Griechenland bei gleichem Torverhältnis weniger Tore erzielt.
Russland verlor die ersten beiden Spiele gegen Spanien und Portugal. Dies führte dazu, dass der Sieg gegen Griechenland im letzten Gruppenspiel nicht zum Einzug ins Viertelfinale reichte.
Im Spiel Russland gegen Griechenland wurde von dem russischen Spieler Dmitri Kiritschenko der Rekord für das am schnellsten erzielte Tor bei einer EM aufgestellt. Er traf 67 Sekunden nach dem Anpfiff.
Gruppe B
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Frankreich gelang ein später Auftaktsieg gegen England, dem ein Unentschieden gegen Kroatien folgte. Im letzten Spiel gegen die Schweiz stellte Frankreich durch ein Tor von Zidane und einen Doppelpack von Henry den Einzug in die Viertelfinals sicher.
England verlor das erste Gruppenspiel gegen Frankreich, bei dem David Beckham seinen ersten Elfmeter bei dieser EM verschossen hatte. Frankreich drehte die Partie in der Nachspielzeit durch ein Freistoß- und ein Elfmetertor von Zinédine Zidane zum Endstand von 2:1. England hatte bis zur 91. Minute mit 1:0 geführt. Ein Sieg gegen die Schweiz und ein nach 0:1-Rückstand am Ende deutlicher Sieg gegen Kroatien ermöglichte das Weiterkommen. Der 18-jährige Wayne Rooney erzielte gegen die Schweiz und Kroatien jeweils zwei Tore und trug so zur Viertelfinal-Qualifikation der Engländer bei.
Kroatien war nach dem ersten Gruppenspiel gegen die Schweiz, das mit einem torlosen Unentschieden geendet hatte, in Rücklage geraten. Kroatien erzielte mit dem 2:2 gegen Frankreich einen Achtungserfolg, schied nach dem 2:4 im letzten Gruppenspiel gegen England jedoch aus.
Die Schweiz ging als Außenseiter in die Gruppe B und hatte nach dem Unentschieden gegen Kroatien keine großen Chancen mehr auf das Weiterkommen. Nach Niederlagen gegen England und Frankreich schied die Mannschaft aus.
Johan Vonlanthen wurde durch seinen zwischenzeitlichen Ausgleichstreffer für die Schweiz zum jüngsten Torschützen der EM-Geschichte.
Gruppe C
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Schweden startete mit dem 5:0 gegen Bulgarien in das Turnier. Der in die schwedische Nationalelf zurückgekehrte Henrik Larsson, der unter anderem ein Tor durch einen Flugkopfball erzielte, sowie Zlatan Ibrahimović mit einem Elfmetertor waren die besten Spieler des mit der höchsten Tordifferenz im Turnier gewonnenen Spiels. Das 1:1-Unentschieden gegen Italien und das 2:2 gegen Dänemark reichten zum Weiterkommen als Gruppenerster.
Dänemark startete mit einem 0:0 gegen Italien ins Turnier. Der folgende Sieg gegen Bulgarien sorgte dafür, dass Schweden und Dänemark ein 2:2 im letzten Gruppenspiel reichte, um den Viertelfinaleinzug zu schaffen.
Italien begann die Euro 2004 mit zwei Unentschieden gegen Dänemark und Schweden. Trotz des späten 2:1-Erfolges gegen Bulgarien reichte es den Italienern nicht, da Dänemark und Schweden sich 2:2 trennten. Da schon im Vorhinein klar war, dass sich Dänemark und Schweden bei diesem Ergebnis beide für das Viertelfinale qualifizieren würden und der dänische Torwart in der 89. Minute noch den 2:2-Ausgleich der Schweden verursachte, kam in den italienischen Medien der Verdacht einer Absprache auf. Die ironisch gemeinte Äußerung des dänischen Trainers Morten Olsen („Natürlich machen wir einen Deal.“) heizte diese Spekulationen noch auf.
Bulgarien war nach dem 0:5 gegen Schweden und der weiteren Niederlage gegen Dänemark schon vor dem letzten Spiel ausgeschieden. Die Bulgaren hielten im letzten Gruppenspiel gegen Italien gut mit und verloren erst durch ein Tor in der Nachspielzeit.
Gruppe D
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Tschechien gewann das erste Gruppenspiel nach einem 0:1-Rückstand gegen Lettland mit 2:1. Die Tschechen gewannen das zweite Spiel mit 3:2 gegen die Niederlande, das nach einem 0:2-Rückstand zustande kam. Die Stärke der tschechischen Mannschaft resultierte nicht nur aus ihrem technischen Können, sondern auch aus ihrer guten Moral und dem mannschaftlichen Zusammenhalt. Da Tschechien nach diesen zwei Siegen als Gruppensieger feststand, spielte im letzten Gruppenspiel gegen die deutsche Mannschaft eine B-Elf. Abermals lag die Mannschaft 0:1 hinten und gewann mit 2:1. Tschechien galt spätestens nach dem Weiterkommen in dieser Gruppe als einer der Anwärter auf den Titel des Europameisters.
Die Niederlande erkämpften gegen Deutschland ein 1:1. Da das Spiel gegen Tschechien nach 2:0-Führung mit 2:3 verloren ging, konnten die Niederländer das Viertelfinale im letzten Spiel gegen Lettland nicht mehr aus eigener Kraft erreichen. Tschechien gelang wie bei den anderen beiden Gruppenspielen die Umwandlung eines Rückstands (hier von zwei Toren) in einen Sieg. Bereits im Vorfeld der EM gab es Unruhe im niederländischen Team, die von der Kritik am Trainer Dick Advocaat herrührte. Trotzdem gewann die Mannschaft mit 3:0 gegen Lettland und feierte dank der deutschen Niederlage gegen Tschechien den Einzug ins Viertelfinale.
Deutschland schied – zum dritten Mal nach 1984 und 2000 – nach den Gruppenspielen aus. Im Spiel gegen die Niederlande kassierte die Mannschaft neun Minuten vor Schluss den Ausgleich. Gegen Lettland erreichte die Mannschaft ein torloses Remis. Da die Niederlande gegen Tschechien verloren, hätte die deutsche Mannschaft dank dieser Unterstützung mit einem Sieg gegen die B-Elf Tschechiens das Viertelfinale erreichen können. Die 1:0-Führung durch Michael Ballack drehten die Tschechen jedoch in ein 1:2.
Lettland, dessen Qualifikation eine große Überraschung gewesen war, spielte gut mit. Die Letten verloren im Eröffnungsspiel trotz Führung gegen Tschechien und erkämpften sich gegen Deutschland ein 0:0. Dadurch gab es noch theoretisch die Möglichkeit, ins Viertelfinale einzuziehen. Doch gegen die Niederlande verloren die Balten deutlich mit 0:3.
Finalrunde
1 Sieg nach Silver Goal2 Sieg im Elfmeterschießen
Viertelfinale
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Während der regulären Spielzeit geriet Portugal durch ein frühes Tor der Engländer in Rückstand. In der 85. Minute gelang der Ausgleich durch Hélder Postiga. Umstritten war ein nach einem Freistoß erzieltes Tor der Engländer durch Sol Campbell in der 89. Minute, das aufgrund einer als Behinderung des portugiesischen Torhüters Ricardo durch John Terry gewerteten Aktion nicht anerkannt wurde. Der Schiedsrichter Urs Meier erhielt in der Folge mehrere Morddrohungen. Wayne Rooney zog sich in der ersten Spielhälfte einen Knochenbruch im Fuß zu und musste ausgewechselt werden. In der Verlängerung lieferten sich beide Mannschaften einen Schlagabtausch, zeigten bei konstant hohem Tempo eine große Leistung und konnten untereinander keinen Sieger ermitteln. Daher kam es zum Elfmeterschießen. Zwei verschossene Elfmeter auf Seiten Englands bei einem verfehlten portugiesischen Versuch (von Rui Costa) führten zum portugiesischen Sieg. David Beckham verschoss seinen zweiten Elfmeter bei dieser EM (gegen Frankreich scheiterte er an Barthez, gegen Portugal schoss er wie bereits in der Qualifikation über das Tor), und Darius Vassells Schuss wurde vom portugiesischen Torhüter Ricardo, der ohne Handschuhe hielt, pariert. Der wiederum versenkte den entscheidenden Elfmeter im Tor des englischen Keepers David James und markierte so den 8:7-Endstand zu Gunsten Portugals. England erlitt zum wiederholten Male bei einem Turnier eine Niederlage im Elfmeterschießen.
Im zweiten Viertelfinalspiel der EM schaffte Griechenland eine Überraschung. Die Griechen besiegten den amtierenden Europameister Frankreich mit 1:0. In der ersten Halbzeit arbeiteten sich die Griechen eine Reihe hochkarätiger Chancen heraus. Die „Équipe Tricolore“ agierte ideenlos. In der zweiten Halbzeit kamen die Franzosen zu einigen guten Chancen. Frankreich fehlte die nötige Präzision, unter anderem verfehlte Thierry Henry zweimal das Tor knapp. Den Siegtreffer erzielte Angelos Charisteas in der 65. Minute mit einem Kopfball. Dass die Griechen ohne Gegentor blieben, ist vor allem der Defensivtaktik zu verdanken, die den französischen Kombinationsfußball nicht zur Entfaltung kommen ließ. Nach dem griechischen Treffer versuchten die Franzosen bis zum Spielende erfolglos, mit der Brechstange zum Ausgleich zu kommen. Die griechischen Spieler – allen voran Angelos Charisteas – und der Nationaltrainer Otto Rehhagel wurden im Heimatland als Helden gefeiert und gingen bereits mit diesem Sieg in die Europameisterschaftsgeschichte ein. Frankreich hatte zuvor seit dem Auftritt bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea nur ein Spiel (gegen Dänemark) verloren.
Schweden rang den Niederlanden nach 90 Minuten ein 0:0 ab. Nach 120 Minuten mit offensiven Vorstößen beider Mannschaften kam es nach dem Spiel Portugal – England zum zweiten Elfmeterschießen der Euro. Zlatan Ibrahimović verschoss den ersten Elfmeter für Schweden. Nachdem der Niederländer Phillip Cocu vom Elfmeterpunkt ebenfalls am Tor vorbei zielte, konnte Edwin van der Sar seiner Mannschaft mit einer Parade des Elfmeters des Schweden Olof Mellberg den Sieg mit 5:4 sichern. Die Niederländer beendeten damit ihr „Elfmetertrauma“ mit fünf Niederlagen nacheinander bei großen Turnieren im Elfmeterschießen. Obwohl die Schweden im Viertelfinale ausschieden, galt die Mannschaft mit ihrem kontrollierten und taktisch disziplinierten Spiel in Offensive und Defensive als eine der positiven Überraschungen des Turniers.
Tschechien gewann die Begegnung gegen Dänemark mit 3:0. In der ersten Halbzeit agierten die Tschechen mit eher ungewohntem Defensivfußball. Nach dem Spiel erklärte der tschechische Trainer Karel Brückner, dass versucht wurde, nicht erneut wie bei allen Gruppenpartien in Rückstand zu geraten. Dänemark hingegen spielte offensiv, konnte die Überlegenheit aber nicht in Tore umsetzen. In der zweiten Halbzeit ging Tschechien in die Offensive, riss das Spiel an sich und machte binnen 20 Minuten durch einen Kopfball von Jan Koller sowie einen Doppelschlag innerhalb dreier Spielminuten durch den 23-jährigen Milan Baroš mit seinen Turniertoren vier und fünf den Sieg perfekt.
Halbfinale
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Nach verhaltenem Beginn köpfte Cristiano Ronaldo nach einem Eckstoß von Deco in der 26. Spielminute zum 1:0 ein. Als bester Spieler der Partie galt Luís Figo. Er übernahm oft die Verantwortung und setzte entscheidende Akzente. Portugal kontrollierte das Spiel und konterte immer wieder. Die Niederländer standen weit vom Gegner entfernt und brauchten lange, um ihre Angriffe aufzubauen. Der niederländische Stürmer Ruud van Nistelrooy konnte sich gegen die Portugiesen nicht durchsetzen. Nach dem 2:0 in der 58. Minute ebenfalls durch eine Standardsituation (nach kurzem Eckball) durch Maniche und einem Eigentor – Jorge Andrade lenkte den Ball in Bedrängnis von van Nistelrooy über den Torhüter Ricardo ins Tor – zum 2:1 gewannen die Niederländer etwas mehr Selbstvertrauen. Allmählich spielten sich die Portugiesen über Konter neue Chancen heraus. Ab der 81. Minute stürmten die Niederlande mit drei Mittelstürmern: Ruud van Nistelrooy, Roy Makaay und Pierre van Hooijdonk. Doch das brachte keinen Torerfolg. Portugal erreichte mit dem 2:1 erstmals ein EM-Finale.
Im zweiten Halbfinalspiel ging die Taktik der Griechen wiederum auf. Sie nahmen unter anderem die beiden tschechischen Stürmer Milan Baroš und Jan Koller in Manndeckung, machten die Räume eng und ließen die tschechische Mannschaft kaum zur Entfaltung kommen. Die Tschechen hatten in der ersten Halbzeit drei Torchancen, darunter einen Lattentreffer von Tomáš Rosický. Der tschechische Mittelfeldakteur Pavel Nedvěd zog sich in der ersten Halbzeit im griechischen Strafraum bei einem Zweikampf eine Knieverletzung zu und fiel aus. In der zweiten Halbzeit hatte die tschechische Mannschaft weitere gute Chancen, unter anderem nach einem Doppelpass zwischen Rosický und Koller. Die Tschechen nutzten auch in der ersten Halbzeit der nötig gewordenen Verlängerung ihre Chancen nicht, und so schaffte Griechenland den Einzug ins Finale durch ein Silver Goal: Traianos Dellas erzielte den Treffer per Kopfball nach einer Ecke von Vasilios Tsiartas kurz vor Ende der ersten Verlängerung.
Finale
Mit dem Finale zwischen Portugal und Griechenland am 4. Juli kam es erstmals zur Wiederauflage eines Eröffnungsspiels – ein Novum in der Fußballhistorie. Zudem standen erstmals seit der ersten Europameisterschaft 1960 zwei Mannschaften im Finale, die nie zuvor ein Finale erreicht hatten. Der deutsche Schiedsrichter Markus Merk leitete das Spiel.
Griechenland begann wie zuvor diszipliniert und Portugal etwas verhalten, um nicht den Fehler des Eröffnungsspiels zu wiederholen und in Rückstand zu geraten. Zu Beginn der zweiten Halbzeit erhöhten die Portugiesen den Druck. Die Griechen ließen sich etwas nach hinten drängen, so dass die Portugiesen zu mehreren Chancen kamen. In dieser Situation erzielte erneut Angelos Charisteas von Werder Bremen bei einem Eckball einen Treffer. Er nutzte einen Fehler des portugiesischen Torwarts Ricardo und köpfte in der 57. Minute zum 0:1 ein. Der Kopfball war der einzige Torschuss von Charisteas in dieser Partie. Die Portugiesen zogen nach, scheiterten jedoch immer wieder an der griechischen Verteidigung. In den restlichen Spielminuten kam Portugal insbesondere durch Cristiano Ronaldo und Luís Figo noch zu einigen guten Chancen, die alle vergeben oder vereitelt wurden. Versuche, die Stürmer von den Flügeln zu bedienen, blieben ebenfalls erfolglos. Hohe Bälle, aus dem Mittelfeld in den Strafraum geschlagen, und Schüsse aus relativ großer Distanz konnte der griechische Torhüter Antonios Nikopolidis abwehren. Die Portugiesen konnten insgesamt über zwanzig Torchancen nicht nutzen. Griechenland wurde somit erstmals Europameister.
Kurz vor Spielende kam es zu einem Zwischenfall durch den Flitzer Jimmy Jump. Der Störer stürmte auf das Spielfeld, bewarf Luís Figo mit einer Flagge des FC Barcelona und sprang anschließend ins Netz des griechischen Tors. Bis er überwältigt und vom Spielfeld getragen werden konnte, vergingen zwei Minuten.
Torschützenliste (Endrunde)
In der Endrunde wurden insgesamt 77 Tore, davon 20 Elfmetertore, durch 47 Spieler erzielt. Zudem schossen der Portugiese Jorge Andrade und der Kroate Igor Tudor jeweils ein Eigentor.
Auszeichnungen
Goldener Ball
Den Goldenen Ball als Torschützenkönig gewann der Tscheche Milan Baroš mit 5 Toren.
Torschützenkönige des gesamten Wettbewerbs wurden der Niederländer Ruud van Nistelrooy und der Slowene Ermin Šiljak (nur Qualifikation) mit jeweils neun Toren.
UEFA Spieler des Turniers
Als Spieler des Turniers wurde der griechische Mittelfeldspieler Theodoros Zagorakis ausgezeichnet.
UEFA-All-Star-Team
Eine achtköpfige Expertenkommission der UEFA stellte ein All-Star-Team der Europameisterschaft mit den besten Spielern des Turniers zusammen.
Schiedsrichter
Die Schiedsrichterkommission der UEFA berief 12 Schiedsrichter und 24 Schiedsrichterassistenten. Um bestmöglich miteinander zu kooperieren, setzten sich die Gespanne mit einer Ausnahme aus Schiedsrichtern und Assistenten des jeweils gleichen Landes zusammen. Hinzu kamen vier vierte Offizielle. Die Halbfinal-Spiele wurden von Anders Frisk und Pierluigi Collina geleitet. Im Finale war Markus Merk der Schiedsrichter. Dieser profitierte vom Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft schon nach der Vorrunde. Somit konnte erstmals seit 1970 wieder ein deutscher Schiedsrichter das Finale einer EM oder WM leiten.
Folgende zwölf Schiedsrichter und ihre Assistenten wurden in den 31 Spielen eingesetzt:
Als vierte Offizielle wurden Schiedsrichter berücksichtigt, deren Verbände keinen der zwölf Schiedsrichter stellten. De Bleeckere und Vassaras pfiffen bei der nachfolgenden EM 2008 Spiele. Folgende vier Schiedsrichter wurden als vierte Offizielle nominiert:
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Maskottchen und Spielball
Maskottchen des Turniers war Kinas, ein Junge in der Spielkleidung der portugiesischen Nationalmannschaft. Der Spielball war der Roteiro, welcher als erster UEFA-Spielball nicht mehr genäht, sondern thermisch verklebt wurde.
Fazit
Sport
Sportlich gesehen war die Euro 2004 von hohem Niveau gekennzeichnet. Die meisten Mannschaften zogen sich nicht wie bei früheren Turnieren abwartend in die eigene Spielhälfte zurück, sondern bemühten sich von Spielbeginn an, risikoorientieren Offensivfußball zu spielen. Die gute sportliche Qualität ließ jedoch kaum hohe Ergebnisse zu. Ausnahmen waren die Spiele Kroatien gegen England (2:4) als das Spiel mit den meisten Toren und die Partie zwischen Schweden und Bulgarien (5:0) als das Spiel mit der höchsten Tordifferenz des Turniers. Die große Leistungsdichte sorgte dafür, dass Außenseiter, wie der EM-Neuling Lettland, der die tschechische Mannschaft zwischenzeitlich in Bedrängnis gebracht hatte und gegen Deutschland ein 0:0 und damit den ersten EM-Punkt gewonnen hatte, Erfolge feiern konnten.
Einige Mannschaften enttäuschten aber auch. Italien erfüllte während der drei absolvierten Spiele die Ansprüche in keiner Weise. Den Franzosen merkte man ihre Müdigkeit und Ideenlosigkeit an. Nach dem Turnier stand die Verjüngung des Kaders an. Auch die deutsche Mannschaft überzeugte mit ihren Mitteln nicht. Es fehlten der uneingeschränkte Kampfeswille und die Risikobereitschaft. Nur im Spiel gegen die Niederlande zeigte sie vorübergehend ihr Potenzial. Auch Portugal glänzte anfangs nicht durch schönen Fußball. Erst im Lauf des Turniers steigerte sich die portugiesische Mannschaft spielerisch.
Favoritensterben
Die Euro 2004 gilt als ein Turnier der Überraschungen. Zuvor als Favoriten gehandelte Mannschaften wie Spanien und Italien schieden in der Gruppenphase aus. Aber auch für England und Frankreich war das Turnier bereits mit dem Viertelfinale beendet. Das Ausscheiden der hoch gehandelten Mannschaften wurde häufig damit begründet, dass die Nationalspieler dieser Länder in den großen 20er-Ligen Europas (Spanien, Frankreich, England) samt den nationalen und internationalen Pokalwettbewerben sowie den Länderspielen zu viele Spiele im Jahr absolvieren müssten und sich nicht ausreichend regenerieren könnten. Da das Phänomen auch schon für das frühe Ausscheiden einiger Mannschaften bei der WM 2002 verantwortlich gemacht wurde, gab es nach der EM Absichtserklärungen, die Anzahl der Spiele zu reduzieren. Zur Spielzeit 2003/04 war daher bereits die zweite Gruppenphase der UEFA Champions League abgeschafft worden.
Der Sieg des Außenseiters
Die Griechen hatten zuletzt 1980 an einer Europameisterschaftsendrunde teilgenommen. Somit war für sie das Erreichen der Endrunde in diesem Jahr ein Erfolg. Zuvor hatten die Hellenen bei einer EM noch nie einen Sieg errungen. Bei ihrem letzten großen Turnier, der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA, waren sie nach der Vorrunde punkt- und torlos ausgeschieden.
Der Titelerfolg bei diesem Turnier wird auch dem deutschen Trainer Otto Rehhagel zugeschrieben, der die Mannschaft seit 2001 trainierte. Als Rehhagel in Griechenland seine Arbeit begann, war der Nationalmannschaftsfußball dort vergleichsweise bedeutungslos. Er formte ohne Griechischkenntnisse, mit Hilfe seines Co-Trainers Ioannis Topalidis, der gleichzeitig als Übersetzer diente, aus vielen Einzelgängern eine Truppe mit Mannschaftsgeist. Rehhagel beschrieb seine Methode mit den Worten: „Die Griechen haben die Demokratie erfunden. Ich habe eine demokratische Diktatur eingeführt.“ Er verhalf dem griechischen Fußball mit einer auf die Mannschaft und die Fähigkeiten der Spieler abgestimmten Taktik in die europäische Spitze. Rehhagel dazu: „Früher hat jeder gemacht, was er will. Jetzt macht jeder, was er kann.“
Er versuchte nach Siegen die Euphorie vieler Fans zu unterdrücken: „Wenn wir zweimal gewinnen, wollen sie gleich Europameister werden, und wenn wir zweimal verlieren, wollen sie sich gleich ins Meer stürzen.“ Rehhagel bewirkte auch, dass Vereins- und Verbandsfunktionäre von der Zuständigkeit über die Nationalmannschaft entbunden wurden. So formte Rehhagel eine Mannschaft, die eine konstante Zusammensetzung hatte und weniger Druck unterlag.
Auf ihrem Weg zum Europameistertitel besiegte Griechenland mehrere höher eingeschätzte Teams, die an der griechischen Verteidigung scheiterten. Bereits das Auftaktspiel gegen den Gastgeber Portugal – zuvor als „wichtigstes Spiel für Griechenland seit 20 Jahren“ gehandelt – war erfolgreich. Die Griechen besiegten die portugiesische Mannschaft dank ihrer Taktik und eines frühen Tores mit 2:1. Dieser Erfolg war von vielen unerwartet, so dass von einer „Sensation“ die Rede war. Die Griechen bestätigten den Eindruck im zweiten Gruppenspiel bei einem 1:1-Unentschieden, welches zum Ausscheiden der mitfavorisierten Spanier beitrug. Nach der Gruppenphase gelang ihnen der Sieg über den amtierenden Europameister Frankreich im Viertelfinale und die ebenfalls hoch gehandelten Tschechen im Halbfinale. Im Finale scheiterte die portugiesische Mannschaft trotz Heimvorteil erneut an der gut eingestellten Mannschaft. Nur die zuerst ausgeschiedenen Russen konnten Griechenland während des Turniers in der Gruppenphase schlagen.
Der Gewinn des Titels durch die Griechen wurde als „Wunder von Lissabon“ bekannt. Griechenland war eine der wenigen Mannschaften, die mit einer eher defensiven Taktik spielten. Rehhagel nennt die griechische Taktik „kontrollierte Offensive“. Er stellte heraus, dass ein Abwehrspieler in einem Spiel das entscheidende Tor erzielte und „dass wir mit Georgios Seitaridis einen der offensivsten Verteidiger der EM gehabt haben“. Des Weiteren agierten die Griechen erfolgreich mit einem Spieler auf der – nach Meinung Vieler – veralteten Libero-Position und mit Dreierkette. Die meisten anderen Mannschaften setzten auf die als moderne Alternative angesehene Viererkette. Dass die Griechen die vermeintlich großen Mannschaften als Europameister hinter sich ließen, war vor allem der Umsetzung der Taktik, der geschlossenen Mannschaftsleistung (besonders in der Einsatzbereitschaft) sowie der guten Chancenverwertung zuzuschreiben.
Otto Rehhagel führte als erster ausländischer Nationaltrainer eine Nationalmannschaft zu einem Turniertitel. Der Erfolg der griechischen Mannschaft hatte im olympischen Jahr eine große Euphorie im ganzen Land zur Folge. Nach der Rückkehr wurden die Europameister im Panathinaiko-Stadion der griechischen Hauptstadt Athen geehrt und dort von rund 100.000 Menschen empfangen. Dort wurden bis dato nur die griechischen Olympiasieger gefeiert. Bei dieser Gelegenheit wurden Otto Rehhagel und seine Spieler zu Ehrenbürgern der Stadt Athen ernannt.
Einige der griechischen Spieler wechselten nach der EM 2004 zu europäischen Clubs. So ging der Verteidiger Michalis Kapsis zu Girondins Bordeaux nach Frankreich, Georgios Seitaridis wechselte zum FC Porto.
Jungstars und Namenlose
Die EM war nicht die Bühne der etablierten Stars wie Zinédine Zidane, David Beckham, Pavel Nedvěd oder Luís Figo. Sie gehörte den talentierten Jungstars wie Wayne Rooney (jeweils zwei Tore gegen die Schweiz und Kroatien), dem Portugiesen Cristiano Ronaldo, dem Niederländer Arjen Robben (schoss sein Team im Elfmeterschießen gegen Schweden ins Halbfinale), dem Schweden Zlatan Ibrahimović und dem Tschechen Milan Baroš, der die EM als Torschützenkönig abschloss.
Unsportliche Momente
Neben den sportlichen gab es auch unschöne und unsportliche Momente auf dem Platz. Francesco Totti (Italien) wurde wegen einer Spuckattacke gegen Christian Poulsen (Dänemark) für drei EM-Spiele gesperrt. Alexander Frei (Schweiz) musste sich ebenfalls wegen mutmaßlichen Spuckens vor der UEFA-Disziplinar- und Kontrollkommission verantworten, wurde jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Er hatte verdeckt zur Fernsehkamera den Gegenspieler Steven Gerrard (England) angespuckt. Nachdem neue Aufnahmen auftauchten, die Frei eindeutig überführten, wurde dieser für die gesamte Europameisterschaft gesperrt, weil er sich bei der Verhandlung nicht schuldig bekannt hatte.
Trainerwechsel
Die Europameisterschaft kostete einige Trainer ihren Posten:
Der deutsche Teamchef Rudi Völler trat einen Tag nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft nach der Gruppenphase zurück. Nach langer Suche wurde Jürgen Klinsmann neuer Bundestrainer.
Der spanische Nationaltrainer Iñaki Sáez musste dem Druck im Lande nachgeben und stellte sein Amt ebenfalls zur Verfügung.
Giovanni Trapattonis Vertrag als Coach der „Squadra Azzurra“ wurde nach dem frühen Aus vom italienischen Fußballverband nicht verlängert, so dass er Mitte Juli ausschied. Nachfolger wurde Marcello Lippi. Er gewann allein mit Juventus Turin fünf Meistertitel und wurde mit Italien 2006 Weltmeister.
Der niederländische Bondscoach Dick Advocaat erklärte zwei Tage nach dem EM-Halbfinale seinen Rücktritt. Er sehe nach der nicht abreißenden enormen Kritik keine Grundlage mehr für eine Zusammenarbeit. Neuer Trainer wurde Marco van Basten.
Der kroatische Trainer Otto Barić erklärte ebenfalls seinen Rückzug vom Trainerposten der kroatischen Nationalmannschaft. Er begründete dies mit dem Misserfolg der Mannschaft während des Turniers und mit seinem Alter. Barić war mit 72 Jahren der älteste an der Euro teilnehmende Trainer.
Der Franzose Jacques Santini und der Schwede Tommy Söderberg verließen nach dem EM-Turnier freiwillig ihre Mannschaften.
Als achter Nationaltrainer trat der Bulgare Plamen Markow ab. Sein Nachfolger wurde Christo Stoitschkow.
Organisation – Sicherheit, Stadien etc.
Portugal gelang es, eine friedliche Europameisterschaft ohne große Ausschreitungen zu veranstalten, was vor allem dem Sicherheitskonzept zu verdanken ist. Das Land bemühte sich, eine möglichst umfassende Sicherheit zu gewährleisten, ohne die Fans abzuschrecken oder arg zu beeinträchtigen.
Die Verhinderung größerer Ausschreitungen ist vor allem neuen Strategien gegen Hooligans zu verdanken. Hier wurden erhebliche Fortschritte im Vergleich zur Euro 2000 gemacht. Allerdings gibt es direkt in Portugal kein Hooliganproblem, wie es in den Niederlanden der Fall war. Das Konzept bestand in erster Linie aus präventiven Maßnahmen wie der Aussetzung des Schengener Abkommens während der Euro, der Verschärfung von Kontrollen an den portugiesischen Grenzen sowie dem Ausreiseverbot beziehungsweise Passentzug polizeibekannter ausländischer Hooligans. Die Polizei hielt sich größtenteils aus den großen Fanmassen zurück und fiel nicht durch übermäßige Präsenz oder Provokation auf. Die umgehende gerichtliche Behandlung von Randalierern erlaubte eine schnelle Verurteilung und Abschiebung. Ferner wurden in den Stadien neben der einheimischen Polizei speziell in Sicherheitsfragen (insbesondere der Zuschauerüberwachung) ausgebildete Stewards eingesetzt, die berechtigt waren, gegen die Vorschriften verstoßende Fans aus den Stadien zu verweisen. Während der gesamten Euro kam es zu zwei Zwischenfällen mit Engländern in Touristenorten und zu einem Todesfall in Lissabon, wo ein 27-jähriger Engländer nach einem Raubüberfall seinen Verletzungen auf dem Weg zum Krankenhaus erlag.
Der Fokus der Sicherheitsmaßnahmen richtet sich nicht mehr auf die Hooligans, sondern seit dem 11. September 2001 in erster Linie auf die Gefahr terroristischer Anschläge. Nach dem Terroranschlag von Madrid am 11. März 2004 wurde das Konzept nochmals überarbeitet und die NATO und Europol eingebunden. Die NATO unterstützte Portugal in der größten Sicherheitsoperation des Landes durch die Überwachung des Luftraumes über der iberischen Halbinsel durch AWACS-Flugzeuge. Alle Stadien wurden am Vorabend vor einem Spiel hermetisch abgeriegelt und an den Eingängen wurde die Anzahl von Detektoren erhöht, um das Einschmuggeln von Bomben unmöglich zu machen. Insgesamt waren für die Sicherheit während des Turniers 20.000 Sicherheitskräfte zuständig. Für die Sicherheit der teilnehmenden Teams wurden eigene nationale Kräfte eingesetzt. Frankreich beispielsweise ließ sich von einer Elitetruppe beschützen und Deutschland brachte einen eigenen Sicherheitskoordinator des Bundeskriminalamtes mit. Mittlerweile arbeiten alle EU-Länder für die Sicherheit solcher Großereignisse zusammen. Beispielsweise tagt alle zwei Monate ein Komitee des Europarates zur Verhinderung von Gewalt bei Sportveranstaltungen. Die Sicherheitsausgaben während des Turniers beliefen sich auf eine zweistellige Millionensumme in Euro.
Die meisten Stadien boten ausgezeichnete Bedingungen. Das Estádio da Luz in Lissabon verfügte über eine intensive Atmosphäre und das Estádio do Dragão in Porto bot eine markante Dachkonstruktion aus Glas.
Allerdings gab es Kritik an einigen Stadien. Das Estádio Municipal de Braga, in ein Felsmassiv hinein gebaut, hat lediglich zwei Seitentribünen und ist als Fußballstadion nur bedingt geeignet. Kritisiert wurde ebenso das Estádio Municipal in Aveiro, das neben einer Müllverbrennungsanlage errichtet wurde und dessen Zufahrtsstraßen nicht rechtzeitig fertiggestellt waren. Das beste Gegenbeispiel ist das Estádio Dom Afonso Henriques in Guimarães, das sich organisch in den Ort einfügt.
Ein enormes Problem stellt die Nachnutzung der Spielstätten dar. In Neubau und Modernisierung der Stadien wurden 553,6 Millionen Euro – geplant waren lediglich 426,4 Millionen – und in den Ausbau der stadionnahen Infrastruktur nochmals 79,4 Millionen Euro investiert. Ein Großteil der Kosten muss von den Kommunen und den Vereinen als Betreiber getragen werden. Die Haushalte der kleineren Kommunen werden durch die Europameisterschaft über lange Zeit schwer belastet bleiben und die Vereine haben hohe Mieten zu zahlen, während sich die erste portugiesische Liga mit geringen Zuschauerzahlen und finanziellen Schwierigkeiten in einer Krise befindet. Schon vor der EM stellte sich die Frage, ob für 31 Spiele zehn Stadien notwendig sind. In fünf Stadien wurden lediglich zwei Gruppenspiele ausgetragen. Leiria hatte nach dem Turnier mit 55 Millionen Euro Schulden durch den Bau des Estádio Dr. Magalhães Pessoa zu kämpfen. Zu den Heimspielen des Vereins kommen im Schnitt etwa 6.000 Besucher. Faro und Loulé, die Trägergemeinden des Estádio Algarve, müssen 5.500 Euro pro Tag für ein Stadion aufbringen, in dem kein Fußball stattfindet. Die Klubs der Städte spielen in unterklassigen Ligen und die Austragung ihrer Partien im Algarve-Stadion wäre wegen der geringen Zuschauerresonanz ein Verlustgeschäft.
Doch es gibt positive Entwicklungen. Der Primeira-Liga-Klub Sporting Braga konnte im 30.000 Zuschauer fassenden Estádio Municipal von Braga mit durchschnittlich 10.000 Besuchern pro Heimspiel eine Verdopplung seiner Zuschauerzahlen seit der Europameisterschaft verzeichnen, womit sie hinter den großen Vereinen Sporting Lissabon, Benfica Lissabon und FC Porto auf Rang vier der Zuschauergunst stehen. Um das Stadion rentabler zu machen, finden Rockkonzerte, Musikfestivals und andere Veranstaltungen statt. Das Stadionumfeld soll durch einen geplanten Sport- und Freizeitpark attraktiver werden.
Auch an der UEFA wurde Kritik laut. Zu große Kartenkontingente für die Verbände führten trotz ausverkaufter Stadien zu leeren Sitzreihen und verärgerten Fans. Bisher stand jedem an einem EM-Spiel beteiligten Verband ein Kontingent von jeweils 20 Prozent der Karten im jeweiligen Stadion zu. Einige Verbände wie der russische und der italienische nutzten jedoch Tausende ihrer übernommenen Karten nicht. Sie konnten die von der UEFA erhaltenen Tickets nicht an die Fans absetzen. Die UEFA kündigte an, die Kontingente deutlich zu reduzieren, um vergleichbare Situationen bei künftigen Turnieren zu verhindern.
Wirtschaftliche Auswirkungen
Portugal befand sich seit Anfang 2001 in einer wirtschaftlichen Krise. Die Wirtschaft schrumpfte nach einer langen Wachstumsphase seit dem EG-Beitritt im Jahre 1986, die Arbeitslosigkeit und die Inflationsrate stiegen und riefen ein hohes Staatsdefizit hervor. Das Land erhoffte sich durch die Ausrichtung des nach Fernsehzuschauern drittgrößten Sportereignisses der Welt wichtige gesamtwirtschaftliche Impulse.
Durch die gute Organisation der Euro 2004 konnte das Land einen enormen Imagegewinn und eine gesteigerte Bekanntheit in aller Welt für sich verbuchen. Dieser Effekt wirkte sich in erster Linie im Tourismussektor aus. In den nächsten sechs Jahren sollten die Einnahmen aus dem Tourismus zwischen drei und sechs Prozent – mit bis zu 700.000 zusätzlichen Besuchern pro Jahr – wachsen. 2004 wurde mit einer Steigerung von 2,5 Prozent und 500.000 Besuchern gerechnet. Der Tourismus macht 3,7 Prozent des portugiesischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Weiterhin sorgte die Euro 2004 für einen Aufschwung in der Bauwirtschaft. Dies ist auf die hohen Ausgaben für den Bau der Stadien und der Infrastruktur zurückzuführen. Niemals zuvor wurde solch eine große Zahl von Stadien für eine Fußball-Europameisterschaft neu errichtet. In Bau und Erweiterung der Stadien wurden über 600 Millionen Euro investiert. Portugiesische Baufirmen waren an 85 Prozent der Bauarbeiten beteiligt. Der Staat förderte die Baumaßnahmen mit mehr als 100 Millionen Euro. Hinzu kamen Bauaufträge für den Ausbau der öffentlichen und privaten Infrastruktur (beispielsweise Straßen, Hotels). Die konjunkturellen Auswirkungen aus der Baubranche heraus waren allerdings gering, da dieser Sektor zu den unproduktivsten Wirtschaftszweigen gehört.
Das portugiesische Finanzministerium prognostizierte die direkt messbaren Auswirkungen der EM mit einem Anstieg des BIP von 2004 um lediglich 0,08 Prozent. Neben positiven Effekten wie dem Imagegewinn oder zusätzlichen Steuereinnahmen rief die EM auch negative Auswirkungen wie Verkehrs- und Sicherheitsprobleme sowie Umweltschäden durch den steigenden Tourismus und damit hohe Folgekosten hervor.
Die Gewinner in wirtschaftlicher Hinsicht waren die UEFA mit ihren Mitgliedsverbänden und die als Teamausrüster auftretenden Sportartikelhersteller. Das Joint Venture der UEFA und dem Veranstalterland, das für die Organisation des Turniers gegründet wurde, erwartete Bruttorekordeinnahmen von rund 817 Millionen Euro aus Eintrittsgeldern, Sponsoring, Fernseh- und Marketingrechten. Die Einnahmen aus Sponsoring, Fernseh- und Marketingrechten wurden sprunghaft gesteigert. Der Sport gilt unter Wirtschaftsexperten mittlerweile als der am stärksten wachsende Wirtschaftsfaktor der Welt. 500 Millionen Euro zahlten die Hauptsponsoren. Dass sich dieses Engagement lohnte, zeigt das Beispiel Carlsberg. Der Braukonzern verkaufte während des Turniers dreizehn Prozent mehr Bier. Außer an den Veranstalter wurden Teile der Erträge an die Teilnehmer- und Mitgliedsverbände ausgeschüttet. Allein an die Verbände der Teilnehmer flossen als Spielprämien rund 120 Millionen Euro. Von der Europameisterschaft profitierten die Teamausrüster durch die Vermarktung von Spielertrikots in hohem Maße. Zusätzlich konnte Adidas durch den Verkauf des von der UEFA lizenzierten EM-Balles Roteiro eine Nettogewinnsteigerung von 21 % auf einen Rekordgewinn von 314 Millionen Euro verbuchen.
Zahlen
Die Fußball-Europameisterschaft erregte nicht nur europa-, sondern weltweit großes Aufsehen. Das zeigen die folgenden Zahlen:
845 Millionen Zuschauer vor den Fernsehschirmen (Spitzenwerte bis zu 84 % Marktanteil in Ländern wie Portugal und England) bei 11.000 gebuchten Fernsehübertragungsstunden
180 Millionen Aufrufe der offiziellen Website Euro2004.com, die meisten in Japan
bis zu 50 Millionen Zuschauer pro Spiel in der Volksrepublik China, obwohl die Spiele erst spät abends oder nachts begannen
über 1,1 Millionen Fans in den Stadien
über 1 Milliarde Euro Umsatz durch Karten- und Merchandisingverkauf
Literatur
Ulrich Kühne-Hellmessen, Günter Netzer (Hrsg.): Europameisterschaft 2004. Die Helden von Portugal. Morsell, Berlin 2004, ISBN 3-9522779-2-4.
Gerhard Delling (Hrsg.): Portugal 2004. Das Fußball-EM-Buch. Südwest, München 2004, ISBN 3-517-06734-2.
Sven Simon: EM 2004 Portugal: Berichte – Analysen – Kommentare. Copress, München 2004, ISBN 3-7679-0664-3.
Weblinks
Infos zum Turnier 2004 auf uefa.com
Details auf linguasport.com (engl.)
Details auf rsssf.com (engl.)
Umfangreiche Fotogalerie zur Euro 2004
Einzelnachweise
2004
Sportveranstaltung in Portugal
Fußballveranstaltung 2004 |
179992 | https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni%20Segantini | Giovanni Segantini | Giovanni Segantini (* 15. Januar 1858 in Arco (Tirol, Kaisertum Österreich); † 28. September 1899 auf dem Schafberg bei Pontresina, Kanton Graubünden, Schweiz; vollständiger Name Giovanni Battista Emanuele Maria Segatini [sic!]) war ein in Welschtirol als österreichischer Staatsbürger geborener Maler des realistischen Symbolismus. Er galt als Meister der Hochgebirgslandschaft und begann früh mit der Freilichtmalerei. Segantini entwickelte eine eigene Version der pointillistischen Maltechnik, mit deren Hilfe er das ungebrochene Licht der Hochgebirgswelt wiedergeben und die naturalistische Wirkung seiner Bilder steigern konnte.
Leben
Herkunft
Die Familie Segatini [sic!] stammte aus dem an der Etsch bei Verona gelegenen Bussolengo, das durch seine Leinen- und Seidenweberei bekannt war. Auch Johannes Maria Segatini (* 3. Mai 1718), der Urgroßvater von Giovanni Segantini, sowie sein Großvater Anton Giovanni Segatini (* 7. Mai 1743) widmeten sich diesem Gewerbe. Nachdem die Seidenweberei und der damit verbundene Handel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zurückgegangen waren, wanderte mit den Arbeitern der Großvater ins Trentino aus und ließ sich als Seidenweber in Ala nieder, wo sich eine blühende Seidenindustrie entwickeln sollte. Zwischen 1788 und 1802 wurden ihm acht Söhne geboren, darunter als jüngster Agostino Segatini, der der Vater des Künstlers werden sollte. Aloisio Segatini, ein älterer Bruder von Agostino, ließ sich als erster der Familie in Trient nieder, der jüngere Bruder kam später nach und gab das alte Familiengewerbe auf, um Käsehändler zu werden.
Segantinis Mutter, Margherita Girardi, entstammte einem in Castello-Molina de Fiemme sesshaften alten Fleimstaler Geschlecht. Margherita Girardi war eine direkte Nachfahrin Francesco Girardis, eines kaiserlichen Hofrats und Obersts, „der die tirolischen Milizen organisierte und Verfasser einer in der Militärliteratur klassisch gewordenen Publikation, dem ‚Handbüchl zum Exercieren‘“. Der Name Girardi ist im ladinischen Gebiet stark verbreitet, und man findet ihn zudem außerhalb des Fleimstals im Gebiet des Rollepasses, zu Füßen des Cimone della Pala und im Ampezzotal, von wo fernerhin Alexander Girardi herstammte.
Frühe Jahre (1858–1875)
Giovanni Battista Emanuele Maria Segatini, so sein eigentlicher Name, den er später in Segantini änderte, wurde 1858 im damals österreichischen Arco nördlich des Gardasees als Kind des Schreiners Agostino Segatini (* 1802; † 20. Februar 1866) und seiner dritten Frau, Margherita de Girardi (* 4. September 1828 in Castello; † 3. März 1865 in Trient) geboren. Ein um sechs Jahre älterer Bruder kam am 20. Juli 1858 bei einem Brand ums Leben.
Nach dem frühen Tod der Mutter (sie starb mit 36 Jahren) brachte ihn der alkoholkranke Vater zu einer Tochter aus erster Ehe, Irene. Diese empfand den Kleinen als Belastung, und Giovanni riss deshalb aus, wann immer es ging. Im Juli 1865 trieb der Hass die Halbschwester so weit, dass sie in einem Schreiben an die Innsbrucker Behörde dazu aufforderte, Giovanni die österreichische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Dies geschah: Nach den repressiven Gesetzen, die im damaligen Kaiserreich Österreich für die italienischen Herrschaftsgebiete galten, konnte einem Siebenjährigen die Staatsangehörigkeit entzogen werden.
Segantini blieb sein ganzes Leben staatenlos. 1870 wurde er ohne Papiere aufgegriffen, und da sein Vater gestorben war, landete er in der Erziehungsanstalt Riformatorio Marchiondi. Dort erlernte er den Beruf des Schusters. Ein alter Anstaltsgeistlicher nahm sich seiner an. Er erkannte seine zeichnerische Begabung, erzählte ihm vom Malermönch Fra Angelico und erlaubte ihm, zu zeichnen und zu modellieren. Durch Interventionen seines Halbbruders Napoleone konnte er 1873 die Besserungsanstalt verlassen und arbeitete bis 1874 in dessen Photo- und Drogeriegeschäft in Borgo Valsugana. Daraufhin kam er nach Mailand und arbeitete seit 1875 beim ehemaligen Garibaldi-Anhänger Luigi Tettamanzi, einem Maler von Heiligenfahnen, Transparenten und Wirtshausschildern, Komödiant und Verfasser historischer Dramen. Tettamanzi stellte ihn als Gehilfen an und erteilte ihm Zeichenunterricht.
Mailand (1875–1880)
Im Jahr 1875 schrieb er sich an der Kunstakademie Brera in Mailand ein, belegte Tageskurse in Malerei und Abendkurse in Ornamentik. Bei einer nationalen Ausstellung der Brera erregte er bereits 1879 mit seinem ersten größeren Bild, dem Chorgestühl von Sant’Antonio, bei Lehrern und Schülern Aufsehen durch die neuartige Behandlung des Lichts.
„Ich war sicher nicht darauf bedacht, ein Kunstwerk zu schaffen, sondern mich einfach in der Malerei zu betätigen. Durch ein geöffnetes Fenster drang ein Lichtstrom ein, der die in Holz geschnitzten Sitze des Chores mit Helligkeit übergoß. Ich malte diesen Teil und bemühte mich vor allem, das Licht festzuhalten, und sogleich begriff ich dabei, daß man beim Mischen der Farben auf der Palette weder Licht noch Luft bekam. So fand ich das Mittel, die Farben echt und rein anzuordnen, indem ich auf der Leinwand die Farben, die ich sonst auf der Palette gemischt hätte, ungemischt die eine neben die andere setzte und dann es der Netzhaut überließ, sie beim Betrachten des Gemäldes auf ihre natürliche Entfernung zu verschmelzen.“
Das durch ein Seitenfenster belichtete Chorgestühl von „Sant’Antonio“ galt damals bei den Perspektive-Schülern als unlösbares Problem. Man wollte Segantini den mit 5000 Lire dotierten „Principe-Umberto-Preis“ verleihen. Neider und Feinde wussten dies zu verhindern, indem sie die Jury darauf aufmerksam machten, dass Segantini Österreicher und kein Italiener war. Das Bild wurde von der Gesellschaft der Schönen Künste von Mailand erworben. Später bekam er den Auftrag, für die Studenten kolorierte anatomische Zeichnungen anzufertigen, wodurch er sich selbst gute anatomische Kenntnisse aneignete.
Wegen Meinungsverschiedenheiten mit den Professoren an der Brera verließ er diese nach zwei Jahren. Im selben Jahr lernte er in der „Galleria Vittore ed Alberto Grubicy“ in Mailand den Kunstkritiker und -händler Vittore Grubicy de Dragon (1851–1920) kennen. Die Galerie veranstaltete eine Gedächtnisausstellung für den früh verstorbenen Tranquillo Cremona (1837–1878). Segantini betrat die Ausstellung in ärmlicher Kleidung und groben Schuhen. Er wurde von Grubicy zurechtgewiesen, betrachtete die Gemälde weiterhin aufmerksam, entschuldigte sich und gab sich als Maler zu erkennen. So begann eine Beziehung und Freundschaft fürs Leben, und die finanzielle Not Segantinis hatte vorerst ein Ende, denn Grubicy verschaffte ihm Aufträge für Stillleben und brachte die Bilder Segantinis in den Kunsthandel. Zudem brachte ihn der weitgereiste Grubicy mit Reproduktionen von Kunst seiner Zeit in Berührung, was für Segantini eine der wenigen Möglichkeiten war, Kenntnis vom Luminismus der Haager Schule, dem Neoimpressionismus und über andere Künstler wie beispielsweise Anton Mauve und Jean-François Millet und ihre Werke zu erhalten.
Brianza (1880–1886)
Im Jahr 1880 bezog Segantini sein erstes Atelier in der Via San Marco nahe der Navigli in Mailand, das er als Mailänder Domizil behielt. Hier lernte er die siebzehnjährige Luigia Bugatti (1863–1938) kennen, genannt Bice, die Schwester seines Mitschülers und Freundes Carlo Bugatti, der später in Mailand und Paris ein gesuchter Möbelschreiner wurde. Bice stand Modell für das Bild La Falconiera (Die Falknerin) aus dem Jahre 1880, ein romantisches Bild, das die Verliebtheit des Malers widerspiegelt. Die Heldin des Bildes heißt „Bice del Balzo“ und nahm in den Augen des verliebten Malers „irdische Gestalt in den weiblichen Formen der geliebten Luigia Bugatti an, die von nun an seine Bice wurde.“ Heiraten konnten sie nicht, da er nicht über die notwendigen Papiere verfügte.
1881 zog er mit Bice nach Pusiano in der Brianza, einer ländlichen, hügeligen Seenlandschaft zwischen Lecco und Mailand. Das Paar bekam dort zwei Söhne: Gottardo Guido (1882–1974), später selbst Maler und Biograf seines Vaters, und Alberto (1883–1904). Sein dritter Sohn Mario (März 1885–1916) und die Tochter Bianca (Mai 1886–1980) wurden später in Mailand geboren. Mario wurde ebenfalls Maler und Bianca brachte 1909 in Leipzig die Schriften und Briefe ihres Vaters in deutscher Sprache heraus. 1882 bezog die Familie Segantini einen Herrschaftssitz in Carella, wo Segantini den lombardischen Maler Emilio Longoni (1859–1932) kennenlernte, der eine Zeitlang im selben Haus lebte und arbeitete.
Segantini studierte ausführlich die „Natura morta“ und entwickelte in zahlreichen Stillleben eine naturnahe Malerei. Oft malte er Blumen, da sie für ihn die reine Schönheit der Natur verkörperten. Hier, am Lago di Pusiano, entstand 1882 die erste Fassung von Ave Maria auf der Überfahrt, welche zwei Jahre später an einer Ausstellung in Amsterdam ausgezeichnet werden sollte. Diese erste Fassung ist nicht mehr erhalten.
Am 20. Januar 1883 unterzeichneten Segantini und Grubicy einen Vertrag, worin Segantini seinen Mäzen und Händler ermächtigte, Bilder mit dem Monogramm „G.S.“ zu signieren, ihn in allen öffentlichen und privaten Belangen zu vertreten sowie über sein Schaffen und seinen Besitz zu verfügen.
1884 verließ Segantini mit seiner Familie Carella und zog nach Corneno. 1885 bis 1886 hielt er sich ein halbes Jahr in Caglio in der Lombardei, wenige Kilometer von Carella entfernt, auf. In einem seiner bedeutendsten Werke, An der Stange, einer großflächigen, lichtvollen und weiträumigen Komposition, fasste er die Erfahrungen in der Brianza zusammen. Das Bild stellte die bisherige Summe seiner malerischen Entwicklung dar und nahm etwas von seinem Triptychon Sein, Werden, Vergehen vorweg.
Savognin (1886–1894)
Der Landschaft überdrüssig, verließ Segantini 1886 die Brianza, zog für sechs Monate mit seiner Familie nach Mailand und führte Auftragsarbeiten für das lombardische Großbürgertum aus. Nach einem langen Ausflug über Como, Livigno, Poschiavo, Pontresina und Silvaplana ließ er sich in Savognin im Oberhalbstein im Haus „Peterelli“ nieder, wo er bis 1894 mit seiner Familie lebte. Motive aus dem Dorf- und Alpleben verarbeitete Segantini zu Bildern, in denen die bäuerlichen Menschen in die Landschaft einbezogen waren. Zahlreiche seiner großen Werke entstanden hier. So schuf er eine neue Fassung von Ave Maria bei der Überfahrt, bei der er zum ersten Mal mit der Technik des Divisionismus experimentierte. Auch eines seiner populärsten Bilder, Die beiden Mütter, entstand in Savognin. Das Werk Die Scholle von 1890 befindet sich heute in der Neuen Pinakothek in München.
In den Niederlanden, Belgien, Deutschland, später auch in Österreich, aber auch in Japan hatte er Berühmtheit erlangt und wurde von Max Liebermann und Ludwig Fulda besucht. Giovanni Giacometti und der junge Cuno Amiet, den er bei einem Sommerurlaub 1896 in Stampa bei Giacometti kennenlernte, erfuhren seine wohlwollende Förderung. Im Rahmen der Weltausstellung 1886 in London war Segantini bei der Italian Exhibition einer der bestvertretenen Künstler, wodurch seine internationale Präsenz bestätigt wurde. 1889 war er mit Werken in der italienischen Abteilung auf der Weltausstellung in Paris vertreten, und das Bild Kühe an der Tränke von 1888 wurde mit der Goldmedaille ausgezeichnet. In seinen Bildern begann er sich dem Symbolismus anzunähern. Die erste „Segantini-Retrospektive“ fand im Dezember 1891 in der Galerie Grubicy in Mailand statt. Segantini nahm Beziehungen zu den Händlern Ernst Arnold in Dresden, Eduard Schulte in Berlin und anderen auf, wodurch Alberto Grubicy das Exklusivrecht an seinen Werken verlor.
In vielen von Segantinis Werken ist Barbara Uffer dargestellt, Segantinis bevorzugtes Modell: unter anderem als trinkendes Mädchen am Brunnen in Bündnerin am Brunnen von 1887; als strickendes Mädchen auf einer Wiese in Strickendes Mädchen von 1888; als Schafhirtin unter strahlend blauem Himmel in Mittag in den Alpen von 1891 oder als Schlafende neben einem Zaun in Ruhe im Schatten aus dem Jahre 1892. Nachdem sich Segantini mit seiner Familie 1886 in Savognin niedergelassen hatte, trat die damals 13-jährige Barbara, genannt Baba, als Kinder- und Hausmädchen in den Dienst der Familie. Sie kümmerte sich um die vier Kinder Gottardo, Alberto, Mario und Bianca und besorgte die Zimmer. Zudem musste sie Segantini mit Malutensilien und Proviant begleiten, wenn er in der Landschaft arbeitete.
Als die Segantinis 1894 nach Maloja zogen, kam Baba mit ihnen. 1899 begleitete sie Segantini auf den Schafberg, wo er am Mittelteil des Triptychons arbeitete. Nach Segantinis Tod blieb sie noch fünf Jahre bei Bice und den Kindern, bis sie nach insgesamt 19 Jahren die Familie verließ.
Maloja (1894–1899)
Im August 1894 verließ die Familie Segantini Savognin, ließ sich in Maloja im Oberengadin nieder und bezog das vom Ingenieur der Gotthardbahn-Gesellschaft Alexander Kuoni aus Chur erbaute „Chalet Kuoni“; ein geräumiges Chalet unweit des Silsersees. Segantini trat mit den Kunsthändlern Bruno und Paul Cassirer sowie Felix Königs aus Berlin in Kontakt, von denen er vertreten wurde. Ab 1896 arbeitete Segantini im Sommer in Maloja und im Winter in Soglio im Bergell. Hier entstanden unter anderem Hochgebirgslandschaften in einer dem Neoimpressionismus verwandten Maltechnik. Bekannt ist vor allem das grandiose Alpentriptychon Werden – Sein – Vergehen, (La vita – La natura – La morte) bestehend aus den Teilen Das Leben, Die Natur und Der Tod. Das Leben entstand 1896 bis 1899 in der Nähe von Soglio, Die Natur 1897 bis 1899 auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina im Engadin und Der Tod 1896 bis 1899 beim Malojapass in Richtung Bergell. Das Triptychon hängt im Segantini Museum in St. Moritz.
Segantini hatte in der Zeit in Maloja einen regen Schriftwechsel mit den Dichtern Angelo Orvieto (1869–1967) und Domenico Tumiati (1847–1933); der Romanschriftstellerin Neera (Pseudonym für Anna Radius Zuccari, 1846–1918), die zu seinen ersten Biografen zählte, dem Mailänder Spätromantiker Gerolamo Rovetta, mit dem Librettisten Luigi Illica, dem divisionistischen Maler Giuseppe Pellizza da Volpedo und dem neapolitanischen Dichter Vittorio Pica (1866–1930). Letzterer machte von Paris aus den Impressionismus und den Symbolismus dem italienischen Publikum bekannt. Schließlich begann ein Austausch mit den Wiener Secessionisten, die in Segantini einen Wegbereiter sahen. Die Staatenlosigkeit bereitete Segantini große Schwierigkeiten. In Österreich hingegen, wo Kaiser Franz Joseph seine Werke bewunderte, wurde ihm ein gewisser Schutz gewährt.
Im Jahr 1897 kündigte Segantini vor einer Versammlung in Samedan ein Projekt an, welches von Engadiner Hoteliers finanziert werden sollte, jedoch nie zustande kam. Für die Weltausstellung in Paris im Frühjahr 1900 hatte er ein Panorama des Engadins vorgesehen. Es sollte ein Pavillon entstehen, der „ganz in der besten Tradition des Panoramas des 19. Jahrhunderts die Wiederherstellung der natürlichen Schönheiten des Engadins mittels eines bildnerischen und plastischen Illusionismus gezeigt hätte.“ Das Projekt sah eine kreisförmige Eisenarchitektur mit einer Gesamtfläche von 3850 Quadratmetern vor, welche die Landschaft und die Atmosphäre des schweizerischen Alpenlebens in einem 360°-Rundumblick darstellen sollte. Das Triptychon der Natur sollte darin integriert werden. Die hohen Kosten von einer Million Franc, die schon für die Miete hätten aufgebracht werden müssen, und die daraus resultierenden langen Verhandlungen, die bis ins Jahr 1900 geführt wurden, ließen das Projekt scheitern.
Für die Illustrierung einer Bibel, für die der Verlag „Geillustreerde Bijbel Uitgaven“ in Amsterdam ein Unternehmen gegründet hatte mit dem Ziel, die Bibel in mehreren Sprachen zu geringen Kosten herauszugeben, wurde bei zahlreichen europäisch anerkannten Künstlern um Beteiligung ersucht. Segantini lieferte im Jahr 1898 drei Zeichnungen ab. Das Unternehmen dauerte von 1896 bis 1903.
Seine Gedanken und künstlerischen Auffassungen legte er in zahlreichen Texten dar. Im November 1898 wurden Segantinis „Betrachtungen über die Kunst“ – seine Antwort auf eine Umfrage von Lew Tolstoi in einem Artikel in Le Figaro, in dem dieser an die Künstler die Frage richtete: „Was ist Kunst?“ – von der Zeitschrift der Wiener Secession Ver Sacrum veröffentlicht.
Auf Tolstois Frage „Qu’est-ce que l’art?“ antwortete Segantini zu Beginn in Was ist Kunst?: „Als ich den Schmerz der Eltern eines toten Kindes lindern wollte, malte ich den ‚Schmerz vom Glauben getröstet‘; um das Band zweier Liebenden zu weihen, malte ich die ‚Liebe am Lebensborn‘; um die volle Innigkeit der Mutterliebe fühlen zu lassen, malte ich ‚die Liebesfrucht‘, den ‚Lebensengel‘; als ich die schlechten Mütter strafen wollte und die eitlen und unfruchtbaren Wollüstigen, malte ich die ‚Strafe im Fegefeuer‘, und als ich endlich die Quelle aller Übel andeuten wollte, da malte ich die ‚Eitelkeit‘.“
Zum Ende antwortete er: „Leo Tolstoi stellt sich, als ob er nicht wüßte, was man unter Schönheit verstehe und was ihre Bedeutung sei. Er braucht ja nur eine Blume zu betrachten; sie würde ihm besser als irgendeine Begriffsbestimmung sagen, was die Schönheit ist. Er stellt sich auch, als ob er nicht wüßte, wo die Kunst anhebt. Sie beginnt, wo das Brutale, das Gekünstelte und Banale aufhören. Wenn ihr an einem Bauernhause vorbeigeht, an dessen Fenster liebevoll gehaltene Blumen prangen, da könnt ihr sicher sein, im Innern jenes Häuschens werden Ordnung und Reinlichkeit herrschen, und die Leute, die es bewohnen, werden nicht schlecht sein. Hier beginnt die Kunst mit ihren Wohltaten.“
Mitte September 1899 stieg Segantini mit Barbara Uffer und seinem Sohn Mario auf den Schafberg, um an dem schon fast fertiggestellten Sein zu arbeiten. Während des Sommers hatte er an Werden und Vergehen gearbeitet. Das große Triptychon der Natur sollte für die Weltausstellung in Paris fertig sein. Schon bald nach seiner Ankunft erkrankte er an Bauchschmerzen, Müdigkeit und Bewusstseinstrübungen, arbeitete jedoch unermüdlich weiter. Baba eilte hinab nach St. Moritz zu Oscar Bernhard, einem Arzt und Freund des Malers. Zusammen mit Segantinis Lebensgefährtin Bice, die aus Mailand herbeigeeilt war, stieg er auf den Berg, jedoch war eine Hilfe für den Kranken unmöglich.
Giovanni Segantini starb am 28. September im Alter von 41 Jahren in der später nach ihm benannten Hütte auf dem Schafberg, an einem Donnerstag, vierzig Minuten vor Mitternacht. Anwesend waren sein Sohn Mario, Dr. Oskar Bernhard und Bice. In Vorahnung seines kommenden Endes, aber auch in Vorausahnung seiner Anerkennung sagte er noch zu seiner niedergeschlagenen Frau: „Ich habe da unten eine große Menschenmenge gesehen, diese Menschen waren so klein, und ich, ich war so groß.“ Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Voglio vedere le mie montagne.“ (Ich will meine Berge sehen.) – ein letztes Bekenntnis zu seinen geliebten Bergen. Nach seinem Tod kam sein junger Freund Giovanni Giacometti ans Totenbett und malte den verehrten Künstler.
Am 1. Oktober 1899 wurde Segantini auf dem kleinen Friedhof von Maloja begraben, den er von 1895 bis 1896 im Glaubenstrost gemalt hatte. Bice starb am 13. September 1938 in St. Moritz, 39 Jahre später. Sie wurde neben Giovanni beigesetzt. Eine Tafel trägt die Aufschrift Da presso e da lunge in terra e in cielo uniti in vita e in morte ora e sempre (In der Nähe und der Ferne, auf der Erde und im Himmel, vereint im Leben und im Tod, jetzt und immer). Über ihren Gräbern steht die Inschrift Arte ed amore vincono il tempo (Kunst und Liebe besiegen die Zeit).
Neben Giovanni und Bice liegen die Gräber ihrer Söhne Mario, Gottardo und Alberto Segantini. Die Tochter Bianca wurde in Arco begraben, wohin sie nach ihrem Aufenthalt in Leipzig zurückgekehrt war.
In seinem 14 Tage nach dem Tod des Patienten verfassten ärztlichen Bericht legte sich Oscar Bernhard auf die Diagnose einer Blinddarmentzündung fest. Dass er den Kranken nicht operiert hatte, begründete er mit dessen allgemeiner Schwäche, der mangelhaften Beheizbarkeit des Raumes auf dem Schafberg und der Unmöglichkeit, ihn ins Tal zu transportieren. Die Symptome von Segantinis Erkrankung können jedoch auch auf eine Bleivergiftung hindeuten. Segantini verwendete bei seiner Malerei große Mengen an Bleiweiß. Messungen an dem Mantel, den Segantini bei der Arbeit trug, weisen eine Kontamination mit Blei an dessen Ärmeln nach.
Der Künstler
Mit der Übersiedlung nach der Brianza begann Segantinis eigentliche Laufbahn. Hier befasste er sich in seiner künstlerischen Ausdrucksform mit Jean-François Millet, der mit seinen Bildern wie dem von 1868 bis 1873 entstandenen Le printemps (Frühling) bereits Stilelemente des Impressionismus vorweggenommen hatte und erst in seinen späteren, ab 1865 entstandenen Landschaftsgemälden und Zeichnungen mit ihrem mystischen Licht in die Nähe des Symbolismus rückte. Segantini kannte das Werk des Franzosen nur aus Fotografien. Trotz der Verwandtschaft mit Millet unterscheidet sich bei genauem Vergleich jedoch das Werk der beiden Maler: Der ursprüngliche Ateliermaler Millet malte seine Landschaften düster, Segantini hingegen hell und in einem schonungslosen Licht. In einem Brief an den Dichter Tumiati vom 29. Mai 1898 schrieb Segantini dazu:
„Um meine Gefühlsbewegungen zu stärkerem Ausdruck zu bringen und auch das ganze Milieu meines Werkes durch die poetisch-malerischen Empfindungen meines Geistes beleben zu können, emanzipierte ich mich in der ersten Zeit von den kalten Modellen, ging abends in den Stunden des Sonnenuntergangs aus und nahm die Stimmung in mich auf, die ich am Tage der Leinwand mitteilte.“
Diese poetisch-verträumte Epoche fiel zeitlich zusammen mit seiner Befreiung aus dem seelisch einengenden Leben der Großstadt. Die Harmonie seiner bäuerlichen Umgebung, seine Verliebtheit in das Landleben und den eigenen jungen Haushalt trugen zu dieser künstlerischen Entwicklung bei und förderten ein Schaffen von innen heraus.
Der Mensch war bei Segantini von Anfang an in die Landschaft eingebettet und verschmolz mit ihr. Millet hatte den Bauern poetisiert, ihn romantisch-literarisch erhöht; bei Segantini bleiben die Hirten und Bauern einfach und ohne jedes Pathos. Millet entdeckte mit Gustave Courbet den Bauern als künstlerisches Thema, und die Wahl dieses Motivs war Ausdruck eines sozialethischen Programms. Millet erlebte den Bauern als Intellektueller, als Städter, von außen gesehen und als Kritiker des Städtedaseins. Trotz der äußeren Ähnlichkeit der Motive beider Künstler haben die von Segantini ein ganz anderes Wesen. Er spürte dies deutlich und drückte es zudem so aus. Er wolle einfach seine Modelle „[…] malen, ganz anders als Millet, glücklich, schön und zufrieden, kein Mitleid erweckend, sicher eher Neid, wenn man sie und ihr Leben kennen lernt, wie ich es getan.“
Im Kunstwart, einer deutschen Zeitschrift, die der Lebensreformbewegung nahestand, nahm Ferdinand Avenarius 1908 den Vergleich zu Millet auf und fasste sie in Feststellung zusammen: „Segantini erreicht an Wucht der Menschengestaltung Millet nicht annähernd, strebt aber auch gar nicht, ihn zu erreichen. Er gibt seinem Menschen mit Millet Größe, aber zum Alleinherrscher macht er ihn nicht. Das Große ist ihm in noch anderem Maße als Millet das Ganze, das Land, das mütterliche Land, oder, mit einem Abwandeln der Gefühlsbetonung, das ‚Leben‘.“ Im Widerspruch zu Segantinis Streben, die Größe von Natur- und Menschenleben ohne Pathos zu schildern, verfiel sein Sohn als Biograf oft in einen hymnischen Ton, wo es um die Darstellung der Größe des Künstlers geht:
„Ihm ist der Künstler ein Priester der hehren Schönheit des Erschaffenen, der im Dienste dieser erleuchteten Göttin sein Leben zu stellen und, wenn nötig, zu opfern hat.“
Segantini lebte in einer Zeit beschleunigter Industrialisierung, großer technischer Leistungen (Vollendung der Gotthardbahn 1882) und Fortschritte in der Naturwissenschaft. Wie viele Künstler sah er im Vordringen naturalistischer und materialistischer Denkweisen eine Gefahr für das Geistige, die Seele und das Ideal. Zum Verhältnis von Ideal und Natur sagte er: „Ein Ideal außerhalb des Natürlichen hat keine Lebenskraft von Dauer; aber eine Wirklichkeit ohne Ideal ist eine Wirklichkeit ohne Leben.“
In der Biografie über Segantini fragte sein Sohn Gottardo, ob Segantini Naturalist oder Idealist gewesen sei, und kam zum Schluss, dass er weder das eine noch das andere war. „Das ist kein Naturalist mehr, der sein Können im Wetteifer mit den Größten seiner Zeit durch ernstes ständiges Bemühen immer mehr vervollständigt hat, das ist ein großer Idealist.“ Die Natur belauschend wiederzugeben, nicht das „Sich-Vertiefen in groteske und interessante Sonderheiten, sondern das Festlegen der allgemeinen erkannten Schönheiten“, war die Grundrichtung seines Bemühens.
Segantini wollte nicht den Kritikern nachlaufen, nicht sogenannte Volkskunst hervorbringen. Seine Bilder waren keine Publikumsbilder. Sie erregten bei den schaffenden Malern Aufsehen, wurden jedenfalls dort anerkannt, wo sie in vorwärtsdrängende Kunstströmungen hineinpassten. Sie gewannen insofern eine Sonderstellung, als sie an verschiedenen Stellen dazu benutzt wurden, der althergebrachten malerischen Einstellung den Kampf anzusagen.
Wenn nach dem Tod des Künstlers seine Werke und sein Name rasch Ruhm erlangten und das Publikum seine Bilder zu den „Lieblingen ihrer Wahl“ machte, so kann man nicht den Schluss daraus ziehen, sie seien auch als Publikumsbilder gemalt worden.
Die Beurteilung von Segantinis Kunst war lange Zeit davon bestimmt, dass er in pointillistischer Technik malte. Für ihn selbst war die Technik aber nur Mittel zum Zweck. Er war vor allem Maler von landschaftlichen Träumen und ließ sich durch das Hochgebirge dazu inspirieren, diese Träume auf die Leinwand zu bringen. Obwohl Segantini, kunsthistorisch gesehen, mit seiner eigenen Technik des Pointillismus zu den Symbolisten gehört, war er in seiner Grundhaltung ein Expressionist und bediente sich realistischer Ausdrucksformen. So steht er, „bei aller Verschiedenheit der Mittel, Caspar David Friedrich nahe, den er freilich im Malerischen wie in der Urwüchsigkeit des Naturerlebnisses überragt.“
Das Alpentriptychon
Das für die Weltausstellung in Paris 1900 vorgesehene Panorama des Engadins konnte aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht werden. Segantini reduzierte die für das Panorama vorgesehene Alpensymphonie auf sieben Teile und begann mit den drei Mittelstücken. Nach Skizzen arbeitete er an den weiträumigen Bildern, auf denen Licht, Luft, Entfernung und Hintergrund den wahren Geist des Gebirges sichtbar machen sollten. Weil wegen Segantinis Tod die vorgesehenen vier weiteren Bilder Eigenliebe, Nächstenliebe, Die Arbeit und Die Lawine für die Alpensymphonie nicht fertiggestellt wurden, ist das Alpentriptychon als ein Fragment dessen zu sehen, was Segantini vorhatte: Ein Panorama des Engadins.
Panorama des EngadinsDie Kartons von Segantini aus den Jahren 1898–1899
Ursprünglich hießen die drei Gemälde Armonie della vita, La natura und Armonie della morte; die Titel La vita – La natura – La morte, sowie deren deutsche Übersetzung Leben – Natur – Tod, erhielten die drei Bilder erst nach Segantinis Tod. Anlässlich der „IX. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs“ in der Wiener Secession im Januar 1901 wurden die drei Bilder erneut umbenannt in Werden – Sein – Vergehen, womit das Werk zum heutigen Alpentriptychon wurde.
Armonia della morte wurde zuerst begonnen, aber immer wieder zurückgestellt. Armonie della vita entstand als zweites der drei Bilder und wurde im Herbst 1896 in Soglio begonnen. La natura – und damit meinte Segantini die Natur der Bergwelt – sollte „propagandistisch für St. Moritz als Auftraggeber des großen Werkes, eine gewaltige, damals sagte man ‚grandiose‘ Verherrlichung finden.“ Segantini fertigte eine große Zeichnung unter dem Titel Sein an, die als Vorführobjekt diente und die Auftraggeber von der Schönheit des Projekts überzeugte. Nach Abschluss des Vertrages zog Segantini die beiden Bilder Armonie della vita und Armonie della morte als Seitenstücke zu La natura heran.
Zum Triptychon zeichnete Segantini 1899 drei Kartons und ließ diese dem Präsidenten der Kunstkommission für die Weltausstellung zukommen. Ein von Segantini verfasster und von Grubicy ins Französische übersetzter Brief begleitete die Eingabe der Kartons und besagt, dass das Triptychon mitsamt den Lünetten eine Ausdehnung von zwölfeinhalb Metern Breite und fünfeinhalb Metern Höhe hätte einnehmen sollen.
Werden – La vita
Werden zeigt die Landschaft bei Soglio im Bergell auf dem Hochplateau Plan Luder in der untergehenden Sonne. Im Hintergrund sind links die Scioragruppe und rechts der Bondascagletscher erkennbar. Der Blick des Betrachters wird durch den absteigenden Weg zu Mutter und Kind gelenkt, dem eigentlichen Zentrum des Bildes. Die Mutter ist wie mit der Arve verwachsen und Segantini sagte, das Bild stelle „[…] das Leben aller Dinge dar, die ihre Wurzeln in der Mutter Natur haben.“ Die Äste des Baumes ragen in den Himmel. Sie stellen eine Verbindung zwischen Erde und Himmel dar, von dem der Blick über den Abhang des Berges rechts hinunter zu den beiden Frauen auf dem Weg gelenkt wird. Der Kreis schließt sich.
Der Karton zeigt die Lünette eine Allegorie der Kräfte, die Leben und Tod spenden. Vom Wind geblasen, ziehen mit dem Tod Wasser und Feuer, gleichwohl entsteht aus ihrer Zerstörungskraft neues Leben. Für die Medaillons rechts und links waren die Darstellungen von Eigenliebe und Nächstenliebe vorgesehen.
Sein – La natura
Sein entstand auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina. Der Betrachter blickt im letzten Tageslicht auf St. Moritz und die Oberengadiner Seen; im Hintergrund liegt die Berninagruppe. Die heimkehrenden Menschen und Tiere sind ruhig in den Kreislauf der Natur eingebunden. Entgegen den tatsächlichen Verhältnissen lässt Segantini den Vordergrund wie eine Hochebene erscheinen. Die Talsohle mit den Seen wölbt er nach oben, so dass sie flacher erscheint als sie tatsächlich ist. Durch den tief gelegten Horizont wird der Blick des Betrachters auf den Himmel fixiert.
Dessen außergewöhnliche Leuchtkraft erzielte Segantini, indem er den ganzen Himmel mit radial nach außen gerichteten feinen Strichen überzog. Im Bereich der Sonne verwendet er mehr Gelb, gegen außen immer mehr Hellblau und Weiß, wobei die Striche mit etwas Rot versetzt sind.
Die Lünette des Kartons zeigt St. Moritzer Häuser in einer Winterlandschaft, vom Mondlicht hell angestrahlt. Für die Medaillons rechts und links waren die Darstellungen von Alpenrose und Edelweiss vorgesehen, die Symbole für den alpinen Frühling und Sommer.
Vergehen – La morte
Das unvollendet gebliebene Vergehen zeigt eine winterliche Morgenlandschaft beim Malojapass, in der eine junge Tote aus einer Hütte getragen wird. Durch den Zaun und das Pferd wird der Blick hinauf zu den Wolken gelenkt: Die Tote hat das irdische Leben überwunden. Der mit Licht erfüllte Himmel zeigt Hoffnung und Trost.
In der Lünette des Kartons tragen zwei Engel die Seele der Toten in den christlichen Himmel, denn alles Vergehen findet eine Wiedergeburt im gläubigen Herzen. In den Medaillons rechts und links davon waren die Darstellungen von Die Arbeit und Die Lawine vorgesehen.
Il trittico della natura – Das Alpentriptychon La vita, 190 × 320 cm – La natura, 235 × 400 cm – La morte, 190 × 320 cm; Werden – Sein – Vergehen, 1898–1899, Öl auf Leinwand Segantini Museum, St. Moritz.
Gottardo Segantini über dieses Werk:
„Der Aufbau des ganzen Triptychons läßt an die Meisterwerke der Renaissance denken, in denen die Künstler nie müde werden, die verschiedenartigsten Gestaltungen zusammenzuzwingen, um einen religiösen Gedankengang vollständig zur Vergegenwärtigung zu bringen. Die Schönheit der drei großen Bilder […] läßt den Gedanken aufkommen, daß es diesem gottbegnadetem Künstler möglich gewesen wäre, auch gegen den damaligen und heutigen Geschmack im vollendeten Werk ein solches malerisches, künstlerisches, gedankliches Wunder zu schaffen, daß von diesem ‚Triptychon der Natur‘ eine neue Ära der Malerei ihren Anfang hätte nehmen können.“
Rezeption
Wirkung auf die Zeitgenossen
Im Ottocento, der italienischen Kunst des 19. Jahrhunderts, galt Segantini als universellster Maler. Kunsttheoretiker reihten ihn gleichbedeutend unter die Künstler Edvard Munch, Vincent van Gogh und James Ensor ein. Wassily Kandinsky verglich Segantini in seiner 1912 erschienenen einflussreichen kunsttheoretischen Schrift Über das Geistige in der Kunst mit Dante Gabriel Rossetti und Arnold Böcklin, wobei er hervorhob, dass Segantini, „dem auch die formellen Nachahmer eine nichtswürdige Schleppe bilden […] äußerlich der materiellste ist, weil er ganz fertige Naturformen nahm, die er manchmal ins kleinste durcharbeitete (z. B. Bergketten, auch Steine, Tiere usw.) und es verstand, trotz der sichtbar materiellen Form, abstrakte Gestalten zu schaffen, wodurch er innerlich vielleicht der unmateriellste dieser Reihe ist.“
Die Pariser Avantgarde fand jedoch keinen Zugang zu Segantini: sein Name und sein Werk gerieten schnell in Vergessenheit. Allzu sehr vereinfacht wurde damals die Geschichte der Malerei des 19. Jahrhunderts gelehrt, „indem man sie nämlich der französischen Avantgarde gleichgesetzt hat und nur den revolutionären bildnerischen Gestaltungsmitteln Bedeutung beigemessen hat. […] Diese Betrachtungsweise hat zur Folge, dass alle nicht direkt an diese vereinfachten Schematismen gebundenen Künstler oder Bewegungen nicht mehr zum kulturellen Allgemeinwissen gehören.“ Das kulturelle Milieu Frankreichs und Segantinis allzu „fremdes“ Werk stellte für die Franzosen somit keinen Anknüpfungspunkt dar, trotz des Einflusses der Gemälde von Millet.
Eine Ausnahme bildete hier nur der Florentiner Kreis, da dieser sich dem französischen Impressionismus bereits in den Jahren von 1875 bis 1880 geöffnet hatte. Das Ottocento wurde außerhalb der Landesgrenzen weitgehend ignoriert und angelsächsische und französische Historiker beharrten hartnäckig darauf, die italienische Kunst des 19. Jahrhunderts als, wie Alphonse de Lamartine es sagte, „terre des morts“ zu sehen. Zudem bescherte 1900 die verpasste Weltausstellung in Paris Segantini einen Popularitätsverlust; die Ausstellung seines Panoramas des Engadins hätte seinen Erfolg in Paris bestätigen können.
Schon zu Lebzeiten Segantinis, innerhalb der von 1868 bis 1912 dauernden Meiji-Zeit, machten sich die Japaner mit seinem Werk vertraut und sind ihm bis heute treu geblieben. Der italienische Maler Antonio Fontanesi (1818–1882), der vom japanischen Kaiser 1876 als O-yatoi gaikokujin nach Tokyo gerufen wurde, um für zwei Jahre als Lehrer für Freilichtmalerei an der ersten zur Kōgakuryō gehörenden abendländischen Akademie Kōbu Bijutsu gakkō zu unterrichten, verdankt „Japan die geistige Verarbeitung der europäischen Sichtweise und die Teilnahme an den bedeutenden internationalen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts.“ So ist Segantini heute unter anderem im Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokyo vertreten.
Die erste Gedenkausstellung für Segantini wurde am 26. November 1899 in Mailand eröffnet, zwei Monate nach seinem Tod.
Nachwirkungen im 20. Jahrhundert
Segantini wurde nur im Norden als „Phänomen“ wahrgenommen, südlich der Alpen verstand man ihn als Repräsentanten der in das 20. Jahrhundert aufbrechenden italienischen Malerei. Nördlich der Alpen galt er für viele Künstler als Schöpfer und Darsteller einer naturverbundenen Lebensform. Dass diese später zu einer rückwärtsgewandten Heimatkunst führte, kann man Segantini nicht anlasten.
Im Jahre 1903 fertigte Paul Klee die groteske und satirische Radierung Jungfrau im Baum an, die eine starke Affinität zu Segantinis Gemälde Die bösen Mütter aufweist und die eine der ersten, aus einer bis 1905 entstandenen Serie von zehn Radierungen ist, die Klee Inventionen nannte.
Den Musiker Anton Webern inspirierte 1905 das Alpentriptychon zu einem ersten Streichquartett. Webern hatte während seines musikwissenschaftlichen Studiums an der Universität Wien als Nebenfach Kunstgeschichte belegt und bei einem Aufenthalt in München im August 1902 das Gemälde Das Pflügen von 1890 in der Münchner Pinakothek gesehen. So schrieb er in sein Tagebuch: „Ich sehne mich nach einem Künstler in der Musik, wie’s Segantini in der Malerei war, das müsste eine Musik sein, die der Mann einsam fern alles Weltgetriebes, im Anblick der Gletscher, des ewigen Eises und Schnees, der finsteren Bergriesen schreibt, so müsste sie sein wie Segantinis Bilder.“ Im Sommer 1905 stellte er die Komposition für ein Streichquartett fertig, welches erst aus dem Nachlass des Komponisten bekannt wurde. Die Uraufführung fand am 26. Mai 1962 in Seattle durch „The University of Washington String Quartet“ statt. Werden, Sein und Vergehen waren der Komposition als Motto vorangestellt.
1932 drehte Leni Riefenstahl den Bergfilm Das blaue Licht und schrieb in ihren Memoiren: „Nun fehlten mir noch die Bauern, sie waren am schwierigsten zu finden. Ich wollte besondere Gesichter haben, herbe und strenge Typen, wie sie auf den Bildern von Segantini verewigt sind.“ Riefenstahl hatte diese Typen nicht gefunden, denn die „‚Wirklichkeit‘ Segantinis ist immer durch die künstlerische Herkunft, hier von Millet und Anton Mauve, gefiltert“
Die letzten Worte Segantinis „Voglio vedere le mie montagne“ machte 72 Jahre später der Bildhauer Joseph Beuys, der sich über die Weihnachtstage und über den Jahreswechsel 1969/70 gemeinsam mit seiner Ehefrau Eva und den beiden Kindern Jessyka und Wenzel im Hotel Waldhaus in Sils im Engadin aufhielt, zum Titel einer Rauminstallation im Van Abbemuseum in Eindhoven. Sie trägt den Titel Voglio vedere i miei montagne, 1971. Einem großen Schrank mit ovalem Spiegel auf der linken Seite steht rechts ein Bettgestell gegenüber. Zwischen Bett und Schrank stehen eine hohe, an einer Seite offene Transportkiste sowie eine niedrige Holztruhe, auf der ein Stück Mooreiche liegt und in deren Inneren sich ein gelbes Tuch und ein Knochen befinden. Auf einem mit Schwefel überzogenen Schemel ist ein mit Fett eingeschmierter Spiegel aufgestellt. Im Bett liegt eine Fotografie, die Beuys angezogen und mit Wanderstab in der Hand in ebendiesem Bett liegend zeigt. Neben dem Schrank, in Kopfhöhe, hängt ein Porträt von Beuys. „Hier neben diesem Schrank bin ich geboren worden: Da an der Seite. Von Zeit zu Zeit hat mich der Schrank unheimlich verfolgt. Ich hatte die ersten Träume neben diesem Schrank […]“ Jeder dieser Gegenstände ist mit Kreide bezeichnet. Auf dem Schrank steht das rätoromanische Wort „Vadrec [t]“ (Gletscher); auf der Holztruhe „Sciora“ (Felsen, Bergkette); auf der Rückseite des Spiegels „Cime“ (Berggipfel) sowie „Pennin“ und auf dem Bett „Walun“ (Tal). Der Kolben eines Gewehrs an der Wand trägt die Aufschrift „Denken“. Alle Gegenstände, Schrank, Transportkiste, Holztruhe, Schemel und Bett sind am Boden mit einer Kupferkonstruktion verbunden. Von der Decke, in der Mitte des triptychonartigen Halbrunds der Installation, hängt eine bis knapp auf den Boden hinabreichende runde Lampe, die ein rundes Filzstück hell beleuchtet.
„Wie die Berge Segantini des Kreislaufs von Werden und Vergehen versichern, so wird in der Installation [von Beuys] das zufällige Leben eine Notwendigkeit.“ Beuys durchbricht Segantinis schicksalhafte symbolische Vision. Für Beuys ist der Fluss des Kreislaufs form- und beeinflussbar.
Beuys hatte bei Segantini der „Ganzheitsanspruch angezogen, das Aufgehen von Mensch und Tier im Naturgeschehen, der zyklische Rhythmus von Leben und Vergehen. ‚Macht die Kunst zum Gottesdienst‘, hatte der Pantheist Segantini erklärt und gefordert, der neue Kult solle in der Natur, der Mutter des Lebens wurzeln, soll mit dem unsichtbaren Leben der Erde und des Weltalls in Verbindung stehen.“
1974 gab die britische Rock-Band Yes eine Kompilation zweier Alben mit dem Titel Yesterdays heraus. Vom Fantasy-Künstler Roger Dean entworfen, geht das Motiv der austauschbaren Vorderseite auf Giovanni Segantinis Bild Die Strafe der Wollüstigen von 1891 zurück. Die Vorderseite zeigt zwei verdorrte, in sich verschlungene Baumstämme an den Rändern links und rechts. Rechts oben steht das Yes-Logo und der Albumtitel. In der Bildmitte schwebt eine junge, unbekleidete Frau.
Der israelisch-schweizerische Komponist Yehoshua Lakner brachte 1999 sein „Segante“-Projekt über Giovanni Segantini zur Aufführung im Kuppelsaal des Hauptgebäudes der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, sowie in Mailand und in Bratislava.
Den italienischen Komponisten und Pianisten Ludovico Einaudi inspirierten die drei Gemälde Segantinis zum Alpentriptychon mit seinen Themen Natur, Leben und Tod 2007 zu Divenire, einer Suite für Klavier, zwei Harfen und Orchester.
„Sentiero Segantini“
Im Jahre 1994 (100 Jahre Segantini in Maloja) entstand auf Initiative der Basler Fotografen Dominik Labhard und Hans Galli ein Spaziergang, der so genannte „Sentiero Segantini“, der wichtige Stationen von Segantinis Schaffen in Maloja miteinander verbindet und mit Schautafeln dokumentiert. Der Weg beginnt bei der „Casa Segantini“, Segantinis Wohnhaus und Atelier, und endet bei der Kirche „Chiesa Bianca“, in der Segantini aufgebahrt und von Giovanni Giacometti gemalt wurde. Die Kirche ist heute im Besitz von Segantinis Enkelin Gioconda Leykauf, die das Gebäude mit Hilfe von Sponsoren vor dem Zerfall rettete und restaurieren ließ. Sie wird heute für Ausstellungen und Konzerte genutzt.
Von Segantinis Wohnhaus führt der Weg zu einer Gletschermühle, die Segantini für Die Eitelkeit verwendete, weiter zum Majensäss Blaunca nordöstlich von Maloja oberhalb des Silsersees. Hier zeigt eine Tafel Segantinis Bild Die beiden Mütter. Weiter geht es zum ehemaligen Standort der so genannten „Taverna americana“, einer Steinhütte, die Segantini im Bild Vergehen abbildete. Von der Stelle, an der das Vergehen aus dem Triptychon entstand, führt der Weg zur vorletzten Station des Weges, dem Friedhof von Maloja, wo Segantini das Bild Glaubenstrost malte.
Der Fernwanderweg „Senda Segantini“ verbindet die späten Brennpunkte der Arbeit des Malers. Er startet in Thusis und endet in Pontresina.
Schutzhütten
Nach Segantini sind mehrere Schutzhütten benannt: Die Chamanna Segantini oberhalb von Pontresina in der Languard-Gruppe, das Rifugio Giovanni Segantini (Rifugio Amola) 2371 m, mit dem Talort Pinzolo in der Presanellagruppe und die „Baita Segantini“ 2170 m, am Passo Costazza, in der Palagruppe in den Dolomiten.
Auszeichnungen (Auswahl)
1883: Goldmedaille für Ave Maria bei der Überfahrt, 1882 (1. Fassung); Weltausstellung Amsterdam.
1886: Goldmedaille für Ave Maria bei der Überfahrt, 1886 (2. Fassung); Weltausstellung in Amsterdam.
1886: Goldmedaille für An der Stange, 1886; Weltausstellung in Amsterdam.
1889: Goldmedaille für Kühe an der Tränke, 1888; Weltausstellung in Paris.
1892: Goldmedaille für Mittag in den Alpen, 1891; München.
1892: Goldmedaille für Das Pflügen, 1890; Nationale Ausstellung in Turin.
1895: Preis des italienischen Staates für Il Ritorno al paese natio, 1895; Internationale Kunstausstellung in Venedig (erworben 1901 von den Staatlichen Museen Berlin).
1896: Goldene Staatsmedaille für Die zwei Mütter, 1889; Vereinigung Bildender Künstler Österreichs.
1897: Große Goldplakette für Liebe am Brunnen des Lebens, 1896; Internationale Kunstausstellung Dresden.
Ausstellungen (Auswahl)
1891: Giovanni Segantini, Galleria Vittore ed Alberto Grubicy, Mailand.
1894: Esposizioni Riunite al Castello Sforzesco. Omaggio a Segantini, Castello Sforzesco, Mailand.
postum
1901–1902: IX. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs, Wiener Secession, Wien.
1904: Internationale Kunstausstellung, Kunstpalast, Düsseldorf.
1910: Exposition du Salon d’Automne, section italienne, Paris.
1912: Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler 1912, Am Aachener Tor, Köln.
1924: Modern Italian Paintings, Tate Gallery, London.
1926: XVI Biennale internazionale d’Arte, Expositione individuale di Giovanni Segantini, Venedig.
1930: Exhibition of Italian Art at Burlington House, Royal Academy of Arts, London.
1935: Giovanni Segantini, 1858–1899, Kunsthalle Basel, Basel.
1938: XXVI Biennale internazionale d’Arte, Venedig.
1964: Europäische Kunst um die Jahrhundertwende. Secession, Haus der Kunst, München.
1976/1977: Die Welt des Giovanni Segantini, Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich.
1976/1977: Segantini – ein verlorenes Paradies? Segantini – un paradiso perduto? Thearena-Rote Fabrik, ETH Zürich Zentrum & Hönggerberg, Zürich/ Gewerbeschulhaus Chur, Chur/ Handelhochschule St. Gallen, St. Gallen/ Kunstmuseum Glarus, Glarus/ Aargauer Kunsthaus, Aarau/ Museo della Citta, Milano/ Kunstverein München, München
1977: The Alps in Swiss Painting, Odakyu Grand Gallery, Tokio/ Bündner Kunstmuseum, Chur.
1990–1991: Giovanni Segantini, 1858–1899, Kunsthaus Zürich, Zürich/ Belvedere, Wien.
1997: Voglio vedere le mie montagne. Die Schwerkraft der Berge 1774–1997, Aargauer Kunsthaus, Aarau/ Kunsthalle Krems, Krems.
1999: Armonia della vita – Armonia della morte. Giovanni Segantini: Eine Retrospektive, Kunstmuseum St. Gallen, St. Gallen.
1999: Giovanni Segantini, 1858–1899. Ausstellung zum 100. Todestag, Segantini Museum St. Moritz, St. Moritz.
2011: Segantini, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
2011: (Gakka Giovanni Segantini-ten) Ausstellung der Sammlung der Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung, Tokyo
2013: Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus, Belvedere, Wien.
Werke
Insgesamt sind rund 450 Werke von Segantini bekannt.
Literatur
Primärliteratur
Wilhelm Kotzde (Vorw.): Giovanni Segantini. Hrsg. von der Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege, Mainzer Volks- und Jugendbücher, Josef Scholz, Mainz 1908 (Porträt & 17 Tafeln). Umschlag von Max Wulff.
Gottardo Segantini: Giovanni Segantini. Mit 16 mehrfarbigen und 48 einfarbigen Tafeln und 99 Bildern im Text. Rascher, Zürich 1949.
Franz Servaes: Giovanni Segantini. Sein Leben und sein Werk. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1907.
Beat Stutzer (Hrsg.): Giovanni Segantini. Im Dialog mit Symbolismus und Futurismus, Ferdinand Hodler und Joseph Beuys. Mit Beiträgen von Oskar Bätschmann, Matthias Fischer, Paul Müller, Eva Mongi-Vollmer und Beat Stutzer. Segantini Museum, St. Moritz; Scheidegger & Spiess, Zürich 2014, ISBN 978-3-85881-439-5.
Luigi Villari: Giovanni Segantini. The story of his life together with seventy five reproductions of his pictures in half tone and photogravure. T. Fisher Unwin, London 1901.
Hans Zbinden: Giovanni Segantini. Leben und Werk. Verlag Paul Haupt, Bern 1964.
Bianca Zehder-Segantini (Hrsg. u. Bearb.): Giovanni Segantinis Schriften und Briefe. Zürich: Rascher Verlag, 1934.
Sekundärliteratur
Karl Abraham: Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch. (= Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 11), F. Deuticke, Leipzig/Wien, 1911/1925 (Volltext in der Bibliotheca Augustana, Digitalisat im Internet Archive).
Heinz P. Adamek: Giovanni Segantini (1858-1899), Wegbereiter der Moderne – vergessener Österreicher. In: "Kunstakkorde – diagonal. Essays zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft". Wien: Böhlau 2016, ISBN 978-3-205-20250-9, S. 18–31.
Reto Bonifazi, Daniela Hardmeier, Medea Hoch: Segantini. Ein Leben in Bildern. Werd, Zürich 1999, ISBN 3-85932-280-X.
Gian Casper Bott: Giovanni Segantini. Lehrmittelverlag Kanton Graubünden, 1999.
R. Eschmann: Todeserfahrung im Werk von Giovanni Segantini. V & R unipress, Göttingen 2016.
Alice Gurschner (Paul Althof):
Herta E. Harsch: Die Frucht der Liebe von Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Beitrag. In: Museum der bildenden Künste Leipzig, Jb. 08/09, Leipzig 2010, S. 64–77.
Herta E. Harsch: Noch einmal Abraham und Segantini: Über eine Fehlleistung Abrahams. In: Luzifer-Amor, Heft 61 (21. Jg.), Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 2018 S. 24–39.
Emil Heilbut: Giovanni Segantini. In: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. Verlag von Bruno Cassirer, Berlin 1903, Jg. 1, S. 47–58.
Annie-Paule Quinsac: Segantini: Catologo Generale. Mondadori Electa, Mailand 1982, ISBN 88-435-0731-1 (italienisch).
Beat Stutzer: Blicke ins Licht. Neue Betrachtungen zum Werk von Giovanni Segantini. Scheidegger & Spiess, Zürich 2004, ISBN 3-85881-159-9.
Michael Krüger: Über Gemälde von Giovanni Segantini. MIt 47 farbigen Bildtafeln. Schirmer/Mosel, München 2022, ISBN 978-3-8296-0951-7.
Beat Stutzer, Gioconda Leykauf-Segantini: Segantini. Bildband. Montabella 1999, ISBN 3-907067-02-9 (mehrsprachig).
Bernhard Wiebel: Zensur und Realisierung der Ausstellung »Segantini – ein verlorenes Paradies?« / »Segantini – un paradiso perduto?« Kritische Kunstwissenschaft um 1975. In: Martin Papenbrock, Norbert Schneider (Hrsg.): Kunstgeschichte nach 1968. V&R unipress, Göttingen 2010, ISBN 978-3-89971-617-7, S. 125–142 (Buchvorschau bei Google Books).
Ausstellungskataloge
Felix Baumann, Guido Magnaguagno (Vorw.): Giovanni Segantini. 1858–1899. Kunsthaus Zürich, 1990 (9. November 1990 bis 3. Februar 1991).
Emil Bosshard, Hansjakob Diggelmann, Therese Fischer u. a. (Bearb.): Die Welt des Giovanni Segantini – Eine Ausstellung von Texten und Bildern. Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich, 1976/1977.
Irma Noseda, Bernhard Wiebel (Kuratoren): Segantini – ein verlorenes Paradies? Segantini – un paradiso perduto? Hrsg. Gewerkschaft Kultur Erziehung und Wissenschaft GKEW Zürich, Zürich 1976, ISBN 3-7183-0001-X (deutsch und italienisch).
Dieter Ronte, Oswald Oberhuber (Vorw.): Giovanni Segantini. 1858–1899. Wien 1981 (Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 10. Juli bis 23. August 1981 und Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, 3. September bis 4. Oktober 1981).
Beat Stutzer, Roland Wäspe (Hrsg.): Giovanni Segantini. Gerd Hatje, Ostfildern 1999 (Kunstmuseum St. Gallen, 13. März bis 30. Mai 1999; Segantini Museum, St. Moritz, 12. Juni bis 20. Oktober 1999), ISBN 3-7757-0561-9.
Diana Segantini, Guido Magnaguagno, Ulf Küster (Kuratoren): Segantini. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 16. Januar bis 25. April 2011, ISBN 978-3-905632-86-6.
Belletristik
Raffaele Calzini: Segantini. Roman der Berge. Schünemann 1939.
Asta Scheib: Das Schönste, was ich sah. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, ISBN 978-3-455-40196-7.
Catalin Dorian Florescu: Die Augen der Alten. in: Der Nabel der Welt. Erzählungen. C.H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-71251-7.
Filme
Giovanni Segantini – Leben und Werk. (Alternativtitel: Giovanni Segantini – Life and Work., Giovanni Segantini – Sa vie et son oeuvre, Giovanni Segantini – La vita e l'opera, Giovanni Segantini – Vida y obra) Dokumentarfilm, Schweiz, 1990, 45 Min., Buch und Regie: Gaudenz Meili, Kommentar: Guido Magnaguagno, Sprecher: Wolfgang Reichmann, Dinah Hinz, Ingold Wildenauer, Die Uraufführung erfolgte am 9. November 1990 im Kunsthaus Zürich, Inhaltsangabe von Gaudenz Meili, Filmszenen und Vorschau von The Roland Collection.
Giovanni Segantini – Strolch und Star. Dokumentarfilm, (1. Teil), Schweiz, 2013, 30 Min., Buch und Regie: Beat Rauch, Produktion: NZZ, Reihe: NZZ Format, Erstsendung: 17. Oktober 2013, Inhaltsangabe und Vorschau von NZZ.
Giovanni Segantini – Licht und Landschaft. Dokumentarfilm, (2. Teil), Schweiz, 2013, 29:30 Min., Buch und Regie: Beat Rauch, Produktion: NZZ, Reihe: NZZ Format, Inhaltsangabe und Vorschau von NZZ.
Giovanni Segantini – Magie des Lichts. (Alternativtitel: Giovanni Segantini – Magia della luce.) Dokumentarfilm, Schweiz, 2015, 81:46 Min., Buch und Regie: Christian Labhart, Sprecher: Bruno Ganz, Mona Petri, Produktion: SRF SRG, Kinostart (Schweiz): 11. Juni 2015, Inhaltsangabe, Filmszenen und Vorschau von movies.ch, Besprechung in outnow.ch.
Weblinks
Umfassende Internetinformation über Giovanni Segantini – segantini.com
Ausstellungen
Segantini Museum St. Moritz
Biografien
Biografie von Giovanni Segantini bei cosmopolis.ch, September 1999
Anmerkungen und Einzelnachweise
Soweit nicht anders vermerkt, basiert der Hauptartikel auf der biografischen Zusammenstellung von Annie-Paule Quinsac zum Leben Segantinis in: Giovanni Segantini. 1858–1899. Kunsthaus Zürich 1990, S. 225 ff.
Maler des Symbolismus
Maler (Italien)
Maler (Schweiz)
Teilnehmer einer Biennale di Venezia
Philosoph (19. Jahrhundert)
Person (Kaisertum Österreich)
Person (Kanton Graubünden)
Staatenloser
Geboren 1858
Gestorben 1899
Mann |
185827 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kleinmachnow | Kleinmachnow | Kleinmachnow ist eine Gemeinde mit gut 20.000 Einwohnern im Landkreis Potsdam-Mittelmark in Brandenburg. Sie liegt südwestlich von Berlin und östlich von Potsdam.
Erstmals im Landbuch Karls IV. von 1375 erwähnt, spielte der Ort eine wichtige Rolle am Bäkeübergang, den verschiedene mittelalterliche Burgen sicherten. Die letzte dieser sämtlich nicht erhaltenen Burgen gehörte den Rittern von Hake, deren Familie bis in das 20. Jahrhundert die Ortsgeschichte prägte. Der Ersatz der Bäke durch den Teltowkanal im Jahr 1906 bescherte dem Dorf die heute denkmalgeschützte Schleuse Kleinmachnow.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs Kleinmachnow vom ländlichen Gutsdorf zur Vorortgemeinde der Agglomeration Berlin. Durch den Bau der Berliner Mauer 1961 wurde Kleinmachnow von West-Berlin abgeschnitten und lag innerhalb der DDR, aufgrund der Nähe zur Grenze in relativer Abgeschiedenheit. Seit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 partizipiert Kleinmachnow stark am Bevölkerungswachstum des Berliner Umlands.
Geografie
Geografische Lage
Das Gemeindegebiet Kleinmachnow wird im Süden in weiten Teilen vom Teltowkanal begrenzt, nur entlang des Machnower Sees und östlich des Sees im Bereich des historischen Ortskerns ragt das Gemeindegebiet über den Teltowkanal nach Süden hinaus. Nach Norden, Westen und Osten liegt in einer Art Einbuchtung des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf die Stadtgrenze zu Berlin. Zu Zeiten der Berliner Mauer war der Ort nur von Teltow und Stahnsdorf über drei Brücken (Schleusen-, Friedens- und Rammrathbrücke) über den Teltowkanal erreichbar, ab 1990 wieder von Berlin-Zehlendorf. Seit 1996 existiert ein eigener Autobahnanschluss an die Bundesautobahn 115 im Westen des Ortes. Die Entfernung von Kleinmachnow zur Potsdamer Innenstadt beträgt zirka 16 Kilometer, die nach Berlin-Mitte zirka 17 Kilometer.
Nachbargemeinden sind im Uhrzeigersinn, von Norden beginnend: Berlin, Teltow und Stahnsdorf.
Geologie
Kleinmachnow liegt auf der Grundmoränenhochfläche Teltow, die den südwestlichen Teil Berlins und den angrenzenden Teil Brandenburgs einnimmt. Die Grundmoräne entstand in der jüngsten, der Weichsel-Eiszeit vor zirka 21.000 Jahren. Im Bäketal formten die Wasserströme ein besonders bewegtes Relief mit kleinräumigen Hügelketten aus Geschiebemergel und Schmelzwasserrinnen, die heute mit Pfuhlen und Tümpeln durchsetzt sind. Diese aus geologischer Sicht verhältnismäßig lockere Ablagerung erleichterte den Bau des Teltowkanals zwischen dem Seeberg und dem Weinberg erheblich. Die höchste Erhebung im Gemeindegebiet ist der Seeberg mit 65 Meter über NN.
Der Buschgraben ist eine schmale eiszeitliche Schmelzwasserrinne am südwestlichen Rand von Berlin. Der südliche Teil verläuft in nord-südlicher Richtung zwischen Berlin-Zehlendorf und Kleinmachnow und mündet nordwestlich von Teltow in den Teltowkanal.
In Kleinmachnow gibt es eine Reihe von Kleingewässern, die aus Toteislöchern entstanden sind. Um den Meiereipfuhl im Bannwald gab es ehemals fünf Teiche. Der Duellpfuhl an der Ginsterheide, der Pferdepfuhl und der Pfuhl am Jägerstieg/Ecke Wolfswerder gehören dazu. Die Kleingewässer werden heute als Auffangbecken für das Oberflächenwasser der Straßenentwässerung genutzt.
Gemeindegliederung
Zu Kleinmachnow gehören die Wohnplätze Dreilinden und Neubauernsiedlung.
Geschichte
Frühgeschichte und Mittelalter
Wie große Teile der geologisch jungen Oberfläche der Mark Brandenburg war das Bäketal weitgehend versumpft, aber dennoch wie viele Flusstäler bevorzugter Siedlungsraum. Nachdem im Zuge der Völkerwanderungen im 4. und 5. Jahrhundert die Sueben ihre Heimat an Havel und Spree verlassen hatten, zogen im späten 7. und 8. Jahrhundert slawische Stämme in den vermutlich weitgehend siedlungsleeren Raum ein. Der Namensbestandteil Machnow geht auf die Slawen zurück, die bis zum 12. Jahrhundert im Teltow siedelten. Machnov bezeichnet einen Ort, der in einer moosreichen Gegend angelegt wurde. Die sumpfige Senke wurde durch die Bäke gebildet. Den Zusatz „klein“ erhielt Machnow zur Unterscheidung gleichnamiger Orte.
Im Zuge des Landesausbaus der 1157 durch Albrecht den Bären gegründeten Mark Brandenburg sicherten die askanischen Markgrafen den damals einzigen Bäkeübergang mit einer Burg. Der askanischen Burg, bei der es sich möglicherweise um einen Holzbau handelte, folgte an der gleichen Stelle die spätmittelalterliche Burg Machnow, die zusammen mit dem Gut Kleinmachnow über Jahrhunderte im Besitz der Familie von Hake blieb. Noch bis 1470 bestand lediglich dieser eine Übergang im ausgedehnten Bäke-Sumpfgebiet. Der Knüppeldamm lag an der mittelalterlichen Burg und bildete einen strategisch wichtigen Punkt auf der Handelsstraße Leipzig-Saarmund-Spandau. Erst als die brandenburgischen Kurfürsten 1470 ihre Residenz von Spandau nach Berlin verlegten, kamen zwei weitere Bäke-Übergänge hinzu. Die erste urkundliche Erwähnung fand Kleinmachnow 1375 im Landbuch Karls IV. unter der Bezeichnung Parva Machenow (Parva = klein).
Damals waren die Familie von Löwenberg und der Münzmeister Thile Brügge Eigentümer des kleinen märkischen Dorfes, nach diesen die Familie von Quast. Um 1435 ging der Lehnsbesitz der Güter Kleinmachnow und Stahnsdorf an die Familie von Hake über, nach deren berühmtestem Spross, dem „langen Hacke“ des Soldatenkönigs, General Hans Christoph Friedrich von Hacke (1699–1754), der Hackesche Markt in Berlin-Mitte benannt ist. Rechts von der Kleinmachnower Dorfstraße befand sich, hinter dem Medusenportal, der Gutshof mit der alten Burg, von der nur noch Reste der Grundmauern erhalten sind. Unmittelbar neben der Burg Machnow ließen die Hakes 1803 durch David Gilly ein neues Herrenhaus im klassizistischen Barockstil erbauen, das einen reich ausgestatteten Festsaal hatte sowie Räume mit Pariser Tapeten, ähnlich den Gilly’schen Schlössern Paretz und Freienwalde. 1943 sind sowohl das Gilly’sche Herrenhaus wie auch die Alte Hakeburg ausgebrannt und wurden 1950 abgerissen.
Nach einer Besitzteilung ließ Dietloff von Hake im Jahr 1908 auf dem Seeberg am gegenüberliegenden Nordufer des Machnower Sees die sogenannte Neue Hakeburg durch Bodo Ebhardt errichten. Sie blieb bis 1936, das Hauptgut bis zur Enteignung 1945, in der Familie. Als einziges der Machnower Herrensitze steht sie noch.
Siehe auch: Gutshof Machnow und Geschichte Kleinmachnows.
Neuzeit bis 1945
Die amtliche Schreibweise der Gemeinde lautete 1816 Klein Machnow und 1828 Klein-Machnow. Um 1880 bestätigte das Generaladressbuch der Rittergutsbesitzer als amtliche Statistik die damaligen Gebrüder von Hake eine Gutsgröße von 1109 ha Gesamtbesitz. Letzte Gutsbesitzer waren neben Dietloff von Hake (1870–1941) dann auch unter anderem seine Vettern George Erdmann von Hake, sowie dessen Sohn Joachim von Hake, und als Teilhaber der Anverwandte Hans von Zimmermann. Kurz vor der großen Wirtschaftskrise umfasste das Rittergut Kleinmachnow nach der letzten amtlich publizierten Ausgabe des Brandenburgischen Güter-Adressbuch nur noch ganze 270 ha. Das Gut blieb bis 1945 im Besitz der Familie von Hake, die jedoch durch die Aufsiedlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Teile ihres Gutslandes als Bauland verkaufte. Das Dorf südlich des Machnower Sees war ein Ensemble aus der heute nicht mehr vorhandenen Alten Hakeburg, einem gleichfalls abgetragenen Schloss beziehungsweise Herrenhaus, dem heute denkmalgeschützten Medusenportal, der Kleinmachnower Dorfkirche, der Bäkemühle und einigen Wohnhäusern. 1906 bis 1908 wurde auf dem nördlich des Machnower Sees gelegenen Seeberg die Neue Hakeburg gebaut.
Der Bau des Teltowkanals von 1901 bis 1906 und der Schleuse Kleinmachnow stellte den Wendepunkt in der Entwicklung des Dorfes dar. Die Schleuse galt als große Attraktion und lockte an den Wochenenden viele Berliner Ausflügler in die nahe gelegenen Wirtshäuser. Nachdem sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Stadt Berlin rapide ausdehnte, rückte Kleinmachnow in das Blickfeld von Erschließungsgesellschaften. Zwischen 1906 und 1910 entstand die Alte Zehlendorfer Villenkolonie. Der Erste Weltkrieg trieb die Baugesellschaften in die Liquidation.
Wegen der guten Bahnverbindung des Bahnhofs Dreilinden zur Berliner Innenstadt, damals Kreuzungspunkt der 1838 eingeweihten Stammbahn mit der 1913 eröffneten Friedhofsbahn, siedelten Berliner in der Nähe des Bahnhofs. Die Kolonie Dreilinden entstand, die später zum Ortsteil von Kleinmachnow werden sollte.
Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre wurde Kleinmachnow in westlicher Richtung erschlossen. Im Gegensatz zur Villenkolonie lag der Schwerpunkt jetzt auf dem erschwinglichen Land- und Hauserwerb für mittelständische Familien. Der Bauunternehmer Adolf Sommerfeld erschloss neue Siedlungsgebiete durch standardisierte Einfamilienhäuser in nahezu industrieller Bauweise. Noch heute prägen diese Häuser in der Bürgerhaussiedlung große Teile des Kleinmachnower Erscheinungsbildes. Sommerfeld plante auch einen U-Bahn-Anschluss seiner Siedlung und weiter bis zur Machnower Schleuse. Er hatte schon die heutige U-Bahn Linie 3 bis Krumme Lanke politisch und finanziell vorangetrieben und wollte den Weiterbau bei der BVG durchsetzen, wurde aber aufgrund seiner jüdischen Herkunft gezwungen, Deutschland 1933 zu verlassen. Bis heute ist die Trassenfreihaltung für den geplanten U-Bahnbau an der Karl-Marx-Straße und der Straße Hohe Kiefer gut zu erkennen.
Die Familie von Hake verkaufte 1937 aus Geldnöten die Hakeburg an die Reichspost. Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge machte aus der Burg seine Privatresidenz. Ohnesorge war seit Hitlers Machtübernahme im Jahr 1933 Staatssekretär, mit der Mitgliedsnummer 42 „alter Kämpfer“ der NSDAP und Träger des Goldenen Parteiabzeichens. Er errichtete eine Forschungsanstalt, die sich mit kriegswichtigen Themen befasste.
Der Rüstungsbetrieb Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG), eine 1935 geschaffene hundertprozentige Tochter von Bosch, stellte u. a. Einspritzpumpen und andere Flugmotorenteile für die Daimler-Benz Motoren GmbH im benachbarten Genshagen her. Auf dem DLMG-Gelände befand sich das KZ-Außenlager Kleinmachnow, in dem bis zu 5000 Menschen gearbeitet haben, davon etwa 2700 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Etwa 800 Polen wurden während des Warschauer Aufstandes von 1944 verhaftet und in das Lager überstellt. Gegen Kriegsende wurden alle Häftlinge in das KZ Sachsenhausen verlegt und von dort aus auf den berüchtigten Todesmarsch getrieben. Eine Gedenkstätte erinnert an das Arbeitslager und die Geschichte des Ortes.
Im Zweiten Weltkrieg fielen im Frühjahr 1943 erste Bomben auf Kleinmachnow. Während 1943 Bombenangriffe den Gutshof, die alte Hakeburg und größte Teile des alten Dorfkerns zerstörten, blieben die Schleuse und die neue Hakeburg fast unversehrt.
Teilung und DDR-Zeit
Im Juni 1946 wurde die Reichspost enteignet und die SED neuer Eigentümer der Hakeburg. Zwischen 1948 und 1954 befand sich auf dem Gelände der Sitz der Parteihochschule „Karl Marx“ der SED. Die Hakeburg entwickelte sich zum ideologischen Zentrum der DDR. 1973/74 richtete das ZK der SED in der Hakeburg zusätzlich eine zentrale Sonderschule ein. Schwerpunkt war die Weiterbildung leitender Kader für Agitation, Propaganda und Kultur und die Qualifizierung von Parteischullehrern. 1979 wurde die Hakeburg neu eingerichtet und 1980 zu einem Gästehaus für Staatsgäste umfunktioniert.
Im September 1952 verfügte das DDR-Regime wegen der Grenznähe erhebliche Verkehrsbeschränkungen und reduzierte den Übergang nach West-Berlin über den Grenzübergang Düppel massiv. Dagegen protestierten am 30. Oktober rund 2000 Kleinmachnower in einer Gemeindeversammlung. In einer Resolution von Bürgern an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl wurde die Zurücknahme der Maßnahmen und die Benennung der Verantwortlichen gefordert. Auf Weisung der SED wurden neun der Unterzeichner angeklagt und in einem politischen Schauprozess als „Schädlinge und Saboteure“ zu insgesamt 46 Jahren Zuchthaus verurteilt, ihr Vermögen wurde enteignet.
Das autoritäre Regime in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR vor dem Hintergrund des Kalten Krieges führte bis 1961 zu einem erheblichen Bevölkerungsverlust durch Flucht.
Nach dem Mauerbau 1961 bildete der größere Teil der Kleinmachnower Gemarkungsgrenze die Grenze nach West-Berlin; deswegen durften nur linientreue Parteigenossen nach Kleinmachnow ziehen, von denen das Regime annahm, dass sie keine Flucht aus der DDR planten, und die Wohnbebauung an der Grenze war nur unter strenger Zugangsbeschränkung erreichbar. Mit dem Mauerbau wurde Dreilinden von Berlin-Wannsee abgetrennt und Ortsteil von Kleinmachnow. Im Jahr 1969 wurde die ursprüngliche Streckenführung der 1940 gebauten Autobahn wegen des Grenzverlaufs neu trassiert.
Auf der heutigen Gemarkung Dreilinden befand sich enklavenähnlich, militärisch gesichert, die Grenzübergangsstelle Drewitz und auf der heutigen Autobahn 115 der Alliierten-Übergang Checkpoint Bravo zwischen West-Berlin und der DDR. In Kleinmachnow war das Grenzregiment 42 „Fritz Perlitz“ stationiert, das über Jahrzehnte zahlreiche Menschen gewaltsam am Grenzübertritt hinderte. Bei dem Versuch, von der DDR oder Ost-Berlin über die Mauer nach West-Berlin zu gelangen, verloren bis zum Fall der Mauer 1989 über 120 Menschen ihr Leben. Darunter befanden sich vier Kleinmachnower Maueropfer. Am Adam-Kuckhoff-Platz, dem heutigen Wochenmarkt, erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der deutschen Teilung.
Nach 1990
1990 standen mehr als die Hälfte der Wohnungen und Grundstücke unter staatlicher Zwangsverwaltung, was in der DDR bei sogenannten Westgrundstücken der Regelfall war. Die Auseinandersetzungen zwischen den Eigentümern, die, dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung folgend, die Rechte an ihren Grundstücken und Häusern nun wieder ausüben konnten, und den Mietern, machten Anfang der 1990er Jahre viele Schlagzeilen. Schon 1990 wurde denn auch in Kleinmachnow der erste Mieterbund in Brandenburg und die Bürgerbewegung und Partei Kleinmachnower Bürger gegen Vertreibung gegründet, die 1994 bei Wahlen 25 Prozent der Stimmen erhielt. Die Erschließung eines Baugebietes südlich des Stolper Wegs und die vergünstigte Abgabe des Baulandes an Alt-Kleinmachnower entschärfte die aufgeheizte Atmosphäre.
Ab Mitte der neunziger Jahre eröffneten verteilt über den Ort zahlreiche neue Geschäfte: 1993 das Fuchsbau-Eck; 1995 der Neubaukomplex am Uhlenhorst; 1996 der Wochenmarkt auf dem Adam-Kuckhoff-Platz, dem einstigen Kontrollpunkt Düppel; 1997 der Wohn- und Geschäftskomplex am OdF-Platz und 2002 neue Geschäfte am Meiereifeld/Thomas-Müntzer-Damm. Durch den Bau eines neuen Rathauses mit Wohn- und Geschäftsbebauung an der Förster-Funke-Allee entstand im April 2004 der Rathausmarkt welcher ein neuer Ortsmittelpunkt und ein Zeichen für den Willen am modernen Bau ist. Der Bodenrichtwert lag Anfang 2013 zwischen 210 und 300 Euro je Quadratmeter. Kleinmachnow ist geprägt durch den hohen Anteil von zirka 75 Prozent Einfamilienhäusern und 16 Prozent Zweifamilienhäusern.
Über die Eigentumsverhältnisse von rund 1.000 Grundstücken in der Sommerfeld-Siedlung wird seit 1997 ein Rechtsstreit geführt, der einer der größten vermögensrechtlichen Fälle in Deutschland ist. 1927 gründete Adolf Sommerfeld, ein jüdischer Bauunternehmer, eine Siedlungsgesellschaft. Im April 1933 flüchtete er wegen eines Überfalls von Nationalsozialisten aus Deutschland, seine Firma wurde „arisiert“. Gegen die Rückgabe des Betriebes 1950 ohne die Grundstücke klagte die Jewish Claims Conference und verkaufte später wegen vermeintlich geringer Erfolgschancen die Ansprüche an den Berliner Rechtsanwalt Christian Meyer. Dieser führte mehrere Gerichtsverfahren und konnte in Einzelfällen eine Rückübertragung oder außergerichtliche Einigungen erreichen. Es soll sich um Immobilien im Verkehrswert von rund 45 Millionen Euro handeln. Das Bundesverwaltungsgericht hat 2006 in einem Fall Revision gegen ein Verwaltungsgerichtsurteil zugelassen, in einem anderen Fall nicht. Im Jahr 2007 lehnte das Bundesverwaltungsgericht eine Rückübertragung ab, weil die späteren Besitzer die Häuser nicht von der Privatperson Sommerfeld, sondern vom Siedlungsunternehmen zu einem üblichen Preis gekauft hatten. Eine beim Bundesverfassungsgericht geführte Verfassungsbeschwerde wurde im September 2009 nicht zur Entscheidung angenommen.
Bevölkerungsentwicklung
Bis zum Ersten Weltkrieg blieb der Charakter eines Gutsdorfes vor den Toren Berlins weitgehend erhalten. Die Bevölkerungszahl lag unterhalb von 450 Einwohnern. Durch die Besiedlung in Dreilinden und im Nordosten sowie insbesondere infolge der Errichtung der Bürgerhaussiedlung durch Adolf Sommerfeld im Nordwesten stieg die Bevölkerungszahl sprunghaft von 944 Einwohnern im Jahr 1926 auf 5.900 im Jahr 1935 und auf 12.565 im Jahr 1939 an.
Der erhebliche Bevölkerungsverlust durch Flucht in die Bundesrepublik bis 1961 wurde durch den Zuzug neuer Bürger ausgeglichen. Nach der Wiedervereinigung hielt sich die Bevölkerungszahl bis 1995 auf konstantem Niveau. Aufgrund der verstärkten Klärung von Rückgabeansprüchen von Alt-Eigentümern und der attraktiven Lage von Kleinmachnow kam es ab Mitte der neunziger Jahre bis heute fast zu einer Verdopplung der Einwohnerzahl.
Gebietsstand des jeweiligen Jahres, Einwohnerzahl: Stand 31. Dezember (ab 1991) ab 2011 auf Basis des Zensus 2011
Religion
1539 führte der Kurfürst von Brandenburg Joachim II. die Reformation ein. Danach war Brandenburg über Jahrhunderte eine überwiegend protestantisch geprägte Region. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis neben der reformierten Kirche. Die Familie von Hake hatte sich 1539 noch vor dem Kurfürsten vom katholischen Glauben losgesagt.
Die alte Dorfkirche wurde 1597 als eine der ersten evangelischen Kirchenbauten in der Mark Brandenburg fertiggestellt. Anfangs gehörte sie zum Grundbesitz der Familie von Hake. Als Kleinmachnow in den 1920er und 1930er Jahren expandierte, wurde im Jägerstieg ein Gemeindehaus gebaut, welches 1953 zur Auferstehungskirche erweitert wurde. Die Evangelische Auferstehungs-Kirchengemeinde ist stark gewachsen und zählt zirka 5.400 Mitglieder (Stand August 2012).
Neben der landeskirchlichen Gemeinde gab es seit 1922 die Evangelisch-Lutherische Freikirche im ehemaligen Seemannserholungsheim am Zehlendorfer Damm mit zirka 70 Mitgliedern. Sie wurde 1871 gegründet und nennt sich seit Mai 2007 Paul-Gerhardt-Gemeinde der Evangelisch-Lutherischen Freikirche. Mit dem Verkauf des Grundstücks an den Rapper Bushido stellte die Gemeinde die Gottesdienste am Ort ein. Der für Brandenburg zuständige Pfarrer lebt weiter in Kleinmachnow, die Gottesdienste wurden nach Teltow verlegt.
Mit dem Bau des Teltowkanals kamen viele Arbeiter aus katholischen Regionen des Deutschen Reiches, vor allem aus Oberschlesien. So entstand nach 350-jähriger Unterbrechung eine neue katholische Gemeinde. Sie erhielt ihre erste Organisation in dem im Jahr 1905 gegründeten Arbeiterverein. Bis zur Fertigstellung der ersten Notkirche in Teltow 1920 vergingen noch 15 Jahre. Für Kleinmachnow und Stahnsdorf wurde 1935 im Kleinmachnower Schleusenrestaurant die erste Heilige Messe gehalten. 1948 wurde die Notkirche St. Thomas Morus fertig gestellt und 1960 Kleinmachnow zur Pfarrei erhoben. Die heutige Kirche an der Hohen Kiefer wurde 1992 geweiht. Seit 2003 gehören die Katholiken der Region in Stahnsdorf, Kleinmachnow, Teltow und Großbeeren zur Gemeinde Sanctissima Eucharistia mit den Kirchen St. Thomas Morus in Kleinmachnow und Ss. Eucharistia in Teltow.
Andere Religionen sind kaum vorhanden. Die Gemeinschaft Christliche Wissenschaft ist in Kleinmachnow mit einer von 80 Gemeinden in Deutschland vertreten. Sie feiert Gottesdienste in der Musikschule Engelbert Humperdinck am Weinberg. Eine muslimische oder jüdische Gemeinde gibt es in Kleinmachnow nicht.
Politik
Gemeindevertretung
Die Gemeindevertretung von Kleinmachnow besteht aus 28 Gemeindevertretern und dem hauptamtlichen Bürgermeister.
Bei der Wahl im Oktober 2003 waren die zahlreichen neu hinzugezogenen Einwohner erstmals zu über 50 % für die Wahl der Mitglieder der Gemeindevertretung verantwortlich. Der erhebliche Zuzug im Ort beeinflusste die politische Ausrichtung; anders als in Teilen Brandenburgs konnten Bündnis 90/Die Grünen in das Parlament einziehen, während Die Linke (früher PDS) an Einfluss verlor. Die CDU stand in der Gunst ungefähr gleichauf mit der SPD, die seit 1990 den Bürgermeister stellt.
Bürgermeister
1920–1933: Heinrich Funke
1935–1945: Erich Engelbrecht (NSDAP)
1945–1946: Ernst Lemmer (CDU)
1948–1950: Friedrich Gellert (SED)
1952–1960: Walter Schuch (SED)
1961–1962: Antonie Stemmler (SED)
1990–1994: Klaus Nitzsche (SPD)
1994–2009: Wolfgang Blasig (SPD), Rücktritt wegen Wahl zum Landrat des Landkreises Potsdam-Mittelmark
seit 2009: Michael Grubert (SPD)
Grubert wurde in der Bürgermeisterwahl am 27. November 2016 mit 57,8 % der gültigen Stimmen für eine weitere Amtszeit von acht Jahren gewählt.
Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden
Eine Fusion der Gemeinden Kleinmachnow, Stahnsdorf und Teltow wurde schon 1967 in der DDR angedacht. Ab 1972 bildete die Region verwaltungsorganisatorisch einen Gemeindeverband, in dem die drei Gemeinden ihre rechtliche Eigenständigkeit behielten. Seit der deutschen Einheit 1990 hält die Diskussion um die geeignete funktionale Struktur an. Dabei schwankt das Spektrum der Meinungen zwischen informeller Zusammenarbeit, vertraglich vereinbarter Kooperation und Fusion zur Großgemeinde. Von der in den Jahren 2000 bis 2003 in Brandenburg durchgeführten Gemeindegebietsreform blieb Kleinmachnow unberührt.
Die Diskussion wird durch die Verabschiedung des Landesentwicklungsplanes Berlin-Brandenburg 2009 belebt, der ein neues zweistufiges System der zentralen Orte für Brandenburg mit vier Oberzentren und 50 Mittelzentren vorsieht. Der Entwicklungsplan weist von den drei Gemeinden nur Teltow als Mittelzentrum aus, was für Stahnsdorf und Kleinmachnow reduzierte Fördermittel bedeutet. Ein Ergebnis der seit Jahren geführten politischen Diskussion ist nicht zu erkennen.
Die Kommunen Kleinmachnow, Teltow und Stahnsdorf gründeten 1999 die kommunale Arbeitsgemeinschaft Der Teltow (KAT). Diese soll eine Vertiefung der gemeindeübergreifenden Zusammenarbeit in den Bereichen räumliche Entwicklungsplanung, Verkehr und Verwaltungstätigkeit sowie in den sozialen, gesundheitlichen, kulturellen, schulischen und sportlichen Einrichtungen erreichen. In grundlegender und struktureller Hinsicht konnte die KAT die Region bislang nicht prägen. Seit April 2013 sind die drei Kommunen Gesellschafter der Freibad Kiebitzberge GmbH, die das auf Kleinmachnower Gebiet liegende Freibad betreibt.
Der Teltowkanal bildet die Grenze zwischen den Gemeinden Kleinmachnow, Stahnsdorf und Teltow sowie Berlin und Potsdam. Er wird bisher wenig für Naherholung, Freizeit und Wassersport genutzt. Die Interessengemeinschaft Teltowkanalaue strebt die Neuanlage durchgängiger Wander- und Radwege zwischen dem S-Bahnhof Teltow-Stadt und dem Potsdamer S-Bahnhof Griebnitzsee an. Durch die Anlage eines interkommunalen Grünzugs sollen Gemeindegrenzen überwunden und die regionale Zusammenarbeit der drei Gemeinden gestärkt werden. Die Teltowkanalaue ist integraler Bestandteil des räumlich übergreifenden Regionalparks TeltowPark.
Wappen
Flagge
Die Flagge ist Blau-Weiß-Blau (1:4:1) gestreift und mittig mit dem Gemeindewappen belegt.
Dienstsiegel
Das Dienstsiegel zeigt das Wappen der Gemeinde mit der Umschrift: „GEMEINDE KLEINMACHNOW • LANDKREIS POTSDAM-MITTELMARK“.
Gemeindepartnerschaft
Kleinmachnow unterhält seit 1996 partnerschaftliche Beziehungen zur baden-württembergischen Stadt Schopfheim. Die Wurzeln dieser Partnerschaft gründen auf den Kontakten der evangelischen Kirchen beider Orte seit 1948. Auch zu Zeiten der deutschen Teilung hielt diese Verbindung. So kam 1971 erstmals ein Treffen zweier Gruppen aus den Kirchengemeinden in Ost-Berlin zustande.
Als Gastgeschenk der Schopfheimer zum zehnjährigen Partnerschaftsjubiläum im Juni 2006 schmückt ein Meilenstein mit Wappen und Entfernungsangabe den Eingang zum Rathausmarkt.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
In der Liste der Baudenkmale in Kleinmachnow und in der Liste der Bodendenkmale in Kleinmachnow stehen die in der Denkmalliste des Landes Brandenburg eingetragenen Kulturdenkmale.
Bauwerke
Am Lauf der Bäke, südlich des Machnower Sees befinden sich zahlreiche Bauwerke, deren Geschichte mit der Familie von Hake verbunden sind: das Medusentor zum ehemaligen Hake’schen Gutshof, die Bäkemühle, die Dorfkirche und das alte Forsthaus. Auf dem Seeberg am Nordufer des Machnower Sees liegt die vom Architekten Bodo Ebhardt entworfene neue Hakeburg, die einen Panoramablick über den See und das Bäketal bietet.
Der Teltowkanal ist eine 37 Kilometer lange künstliche Wasserstraße und verbindet die Havel bei Potsdam mit der Dahme in Berlin-Grünau. Westlich des Machnower Sees, den der Teltowkanal durchfließt, liegt die Schleuse Kleinmachnow. Die 1993 von einem Lastschiff schwer beschädigte alte Schleusenbrücke wurde 2005 durch einen Neubau ersetzt.
Das Weinbergviertel mit drei Straßenzügen liegt neben dem alten Dorfkern mit der Dorfkirche. Mehrere Häuser des Viertels stehen unter Denkmalschutz, darunter das um 1936 von Egon Eiermann erbaute Wohnhaus für den Schauspieler Paul Henckels und die 1906 vom Maurermeister Fritz Schirmer erbaute Landhausvilla für den Dorfschullehrer Koch. Die 2005 gegründete Bürgerinitiative Weinberg sind Wir setzt sich für den Erhalt der Natursteinpflasterbeläge auf Straßen und Gehwegen ein. Im Januar 2006 hat das Denkmalamt des Landes Brandenburg die gesamte Straßenanlage im Weinberg-Viertel unter Schutz gestellt und in die Denkmalliste des Landes eingetragen.
Prächtige Villen wie die Villa Elisabeth und die Villa Medon zeugen von den frühen Landhausbauten in der Alten Zehlendorfer Villenkolonie. Die Villa Medon wurde 1906 nach Plänen des Berliner Architekten Max Welsch erbaut. Bauherr war Hofbrunnenbaumeister Gustav Georg Medon (1859–1913), Sohn des Berliner Königlichen Tänzers und Tanzlehrers Gustav Medon (1823–1905).
An der Autobahn 115 steht in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen DDR-Grenze und vor der damaligen Grenzübergangsstelle Drewitz eine Stele (Foto), die das DDR-Staatswappen trug. Kurz danach befindet sich von Berlin kommend links hinter einer Lärmschutzwand ein Betonsockel, der eine rosafarbene Schneefräse (Foto) trägt. Bis zur Wiedervereinigung stand auf dem Sockel ein sowjetischer Panzer (T34) als Siegessymbol der Roten Armee über das Dritte Reich. Von der ehemaligen Grenzübergangsstelle im Ortsteil Dreilinden sind der Kommandantenturm sowie Teile des Abfertigungsgebäudes erhalten. Der 1998 gegründete Verein CHECKPOINT BRAVO e. V. fördert die Restaurierung, Ausbau und Pflege des denkmalgeschützten Turms. Der Turm wurde im Jahr 2007 grundlegend saniert und beinhaltet eine Dauerausstellung, die an die Geschichte der deutschen Teilung erinnert.
Natur und Naturdenkmäler
Kleinmachnow ist eine „Wohngemeinde im Grünen“. Der Anteil der Wohngebiete an der Gemeindefläche beträgt 45 %. 40 % der Fläche stehen als Wald, Sport-, Grün-, Wasser- oder Biotopfläche der Erholung zur Verfügung. Der Anteil der Straßen, Gewerbe- und Sondergebiete ist mit 15 % vergleichsweise klein. Der Wille vieler Bürger, den grünen Charakter der Gemeinde zu erhalten, fand ab 1990 seinen Ausdruck in der Unterschutzstellung des Bannwaldes, der Kiebitzberge, dem Buschgraben und dem Bäketal. Er drückt sich ebenfalls in der strengen Gehölzschutzsatzung aus, die dagegen gerichtete Normenkontrollklage wurde abgewiesen.
Auf dem ehemaligen Grenzstreifen liegt im äußersten Osten von Kleinmachnow der Buschgraben mit Buschgrabensee und dem Feuchtgebiet am Erlenweg. Der 1926 angelegte Buschgrabensee war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Torfstich und diente später als Regenwasserrückhaltebecken. Bei dem Feuchtgebiet am Erlenweg handelt es sich um einen verlandeten Rinnensee. Da beide Gebiete durch die Grenzanlagen zwischen 1961 und 1990 nicht zugänglich waren, konnte sich die Natur ungestört entwickeln. Eine Fülle von Pflanzenarten und über 70 Vogelarten konnten sich entwickeln. 259 Schmetterlingsarten leben hier, und über 300 Pflanzenarten sind nachgewiesen worden.
Die Wiesen im Landschaftsschutzgebiet am Weinberg sind ein Quellgebiet der Bäke. Auf seinem Verlauf von rund drei Kilometern durch das Bäketal Kleinmachnow gewinnt dieses Teilstück des Fließes ein beträchtliches Wasservolumen, das ganzjährig einen fließenden Bach bilden lässt. Da der Verlauf des Teltowkanals hier durch den Machnower See hindurch begradigt wurde, ist dieser Bäketeil nahezu in seiner ursprünglichen Lage erhalten und mit Teilen seiner ursprünglichen Vegetation wie sumpfigen Feuchtwiesen und Auenwäldern als Naturschutzgebiet Bäketal ausgewiesen. 87 Vogelarten wurden gezählt. Davon brüten 59 Arten, von denen 11 Arten besonders schützenswert sind.
In diesem Gebiet stehen als naturhistorische Denkmale die mit 600 und 700 Jahren vier ältesten Eichen Kleinmachnows sowie ein 2004 von der Lokalen Agenda 21 angelegter Naturlehrpfad. Die Lokale Agenda 21 ist ein Handlungsprogramm, das die Gemeinde in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln soll. Im November 2000 hat Kleinmachnow ihr Leitbild zur nachhaltigen umweltgerechten Entwicklung veröffentlicht. Die Arbeitsgruppe Wanderwege hat seit 1997 sechs Wanderrouten gekennzeichnet. Dies sind der Buschgrabenrundweg, der Bannwaldweg, der Waldweg Dreilinden, der Wanderweg um den Machnower See sowie die überregionalen Routen Bugaweg 2001 und Fontaneweg.
Der Bannwald ist ein bewaldeter Grünzug, der Kleinmachnow in Ost-West-Richtung durchzieht. Er ist zirka drei Kilometer lang, 50 bis 100 Meter breit und bietet in unterschiedlichen Waldpartien eine abwechslungsreiche Tier- und Pflanzenwelt.
Im Bäketal steht in der Nähe des Forsthauses eine Eiche mit einem Brusthöhenumfang von 7,63 m (2016).
Geschichtsdenkmale
Nordahl Grieg starb am 2. Dezember 1943 beim Angriff auf Berlin, als die Lancaster LM 316 abgeschossen wurde, in der er als Kriegsberichterstatter mitflog. Die Absturzstelle liegt am Ufer des Machnower Sees. Dort stellte die Gemeinde Kleinmachnow auf Bitten der norwegischen Botschaft einen Findling als Ehrenmal auf. Bei der Einweihung des Ehrenmals am 23. November 2003 sang die norwegische Sängerin Torhild Ostad das Lied Til Ungdommen.
Für die Opfer des Faschismus wurde etwa 1950 auf dem gleichnamigen Platz (OdF-Platz) an der Einmündung der Karl-Marx-Straße ein Gedenkstein gesetzt. Der Findling zeigt den Häftlingswinkel mit den Buchstaben „KZ“. Darunter die Inschrift „DEN TOTEN / ZUR EHRE / DEN LEBENDEN / ZUR MAHNUNG“. Der Bürgermeister der Gemeinde erinnert mit einer Kranzniederlegung dort jeweils am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, an die nationalsozialistischen Verbrechen. Den Opfern des Zweiten Weltkriegs wird jährlich am 8. Mai, dem Kriegsende in Europa, am sowjetischen Ehrenmal in der Hohen Kiefer gedacht.
Kunst und Musik
Kulturell bildeten die 1938 gegründeten Kammerspiele einen zentralen Treffpunkt für Kino, Theater und Gesellschaft, aber auch für den Rat der Gemeinde als Sitzungsraum. Das Haus wurde von 1960 bis 2003 staatlich beziehungsweise kommunal betrieben und befindet sich seit 2004 als Kino in privater Hand. Nach dem Auslaufen des zehnjährigen Pachtvertrages wurde die Nutzung der Kammerspiele als Kulturhaus der Gemeinde diskutiert und der Bürgermeister Ende 2005 mit Verhandlungen über den Ankauf beauftragt. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Der Förderverein Freunde des Kulturhauses Kammerspiele e. V. löste sich im September 2006 auf. Im November 2012 übernahm die erste Kulturgenossenschaft Brandenburgs als neuer Pächter den Betrieb und benannte das Lichtspieltheater in Die Neuen Kammerspiele um. Neben dem Kinobetrieb stehen verschiedene Kulturveranstaltungen sowie ein Kinderprogramm auf dem Plan.
Ab 1986 fand in den Kammerspielen Ausbildung an Blasinstrumenten statt. 1992 wurde der Verein Jugendblasorchester Kleinmachnow e. V. gegründet. Dieser wurde 1995 aufgelöst und in die Kreismusikschule Engelbert Humperdinck des Landkreises Potsdam-Mittelmark übergeführt. Der Name Jugendblasorchester Kleinmachnow blieb erhalten. 2005 schlossen sich Kreismusikschule und Kreisvolkshochschule zusammen und führen ihre Arbeit als Kreismusikschule und Kreisvolkshochschule Potsdam-Mittelmark GmbH mit Sitz in Kleinmachnow fort.
Rund 40 Jahre hatte der gemeinnützige Kultur und Kunstverein Kleinmachnow e. V. seinen Sitz im Zehlendorfer Damm 45–47. Aufgrund von brandschutztechnischen Mängeln dürfen im ehemaligen Joliot-Curie-Klub seit Juli 2006 keine Veranstaltungen erfolgen. Die Veranstaltungen finden jetzt an unterschiedlichen Orten statt.
Im Jahr 1997 öffnete neben der westlich angrenzenden Zehlendorfer Teltow-Werft das Wohnstift Augustinum der gleichnamigen Stiftung als Residenz für 280 Senioren. Der Gebäudekomplex mit 268 Appartements umfasst einen Theatersaal mit 245 Plätzen. Mit dem größtenteils öffentlichen Kunst- und Kulturangeboten ist das Augustinum eine etablierte Adresse für Konzert- und Theaterfreunde aus der Region.
Mitarbeiter des ehemaligen Unternehmens Geräte- und Reglerwerke gründeten 2005 den Verein Industriemuseum Region Teltow e. V. Dieser bewahrt die Erinnerung an die einstigen Firmen und die industrielle Entwicklung der Region und befindet sich seit 2012 im Nachbarort Teltow.
Seit 2013 hat der Sonat-Verlag in Kleinmachnow seinen Sitz. Er wurde im Jahr 2000, zunächst als Berliner Chormusik-Verlag, von dem Musiker und Verleger Stefan Rauh gegründet und verlegt Werke für Vokal- und Instrumentalmusik.
Kleinmachnow war heimatlicher Spielort der fiktiven Familie Rauch, der von 2015 bis 2020 gedrehten Fernsehserie Deutschland.
Sport
Die Kiebitzberge sind das regionale Sport- und Naherholungsgebiet mit Freibad, Sportstätten, Rodelberg und Wald. Der Regionaler SV Eintracht Teltow-Kleinmachnow-Stahnsdorf 1949 e. V. ist mit zirka 2.700 Mitgliedern in zwölf Abteilungen der mitgliederstärkste Verein des Landkreises Potsdam-Mittelmark. Die leistungsstärkste Mannschaft des Vereins spielt in der 2. Bundesliga Basketball.
Darüber hinaus bieten mehr als ein Dutzend weitere Vereine verschiedene Sportarten an. Die Sportstätten liegen entweder in Kleinmachnow oder im angrenzenden Teltow, Stahnsdorf beziehungsweise in nahen Berliner Stadtteilen. Die größte privat betriebene Sporteinrichtung in Kleinmachnow ist der Sportpark Kleinmachnow in den Kiebitzbergen, vormals Sportforum Kleinmachnow.
Die Eigenherd Europaschule Kleinmachnow wurde 2001 und 2007 vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport zur sportlichsten Schule Brandenburgs ausgezeichnet.
Regelmäßige Veranstaltungen
Das Seniorenstift Augustinum ist mit seinem Theatersaal ein häufig genutzter Ort für Vorträge, Lesungen und Musikveranstaltungen. Für Senioren bietet der AWO-Treffpunkt und die Freizeitstätte Toni Stemmler regelmäßige Angebote, für Jugendliche die JFE Jugendfreizeiteinrichtung. Musikinteressierte können zwischen dem Kirchenchor der Dorfkirche oder dem monatlichen Treffen des Hausmusikkreises in der Kreismusikschule wählen. Für Kinder gibt es seit 2006 im September auf dem Rathausmarkt das Kleinmachnower Kinderfest und seit 1990 zwischen Ende Oktober und Mitte November die Kleinmachnower Märchentage.
Wirtschaft und Infrastruktur
Auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Drewitz befindet sich seit 1996 das 45 Hektar große Gewerbegebiet Europarc Dreilinden mit dem größten Arbeitgeber Kleinmachnows, der deutschen eBay-Zentrale. Der Betreiber des seit 2000 in Kleinmachnow angesiedelten Internet-Marktplatzes hat seine Belegschaft zwischen 2004 und 2008 um 600 auf 1300 Mitarbeiter ausgebaut. Im Jahr 2018 waren rund 1000 Mitarbeiter bei eBay in Kleinmachnow beschäftigt.
Insgesamt sind im Technologie- und Business-Park rund 3000 Mitarbeiter bei 80 Unternehmen beschäftigt. Nicht so positiv verläuft die Entwicklung im 25 Hektar großen Fashionpark an der Fahrenheitstraße, der ursprünglich ein Zentrum für die Textil- und Modebranche werden sollte. Der Plan scheiterte vor Jahren. Im Juni 2006 änderte die Gemeinde die Bezeichnung in TIW-Gebiet (Technik, Innovation, Wissenschaft). Rund 1530 Betriebe, größtenteils Kleingewerbetreibende und Einzelunternehmer, sind insgesamt in der Gemeinde registriert. Davon müssen gut 200 Gewerbesteuervorauszahlung leisten.
Öffentliche Einrichtungen
Im Rathaus am Adolf-Grimme-Ring befinden sich die Gemeindeverwaltung, der Sitz des Bürgermeisters, das Bürgerbüro, die öffentliche Bibliothek sowie der Eigenbetrieb Kita-Verbund, der alle kommunalen Kindertagesstätten betreibt. Im Foyer können Veranstaltungen mit bis zu 300 Besuchern stattfinden. Der Sitzungssaal der Gemeindevertreter bietet Platz für Veranstaltungen bis zu 200 Personen.
Die Gemeinde bietet mit der Jugendfreizeiteinrichtung CARAT – Jugendarbeit Kleinmachnow ein seit Jahren etabliertes Angebot an Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren. Das regelmäßige Programm umfasst Musikworkshops, Kreativkurse, Tanzgruppen und Graffitikurse. Ergänzend eröffnet im August 2013 in der Hohen Kiefer ein Schülercafe, das zu einem späteren Zeitpunkt durch ein dauerhaftes Jugendzentrum an einem anderen Standort abgelöst werden soll. 1991 wurde als weitere kommunale Einrichtung der Eigenbetrieb Bauhof gegründet, der für die Pflege der Grünanlagen und den Winterdienst der Straßen zuständig ist.
Das Julius Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, das am 1. Januar 2008 aus der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft hervorging, ist eine Forschungseinrichtung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. In Kleinmachnow ist das Institut für Strategien und Folgenabschätzung im Pflanzenschutz angesiedelt.
Zur Gewährleistung der Richtigkeit von Messungen gab es in Berlin und Brandenburg eigene Landeseichämter. Diese wurden 2005 zusammengelegt und bilden heute mit Sitz in Kleinmachnow das Landesamt für Mess- und Eichwesen Berlin-Brandenburg.
Im Land Brandenburg hat jeder nach Maßgabe des Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetzes das Recht auf Einsicht in Akten. Der am Stahnsdorfer Damm ansässige Landesbeauftragte für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht ist eine Kontrollinstanz für die Einhaltung des Datenschutzes und der Informationsfreiheit bei öffentlichen Stellen. Er ist nicht zuständig für die Einsicht in „Stasi-Akten“. Diese Unterlagen werden vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR verwaltet.
Verkehr
Straßenverkehr
Kleinmachnow liegt an der Bundesautobahn 115 (Anschlussstelle 5 Kleinmachnow). Die A 115 verbindet den Berliner Stadtring (A 100) im Südwesten von Berlin mit dem südlichen Berliner Ring (A 10). Nahe der südlichen Gemeindegrenze von Kleinmachnow verläuft die Landesstraße 40. Sie erschließt das südliche Berliner Umland über Stahnsdorf, Teltow, Mahlow, Schönefeld nach Berlin Treptow-Köpenick. Sie verbindet Kleinmachnow mit den Bundesstraßen 101, 96 und 179. Die Entfernung zum Flughafen Berlin Brandenburg beträgt weniger als 30 Kilometer.
Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen fünf Buslinien der Regiobus Potsdam-Mittelmark GmbH. Alle Linien sind in den Tarifgebieten Berlin C bzw. Potsdam C des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg zu benutzen. Die Buslinien verbinden Kleinmachnow mit den S-Bahn-Stationen Teltow Stadt (Bus 620, Anschluss an die S-Bahnlinien S25 und S26), Mexikoplatz (Bus 622, Anschluss S1), Berlin-Wannsee (Bus 620, Anschluss S1 / S7), Berlin-Zehlendorf (Bus 623, Anschluss S1) und den U-Bahn-Stationen Krumme Lanke (Bus 622, Anschluss U3) sowie Oskar-Helene-Heim (Bus 623, Anschluss U3). In Kleinmachnow verkehren außerdem die Buslinien 628 (Rufbus) und 629. Bis auf die Linien 628 und 629 verkehren alle Linien wochentags im 20-Minuten-Takt.
Der Flughafen Berlin Brandenburg ist über Buslinien (mit Umsteigen) und mit PKW innerhalb von 45 Minuten zu erreichen.
Eisenbahnverkehr
Der Bahnhof Berlin-Wannsee bietet Anschlüsse an den Fernverkehr, mehrere Regional-Express-Linien und Regionalbahnen. Vom Rathausmarkt Kleinmachnow sind die Berliner Bahnhöfe Potsdamer Platz und Zoologischer Garten in zirka 45 Minuten erreichbar.
Am nördlichen Rand von Kleinmachnow führt die Trasse der Berlin-Potsdamer Eisenbahn (Stammbahn) entlang, auf der es zwischen Düppel und Griebnitzsee seit 1945 keinen Bahnverkehr mehr gibt. Auf der Gemarkung Dreilinden kreuzte sie die Friedhofsbahn. Diese führte von Berlin-Wannsee nach Stahnsdorf zu den Friedhöfen von Berliner Kirchengemeinden. Für die Reaktivierung der Stammbahn als Regional- und Fernbahnstrecke fiel im Mai 2022 zwischen den Ländern Brandenburg und Berlin die Grundsatzentscheidung.
Schiffsverkehr
Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17 (Bundeswasserstraßenverbindung Hannover-Magdeburg–Berlin) hatte zum Ziel, den Teltowkanal entsprechend Binnenwasserstraßenklassifizierung Vb für Großmotorgüterschiffe bis zu 110 Meter Länge und Schubverbände bis zu 185 Meter Länge befahrbar zu machen. Verschiedene Umweltverbände protestierten seit 1992 wegen der befürchteten massiven Eingriffe in die Uferlandschaften gegen den Ausbau der Schleuse. Das Bundesverkehrsministerium hielt bis Ende 2010 am Planfeststellungsbeschluss fest, der einen Ausbau der Nordkammer der Schleuse auf 190 Meter Länge vorsah. Am 19. November 2010 wurde der Ausbau der Schleuse durch eine Entscheidung des Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer gestoppt. Es ist stattdessen eine Sanierung der Schleuse vorgesehen. Eine Klage zum Ausbau der Schleuse scheiterte im Januar 2013 vor dem Verwaltungsgericht Potsdam.
Bildung
Alle kommunalen Kindertagesstätten, dies sind acht kombinierte Krippen und Kindergärten sowie drei Horte mit insgesamt 1200 Plätzen, werden durch den KITA-Verbund betrieben. Zusätzlich existieren mit dem evangelischen und katholischen Kindergarten, dem Waldorf-Kindergarten und dem englischen Klax-Kindergarten fünf Kindertagesstätten in freier Trägerschaft.
In Kleinmachnow gibt es mit der Steinweg-Grundschule (430 Schüler), der Grundschule auf dem Seeberg (260 Schüler) und der Eigenherd-Europa-Schule (470 Schüler) drei gemeindliche Grundschulen. Die 2004 gegründete Evangelische Grundschule Kleinmachnow ist eine christlich orientierte Ganztagsschule, die von der Hoffbauer-Stiftung getragen wird. Als weiterführende Schule besuchen zirka 600 Schüler die Maxim-Gorki-Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe. Im Jahr 1991 ging das Weinberg-Gymnasium Kleinmachnow aus der Erweiterten Spezialoberschule Kleinmachnow hervor. Heute werden dort zirka 780 Schüler auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiet speziell gefördert. Ergänzt wird die Schullandschaft durch die Freie Waldorfschule, die Allgemeine Förderschule und die Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ Albert Schweitzer. Seit 2008 existiert das Evangelische Gymnasium Kleinmachnow der Hoffbauer-Stiftung.
Auf dem Seeberg existiert seit 2001 die Berlin Brandenburg International School (BBIS) als private, englischsprachige Ganztagsschule. Unterrichtet werden zirka 680 Schüler 58 verschiedener Nationalitäten. Die gemeinnützige Gesellschaft als Trägerin der Schule investierte in die Errichtung eines Schulcampus mit modernen Sportanlagen, nachdem sie das Areal 2006 erworben hatte.
In unmittelbarer Nähe zur Schleuse unterhält die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost ein Berufsbildungszentrum. Dort werden Wasserbauer und Verwaltungsfachangestellte ausgebildet.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
Der bis heute einzige Ehrenbürger ist seit 1932 Heinrich Funke. Er war von 1895 Förster auf dem Hake’schen Gutshof, später Gutsvorsteher. Nach Auflösung des Gutsbezirks und Umwandlung in die Gemeinde Kleinmachnow war er von 1920 bis 1931 der erste Gemeindevorsteher.
Söhne und Töchter der Gemeinde
Ernst Ludwig von Hacke (1651–1713), preußischer Generalleutnant
Ingeborg Wörndle (1916–2011), Stadionsprecherin bei Olympischen Spielen
Gerhard Geidel (1925–2011), Marinemaler und Illustrator
Sigrun Casper (* 1939), Pädagogin, Malerin, Schriftstellerin
Hartmut Köhler (1940–2012), Romanist und Übersetzer
Cornelia Behm (* 1951), Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen)
Claudia Maria Meyer (* 1955), Schauspielerin
Stefan Kolditz (* 1956), Schriftsteller und Drehbuchautor
Raphael Statt (* 1958), Mönch und Bildhauer
Michael Heilmann (* 1961), Langstreckenläufer
Tina Bara (* 1962), Fotografin, Professorin für künstlerische Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Jörg Huke (* 1962), Jazz- und Theatermusiker
Matthias Traber (1966–2022) Hochseilartist
Carsten Ohle (* 1968), Handballtorwart
Deborah Kaufmann (* 1970), Schauspielerin
Susanne Bormann (* 1979), Schauspielerin
Jonas Walter (* 1984), Fotograf und Filmregisseur
Persönlichkeiten, die im Ort lebten oder leben
Sophie Burger-Hartmann (1868–1940), Malerin und Bildhauerin
Friedrich Kayssler (1874–1945), Schauspieler
Wilhelm Conrad Gomoll (1877–1951), Schriftsteller
Paul Henckels (1885–1967), Schauspieler
Adolf Grimme (1889–1963), SPD-Kulturpolitiker
Paul Gruson (1895 – 1969), Bildhauer
Ilse Molzahn (1895–1981), Autorin
Johannes Arpe (1897–1962), Schauspieler
Hermann Klare (1909–2003), Chemiker, Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR
Robert Havemann (1910–1982), Chemiker, NS-Widerstandskämpfer, DDR-Regimekritiker, lebte 1948 bis 1953 in Kleinmachnow
Agnes Kraus (1911–1995), Schauspielerin
Ursula Madrasch-Groschopp (1916–2004), Publizistin
Jean Franklemon (1917–1977), Musiker, belgischer Widerstandskämpfer, beteiligt am Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz
Gisela Uhlen (1919–2007), Schauspielerin
Herbert Lange (1920 – 2001), Maler und Grafiker
Wolfgang Kieling (1924–1985), Schauspieler
Hildegard Knef (1925–2002), Schauspielerin, Sängerin
Hubert Faensen (1928–2019), Kunsthistoriker
Karla Runkehl (1930–1986), Schauspielerin
Horst Mahler (* 1936), Rechtsanwalt, Gründungsmitglied der Rote Armee Fraktion, Neonazi
Jörg Schönbohm (1937–2019), General und Politiker (CDU)
Chris Doerk (* 1942), Schauspielerin, Sängerin
Ingo Sommer (* 1942), Architekturhistoriker und Professor für Baugeschichte
Walter Müller (Manager) (* 1948), Manager von Mercedes-Benz und Präsident von Hertha BSC
Susanne Uhlen (* 1955), Schauspielerin
Tuomo Hatakka (* 1956), Vorsitzender der Geschäftsführung der Vattenfall GmbH
Harald Effenberg (* 1957), Schauspieler
Stephan-Andreas Casdorff (* 1959), Journalist, Herausgeber des Tagesspiegels
Frank Lüdecke (* 1961), Kabarettist und Regisseur
Matthias Brandt (* 1961), Schauspieler, Autor
Nikolaus Blome (* 1963), Journalist
Stefan Rauh (1963–2023), Musiker, Leiter des Sonat-Verlages
Guido Beermann (* 1965), Politiker (CDU)
Peter Christian Feigel (* 1966), Dirigent
Monique Garbrecht-Enfeldt (* 1968), Eisschnellläuferin
Jasmin Gerat (* 1978), Schauspielerin
Tobias Schenke (* 1981), Schauspieler
Philipp Walsleben (* 1987), Radprofi
Martina Barta (*1988), Jazzsängerin
Nelly Marie Bojahr (* 1988), Miss Germany 2007
Maria Clara Groppler (* 1999), Komikerin
Persönlichkeiten, die vor Ort gewirkt haben
Im Jahr 1909 baute Lily Braun, eine schriftstellernde Frauenrechtlerin, als eine der ersten eine Villa in Kleinmachnow. Der Komponist und Musiktheoretiker Arnold Schönberg war Gast im Bildhauerhaus des Ferdinand Lepcke. Schönberg entwickelte 1921 die „Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“, die als Zwölftonmusik bekannt ist.
Kurt Weill, bekannt als Komponist für die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht, kaufte 1931 ein Haus im Bauhausstil in der heutigen Käthe-Kollwitz-Straße in Kleinmachnow. Er zog mit Ehefrau Lotte Lenya im März 1932 ein. Lenya war eine Interpretin und Propagandistin seiner Werke. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten emigrierten beide 1933 zunächst in die Schweiz.
Der Schauspieler Paul Henckels spielte von 1923 bis 1961 in mehr als 230 Filmen mit. Unvergessen bleibt seine Rolle als Professor Bömmel im Film Die Feuerzangenbowle. Kurz nach seinem Einzug in die 1936 gebaute Villa Am Weinberg 5 gab er diese wegen Anfeindungen gegen seine jüdische Frau auf. Im April 1945 wurde der Staatsschauspieler Friedrich Kayssler versehentlich vor seinem Haus von sowjetischen Soldaten erschossen.
Viele Jahre ihres Lebens verbrachte Agnes Kraus in Kleinmachnow. Die Volksschauspielerin lebte in ihrem Elternhaus. Sie liegt auf dem Waldfriedhof im Familiengrab zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester.
Adolf Grimme, ein sozialdemokratischer Kulturpolitiker, lebte in Kleinmachnow von 1930 bis zu seiner Verhaftung 1942 durch die Gestapo wegen einer Verbindung zur sogenannten Roten Kapelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er der erste Intendant des neugegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks. Nach ihm ist der bedeutende Adolf-Grimme-Preis für Fernsehsendungen benannt.
Verschiedene Schriftsteller wohnen bzw. wohnten in Kleinmachnow oder sind dort verstorben. Dazu zählen Wolfgang Joho (1908–1991), Hanns Maaßen (1908–1983), ein Journalist und freier Schriftsteller, Walter Janka (1914–1994), ein seit den sechziger Jahren in Kleinmachnow lebender Verleger und Friedo Lampe. Lampe wurde 1945 von einem Soldaten der Roten Armee erschossen, der ihn für einen SS-Mann gehalten hatte. Zu den bedeutendsten Schriftstellern gehören Fred Wander (1916–2006) und seine Ehefrau Maxie Wander (1933–1977) sowie das Ehepaar Christa Wolf (1929–2011) und Gerhard Wolf (geboren 1928). Paul Eipper, ein Verfasser zahlreicher Tierbücher, lebt in der Zeit um 1939–1949 im Richard-Strauss-Weg 11. Heiner Rank (geboren 1931) Schriftsteller.
Richard Groschopp und Karl Gass gelten als zwei der renommiertesten DEFA-Regisseure. Aus der Feder von Gerhard Bengsch stammen die Drehbücher für mehrere DEFA-Spielfilme und Fernsehfilme für den Deutschen Fernsehfunk. Er war ein mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller, der in Kleinmachnow ab 1956 bis zu seinem Tode 2004 lebte. Der 1999 in Kleinmachnow verstorbene Konrad Petzold war ein Regisseur, der zahlreiche DEFA-Kinderfilme und sogenannte „DEFA-Indianerfilme“ inszenierte.
Sonstiges
Am 7. Oktober 2005 wurde in Düsseldorf die nicht herausgegebene Wohlfahrtsmarke Audrey Hepburn für den Rekordpreis von 135.000 Euro versteigert. Der Poststempel des linken Eckrandstückes zeigt das Aufgabepostamt KLEINMACHNOW 1 / b / 11.02.04 - 18 / 14532.
Im Juli 2023 sorgte die Sichtung einer angeblichen Löwin in Kleinmachnow für internationale mediale Aufmerksamkeit (Sommerloch); nachdem ausgeschlossen werden konnte, dass es sich bei dem gefilmten Tier um ein Raubtier handelt und es stattdessen wahrscheinlich ein Wildschwein sei, stellte die Polizei eine großangelegte Suchaktion nach rund 36 Stunden ein.
Literatur
Nicola Bröcker: Kleinmachnow bei Berlin. Wohnen zwischen Stadt und Land 1920–1945. Gebr. Mann, Berlin 2010, ISBN 978-3-7861-2629-4.
Nicola Bröcker, Celina Kress: Südwestlich siedeln. Kleinmachnow bei Berlin – von der Villenkolonie zur Bürgerhaussiedlung. Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2004, ISBN 3-936872-30-9.
Bärbel Engel, Karl-Heinz Wallberg (Hrsg.): Kleinmachnow – Bilder aus alter Zeit. Magenow Verlag, Kleinmachnow 2003.
Heinz Koch: Chronik von Kleinmachnow. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, ISBN 3-7759-0331-3.
Herbert Lange: Spaziergänge in Kleinmachnow (= Berlinische Reminiszenzen. Band 71). Haude & Spener, Berlin 1995, ISBN 3-7759-0395-X.
Helfried Winzer: Das Gutsdorf Kleinmachnow vor 100 Jahren. Mit Dorfgeschichten von Alfred Waßmund sowie Postkarten aus der Sammlung Wallberg. Bearbeitet von Nicola Bröcker. Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2006, ISBN 978-3-936872-72-9.
Weblinks
Website der Gemeinde Kleinmachnow
Einzelnachweise und Anmerkungen
Ort im Landkreis Potsdam-Mittelmark
Teltowkanal
Ersterwähnung 1375 |
187949 | https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsburg%20Kyffhausen | Reichsburg Kyffhausen | Die Reichsburg Kyffhausen ist eine mittelalterliche Burgruine im Kyffhäusergebirge auf dem hohen Kyffhäuserburgberg in der Gemarkung Steinthaleben der Gemeinde Kyffhäuserland unweit der Stadt Bad Frankenhausen im Kyffhäuserkreis, Thüringen, nahe der Grenze zum ebenfalls thüringisch geprägten Teil Sachsen-Anhalts.
Bei der Reichsburg handelt es sich um drei einzelne, durch Abschnittsgräben voneinander getrennte mittelalterliche Befestigungen. Diese Burgen werden Ober-, Mittel- und Unterburg genannt. Bei einer Länge von über 600 und einer Breite von rund 60 Metern bilden sie gemeinsam eine der größten Burganlagen Deutschlands. Zusammen mit dem Burgmuseum und dem im Burggelände befindlichen Kyffhäuserdenkmal ist die Burg eines der am stärksten besuchten Fremdenverkehrsziele in Deutschland, das besonders durch die Barbarossa- oder Kyffhäusersage weithin bekannt ist.
Geographische Lage
Die Ruine der Reichsburg Kyffhausen liegt im Kyffhäusergebirge im Naturpark Kyffhäuser – etwa 300 m südlich der Parknordgrenze. Sie befindet sich auf dem Kyffhäuserburgberg (), einem rund 800 m langen Ostausläufer des Gebirges etwa drei Kilometer nordöstlich des im thüringischen Kyffhäuserkreis gelegenen Steinthalebener Ortsteils Rathsfeld und südlich von Sittendorf und südwestlich von Tilleda, die zur Stadt Kelbra (Landkreis Mansfeld-Südharz, dem thúringisch geprägten Teil Sachsen-Anhalts) zählen. Der Höhenunterschied zwischen dem Kyffhäuserburgberg (439,7 m ü NN) und der Goldenen Aue (ca. ) beträgt etwa 280 m.
Von der Burganlage und besonders dem Denkmal aus hat man einen weiten Blick Richtung Nordwest bis Nordost über die Goldene Aue, den dahinterliegenden Südharz, mit Ravensberg, Stöberhai, Poppenberg, Auersberg, und dem hinter diesen Bergen aufragenden höheren Wurmberg und Brocken. Im Osten sieht man den Ziegelrodaer Forst mit den dahinteraufragenden Windrädern der Querfurter Platte und manchmal auch die aufragenden Rauchwolken der Kraftwerke Teutschenthal und Schkopau. Im Süden erstreckt sich der tiefe Einschnitt des Wolwedatals.
Geschichte der Burgen
Besiedlung des Berges in ur- und frühgeschichtlicher Zeit
Die Besiedlung des nach Süden, Osten und Norden hin steil abfallenden Burgberges setzte nach Ausweis der archäologischen Funde möglicherweise bereits im Neolithikum ein, doch könnten die geborgenen Steingeräte, sogenannte Schuhleistenkeile, auch erst in mittelalterlicher Zeit als Abwehrmittel gegen Blitzschlag hierher verbracht worden sein. Keramik- und Metallfunde der Bronzezeit stammen vermutlich aus zerstörten Grabhügeln auf dem weithin sichtbaren Bergsporn. In mehreren Ausgrabungsschnitten in der Oberburg wurden 1937/38 die Reste einer Befestigung aus der älteren Eisenzeit (Hallstatt D–Latène A (B)/„Thüringische Kultur“ des 6./5. Jahrhunderts v. Chr.) angetroffen. Eine Steintrockenmauer verlief weiter talabwärts als die mittelalterlichen Mauern. Den vorgeschichtlichen Siedlungsresten nach zog sich die besiedelte Fläche weit den Hang hinunter. Aus der bis zu einem halben Meter starken Kulturschicht mit zahlreichen Keramikfunden stammt auch der Fund einer Lage verbrannten Getreides. Ein solcher Fund wird meist als Überrest kultischer Handlungen gedeutet. Diese Deutung ist jedoch nicht eindeutig gesichert.
Anfänge der mittelalterlichen Burg bis zur ersten Zerstörung 1118
Die Anfänge der Burg sind weitgehend ungeklärt, da die schriftlichen Quellen zur Burg erst spät einsetzen und insgesamt spärlich sind. Ihre Errichtung wird aber zweifellos in einem engen Zusammenhang mit der Verwaltung und Sicherung des umfangreichen Reichsgutes im südlichen Harzvorland und der Goldenen Aue und dem Schutz der nur zwei Kilometer entfernt gelegenen Pfalz Tilleda stehen.
Zum Jahr 1118 wird in den schriftlichen Quellen von der Zerstörung des castrum … Cuphese durch den sächsischen Herzog Lothar von Supplinburg berichtet. Die Einnahme der von einer königstreuen Besatzung verteidigten Burg erfolgte im Zuge der Auseinandersetzungen sächsischer Fürsten mit dem römischen Kaiser und deutschen König Heinrich V. nach dessen Niederlage in der Schlacht am Welfesholz im Jahre 1115. Die Nachricht ist zugleich die erste schriftliche Erwähnung der Burg. Ihre Errichtung dürfte damit bereits im 11. Jahrhundert wohl in der Regierungszeit des deutschen Königs Heinrich IV. erfolgt sein, im Bereich der Oberburg nach Ausweis der Funde eventuell sogar bereits im späten 10. Jahrhundert.
Kyffhausen als staufische Reichsburg
Nach der Zerstörung 1118, die sich auch in einer bei den Ausgrabungen an mehreren Stellen in der Unterburg angetroffenen Brandschicht zeigte, erfolgte ein rascher und umfangreicher Wiederaufbau wohl schon in der Regierungszeit König Lothars von Supplinburg, der unter Friedrich I. Barbarossa abgeschlossen wurde. Ob Barbarossa während seiner Aufenthalte in der Pfalz Tilleda wie 1174 auch auf der Reichsburg Kyffhausen weilte, kann nur vermutet werden. Im 12. und 13. Jahrhundert erlebten die drei unmittelbar aufeinanderfolgenden Burgen den Höhepunkt ihrer Bedeutung. Dieser dokumentiert sich zum einen in der Zahl und Qualität der in dieser Zeit errichteten Gebäude und zum anderen in den zahlreichen und qualitätsvollen Metallfunden wie zum Teil vergoldeten Bronze- und Kupfergegenständen aus der Oberburg, der offenbar die Funktion einer Kern- oder Hauptburg zukam. Allerdings sind für diese Zeit keine Herrscheraufenthalte mehr bezeugt. In den Quellen werden für die Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lediglich Reichsministerialen wie die späteren Herren von Mildenstein genannt, die die Burg und das Tafelgut verwalteten.
Die bereits durch die Verwendung des Konglomeratschichten führenden Kyffhäuser-Sandsteines blassrot erscheinenden Mauern hatten in der Stauferzeit mindestens zweimal zusätzlich rotfarbige Putzschlämme erhalten. Nachdem solche dünnen Putze bereits bei den Untersuchungen in den 1930er Jahren an den Ringmauern der Ober- und Unterburg beobachtet worden waren, konnten sie 1995 erneut und nun auch an anderen Gebäuden im Burgbereich, insbesondere an der Burgkapelle der Unterburg, nachgewiesen werden. Der Farbe Rot, die auch andere Reichsburgen und Bauten Kaiser Friedrich I. Barbarossas wie das Augustiner-Chorherrenstift in Altenburg, die sogenannten „Roten Spitzen“, auszeichnete, kam eine besondere symbolische Bedeutung zu. Sie sollte den kaiserlichen Bauherren signalisieren und wird die optische Wirkung der Burg auf dem unbewaldeten, abgeholzten Bergrücken enorm gesteigert haben.
Die Burg im späten Mittelalter
Bereits am Ende des 13. Jahrhunderts verlor die Burg ihre strategische Bedeutung für das Königtum und erlebte in der Folgezeit mehrfache Besitzerwechsel. Nachdem die Grafen von Rothenburg als Inhaber der Burggrafschaft ausstarben, übertrug
König Rudolf von Habsburg dem Grafen Friedrich V. von Beichlingen das Amt des königlichen Burggrafen. Im Jahr 1375 mussten die Grafen von Beichlingen die Burg Kyffhausen von den Thüringer Landgrafen aus dem Haus Wettin zu Lehen nehmen. Aber bereits 1378 verpfändete der Landgraf von Thüringen die Burgen Rothenburg und Kyffhausen für 970 Mark an die Grafen von Schwarzburg. Trotz des vereinbarten Rückkaufrechts kamen beide Burgen nicht mehr in den Besitz der Landgrafen von Thüringen. 1407 erhielten die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt das Lehen über die Burg und lösten somit die Grafen von Beichlingen ab.
In der Düringischen Chronik des Johannes Rothe († 1434) wird Kyffhausen als „wustes sloz“ bezeichnet. Lediglich in der Unterburg wurde die Kapelle nochmals wiederhergestellt und 1433 als Wallfahrtskapelle „Zum heiligen Kreuz“ geweiht. Davon zeugen neben dem Bau selbst auch mehrere Bestattungen und die Funde von Pilgerzeichen. Spätestens mit der Reformation verlor auch dieses regionale Wallfahrtszentrum an Bedeutung, und der Berg wurde bis zum Bau des Kyffhäuserdenkmals lediglich durch einen seit dem 15. Jahrhundert betriebenen Steinbruch genutzt.
Die Nutzung des Geländes in der Neuzeit
Im Zusammenhang mit der weiteren Verbreitung der Barbarossa-Sage z. B. in einem 1519 erschienenen Volksbüchlein steht das mehrmalige Erscheinen sogenannter „falscher Friedriche“. Am bekanntesten ist der Auftritt eines Schneiders aus Langensalza im Jahr 1546, der sich als Kaiser Friedrich ausgab und in den Ruinen der Burg „residierte“.
Bereits im Zeitalter der Klassik, noch mehr aber in der Romantik entwickelte sich die Ruine zu einem touristischen Anziehungspunkt. 1776 wanderten Johann Wolfgang von Goethe und Herzog Carl August von Sachsen-Weimar auf dem Kyffhäuser. Im frühen 19. Jahrhundert wurde der Kyffhäuser auch zum Symbol für die Freiheitsbestrebungen und die Schaffung eines deutschen Nationalstaats. 1817 veröffentlichte Friedrich Rückert sein Gedicht „Der alte Barbarossa“, das zum schulischen Allgemeingut wurde und mit dem der Kyffhäuser noch weitere Bekanntheit erlangte. Zwischen 1846 und 1848 fanden an der Ruine der Burg Burschenschaftstreffen statt. Durch den Bau des Kyffhäuserdenkmals 1890–1898 auf der Oberburg wurden deren Reste zu einem großen Teil zerstört.
Bis zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland gehörte die Reichsburg Kyffhausen zum Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, danach zum Freistaat Thüringen.
Archäologische Ausgrabungen 1934 bis 1938
1934 hatte der Deutsche Reichskriegerbund (Kyffhäuserbund) als Besitzer des Geländes begonnen, die beim Bau des Kyffhäuserdenkmals unbeschädigt gebliebenen Teile der mittelalterlichen Reichsburg Kyffhausen freizulegen und zu konservieren, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In dem Zusammenhang wurden archäologische Ausgrabungen in der Unter- (1934–1936) und in der Oberburg (1937–1938) notwendig, die unter der Leitung des Staatlichen Vertrauensmanns für die vor- und frühgeschichtlichen Bodenaltertümer Thüringens, Prof. Dr. Gotthard Neumann und seiner Assistenten vom Germanischen Museum der Universität Jena durchgeführt wurden. Die 1938 abgeschlossenen Freilegungsarbeiten erfolgten unter Einsatz des Reichsarbeitsdienstes und zahlreicher freiwilliger Helfer und wurden unter großem Zeitdruck ausgeführt. Abstriche bei der wissenschaftlichen Qualität der Ausgrabungen waren daher unvermeidlich, doch erbrachten diese Grabungen trotzdem wesentliche Erkenntnisse über die Bauentwicklung und Ausstattung der Burgen im Mittelalter.
Im Verlaufe der Grabungen kam es mit Vertretern des Reichskriegerbundes zu erheblichen Differenzen bei der Interpretation der entdeckten vorgeschichtlichen Befestigungs- und Siedlungsreste. Außerdem versuchten Heinrich Himmler und die 1935 von diesem gegründete „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.“ zunehmend, Einfluss auf die Untersuchungen zu nehmen. Während die ur- und frühgeschichtlichen Funde und Befunde 1940 durch die Ausgräber ausführlich vorgelegt wurden, stehen die archäologische Aufarbeitung der mittelalterlichen Baugeschichte und die Vorlage der zahlreichen und zum Teil herausragenden mittelalterlichen Funde bis heute noch aus.
Die Burg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute
Nach den Freilegungen in den 1930er Jahren wurden die Ruinen gesichert und teilweise wieder aufgemauert. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es angeblich Pläne, das Denkmal zu sprengen, was auch die Burgruine stark in Mitleidenschaft gezogen hätte. Im Zusammenhang mit der noch einmal verstärkten touristischen Nutzung fanden auch in der DDR-Zeit beständige Sicherungsarbeiten an den Ruinen und dem Denkmal statt, die seit 1990 noch einmal verstärkt werden konnten. In dem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren erneut kleinere Ausgrabungen und Notbergungen sowie Bauforschungen insbesondere am Barbarossaturm durchgeführt.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Baugeschichte der Burgen lag bis 1961 in den Händen des bekannten Burgenforschers Herrmann Wäscher. Inwieweit seine Überlegungen zum Bauablauf, Berechnungen zum Bauumfang und zur Bauleistung und Rekonstruktionsversuche noch Gültigkeit haben, kann erst nach einer ausführlichen Vorlage der archäologischen Funde und Befunde unter Einbeziehung der neueren archäologischen und baugeschichtlichen Untersuchungen entschieden werden.
Beschreibung der Burganlage
Die gesamte Anlage gliedert sich in drei einzelne, ehemals in sich geschlossene Burgen. Sie werden als Ober-, Mittel- und Unterburg bezeichnet.
Oberburg
Die Oberburg ist – anders als von Hermann Wäscher angenommen – die älteste der drei Anlagen. Sie ist nach einer Auswertung der keramischen Funde durch Wolfgang Timpel schon in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, möglicherweise sogar bereits im 10. Jahrhundert entstanden. Beim Bau des Kyffhäuserdenkmals wurde sie zu über zwei Drittel zerstört. Erhalten blieben mehrere herausragende mittelalterliche Bauten im Westen. Besonders hervorzuheben ist der quadratische Bergfried, der sogenannte Barbarossaturm. Der an der Außenschale des drei Meter starken Mauerwerks mit Buckelquadern versehene Turm ist heute noch auf einer Höhe von 17 Metern erhalten, ursprünglich soll er 30 Meter hoch gewesen sein. Wie bei nahezu allen Bergfrieden wird häufig davon ausgegangen, dass er den Burgherren als letzte Zufluchtsstätte diente. Dabei handelt es sich jedoch um einen gern gepflegten Mythos der älteren Burgenforschung. Seine eigentliche Bedeutung war neben der Verteidigungsmöglichkeit die Funktion als Symbol für Herrschaft und Macht. Zusätzlich kommt hier noch eine Wohnfunktion hinzu, die sich durch zwei Wohngeschosse mit Kaminen sowie Aborterkern zeigt. Um den Bergfried konnten mehrere Fundamentzüge und Mauern ergraben und erhalten werden, die unter anderem einen dreigeteilten Hauptwohnbau (Palas) an der Südseite und einen Küchenbau an der Nordwestseite vermuten lassen. Erhalten geblieben sind weiterhin Reste der Ringmauer und das sogenannte Erfurter Tor, ein einfaches romanisches Kammertor ohne zusätzliche Verteidigungsanlagen aus dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, das gut mit ähnlichen Toranlagen auf der Runneburg bei Weißensee oder der Eckartsburg vergleichbar ist.
Bei den Arbeiten am Kyffhäuserdenkmal wurde auch der verschüttete Burgbrunnen wiederentdeckt, der 176 m tief in den Fels getrieben wurde und zu den tiefsten Brunnen auf mittelalterlichen Burganlagen in Mitteleuropa gehört. Die Brunnenröhre hat einen Durchmesser von knapp über zwei Meter. Er wird durch Sickerwasser und nicht, wie zuweilen noch zu lesen, durch Grundwasser gespeist. Der Ablauf über eine Felsspalte hält den Wasserstand konstant auf neun Meter. Er wurde in der Zeit von 1934 bis 1938 bei den archäologischen Ausgrabungen von Schutt und Unrat gereinigt. Wann der Brunnen angelegt wurde, kann nicht sicher bestimmt werden, doch ist von einer Entstehung erst in der letzten Ausbauphase der Burg auszugehen. Zuweilen wird jedoch auch eine Bauzeit von 1140 bis 1180 angenommen, die mit der Bedeutung der Burg zu dieser Zeit begründet wird, aber bislang ohne Vergleich bleibt und damit eher unwahrscheinlich scheint.
Der Brunnen ist heute beleuchtet. Um die enorme Tiefe zu demonstrieren, kippte in der Vergangenheit ein oben angebrachter Becher, der langsam mit Wasser gefüllt wurde, im Minutentakt um und ergoss sich in den Brunnen. Etwa 20 Sekunden später war das Auftreffen des Wassers auf den Wasserspiegel in der Tiefe durch die sich ändernden Lichtreflexe zu beobachten. Jetzt können zuvor erworbene Steine aus dem örtlich anstehenden Sandstein hineingeworfen werden. Ein Korb unterhalb des Wasserspiegels fängt die Steine auf und ermöglicht ihre Bergung zurück ans Tageslicht.
Mittelburg
Von der bereits im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit durch einen Steinbruch für Mühlsteine zerstörten Mittelburg sind nur Reste des ehemaligen Mauerwerks erhalten. Hierzu gehören Teile eines rechteckigen und eines runden Turms. Aussagen zu Alter, Bauablauf und Funktion sind daher kaum noch möglich.
Heute stellt sie sich als eine romantische, wildzerklüftete Felsschlucht dar, die schon 1776 Goethe faszinierte. Durch den Steinbruch ebenfalls freigelegt wurden Einschlüsse von verkieseltem (versteinertem) Holz. Einige dieser 300 Millionen Jahre alten Stammstücke sind auch vor dem Burgmuseum zu finden.
Unterburg
Am besten erhalten ist die erst in den 1930er Jahren wieder freigelegte und zum Teil neu aufgemauerte Unterburg mit einer nahezu geschlossenen und bis in eine Höhe von 10 m erhaltenen Ringmauer und einem weiteren einfachen Kammertor mit gut erhaltenen Torwangen. In der Unterburg sind Mauer- und Fundamentreste von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden aus verschiedenen Bauphasen der Burg freigelegt. In dem durch eine Quermauer abgetrennten westlichen Teil steht der Stumpf des Bergfrieds mit 11 m Durchmesser. Im hinteren Teil hat sich neben der im 15. Jahrhundert erneuerten Kapelle ein zweiter Turm (Wohnturm?) erhoben.
Da ein mächtiger Brandhorizont, der in nahezu der gesamten Unterburg bei den Freilegungen angetroffen wurde, mit den Zerstörungen im Jahr 1118 in Zusammenhang zu bringen ist, muss sie zu dieser Zeit bereits bestanden haben. Sie dürfte jedoch nicht wesentlich vor dem 12. Jahrhundert gegründet worden sein.
Literatur
Wolfgang Timpel: Die mittelalterliche Keramik der Kyffhäuserburgen. In: Paul Grimm: Tilleda. Eine Königspfalz am Kyffhäuser. Band 2: Die Vorburg und Zusammenfassung (= Schriften zur Ur- und Frühgeschichte. Bd. 40). Akademie-Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-05-000400-2, S. 249f.
Hansjürgen Brachmann: Zum Burgenbau salischer Zeit zwischen Harz und Elbe. In: Horst Wolfgang Böhme (Hrsg.): Burgen der Salierzeit. Band 1: In den nördlichen Landschaften des Reiches (= Römisch-Germanisches Zentralmuseum zu Mainz, RGZM, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte. Monographien 25). Thorbecke, Sigmaringen 1991, ISBN 3-7995-4134-9, S. 97–148, hierzu S. 118–120, 129 f. (Kat.-Nr. 2–3).
Holger Reinhardt: Zum Dualismus von Materialfarbigkeit und Fassung an hochmittelalterlichen Massivbauten. Neue Befunde aus Thüringen. In: Burgen und Schlösser in Thüringen. Bd. 1, 1996, , S. 70–84.
Karl Peschel: Höhensiedlungen der älteren vorrömischen Eisenzeit nördlich des Thüringer Waldes. In: Albrecht Jockenhövel (Hrsg.): Ältereisenzeitliches Befestigungswesen zwischen Maas/Mosel und Elbe (= Veröffentlichungen der Altertumskommission für Westfalen. Bd. 11). Internationales Kolloquium am 8. November 1997 in Münster anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Altertumskommission für Westfalen. Aschendorff, Münster 1999, ISBN 3-402-05036-6, S. 125–158, hierzu bes. S. 134 u. 139, Abb. 10 u. 150.
Thomas Bienert: Mittelalterliche Burgen in Thüringen. 430 Burgen, Burgruinen und Burgstätten. Wartberg, Gudensberg-Gleichen 2000, ISBN 3-86134-631-1, S. 166–172.
Dankwart Leistikow: Die Rothenburg am Kyffhäuser. In: Burgen und frühe Schlösser in Thüringen und seinen Nachbarländern (= Forschungen zu Burgen und Schlössern. Bd. 5). Deutscher Kunstverlag, München u. a. 2000, ISBN 3-422-06263-7, S. 31–46 (hier auch kurz zusammenfassend zur Reichsburg Kyffhausen mit einer umfangreichen Bibliographie).
Ralf Rödger, Petra Wäldchen: Kyffhäuser, Burg und Denkmal (= Schnell Kunstführer. Bd. 2061). 11., komplett überarbeitete Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2003, ISBN 3-7954-5791-2.
Heinrich Schleiff: Denkmalpflege an den Kyffhäuser-Burganlagen und dem Kaiser-Wilhelm-National-Denkmal von 1990–2003. In: Aus der Arbeit des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege (= Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege. Neue Folge Bd. 13). Band 1. Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege, Erfurt 2003, ISBN 3-910166-93-8, S. 122–128.
Steffen Raßloff: Barbarossa. Kaiser und Sagengestalt. Rhino, Ilmenau 2021, ISBN 978-3-95560-088-4.
Weblinks
Informationen des Tourismusverbands Kyffhäuser e. V.
Informationen zur Reichsburg und zum Kyffhäuserdenkmal auf den Webseiten des neueröffneten „Burghof Kyffhäuser Denkmalswirtschaft“
Burg Kyffhausen bei Burgenarchiv.de
Einzelnachweise
Archäologischer Fundplatz in Thüringen
Kyffhausen
Kyffhausen
Kyffhäuser
Bauwerk in Kyffhäuserland
Kyffhausen
Burgen- und Festungsmuseum
Burg im Kyffhäuserkreis
Geographie (Kyffhäuserland)
Archäologischer Fundplatz in Europa
Kyffhausen
Kulturdenkmal in Kyffhäuserland
Geschichte (Kyffhäuserkreis)
Tourismus (Thüringen) |
200579 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bestimmtheitsma%C3%9F | Bestimmtheitsmaß | Das Bestimmtheitsmaß, auch Determinationskoeffizient (von determinatio „Abgrenzung, Bestimmung“ bzw. determinare „eingrenzen“, „festlegen“, „bestimmen“ und coefficere „mitwirken“), bezeichnet mit , ist in der Statistik eine Kennzahl zur Beurteilung der Anpassungsgüte einer Regression.
Das Bestimmtheitsmaß beruht auf der Quadratsummenzerlegung, bei der die totale Quadratsumme in die durch das Regressionsmodell erklärte Quadratsumme einerseits und in die Residuenquadratsumme andererseits zerlegt wird.
Allerdings, existieren mehrere verschiedene, nicht gleichbedeutende Definitionen des Bestimmtheitsmaßes.
Das Bestimmtheitsmaß steht in enger Beziehung zu weiteren Modellgütemaßen zur Prüfung der Regressionsfunktion, wie z. B. zum Standardfehler der Regression und zur F-Statistik.
Weil das Bestimmtheitsmaß durch die Aufnahme zusätzlicher Variablen wächst und die Gefahr der Überanpassung besteht, wird für praktische Anwendungen meist das adjustierte Bestimmtheitsmaß verwendet.
Das adjustierte Bestimmtheitsmaß „bestraft“ im Gegensatz zum unadjustierten Bestimmtheitsmaß die Aufnahme jeder neu hinzugenommenen erklärenden Variable.
Obwohl das Bestimmtheitsmaß die am häufigsten benutzte Kennzahl ist, um die globale Anpassungsgüte einer Regression zu quantifizieren, wird es oft fehlinterpretiert und falsch angewendet, auch da bei einer Regression durch den Ursprung zahlreiche alternative Definitionen des Bestimmtheitsmaßes nicht äquivalent sind.
Das Bestimmtheitsmaß ist ein reines Zusammenhangsmaß. So ist es nicht möglich, das Bestimmtheitsmaß zu verwenden, um einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen den Variablen nachzuweisen. Außerdem zeigt das Bestimmtheitsmaß nur die Größe des Zusammenhangs zwischen den Variablen, aber nicht, ob dieser Zusammenhang statistisch signifikant ist.
Das Pseudo-Bestimmtheitsmaß und die Devianz verallgemeinern das Bestimmtheitsmaß.
Einführung in die Problemstellung
Gegeben sind Messungen , d. h., bei dem -ten Wertepaar wird einem Wert (z. B. Größe einer Person) ein Messwert (z. B. das gemessene Gewicht der Person) zugeordnet. Dazu berechnet man den empirischen Mittelwert (z. B. das mittlere Gewicht der Probanden). Ferner gibt es einen Schätzer (Modellfunktion), der jedem Wert (z. B. Größe) einen Schätzwert (geschätztes Gewicht für eine Person mit Größe ) zuordnet. Die Abweichung einer Schätzung von der zugehörigen Messung ist durch gegeben und wird „Residuum“ genannt. Bei der einfachen linearen Regression, die zum Ziel hat, das Absolutglied ( intercept) , die Steigung ( slope) und die Störgrößenvarianz zu schätzen, wird der Schätzer anschaulich durch die Regressionsgerade beschrieben und mathematisch durch die Stichproben-Regressionsfunktion definiert. Die beiden Parameterschätzer und werden auch als Kleinste-Quadrate-Schätzer bezeichnet. Wenn das zugrundeliegende Modell ein von Null verschiedenes Absolutglied enthält, stimmt der empirische Mittelwert der Schätzwerte mit dem der beobachteten Messwerte überein, also
(für einen Beweis siehe unter Matrixschreibweise).
Es empfiehlt sich, nach der Schätzung der Regressionsparameter die Regressionsgerade gemeinsam mit den Datenpunkten in ein Streudiagramm einzuzeichnen. Auf diese Weise bekommt man eine Vorstellung davon, wie „gut“ die Punkteverteilung durch die Regressionsgerade wiedergegeben wird. Je enger die Datenpunkte um die Regressionsgerade herum konzentriert sind, d. h. je kleiner also die Residuenquadrate sind, desto „besser“. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass die Residuenquadrate typischerweise klein sind, wenn die abhängige Variable eine geringe Variabilität aufweist. Die geforderte Kleinheit der Residuenquadrate muss also in Relation zur Streuung der abhängigen Variablen betrachtet werden.
Ein Maß zur Beurteilung der Anpassungsgüte sollte außerdem die Streuung der Messwerte und die der geschätzten Werte in Relation setzen. Die Streuung der jeweiligen Werte um ihren Mittelwert kann mithilfe der „Summe der Abweichungsquadrate“ (Summe der Quadrate bzw. Sum of Squares, kurz: SQ oder SS) gemessen werden. Das „mittlere Abweichungsquadrat“ stellt die empirische Varianz dar. Die Streuung der Schätzwerte um ihren Mittelwert kann durch gemessen werden und die Streuung der Messwerte um das Gesamtmittel kann durch gemessen werden. Erstere stellt die durch die Regression „erklärte Quadratsumme“ (Summe der Quadrate der Erklärten Abweichungen bzw. Sum of Squares Explained, kurz: SQE oder SSE), und letztere stellt die „zu erklärende Quadratsumme“ bzw. die „totale Quadratsumme“ (Summe der Quadrate der Totalen Abweichungen bzw. Sum of Squares Total, kurz: SQT oder SST) dar. Das Verhältnis dieser beiden Größen wird das Bestimmtheitsmaß der Regression genannt. Das Bestimmtheitsmaß zeigt, wie gut die durch die Schätzung gefundene Modellfunktion zu den Daten passt, d. h. wie gut sich die konkrete empirische Regressionsgerade einer angenommenen wahren Gerade annähert. Die durch die Regression „nicht erklärten Abweichungen“ (Restabweichungen), d. h. die Abweichungen der Datenpunkte von der Regressionsgeraden werden durch die Regression „nicht erklärte Quadratsumme“ bzw. die Residuenquadratsumme (Summe der Quadrate der Restabweichungen (oder: „Residuen“) bzw. Sum of Squares Residual, kurz: SQR oder SSR) erfasst, die durch gegeben ist.
Definitionen
Das Bestimmtheitsmaß dient als Maßzahl zur Beurteilung der globalen Anpassungsgüte eines Regressionsmodells.
Variante 1
Das Bestimmtheitsmaß der Regression, auch empirisches Bestimmtheitsmaß, ist eine dimensionslose Maßzahl, die den Anteil der Variabilität in den Messwerten der abhängigen Variablen ausdrückt, der durch das lineare Modell „erklärt“ wird. Gegeben die Quadratsummenzerlegung, ist das Bestimmtheitsmaß der Regression definiert als das Verhältnis der durch die Regression erklärten Quadratsumme zur totalen Quadratsumme:
wobei .
Als quadrierter Korrelationskoeffizient
Bei einer einfachen linearen Regression (nur eine erklärende Variable) entspricht das Bestimmtheitsmaß dem Quadrat des Bravais-Pearson-Korrelationskoeffizienten und lässt sich aus der Produktsumme (Summe der Produkte der Abweichungen der Messwerte vom jeweiligen Mittelwert ) und den Quadratsummen und berechnen:
,
wobei der Kleinste-Quadrate-Schätzer für die Steigung der Quotient aus Produktsumme von und und Quadratsumme von ist. In der einfachen linearen Regression ist , wenn ist, d. h. die erklärende Variable steht zur Schätzung von nicht zur Verfügung. Dies folgt aus der Tatsache, dass in der einfachen linearen Regression gilt. In diesem Fall besteht das „beste“ lineare Regressionsmodell nur aus dem Absolutglied . Das so definierte Bestimmtheitsmaß ist ebenfalls gleich null, wenn der Korrelationskoeffizient gleich null ist, da es in der einfachen linearen Regression dem quadrierten Korrelationskoeffizienten zwischen und entspricht. Im Kontext der einfachen linearen Regression wird das Bestimmtheitsmaß auch als einfaches Bestimmtheitsmaß bezeichnet. Bei der Interpretation des einfachen Bestimmtheitsmaßes muss man vorsichtig sein, da es u. U. schon deshalb groß ist, weil die Steigung der Regressionsgeraden groß ist.
In der Realität hängen abhängige Variablen im Allgemeinen von mehr als einer erklärenden Variablen ab. Zum Beispiel ist das Gewicht eines Probanden nicht nur von dessen Alter, sondern auch von dessen sportlicher Betätigung und psychologischen Faktoren abhängig. Bei einer multiplen Abhängigkeit gibt man die Annahme der einfachen linearen Regression auf, bei der die abhängige Variable nur von einer erklärenden Variablen abhängt. Um eine mehrfache Abhängigkeit zu modellieren, benutzt man ein typisches multiples lineares Regressionsmodell
.
Hierbei ist die Anzahl der zu schätzenden unbekannten Parameter und die Anzahl der erklärenden Variablen. Zusätzlich zur Dimension der unabhängigen Variablen wird auch eine zeitliche Dimension integriert, wodurch sich ein lineares Gleichungssystem ergibt, was sich in Vektor-Matrix-Form darstellen lässt.
Im Gegensatz zur einfachen linearen Regression entspricht in der multiplen linearen Regression das dem Quadrat des Korrelationskoeffizienten zwischen den Messwerten und den Schätzwerten (für einen Beweis siehe unter Matrixschreibweise), also
.
Im Kontext der multiplen linearen Regression wird das Bestimmtheitsmaß auch als mehrfaches bzw. multiples Bestimmtheitsmaß bezeichnet. Aufgrund des oben aufgezeigten Zusammenhangs kann das multiple Bestimmtheitsmaß als eine Maßzahl für die Anpassungsgüte der geschätzten Regressionshyperebene an die Realisierungen der Zufallsvariablen angesehen werden. Es ist also ein Maß des linearen Zusammenhangs zwischen und .
Variante 2
Für den speziellen Fall einer linearen Regression mit Fit des Achsenabschnitts kann die obige Definition äquivalent wie folgt geschrieben werden (nicht jedoch im Allgemeinen):
,
wobei angenommen wird, dass für die totale Quadratsumme gilt, was praktisch immer erfüllt ist, außer für den Fall, dass die Messwerte der abhängigen Variable keinerlei Variabilität aufweisen, d. h. . In diesem Falle ist das Bestimmtheitsmaß nicht definiert.
Die zweite Gleichung, die sich mithilfe der Quadratsummenzerlegung für lineare Modelle zeigen lässt, ist eine alternative Berechnungsformel für das Bestimmtheitsmaß, welche auch negative Werte für das Bestimmtheitsmaß liefern kann, falls Annahmen eines linearen Modells verletzt werden.
Die alternative Berechnungsformel setzt die geforderte Kleinheit der Residuenquadrate in Relation zur gesamten Quadratsumme. Die zur Konstruktion des Bestimmtheitsmaßes verwendete Quadratsummenzerlegung kann als „Streuungszerlegung“ interpretiert werden, bei der die „Gesamtstreuung“ in die „erklärte Streuung“ und die „Reststreuung“ zerlegt wird. Das Bestimmtheitsmaß ist also gerade als jener Anteil der Gesamtstreuung zu deuten, der mit der Regressionsfunktion erklärt werden kann. Der unerklärte Teil bleibt als Reststreuung zurück.
In der einfachen linearen Regression und der multiplen linearen Regression entspricht das Bestimmtheitsmaß dem Quadrat des Bravais-Pearson-Korrelationskoeffizienten (siehe auch unter Als quadrierter Korrelationskoeffizient). Dieser Umstand ist dafür verantwortlich, dass das Bestimmtheitsmaß als (lies: R Quadrat) oder notiert wird. In deutschsprachiger Literatur findet sich auch der Buchstabe als Bezeichnung für das Bestimmtheitsmaß. In den Anfängen der Statistik wurde mit dem Buchstaben ein Schätzer des Korrelationskoeffizienten der Grundgesamtheit notiert und in der Regressionsanalyse wird diese Notation noch heute verwendet.
Beachte, dass diese zweite Variante Ähnlichkeiten zu McFaddens Pseudo-Bestimmtheitsmaß hat, wenn die Likelihood-Funktionen aus Normalverteilungen mit angenommener konstanter Varianz zusammengesetzt sind.
Eigenschaften
Wertebereich des Bestimmtheitsmaßes
Mithilfe der obigen Definition können die Extremwerte für das Bestimmtheitsmaß aufgezeigt werden. Für das Bestimmtheitsmaß gilt, dass es umso näher am Wert ist, je kleiner die Residuenquadratsumme ist. Es wird maximal gleich , wenn ist, also alle Residuen null sind. In diesem Fall ist die Anpassung an die Daten perfekt, was bedeutet, dass für jede Beobachtung ist und alle Beobachtungspunkte des Streudiagramms auf der Regressionsgeraden liegen. Das Bestimmtheitsmaß nimmt hingegen den Wert an, wenn beziehungsweise ist. Diese Gleichung besagt, dass die „nicht erklärte Streuung“ der „gesamten zu erklärenden Streuung“ entspricht und die erklärenden Variablen somit keinen Beitrag zur Erklärung der Gesamtstreuung leisten. Die gesamte zu erklärende Streuung wird in diesem Fall durch die Residuen hervorgerufen und die Regressionsgleichung „erklärt“ gar nicht.
Variante 1
Die Variante 1 hat einen Wertebereich
Variante 2
Die Variante 2 hat einen Wertebereich
Wenn das Regressionsmodell kein Absolutglied enthält (es liegt ein homogenes Regressionsmodell vor), kann das Bestimmtheitsmaß negativ werden (siehe unter Einfache lineare Regression durch den Ursprung). Ebenfalls kann das Bestimmtheitsmaß negativ werden, wenn es auf simultane Gleichungsmodelle angewendet wird, da in diesem Kontext nicht notwendigerweise gleich ist.
Hierarchisch geordnete Modelle
Sei der der Vektor der erklärenden Variablen. Ferner wird angenommen, dass in zwei Teilvektoren und partitioniert wird, d. h. . Sei weiterhin das volle Modell und und ein darin enthaltenes Teilmodell . Dann gilt , d. h. für hierarchisch geordnete Modelle ist das Bestimmtheitsmaß des Teilmodells immer kleiner oder gleich dem Bestimmtheitsmaß des vollen Modells. Dies bedeutet, dass das Bestimmtheitsmaß mit zunehmender Anzahl der erklärenden Variablen automatisch ansteigt, ohne dass sich dabei die Güte der Anpassung signifikant verbessern muss.
Interpretation
Das Bestimmtheitsmaß lässt sich mit multiplizieren, um es in Prozent anzugeben: ist dann der prozentuale Anteil der Streuung in , der durch das lineare Modell „erklärt“ wird, und liegt daher zwischen:
(oder ): kein linearer Zusammenhang und
(oder ): perfekter linearer Zusammenhang.
Je näher das Bestimmtheitsmaß am Wert Eins liegt, desto höher ist die „Bestimmtheit“ bzw. „Güte“ der Anpassung. Bei ist der lineare Schätzer im Regressionsmodell völlig unbrauchbar für die Vorhersage des Zusammenhangs zwischen und (z. B. kann man das tatsächliche Gewicht der Person überhaupt nicht mit dem Schätzer vorhersagen). Ist , dann lässt sich die abhängige Variable vollständig durch das lineare Regressionsmodell erklären. Anschaulich liegen dann die Messpunkte alle auf der (nichthorizontalen) Regressionsgeraden. Somit liegt bei diesem Fall kein stochastischer Zusammenhang vor, sondern ein deterministischer.
Durch die Aufnahme zusätzlicher erklärender Variablen kann das Bestimmtheitsmaß nicht sinken. Das Bestimmtheitsmaß hat die Eigenschaft, dass es i. d. R. durch die Hinzunahme weiterer erklärender Variablen steigt (), was scheinbar die Modellgüte steigert und zum Problem der Überanpassung führen kann. Das Bestimmtheitsmaß steigt durch die Hinzunahme weiterer erklärender Variablen, da durch die Hinzunahme dieser der Wert der Residuenquadratsumme sinkt. Auch wenn dem Modell irrelevante „erklärende Variablen“ hinzugefügt werden, können diese zu Erklärung der Gesamtstreuung beitragen und den R-Quadrat-Wert künstlich steigern. Da die Hinzunahme jeder weiteren erklärenden Variablen mit einem Verlust eines Freiheitsgrads verbunden ist, führt dies zu einer ungenaueren Schätzung. Wenn man Modelle mit einer unterschiedlichen Anzahl erklärender Variablen und gleichen unabhängigen Variablen vergleichen will, ist die Aussagekraft des Bestimmtheitsmaßes begrenzt. Um solche Modelle vergleichen zu können, wird ein „adjustiertes“ Bestimmtheitsmaß verwendet, welches zusätzlich die Freiheitsgrade berücksichtigt (siehe auch unter Das adjustierte Bestimmtheitsmaß).
Aus dem Bestimmtheitsmaß kann man im Allgemeinen nicht schließen, ob das angenommene Regressionsmodell dem tatsächlichen funktionalen Zusammenhang in den Messpunkten entspricht (siehe auch unter Grenzen und Kritik). Der Vergleich des Bestimmtheitsmaßes über Modelle hinweg ist nur sinnvoll, wenn eine gemeinsame abhängige Variable vorliegt und wenn die Modelle die gleiche Anzahl von Regressionsparametern und ein Absolutglied aufweisen. Da mit dem Bestimmtheitsmaß auch indirekt der Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen gemessen wird, ist es ein proportionales Fehlerreduktionsmaß.
In den Sozialwissenschaften sind niedrige R-Quadrat-Werte in Regressionsgleichungen nicht ungewöhnlich. Bei Querschnittsanalysen treten häufig niedrige R-Quadrat-Werte auf. Dennoch bedeutet ein kleines Bestimmtheitsmaß nicht notwendigerweise, dass die Kleinste-Quadrate-Regressionsgleichung unnütz ist. Es ist immer noch möglich, dass die Regressionsgleichung ein guter Schätzer für den ceteris-paribus-Zusammenhang zwischen und ist. Ob die Regressionsgleichung ein guter Schätzer für den Zusammenhang von und ist hängt nicht direkt von der Größe des Bestimmtheitsmaßes ab.
Cohen und Cohen (1975) und Kennedy (1981) konnten zeigen, dass sich das Bestimmtheitsmaß graphisch mittels Venn-Diagrammen veranschaulichen lässt.
Konstruktion
Ausgangspunkt für die Konstruktion des Bestimmtheitsmaßes ist die Quadratsummenzerlegung, die als Streuungszerlegung interpretiert werden kann. In Bezug auf lässt sich darstellen als
oder äquivalent
,
wobei die Abweichung von vom Mittelwert und die Restabweichung bzw. das Residuum darstellt. Die Gesamtabweichung lässt sich also zerlegen in die erklärte Abweichung und das Residuum. Die Gleichheit gilt auch dann noch, wenn man die Abweichungen quadriert (Abweichungsquadrate bildet) und anschließend über alle Beobachtungen summiert (Abweichungsquadratsummen, kurz: Quadratsummen bildet). Die totale Quadratsumme bzw. die zu „erklärende“ Quadratsumme lässt sich in die Quadratsumme der durch die Regressionsfunktion „erklärten“ Abweichungen vom Gesamtmittel (durch das Modell „erklärte“ Quadratsumme) und die Residuenquadratsumme (durch das Modell nicht „erklärte“ Quadratsumme) zerlegen. Die Quadratsummenzerlegung ergibt somit
oder äquivalent dazu
.
Diese Zerlegung folgt in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird eine Nullergänzung vorgenommen:
.
Im zweiten Schritt wurde die Eigenschaft benutzt, dass gewöhnliche Residuen vorliegen, die mit den geschätzten Werten unkorreliert sind, d. h. . Dies kann so interpretiert werden, dass in der Schätzung bereits alle relevante Information der erklärenden Variablen bezüglich der abhängigen Variablen steckt. Zudem wurde die Eigenschaft verwendet, dass – wenn das Modell das Absolutglied enthält – die Summe und damit der empirische Mittelwert der Residuen Null ist. Dies folgt aus den verwendeten Schätzverfahren (Maximum-Likelihood-Schätzung bei der klassischen Normalregression oder Kleinste-Quadrate-Schätzung), denn dort müssen die ersten partiellen Ableitungen der Residuenquadratsumme nach gleich Null gesetzt werden um das Maximum bzw. Minimum zu finden, also für : bzw. für mit (siehe Algebraische Eigenschaften). Werden die Regressionsparameter mittels der Kleinste-Quadrate-Schätzung geschätzt, dann wird der Wert für automatisch maximiert, da die Kleinste-Quadrate-Schätzung die Residuenquadratsumme minimiert.
Im Anschluss an die Zerlegung dividiert man die Quadratsummenzerlegungsformel durch die totale Quadratsumme und erhält damit
oder
.
Das Verhältnis der durch die Regression erklärten Quadratsumme zur gesamten Quadratsumme
wird Bestimmtheitsmaß der Regression genannt. Aus der Quadratsummenzerlegungsformel wird ersichtlich, dass man das Bestimmtheitsmaß auch als
darstellen kann. Wenn die obige Quadratsummenzerlegungsformel durch den Stichprobenumfang beziehungsweise durch die Anzahl der Freiheitsgrade dividiert wird, erhält man die Varianzzerlegungsformel: . Die Varianzzerlegung stellt eine additive Zerlegung der Varianz der abhängigen Variablen (totale Varianz bzw. Gesamtvarianz) in die Varianz der Schätzwerte (erklärte Varianz) und die nicht erklärte Varianz (auch Residualvarianz genannt) dar. Hierbei entspricht die Residualvarianz dem Maximum-Likelihood-Schätzer für die Varianz der Störgrößen . Aufgrund der Varianzzerlegung lässt sich das Bestimmtheitsmaß auch als darstellen und wie folgt interpretieren: Das Bestimmtheitsmaß gibt an, wie viel Varianzaufklärung alle erklärenden Variablen an der Varianz der abhängigen Variablen leisten. Diese Interpretation ist jedoch nicht ganz korrekt, da die Quadratsummen eigentlich unterschiedliche Freiheitsgrade aufweisen. Diese Interpretation trifft eher auf das adjustierte Bestimmtheitsmaß zu, da hier die erwartungstreuen Varianzschätzer ins Verhältnis gesetzt werden. Im Gegensatz zur Varianzaufklärung beim Bestimmtheitsmaß kann man bei der Varianzaufklärung in der Hauptkomponenten- und Faktorenanalyse jeder Komponente bzw. jedem Faktor seinen Beitrag zur Aufklärung der gesamten Varianz zuordnen. Kent (1983) hat eine allgemeine Definition der Varianzaufklärung gegeben, die auf dem Informationsmaß von Fraser (1965) aufbaut.
Einfache lineare Regression durch den Ursprung
Im Fall der einfachen linearen Regression durch den Ursprung/Regression ohne Absolutglied (das Absolutglied wird nicht in die Regression miteinbezogen und daher verläuft die Regressionsgleichung durch den Koordinatenursprung) lautet die konkrete empirische Regressionsgerade , wobei die Notation benutzt wird um von der allgemeinen Problemstellung der Schätzung eines Steigungsparameters mit Hinzunahme eines Absolutglieds zu unterscheiden. Auch in einer einfachen linearen Regression durch den Ursprung lässt sich die Kleinste-Quadrate-Schätzung anwenden. Sie liefert für die Steigung . Dieser Schätzer für den Steigungsparameter entspricht dem Schätzer für den Steigungsparameter , dann und nur dann wenn . Wenn für das wahre Absolutglied gilt, ist ein verzerrter Schätzer für den wahren Steigungsparameter .
Wenn in eine Regressionsgleichung kein Absolutglied hinzugenommen wird, nimmt der aus der obigen Quadratsummenzerlegungsformel entnommene Ausdruck nicht den Wert Null an. Daher ist die oben angegebene Quadratsummenzerlegungsformel in diesem Fall nicht gültig. Wenn das Modell der Regression durch den Ursprung eine hinreichend schlechte Anpassung an die Daten liefert (d. h. die Daten variieren mehr um die Regressionslinie als um ), was in resultiert und man die allgemeine Definition des Bestimmtheitsmaßes anwendet, dann führt dies zu einem negativen Bestimmtheitsmaß. Nach dieser Definition kann
also negativ werden. Ein negatives Bestimmtheitsmaß bedeutet dann, dass das empirische Mittel der abhängigen Variablen eine bessere Anpassung an die Daten liefert als wenn man die erklärenden Variablen zur Schätzung benutzen würde. Um ein negatives Bestimmtheitsmaß zu vermeiden wird eine modifizierte Form der Quadratsummenzerlegung angegeben:
oder äquivalent dazu
.
Diese modifizierte Form der Quadratsummenzerlegung wird auch nicht korrigierte Quadratsummenzerlegung genannt, da die erklärte und die totale Quadratsumme nicht um den empirischen Mittelwert „korrigiert“ bzw. „zentriert“ werden. Wenn man statt dem gewöhnlichen und die modifizierten Quadratsummen und benutzt, ist das Bestimmtheitsmaß gegeben durch
.
Dieses Bestimmtheitsmaß ist strikt nichtnegativ und wird – da es auf der nicht korrigierten Quadratsummenzerlegung aufbaut, bei der nicht um den empirischen Mittelwert „zentriert“ wird – auch als unzentriertes Bestimmtheitsmaß bezeichnet. Zur Abgrenzung wird das konventionelle Bestimmtheitsmaß auch als zentriertes Bestimmtheitsmaß bezeichnet. Bei einer Regression durch den Ursprung wird daher die modifizierte Form der Quadratsummenzerlegungsformel verwendet.
Beispiele
Kriegsschiffe
Folgendes Beispiel soll die Berechnung des Bestimmtheitsmaßes zeigen. Es wurden zufällig zehn Kriegsschiffe ausgewählt (siehe Kriegsschiffsdaten in dieser Übersicht) und bezüglich ihrer Länge und Breite (in Metern) analysiert. Es soll untersucht werden, ob die Breite eines Kriegsschiffs möglicherweise in einem festen Bezug zur Länge steht.
Das Streudiagramm lässt einen linearen Zusammenhang zwischen Länge und Breite eines Schiffs vermuten. Eine mittels der Kleinste-Quadrate-Schätzung durchgeführte einfache lineare Regression ergibt für das Absolutglied und die Steigung (für die Berechnung der Regressionsparameter siehe Beispiel mit einer Ausgleichsgeraden). Die geschätzte Regressionsgerade lautet somit
.
Die Gleichung stellt die geschätzte Breite als Funktion der Länge dar. Die Funktion zeigt, dass die Breite der ausgewählten Kriegsschiffe grob einem Sechstel ihrer Länge entspricht.
Aus der Tabelle lässt sich erkennen, dass der Gesamtmittelwert der Breite beträgt, die totale Quadratsumme der Messwerte beträgt und die Residuenquadratsumme beträgt. Daher ergibt sich das Bestimmtheitsmaß zu
,
d. h. circa der Streuung in der Kriegsschiffsbreite kann durch die lineare Regression von Kriegsschiffsbreite auf Kriegsschiffslänge „erklärt“ werden. Das Komplement des Bestimmtheitsmaßes wird auch Unbestimmtheitsmaß (auch Koeffizient der Nichtdetermination oder Alienationskoeffizient, von alienus „fremd“, „unbekannt“) genannt. Bestimmtheits- und Unbestimmtheitsmaß addieren sich jeweils zu . Das Unbestimmtheitsmaß sagt im vorliegenden Beispiel aus, dass knapp der Streuung in der Breite „unerklärt“ bleiben. Hier könnte man z. B. nach weiteren Faktoren suchen, welche die Breite eines Kriegsschiffes beeinflussen und sie in die Regressionsgleichung mit aufnehmen.
Vergleich mit dem Standardfehler der Regression
Die „Qualität“ der Regression kann auch mithilfe des geschätzten Standardfehlers der Residuen (engl. residual standard error) beurteilt werden, der zum Standardoutput der meisten statistischen Programmpakete gehört. Der geschätzte Standardfehler der Residuen gibt an, mit welcher Sicherheit die Residuen den wahren Störgrößen näherkommen. Die Residuen sind somit eine Approximation der Störgrößen. Der geschätzte Standardfehler der Residuen ist mit dem Bestimmtheitsmaß und dem adjustierten Bestimmtheitsmaß vergleichbar und ähnlich zu interpretieren. Der geschätzte Standardfehler der Residuen, der sich aus der obigen Tabelle berechnen lässt, ergibt einen Wert von:
.
Es ist jedoch zu beachten, dass eine verzerrte Schätzung der wahren Varianz der Störgrößen ist, da der verwendete Varianzschätzer nicht erwartungstreu ist. Wenn man berücksichtigt, dass man durch die Schätzung der beiden Regressionsparameter und zwei Freiheitsgrade verliert und somit statt durch den Stichprobenumfang durch die Anzahl der Freiheitsgrade dividiert, erhält man das „mittlere Residuenquadrat“ und damit die erwartungstreue Darstellung:
.
Die Darstellung ist unverzerrt, da sie durch Einbezug der Freiheitsgrade der Varianzschätzer, wegen , unter den Gauß-Markow-Annahmen erwartungstreu ist (siehe auch Schätzer für die Varianz der Störgrößen). Die unverzerrte Darstellung wird im Regressionsoutput statistischer Software oft auch als Standardfehler der Schätzung oder Standardfehler der Regression (engl. standard error of the regression, kurz: SER) bezeichnet. Der Standardfehler der Regression wird als Quadratwurzel des mittleren Residuenquadrats berechnet und ist ein eigenständiges Modellgütemaß. Er gibt an, wie groß im Durchschnitt die Abweichung der Messwerte von der Regressionsgerade ausfällt. Je größer der Standardfehler der Regression, desto schlechter beschreibt die Regressionsgerade die Verteilung der Messwerte. Der Standardfehler der Regression ist in der Regel kleiner als der Standardfehler der Zielgröße . Das Bestimmtheitsmaß wird häufiger angegeben als der Standardfehler der Residuen, obwohl der Standardfehler der Residuen bei der Bewertung Anpassungsgüte möglicherweise aussagekräftiger ist.
Missverständnisse, Grenzen und Kritik
Missverständnisse
Neben den Vorteilen des Bestimmtheitsmaßes (es ist eine dimensionslose Größe, hat eine einfache Interpretation und liegt stets zwischen und ) wird das Bestimmtheitsmaß immer wieder kritisiert und falsch angewendet:
Übliche Missverständnisse sind:
Bei einem hohen Bestimmtheitsmaß für einen Schätzer könne man folgern, dass der tatsächliche Zusammenhang linear sei. Die pinken Daten in der Grafik wurden mit einer nichtlinearen Funktion generiert:
Durch die Betragsfunktion im Term nimmt die Funktion an der Stelle ihr Maximum an. Für höhere Werte von fällt die Funktion dann streng monoton mit der Steigung . Damit wäre der tatsächliche Zusammenhang in den Daten auch bei dem hohen Bestimmtheitsmaß nach Konstruktion natürlich nicht linear. Dennoch legt das hohe Bestimmtheitsmaß nahe, dass es sich um einen linearen Zusammenhang handelt.
Ein hohes Bestimmtheitsmaß gebe an, dass die geschätzte Regressionslinie überall eine gute Approximation an die Daten darstellt; die pinken Daten legen auch hier etwas anderes nahe.
Ein Bestimmtheitsmaß nahe bei Null zeige an, dass es keinen Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen gebe. Die blauen Daten in der Grafik wurden mit der folgenden quadratischen Funktion generiert und besitzen daher einen deterministischen funktionalen Zusammenhang, der allerdings nicht linear ist
.
Obwohl das Bestimmtheitsmaß gleich Null ist, lässt sich nicht daraus schließen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen für die konstruierten Datenpunkte gibt. Eine Regressionsanalyse für nichtlineare Fälle verallgemeinert die lineare Regression auf andere Klassen von Funktionen und mehrdimensionale Definitionsbereiche von .
Wählt man aus den Daten mit quadratischem Zusammenhang (Parabel ) nur die Datenpunkte mit positivem -Werten aus, kann auch das Bestimmtheitsmaß sehr hoch sein und bei einem nach Konstruktion der Daten gegebenen quadratischem Zusammenhang durch in den Messdaten dennoch eine lineare Modellannahme suggerieren (z. B. wenn man nur die Daten aus der Parabel wählt, in der die Funktion positive Steigung besitzt).
Grenzen und Kritik
Das Bestimmtheitsmaß zeigt zwar die „Qualität“ der linearen Approximation, jedoch nicht, ob das Modell richtig spezifiziert wurde. Zum Beispiel kann ein nichtlinearer Zusammenhang bei einer der unabhängigen Variablen vorliegen. In einem solchen Fall können die unabhängigen Variablen unentdeckte Erklärungskraft enthalten, auch dann wenn das Bestimmtheitsmaß einen Wert nahe bei Null aufweist. Modelle, die mittels der Kleinste-Quadrate-Schätzung geschätzt wurden, werden daher die höchsten R-Quadrat-Werte aufweisen.
(Korrelation/Kausaler Zusammenhang) Das Bestimmtheitsmaß sagt nichts darüber aus, ob die unabhängige Variable der Grund (die kausale Ursache) für die Änderungen in sind. Zum Beispiel kann das Bestimmtheitsmaß zwischen der Anzahl der Störche und der Anzahl der neugeborenen Kinder in untersuchten Gebieten hoch sein. Ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Störchen und Neugeborenen ist jedoch biologisch ausgeschlossen (siehe Scheinkorrelation).
Das Bestimmtheitsmaß sagt nichts über die statistische Signifikanz des ermittelten Zusammenhangs und der einzelnen erklärenden Variablen aus. Um diesen zu ermitteln muss die Stichprobengröße bekannt sein und ein Signifikanztest durchgeführt werden.
Das Bestimmtheitsmaß macht keine Aussage über Multikollinearität zwischen den unabhängigen Variablen . Multikollinearität kann z. B. mithilfe des Varianzinflationsfaktors identifiziert werden (siehe auch unter Interpretation der Varianz der Regressionsparameter).
Es zeigt nicht an, ob eine Verzerrung durch ausgelassene Variablen (engl. omitted variable bias) vorliegt.
Es macht keine Aussage, ob eine Transformation der Daten die Erklärungskraft der Regression verbessert.
Ein Nachteil des Bestimmtheitsmaßes ist die Empfindlichkeit gegenüber Trends: Wenn sich eine exogene Variable parallel zu einer erklärenden entwickelt, werden unabhängig von der wahren Erklärungskraft des Modells hohe R-Quadrat-Werte ausgewiesen.
Zusammenfassend ist ein hohes Bestimmtheitsmaß kein Beweis für ein „gutes“ Modell und ein niedriges Bestimmtheitsmaß bedeutet nicht, dass es sich um ein „schlechtes“ Modell handelt. Dies wird anhand des Anscombe-Beispiels (1973) deutlich. Anscombe zeigte auf der Basis von vier verschiedenen Datensätzen, dass ein in allen vier Fällen relativ hohes Bestimmtheitsmaß von nichts darüber aussagt, ob der wahre Zusammenhang zwischen zwei Variablen richtig erfasst worden ist.
Geschichte
Die Grundlage des Bestimmtheitsmaßes stellt die Regressionsanalyse und der Korrelationskoeffizient dar. Der britische Naturforscher Sir Francis Galton (1822–1911) begründete in den 1870er-Jahren die Regressionsanalyse. Er war – wie auch sein Cousin Charles Darwin – ein Enkel von Erasmus Darwin. Galton war durch seine starke Leidenschaft Daten jeglicher Art zu sammeln bekannt. Beispielsweise sammelte er Daten der Samen von Platterbsen. Beim Vergleich der Durchmesser der Samen konstruierte er das, was heute allgemein als Korrelationsdiagramm bekannt ist. Den bei dieser Tätigkeit von ihm entdeckte Zusammenhang taufte er zunächst „Reversion“ (Umkehrung); später entschied er sich jedoch für die Bezeichnung „Regression“. Bei der Analyse der Samen entdeckte er das Phänomen der Regression zur Mitte, nach dem – nach einem extrem ausgefallenen Messwert – die nachfolgende Messung wieder näher am Durchschnitt liegt: Der Mediandurchmesser der Nachkommen der größeren Samen war kleiner als der Mediandurchmesser der Samen der Eltern (vice versa). In seine Korrelationsdiagramme zeichnete er eine Trendlinie ein, für die er als Steigung den Korrelationskoeffizienten verwendete.
Die Bezeichnung „Varianz“ wurde vom Statistiker Ronald Fisher (1890–1962) in seinem 1918 veröffentlichtem Aufsatz mit dem Titel Die Korrelation zwischen Verwandten in der Annahme der Mendelschen Vererbung (Originaltitel: The Correlation between Relatives on the Supposition of Mendelian Inheritance) eingeführt. Fisher war einer der bedeutendsten Statistiker des 20. Jahrhunderts und ist für seine Beiträge zur Evolutionstheorie berühmt. Ebenso ist er für die Entdeckung der Streuungszerlegung (engl. analysis of variance) bekannt, die die Grundlage für das Bestimmtheitsmaß darstellt. Die – eng in Verbindung mit dem Bestimmtheitsmaß stehende – F -Statistik ist ebenfalls nach ihm benannt. Karl Pearson (1857–1936), der Begründer der Biometrie, lieferte schließlich eine formal-mathematische Begründung für den Korrelationskoeffizienten, dessen Quadrat dem Bestimmtheitsmaß entspricht.
Das Bestimmtheitsmaß wurde in den folgenden Jahren stark kritisiert. Dies geschah auch, da es die Eigenschaft hat, dass es umso größer wird, je größer die Zahl der unabhängigen Variablen ist. Dies ist unabhängig davon, ob die zusätzlichen erklärenden Variablen einen Beitrag zur Erklärungskraft liefern. Um diesen Umstand Rechnung zu tragen, schlug der Ökonometriker Henri Theil 1961 das adjustierte Bestimmtheitsmaß (auch bereinigtes, korrigiertes oder angepasstes Bestimmtheitsmaß genannt) vor. Dies berücksichtigt, dass die Hinzunahme jeder weiteren erklärenden Variablen mit einem Verlust eines Freiheitsgrads verbunden ist, wurde jedoch von Rinne (2004) in der Hinsicht kritisiert, dass das Auswahlkriterium den Verlust an Freiheitsgraden mit wachsender Anzahl an erklärenden Variablen nicht ausreichend bestraft.
Das adjustierte Bestimmtheitsmaß
Definition
Das Bestimmtheitsmaß hat die Eigenschaft, dass es umso größer wird, je größer die Zahl der unabhängigen Variablen ist. Dies ist unabhängig davon, ob die zusätzlichen unabhängigen Variablen einen Beitrag zur Erklärungskraft liefern. Daher ist es ratsam, das adjustierte (freiheitsgradbezogene) Bestimmtheitsmaß (auch bereinigtes, korrigiertes oder angepasstes Bestimmtheitsmaß genannt) zu Rate zu ziehen. Das adjustierte Bestimmtheitsmaß wird nach Mordecai Ezekiel mit (lies: R Quer Quadrat) oder bzw. notiert. Man erhält das adjustierte Bestimmtheitsmaß, wenn an Stelle der Quadratsummen die mittleren Abweichungsquadrate ( mean squares) und verwendet werden:
.
Hierbei ist das „mittlere Residuenquadrat“ (Mittleres Quadrat der Residuen, kurz: MQR) und das „mittlere Gesamtabweichungsquadrat“ (Mittleres Quadrat der Totalen Abweichungen, kurz: MQT). Das adjustierte Bestimmtheitsmaß modifiziert die Definition des Bestimmtheitsmaßes, indem es den Quotienten mit dem Faktor multipliziert. Alternativ lässt sich das adjustierte Bestimmtheitsmaß algebraisch äquivalent darstellen als
.
Definitionsgemäß ist das adjustierte Bestimmtheitsmaß für mehr als eine erklärende Variable stets kleiner als das unadjustierte. Beim adjustierten Bestimmtheitsmaß wird die Erklärungskraft des Modells, repräsentiert durch , ausbalanciert mit der Komplexität des Modells, repräsentiert durch , die Anzahl der Parameter. Je komplexer das Modell ist, desto mehr „bestraft“ das adjustierte Bestimmtheitsmaß jede neu hinzugenommene erklärende Variable. Das adjustierte Bestimmtheitsmaß steigt nur, wenn ausreichend steigt, um den gegenläufigen Effekt des Quotienten auszugleichen und kann ebenfalls sinken (). Auf diese Weise lässt sich als Entscheidungskriterium bei der Auswahl zwischen zwei alternativen Modellspezifikationen (etwa einem restringierten und einem unrestringierten Modell) verwenden. Das adjustierte Bestimmtheitsmaß kann negative Werte annehmen und ist kleiner als das unbereinigte, außer falls und damit auch ist. Als Ergebnis daraus folgt . Das adjustierte Bestimmtheitsmaß nähert sich mit steigendem Stichprobenumfang dem unadjustierten Bestimmtheitsmaß. Dies liegt daran, dass bei fixer Anzahl der erklärenden Variablen für den Grenzwert für den Korrekturfaktor bzw. Strafterm gilt
.
In der Praxis ist es nicht zu empfehlen, das adjustierte Bestimmtheitsmaß zur Modellselektion zu verwenden, da die „Bestrafung“ für neu hinzugefügte erklärende Variablen zu klein erscheint. Man kann zeigen, dass das schon steigt, wenn eine erklärende Variable mit einem t-Wert größer als Eins in das Modell inkludiert wird. Aus diesem Grund wurden weitere Kriterien (sogenannte Informationskriterien) wie z. B. das Akaike-Informationskriterium und das bayessche Informationskriterium zur Modellauswahl entwickelt, die ebenfalls der Idee von Ockhams Rasiermesser folgen, dass ein Modell nicht unnötig komplex sein soll.
Konstruktion
Aus der allgemeinen Definition von folgt, dass
.
Wir wissen jedoch, dass und verzerrte Schätzer für die wahre Varianz der Störgrößen und die der Messwerte sind. Aus dieser Tatsache wird deutlich, dass es sich beim multiplen Bestimmtheitsmaß um eine Zufallsvariable handelt: Das multiple Bestimmtheitsmaß kann man als Schätzfunktion für das unbekannte Bestimmtheitsmaß in der Grundgesamtheit (lies: rho Quadrat) betrachten. Dieses ist gegeben durch
und ist der Anteil der Streuung in in der Grundgesamtheit, der durch die erklärenden Variablen „erklärt“ wird. Dividiert man die jeweiligen Quadratsummen durch ihre Freiheitsgrade, so erhält man jeweils das durchschnittliche Abweichungsquadrat (Varianz):
und .
Die Varianzen und sind erwartungstreue Schätzer für die wahre Varianz der Störgrößen und die der Messwerte . Setzt man nun bei oben und unten die unverzerrten Schätzer ein, so erhält man das adjustierte Bestimmtheitsmaß:
.
Durch algebraische Umformungen erhält man schließlich
.
Das adjustierte Bestimmtheitsmaß entspricht also dem um die unverzerrten Komponenten adjustiertem Bestimmtheitsmaß . Oft wird das adjustierte Bestimmtheitsmaß auch korrigiertes Bestimmtheitsmaß genannt. Manche Autoren finden dies keine gute Bezeichnung, da sie impliziert, dass ein unverzerrter Schätzer ist. Dies ist aber nicht der Fall, da das Verhältnis zweier unverzerrter Schätzer kein unverzerrter Schätzer ist. Die Bezeichnung „adjustiertes R-Quadrat“ kann außerdem irreführend sein, da wie in obiger Formel nicht als das Quadrat irgendeiner Quantität berechnet wird. Während im absoluten Sinne also kein Vorteil von zu besteht, zeigen empirische Untersuchungen, dass die Verzerrung und auch die mittlere quadratische Abweichung von üblicherweise deutlich geringer ist als die von .
Alternativen
Es existieren zahlreiche alternative Schätzer für das Bestimmtheitsmaß in der Grundgesamtheit (siehe ). Von besonderer Bedeutung ist der Olkin-Pratt Schätzer, da es sich um einen unverzerrten Schätzer handelt. Es ist sogar der gleichmäßig beste unverzerrte Schätzer. Empirische Vergleiche der verschiedenen Schätzer kommen folgerichtig zu dem Schluss, dass in den meisten Fällen der approximative oder der exakte Olkin-Pratt Schätzer anstatt des korrigierten Bestimmtheitsmaßes verwendet werden sollte.
Matrixschreibweise
Das Bestimmtheitsmaß
In der multiplen linearen Regression, mit dem multiplen linearen Modell in Matrixschreibweise
beziehungsweise in Kurzform ,
ergibt sich das Bestimmtheitsmaß durch die korrigierte Quadratsummenzerlegung (um den Mittelwert bereinigte Quadratsummenzerlegung)
.
Die Bezeichnung „korrigiert“ hebt hervor, dass man die Summe über alle Beobachtungen der quadrierten Werte nimmt, nachdem um den Mittelwert „korrigiert“ wurde. Hierbei ist ein Vektor mit den Elementen und ist definiert durch , wobei den Kleinste-Quadrate-Schätzvektor darstellt. Das Bestimmtheitsmaß ist dann gegeben durch:
Häufig findet sich auch die algebraisch äquivalente Darstellung
.
oder
.
Die letzte Gleichheit ergibt sich aus dem Umstand, dass sich aus der linksseitigen Multiplikation von mit der Prädiktionsmatrix ergibt. Die Berechnung des Bestimmtheitsmaßes lässt sich in folgender Tafel der Varianzanalyse zusammenfassen:
Falls das lineare Modell das Absolutglied enthält, dann entspricht der empirische Mittelwert der Schätzwerte dem der beobachteten Messwerte, wegen
,
wobei die, aus Einsen bestehende, erste Spalte der Datenmatrix darstellt. Es wurde die Eigenschaft benutzt, dass der Vektor der KQ-Residuen und der Vektor der erklärenden Variablen orthogonal und damit unkorreliert sind, d. h., es gilt (siehe auch Algebraische Eigenschaften der Kleinste-Quadrate-Schätzer).
Darstellung mittels Projektionsmatrix
Die Quadratsummenzerlegung und das Bestimmtheitsmaß lassen sich ebenfalls mittels einer speziellen idempotenten und symmetrischen -Projektionsmatrix darstellen, die den Vektor mit den Elementen in den Vektor Abweichungen
mit Elementen transformiert. Die linksseitige Multiplikation von mit zentriert den Vektor . Daher wird diese Matrix auch als zentrierende Matrix bezeichnet. Die totale Quadratsumme lässt sich also mittels der zentrierenden Matrix auch darstellen als . Analog dazu lässt sich die Quadratsumme der Schätzwerte schreiben als und die Residuenquadratsumme als . Dadurch erhält man die Quadratsummenzerlegung als
wobei sich zeigen lässt, dass für die Streuung der Messwerte und die der Schätzwerte folgender Zusammenhang gilt: . Mithilfe dieses Zusammenhangs kann man zeigen, dass das multiple Bestimmtheitsmaß dem Quadrat des Korrelationskoeffizienten zwischen und entspricht:
Die Notation für die Matrix rührt daher, dass die residuenerzeugende Matrix – wobei die Prädiktionsmatrix darstellt – für den Fall, dass der Matrix entspricht. Die Matrix ist also ein Spezialfall der residuenerzeugenden Matrix.
Das adjustierte Bestimmtheitsmaß
Man kann zeigen, dass die Veränderung des Bestimmtheitsmaßes, wenn eine zusätzliche Variable der Regression hinzugefügt wird
.
beträgt. Folglich kann das Bestimmtheitsmaß durch die Aufnahme zusätzlicher erklärender Variablen nicht sinken. Hierbei stellt das Bestimmtheitsmaß in der Regression von auf und einer zusätzlichen Variable dar. ist das Bestimmtheitsmaß für die Regression von auf alleine und ist die partielle Korrelation zwischen und , wenn man für kontrolliert. Wenn man immer weitere Variablen in das Model hinzufügt, wird der R-Quadrat-Wert weiter ansteigen, bis hin zur oberen Grenze . Daher sollte das adjustierte Bestimmtheitsmaß herangezogen werden, das die Aufnahme jeder neu hinzugenommenen erklärenden Variable „bestraft“.
In Matrixschreibweise ist das adjustierte Bestimmtheitsmaß gegeben durch den Quotienten aus dem „mittleren Residuenquadrat“ und dem „mittleren Quadrat der totalen Abweichungen“:
,
wobei
und
die unverzerrten Schätzer für die Varianzen von und darstellen.
Bestimmtheitsmaß bei Heteroskedastizität
Wenn die Anpassung durch die verallgemeinerte Kleinste-Quadrate-Schätzung erfolgt, können alternative Versionen des Bestimmtheitsmaßes entsprechend diesem statistischen Rahmenwerk berechnet werden, während das „einfache“ Bestimmtheitsmaß immer noch nützlich sein kann, da es einfacher zu interpretieren ist. Das Bestimmtheitsmaß bei vorliegen von Heteroskedastizität ist durch die gewichteten Summen der Abweichungsquadrate wie folgt definiert
,
wobei die „gewichtete Residuenquadratsumme“ ( weighted sum of squares residual, kurz: WSSR) und die „gewichtete totale Quadratsumme“ ( weighted sum of squares total, kurz: WSST) darstellt.
Im verallgemeinerten linearen Regressionsmodell, also bei Vorliegen einer nichtskalaren Kovarianzmatrix der Störgrößen mit der Gewichtsmatrix , ist gegeben durch:
,
wobei
den verallgemeinerten Kleinste-Quadrate-Schätzer darstellt.
Interpretation der Varianz der Regressionsparameter
Die Kovarianzmatrix des Kleinste-Quadrate-Schätzvektors ist gegeben durch . Die Diagonalelemente dieser Kovarianzmatrix stellen die Varianzen der jeweiligen Regressionsparameter dar. Es kann gezeigt werden, dass sich die Varianzen auch darstellen lassen als
,
wobei das Bestimmtheitsmaß einer Hilfsregression ist, bei der die erklärende Variable (hier als abhängige Variable) auf alle anderen erklärenden Variablen (inkl. Absolutglied) regressiert wird. Je größer ceteris paribus die lineare Abhängigkeit einer erklärenden Variablen mit anderen erklärenden Variablen ist (Multikollinearität, gemessen durch ), desto größer ist die Varianz. Im Extremfall geht die Varianz gegen Unendlich.
Diese Varianzformel liefert mithilfe der Varianzinflationsfaktors
ebenfalls ein Diagnosewerkzeug, um den Grad der Multikollinearität zu messen. Der Varianzinflationsfaktor quantifiziert einen Anstieg der Varianz von aufgrund der linearen Abhängigkeit von mit den restlichen erklärenden Variablen. Je größer die Korrelation zwischen und den anderen erklärenden Variablen ist, desto größer ist und damit der Varianzinflationsfaktor.
Mithilfe des Standardfehlers der Residuen, lassen sich Konfidenzintervalle konstruieren. Ersetzt man bei der Standardabweichung des jeweiligen Parameterschätzers das unbekannte durch das bekannte ergibt sich der Standardfehler des Regressionskoeffizienten durch
.
Die Größe der Standardfehler der geschätzten Regressionsparameter hängt also von der Residualvarianz, der Abhängigkeit der erklärenden Variablen untereinander und der Streuung der jeweiligen erklärenden Variablen ab.
R-Quadrat-Schreibweise der F-Statistik
Die allgemeine Form der F-Statistik ist definiert durch den relativen Zuwachs in der Residuenquadratsumme beim Übergang vom unrestringierten zum restringierten Modell
,
wobei die Anzahl der zu testenden Restriktionen darstellt. Beim Testen von Restriktionen ist es oft von Vorteil eine Darstellung der F-Statistik zu haben, bei der die Bestimmtheitsmaße des restringierten Modells und des unrestringierten Modells miteinbezogen werden. Ein Vorteil dieser Darstellung ist, dass das die Residuenquadratsumme sehr groß und deren Berechnung damit umständlich sein kann. Das Bestimmtheitsmaß dagegen liegt immer zwischen und . Die R-Quadrat-Schreibweise der F-Statistik ist gegeben durch
,
wobei der Umstand genutzt wurde, dass für die Residuenquadratsumme des restringierten und des unrestringierten Modells gilt
und .
Da das Bestimmtheitsmaß im Gegensatz zu Residuenquadratsumme in jedem Regressionsoutput ausgegeben wird, kann man leicht die Bestimmtheitsmaße des restringierten Modells und des unrestringierten Modells benutzen, um auf Variablenexklusion zu testen.
Test auf Gesamtsignifikanz eines Modells
Der globale F-Test prüft, ob mindestens eine Variable einen Erklärungsgehalt für das Modell liefert. Falls diese Hypothese verworfen wird, ist das Modell nutzlos. Dieser Test lässt sich so interpretieren, als würde man die gesamte Anpassungsgüte der Regression, also das Bestimmtheitsmaß der Regression, testen. Die Null- und die Alternativhypothese lauten:
gegen
und die Teststatistik dieses Tests ist gegeben durch
.
Das Modell unter der Nullhypothese ist dann das sogenannte Nullmodell (Modell, das nur aus einer Regressionskonstanten besteht). Die Teststatistik ist unter der Nullhypothese F-verteilt mit und Freiheitsgraden. Überschreitet der empirische F-Wert bei einem a priori festgelegten Signifikanzniveau den kritischen F-Wert (das -Quantil der F-Verteilung mit und Freiheitsgraden) so verwirft man die Nullhypothese, dass alle Steigungsparameter des Modells gleich null sind. Das Bestimmtheitsmaß ist dann ausreichend groß und mindestens eine erklärende Variable trägt vermutlich genügend Information zur Erklärung der abhängigen Variablen bei. Es ist naheliegend, bei hohen F-Werten die Nullhypothese zu verwerfen, da ein hohes Bestimmtheitsmaß zu einem hohen F-Wert führt. Wenn der Wald-Test für eine oder mehrere erklärende Variablen die Nullhypothese ablehnt, dann kann man davon ausgehen, dass die zugehörigen Regressionsparameter ungleich Null sind, so dass die Variablen in das Modell mit einbezogen werden sollten.
Es kann gezeigt werden, dass unter der obigen Nullhypothese sich für das Bestimmtheitsmaß im Mittel
ergibt. Daraus folgt, dass wenn , dann ist , d. h. die bloße Größe des R-Quadrat-Wertes ist bei kleinen Stichprobengrößen ein schlechter Indikator für die Anpassungsgüte.
Zusammenhang zwischen adjustiertem Bestimmtheitsmaß, F-Test und t-Test
Direkt aus der obigen Definition von folgt
.
Wenn man diesen Ausdruck nun nach auflöst ergibt sich . Analog dazu gilt für das adjustierte Bestimmtheitsmaß des Nullhypothesenmodells, welches nur erklärende Variablen besitzt .
Bei Einsetzen der beiden Größen in den F-Wert
.
ergibt sich durch algebraische Umformungen
.
Als Folge daraus ist der F-Wert genau dann größer als , wenn
.
Durch Umstellen erhält man
.
Diese Ungleichung ist genau dann erfüllt, wenn . Anders ausgedrückt übersteigt das adjustierte Bestimmtheitsmaß des unrestringierten Modells das adjustierte Bestimmtheitsmaß des restringierten Modells genau dann wenn der F-Wert des F-Tests größer als ist. Der t-Test stellt einen Spezialfall des F-Tests dar. Er ergibt sich im Fall einer Restriktion . Für die Teststatistik eines solchen Tests gilt, dass die quadrierte t-Statistik der F-Statistik entspricht . Die obige Ungleichung ist für einen t-Test ebenso erfüllt, genau dann wenn .
Verallgemeinerung mittels Zielfunktion
Ein weiterer Ansatz stellt die Verallgemeinerung des Bestimmtheitsmaßes mittels einer anderen Zielfunktionen als die Residuenquadratsumme dar. Sei die Zielfunktion, die es zu maximieren gilt, stellt den Wert in einem Nullmodell dar, bezeichnet den Wert im angepassten Modell, und bezeichnet den größtmöglichen Wert von . Der maximale potentielle Zuwachs in der Zielfunktion, der durch die Hinzunahme von erklärenden Variablen resultiert ist . Im Gegensatz dazu stellt der gegenwärtige Zuwachs dar. Die Verallgemeinerung des Bestimmtheitsmaßes mittels Zielfunktionen ergibt sich dann durch
.
Hier bei bedeutet das Subskript „relativer Zuwachs“. Bei der Kleinste-Quadrate-Schätzung ist die maximierte Verlustfunktion . Dann ist , und , und somit gilt für das Bestimmtheitsmaß bei der Kleinste-Quadrate-Schätzung . Die Vorteile dieser Verallgemeinerung mittels Zielfunktionen sind, dass das Maß zwischen Null und Eins liegt und steigt, wenn weitere erklärende Variablen dem Modell hinzugefügt werden. Wenn (dies ist beispielsweise bei binären diskreten Entscheidungsmodellen und multinomialen Modellen der Fall), dann ergibt sich die verwandte Maßzahl .
Pseudo-Bestimmtheitsmaß
Im Falle einer linearen Regression mit einer abhängigen metrischen Variablen wird die Varianz dieser Variablen benutzt, um die Güte des Regressionsmodells zu beschreiben. Bei einem nominalen oder ordinalen Skalenniveau von existiert jedoch kein Äquivalent, da man die Varianz und damit ein Bestimmtheitsmaß nicht berechnen kann. Für diese wurden verschiedene Pseudo-Bestimmtheitsmaße vorgeschlagen, beispielsweise Maße die auf der logarithmischen Plausibilitätsfunktion (log-Likelihood-Funktion) basieren, wie z. B. das Pseudo-Bestimmtheitsmaß nach McFadden.
(für eine Erläuterung der Notation siehe Log-Likelihood-basierte Maße).
Bei nichtlinearen Modellen werden Pseudo-Bestimmtheitsmaße verwendet. Allerdings gibt es kein universelles Pseudo-Bestimmtheitsmaß. Je nach Kontext müssen andere Pseudo-Bestimmtheitsmaße herangezogen werden.
Prognose-Bestimmtheitsmaß
Während das Bestimmtheitsmaß, das adjustierte Bestimmtheitsmaß oder auch die Pseudo-Bestimmtheitsmaße eine Aussage über die Modellgüte machen, zielt das Prognose-Bestimmtheitsmaß auf die Vorhersagequalität des Modells. Im Allgemeinen wird das Prognose-Bestimmtheitsmaß kleiner als das Bestimmtheitsmaß sein.
Zunächst wird der Wert des PRESS-Kriteriums, also die prädiktive Residuenquadratsumme (engl.: predictive residual error sum of squares) berechnet
.
Hierbei ist der beobachtete Wert und der Wert, der sich als Schätzung von ergibt, wenn alle Beobachtungen außer der -ten in das Regressionsmodell einfließen. Zur Berechnung des der prädiktiven Residuenquadratsumme müssten daher lineare Regressionsmodelle mit jeweils Beobachtungen berechnet werden.
Es lässt sich jedoch zeigen, dass das Residuum aus den „gewöhnlichen Residuen“ (bei Benutzung aller Beobachtungen) berechnet werden kann. Das Prognose-Bestimmtheitsmaß ergibt sich dann als
.
Mehrgleichungsmodelle
Für Mehrgleichungsmodelle lässt sich ein Bestimmtheitsmaß wie folgt definieren:
,
wobei die Residuenquadratsumme der durchführbaren verallgemeinerten KQ-Schätzung ist und für steht im Fall, dass nur aus einem Absolutglied besteht.
Weblinks
Literatur
George G. Judge, R. Carter Hill, W. Griffiths, Helmut Lütkepohl, T. C. Lee: Introduction to the Theory and Practice of Econometrics. 2. Auflage. John Wiley & Sons, New York/ Chichester/ Brisbane/ Toronto/ Singapore 1988, ISBN 0-471-62414-4.
Jeffrey Marc Wooldridge: Introductory econometrics: A modern approach. 4. Auflage. Nelson Education, 2015.
J. Neter, M. H. Kutner, C.J. Nachtsheim, W. Wasserman: Applied linear statistical models. 4. Auflage. McGraw-Hill 1996.
M.-W. Stoetzer: Regressionsanalyse in der empirischen Wirtschafts- und Sozialforschung – Eine nichtmathematische Einführung mit SPSS und Stata. Berlin 2017, ISBN 978-3-662-53823-4.
William H. Greene: Econometric Analysis. 5. Auflage. Prentice Hall International, 2002, ISBN 0-13-110849-2. (englischsprachiges Standardlehrbuch)
Anmerkungen
Einzelnachweise
Methode der kleinsten Quadrate
Deskriptive Statistik
Regressionsdiagnostik
Regressionsanalyse
Stochastik
Ökonometrie
Schätztheorie
Statistischer Grundbegriff
Globales Gütemaß |
202780 | https://de.wikipedia.org/wiki/Siamkatze | Siamkatze | Siamkatzen (oft verwendete Namenskurzform: Siamesen, thailändisch: , RTGS: wichian mat, das bedeutet ‚Monddiamant‘) gehören zu den bekanntesten und am meisten verbreiteten Rassekatzen. Wie der Name vermuten lässt, stammen die Vorfahren der heutigen Siamkatzen aus dem südostasiatischen Siam, dem heutigen Thailand, wo sie vor etwa 150–200 Jahren schriftlich erwähnt werden. Das erste Siamkatzenpaar gelangte Ende des 19. Jahrhunderts über englische Diplomaten nach Großbritannien und begründete die Zucht der Rasse in Europa.
Siamkatzen sind Teilalbinos. Diese Form der Mutation zeichnet sich durch eine blaue Augenfarbe und eine weiße Fellfarbe mit dunkler gefärbten Stellen (Abzeichen, sogenannte „Points“) an den Körperspitzen (Akren) wie Ohren, Schwanz und Pfoten aus.
Durch intensive Züchtungsarbeit vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren kam es zu einer starken Differenzierung im Aussehen der Siamkatzen. Man unterscheidet nun einen „modernen Typ“, der weiterhin als Siamkatze bezeichnet wird, und einen sogenannten „traditionellen Typ“, der unter dem Namen Thaikatze oder „Traditionelle Siamkatze“ von manchen Verbänden bereits als eigener Rassestandard anerkannt wird. Weitere eng verwandte Rassekatzen in der Gruppe der orientalischen Katzen sind beispielsweise die in den 1940er-Jahren anerkannten Siamkatzen mit Halblanghaarfell, die Balinesenkatze oder Orientalisch-Kurzhaar-Katzen (OKH), die sich nur durch andersfarbige Augen und die Fellfarbe von der Siamkatze unterscheiden.
Herkunft
Die Vorfahren der heutigen Siamkatze stammen aus dem südostasiatischen Raum. Ob sich der langschwänzige, hochbeinige Typ mit den für Siamkatzen typischen Points dort originär aus der Vermischung freilebender Wild- mit bereits domestizierten Katzen entwickelte oder ob es Einflüsse von außerhalb gab, ist nicht bekannt. Einer Hypothese zufolge kamen über arabische und indische Seefahrer Katzen aus dem Mittelmeerraum beziehungsweise Kleinasien nach Südostasien und brachten die bei Mittelmeerkatzen oft anzutreffende Schlankform in den Genpool der südostasiatischen Vorgängerkatzen ein.
Geschichte
Siamkatzen wurden neben anderen Katzenarten bereits in Traktaten erwähnt, die auf Folklore der Ayutthaya-Periode beruhen, aber erst etwa vor 150–200 Jahren von unbekannten Autoren erstellt wurden. Sie sind heute unter dem Namen Tamra Maew (etwa: Lehrbuch der Katzen) bekannt; da sie in Versform geschrieben sind, nennt man sie auch Katzen-Gedichte. Die Tamra Maew sind mit Malereien illustriert, die die typischen Katzenmerkmale zeigen.
Vereinzelte Siamkatzen kamen in den 1870er-Jahren nach England und den USA, starben dort aber schnell infolge fehlender klimatischer Anpassung und falscher Haltung. 1871 erregten erste ausgestellte Siamkatzen im Londoner Crystal Palace großes Aufsehen. 1884 schenkte der siamesische König Chulalongkorn dem britischen Generalkonsul Sir Edward Blencowe Gould ein männliches und ein weibliches Tier. Pho und Mia wurden zum ersten Zuchtpaar in England. Bereits kurz nach ihrer Ankunft begann man endgültig, Siamkatzen mit in das Zuchtprogramm aufzunehmen und weitere Tiere in England einzuführen. Erste Nachkommen des Siamkatzenpaares Pho und Mia wurden bereits auf der großen Katzenausstellung im Londoner Crystal Palace 1885 ausgestellt.
In den ersten Jahrzehnten konnte nur mit wenigen Tieren gezüchtet werden, was wahrscheinlich durch Inzucht zu der Entstehung heute vorhandener Gendefekte führte. Siamkatzen waren entweder Direktimporte aus Siam (bis in die 1930er-Jahre) oder kamen aus europäischen Zoos, wo sie als Attraktion gehalten wurden. Man unterschied in diesen Anfangsjahren der Zucht die Typen „Siam-Königskatze“ und „Tempelkatze“, die sich in Körperbau und -farbe sowie in der Schwanzlänge unterschieden.
Der erste Rassestandard für Siamkatzen, die man damals noch als Royal Cat of Siam bezeichnete, wurde 1892 erstellt und 1902 stark erweitert. 1901 wurde in England der „Siamese Cat Club“ gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Siamkatzen bereits vermehrt in England und Frankreich gezüchtet und auch in den USA fanden sich zu diesem Zeitpunkt die ersten Siamkatzenzüchter. Erst 1927 begann in Deutschland bei dem „1. Deutschen Angorakatzen – Schutz- und Zuchtverbandes“ (heute 1. DEKZV) mit zwei eingetragenen Züchtern eine planmäßige Zucht. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Siamkatzen weltweit in großem Stil gezüchtet. Beginnend mit den 1950er- und 1960er-Jahren wurden bei der Zucht verschiedene Farbschläge wie Chocolate-, Lilac- oder Red-Point gezielt selektiert und weitergezüchtet, was mittelfristig zu der Anerkennung weiterer eigenständiger Farbschläge durch die großen Katzenzuchtverbände führte.
Aussehen
Die Siamkatze ist eine sehr schlanke, muskulöse Kurzhaarkatze von mittlerer Größe. Die Kätzinnen wiegen zwischen 3,0 und 4,0 kg, Kater zwischen 4,0 und 5,0 kg. Die beiden typischen Merkmale der Siamkatze bestehen in den durchwegs blauen Augen sowie in der Pointierung des Fells an hervorstehenden Körperteilen wie Nase, Ohren, Schwanz, Pfoten und – bei Katern – dem Hodensack.
Aufgrund ihrer langen Beine zählt sie, wie beispielsweise auch die Abessinierkatze, zu den hochbeinigen Katzenrassen. Die Hinterbeine sind dabei länger als die Vorderbeine. Die Pfotenform ist oval. Der Schwanz ist länger als bei den meisten anderen nichtorientalischen Katzen, dünn und in einer Spitze auslaufend.
Der Kopf der Siamkatze ist, je nach Unterscheidung in modernen oder traditionellen Typ, keilförmig bis leicht rundlich. Im Idealfall bilden Gesicht und die großen, diagonal stehenden Ohren ein gleichschenkliges Dreieck. Die Augen der Siamkatze sind mandelförmig, weit auseinanderliegend und leicht schrägstehend. Die Nase der Siamkatze ist relativ lang und verläuft gerade und ohne Stop vom Scheitel herab. Das Kinn ist wenig ausgeprägt, aber nicht fliehend.
Das Fell der Siamkatze ist umso heller, je jünger die Tiere sind. Eine vollständige Ausfärbung der Points ist in der Regel mit circa sechs bis neun Monaten abgeschlossen. Das Fell ist sehr kurz, enganliegend und sehr weich. Aufgrund der ursprünglichen Herkunft weist es nahezu keine Unterwolle auf.
Charakter
Aufgrund der hohen Wurfzahlen, im Durchschnitt vier bis sechs Kitten, öfter auch mehr, weisen Siamkatzen normalerweise ein ausgeprägtes Sozialverhalten auf. Sie haben, wie alle anderen orientalischen Katzen auch, ein intensives gemeinsames Gruppenleben. Gegenseitige Körperpflege, Fang- und Jagdspiele sowie gemeinsames Jagen und das gemeinsame Großziehen von Jungtieren bei mehreren Würfen gehören dazu. Siamkatzen sollten deshalb nie als Einzelkatze gehalten werden.
Siamkatzen gelten als hochintelligent, eigenwillig und trotzdem sehr menschenbezogen. Bei den Rassekatzen gehören sie zu den kommunikativsten Katzen, verbunden mit einer äußerst lauten Stimme. Ihr Spieltrieb, besonders in Gesellschaft anderer Katzen, ist sehr ausgeprägt und auch bei älteren Katzen noch vorhanden. Ihre Lernwilligkeit und Menschenbezogenheit zeigt sich beispielsweise bei der Bereitschaft, sich an einer Leine oder einem Geschirr ausführen zu lassen. Diese ist bei den Siamkatzen von allen Rassekatzen am ausgeprägtesten. Wegen des hohen Maßes an Interaktion mit dem Menschen werden Siamkatzen oft auch als die „Hunde unter den Rassekatzen“ bezeichnet.
Im Rahmen der tiergestützten Therapie, in diesem Fall der Felinaltherapie, werden Katzen zur Verbesserung der Lebensqualität von behinderten Menschen, insbesondere Kindern, eingesetzt. Hier wird insbesondere die Siamkatze zur Interaktion mit hyperaktiven Kindern bevorzugt. Durch ihren sehr lebhaften Charakter sowie ihre Gutmütigkeit animieren Siamkatzen behinderte Kinder, die beispielsweise Formen des Autismus aufweisen, zu einer Steigerung der eigenen Aktivitäten.
Rassestandard und Züchtung
Der erste Rassestandard für Siamkatzen wurde 1892 in England von Harrison Weir formuliert. Bereits 10 Jahre später wurde er vom 1901 gegründeten und heute noch bestehenden englischen Siamese Cat Club angepasst. Noch im 19. Jahrhundert wurde in Frankreich ebenfalls intensiver gezüchtet. In den USA begann eine planmäßige Siamkatzenzucht mit Zuchtbuch im Jahr 1900. Erst relativ spät, ab der Mitte der 1920er-Jahre, fasste die Zucht von Siamkatzen in Deutschland Fuß.
Weitere Anpassungen des Standards erarbeiteten später die großen nationalen und internationalen Dachverbände der Rassekatzenzuchtverbände. Dabei kam es auch zu einer unterschiedlichen Akzeptanz von einzelnen Typen und Farbschlägen, die heute vor allem in den USA und Europa für stark differierende Standards und Klassifizierungen von Siamkatzen verantwortlich ist. So ist die F. I. Fe (Fédération Internationale Féline), eine der größten europäischen Dachorganisationen, bei der Akzeptanz von Farbschlägen und Typen eher konservativ. Der größte amerikanische Dachverband, CFA (Cat Fanciers' Association), erkennt nur die ursprünglichen Farbschläge (siehe im Kapitel Farben) an, alle neueren Farbschläge werden als Colourpoint Shorthair bezeichnet und gerichtet. Als einziger größerer Dachverband erkennt die T. I. C. A. (The International Cat Association, USA) zusammen mit vielen kleineren unabhängigen Rassekatzenzuchtverbänden Thaikatzen als eigenen Rassestandard an, während diese bei den anderen genannten Dachverbänden nach wie vor als Siamkatze mitgerichtet werden.
Fehler
Verlangten die ersten Rassestandards von Siamkatzen noch Schielen und einen Knickschwanz, typische Merkmale der ersten, in der westlichen Welt anzutreffenden Tiere, so gilt dies schon seit längerer Zeit als schwerer Fehler. Tiere mit diesen offensichtlichen Fehlern werden nicht mehr als Zuchttiere eingesetzt. Die Tendenz zum Schielen hat die Siam mit allen Pointkatzen gemeinsam, da dieser Fehler in ursächlichem Zusammenhang mit dem Teilalbinismus steht. Unerwünscht ist auch ein Stopp bei der Nase, also eine Einbuchtung des Nasenrückens zwischen Stirn und Nasenspitze.
Weitere Rassefehler sind vor allem bei Fehlfärbungen des Fells und der Points zu finden. So sind Streifen, Bänderungen oder Flecken an Bauch und Flanke unerwünscht, ebenso das Auftreten von Tabby-Zeichnung bei Red- und Cream-Point Siamkatzen. Dies kommt öfters in Form einer ringförmigen Zeichnung am Schwanz sowie als Streifen an Gesichtsmaske und Beinen vor. Zu langes Haar, zu viel Unterwolle oder eine zu grobe Textur des Fells sind ebenfalls unerwünscht. Wenig oder unklar abgegrenzte Points vom Körperfell und zu dunkles Körperfell, vor allem bei helleren Farbschlägen, führen ebenfalls zu Punktabzug beim Richten einer Siamkatze auf einer Rassekatzenausstellung.
Züchtung
Die Zucht der Siamkatze wird maßgeblich durch den jeweiligen Rassekatzenzuchtverein und dessen Dachverband beeinflusst. So dürfen beispielsweise in Vereinen, die der CFA angeschlossen sind, nur Siamkatzen der Grundfarben miteinander verpaart werden. Die Kreuzung mit anderen Farbschlägen oder Fremdrassen ist nicht erlaubt. Im Allgemeinen wird aber bei der Zucht der Siamkatzen zumindest Orientalisch Kurzhaar als Kreuzungspartner anerkannt und auch in der Praxis eingesetzt. Siamkatzen sind im Gegenzug bei der Entstehung zahlreicher anderer Rassekatzen als Zuchtpartner beteiligt gewesen. Meist sollte durch dieses „outcrossing“ die Schlankform und die Pointfärbung in die Rasse eingebracht werden. So finden sich genetische Eigenschaften der Siamkatzen beispielsweise bei der Javanese-Katze, Colourpoint, Birma-Katze, Burma-Katze, Havana-Katze, Ocicat und den Tonkanesen.
Siamkatzen sind mit vier bis spätestens sechs Monaten relativ früh geschlechtsreif. Eine Kätzin wird circa alle 14 Tage über das gesamte Jahr hinweg „rollig“ (Östrus, ist also paarungsbereit). Da Siamkatzen zu 100 % Blutgruppe A aufweisen, besteht bei der Verpaarung von Siamkatzen im Rahmen der Zucht keine Gefahr der Felinen Neonatalen Isoerytholyse durch die Mischung der Blutgruppen A, B und AB. Der Paarung folgt eine Tragezeit von 63 bis 69 Tagen. Die Wurfstärke liegt wie bereits erwähnt bei vier bis sechs, manchmal auch mehr Welpen. Die jungen Kätzchen entwickeln sich in der Regel schneller als Welpen anderer Rassen. Nach wenigen Tagen beginnen sich aufgrund der niedrigeren Temperaturen (während der Tragezeit betrug die Temperatur im Mutterleib konstant 39 °C) die Points auszufärben. Nach einer gewissen Zeit kann der Zuchtstammbaum (englisch: pedigree) beim Zuchtverein beantragt werden. Dort ist auch der offizielle Farbschlag des Tieres vermerkt.
Offiziell züchten können nur Mitglieder eines anerkannten Rassekatzenzuchtvereins, der wiederum einem der größeren Dachverbände angeschlossen sein kann. Dort meldet man seinen Zwingernamen (Zuchtname, englisch: prefix oder cattery name) an. Dies ist ein einmalig vergebener und registrierter Zuchtname, beispielsweise de la Chat. Sowohl Zwingername wie auch die daraus abgeleiteten Namen der einzelnen Katzen, die aus der Zucht in diesem Zwinger hervorgehen, sucht der Züchter alleinverantwortlich aus. Der eigene Verein stellt dem Siamkatzenzüchter die Zuchtstammbäume für die Tiere seines Zwingers aus. Damit ist auch die Ausstellung und Prämierung der Katzen in nationalen und internationalen Rassekatzenausstellungen möglich.
Der alte Siamkatzentyp: Die Thaikatze
Wie bereits erwähnt, erkennen einige Dachverbände und die in ihnen organisierten Rassekatzenzuchtverbände die Thaikatze als eigene Rassekatze an. Thaikatzen, oft auch als „Traditionelle Siamkatzen“ bezeichnet, repräsentieren einen älteren Phänotyp der Siamkatze, der bis circa Anfang der 1990er Jahre in der Regel in der Siamkatzenzucht anzutreffen war. Seit dieser Zeit entwickelte sich die Zucht der Siamkatzen mehrheitlich in Richtung des heutigen sogenannten modernen Typs, während einige Züchter nach wie vor den bisherigen alten Typ in ihrer Zucht weiterzüchteten. Dies führte dazu, dass heute generell zwei verschiedene Typen der Siamkatze zu unterscheiden sind: der traditionelle Typ (je nach Verein oder Verband als Siamkatze oder Thaikatze anerkannt) sowie der moderne Typ (nur Siamkatze). In der Zucht gibt es aber immer wieder Katzen, die phänotypisch zwischen den beiden vorgenannten Typen stehen.
Eine rein gezüchtete Thaikatze weist also im Genotyp die gleichen genetischen Eigenschaften wie eine Siamkatze des modernen Typs auf. Markante Unterschiede im Aussehen sind vor allem im Kopfbereich zu finden. Bei den Thaikatzen sind die Ohren wesentlich höher angesetzt, während bei den modernen Siamkatzen auf große, deutlich vertikal angesetzte Ohren gezüchtet wird. Auch ist die ganze Kopfform, je nach individueller Ausprägung des einzelnen Tieres, bei den Thaikatzen deutlich runder und weniger stark keilförmig bis dreieckig ausgebildet. In den USA werden Siamkatzen des alten Typs deshalb auch „Appleheads“ („Apfelköpfe“) genannt. Insgesamt ist der Körperbau der Thaikatze rundlicher, während der Extremtyp der modernen Siamkatze einen sehr schlanken und fast röhrenförmigen Körper aufweist.
Farben
Siamkatzen kann es in über 100 verschiedenen Farb- und Musterungsvarianten geben. Ausgehend von vier klassischen Grundfarben, die im Genom der Siamkatzen bereits natürlich vorkamen und auf Mutation zurückzuführen sind, sind durch Kreuzung und Hybridisierung weitere Farbschläge entstanden. Dazu kommen noch jeweilige Kombinationen mit „Tortie“ (englische Bezeichnung für Schildpatt, genetische Farbe Rot) sowie der Tabby-Musterung.
Genetischer Hintergrund
Die Farbschläge der Siamkatze sind entscheidend durch eine bei dieser Rasse anzutreffenden Mutation geprägt. Diese ist als Okulokutaner Albinismus Typ 1
bekannt und führt zu Teilalbinismus. Dabei ist das Enzym Tyrosinase, welches für die Bildung des dunklen Pigmentfarbstoffes Melanin verantwortlich ist, bei höheren Temperaturen nicht funktionsfähig. Genetisch beruht dieser Effekt auf dem sogenannten Colouration-Gen. Dessen Allel ca führt zu weißem Fell mit blauen Augen, das Allel cs bewirkt die typische Pointfärbung der Siamkatze. Der Genotyp einer Siam Seal-Point Katze lautet aaB-cscsD-, das Allel cs wird dabei oft als „Siam-Gen“ bezeichnet.
Dadurch ist, neben der bereits erwähnten ausschließlich blauen Augenfarbe, die Fellfarbe neugeborener Siamkätzchen prinzipiell weiß. Erst nach einigen Tagen bilden sich die Points, dunkler gefärbte Stellen, in der Körperperipherie aus. Dies ist eine Form des Akromelanismus. Eine vollständige Ausfärbung kann bis zu 6 Monate dauern. Der Rest des Körpers bleibt weiß bis cremeweiß, je nach Pointfarbe. Seal-Point-Siamesen haben das am dunkelsten gefärbte Fell, Creme-Point-Siamesen ein fast reinweißes. Dabei kann allerdings jedes Individuum unterschiedlich stark in der Farbgebung auf die umgebende Temperatur reagieren.
Eine Besonderheit sind durchgehend weiß gefärbte Siamkatzen, die „Foreign White“ genannt werden. Die weiße Fellfarbe der Foreign White sowie ihre blaue Augenfarbe gehen hier auf den oben beschriebenen Teilalbinismus und dem zusätzlichen Gen für „epistatisches Weiß“ zurück. Allerdings fehlt ihr die Pointfärbung, so dass diese Tiere ein reinweißes Fell behalten. Weißes Fell und blaue Augen bei anderen Katzenrassen ist auf eine andere genetische Kombination zurückzuführen (Fellfärbung W-Gen determiniert), die bei diesen Tieren oft mit Taubheit gekoppelt ist. Dies ist bei der Foreign White aufgrund der andersartigen genetischen Konstitution nicht unbedingt der Fall, ist aber generell bei der Zucht zu berücksichtigen. Dazu sind nach dem Tierschutzgesetz (Tierschutzgesetz § 11b sowie Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes [Verbot von Qualzüchtungen]) auch entsprechende Maßnahmen und Untersuchungen vorgeschrieben, die auch teilweise für die Foreign White gelten.
Klassische Grundfarben
Die Ausprägung der vier klassischen Grundfarben der Siamesen wird wie folgt beschrieben:
Seal-Point (Farbcode 24)
Körperfarbe: creme zu warmem hellbraunem Ton verdunkelnd
Abzeichen: tiefes Schwarzbraun (= seal)
Nasenspiegel: tiefes Schwarzbraun (= seal)
Farbe der Pfotenballen: schwarzbraun
Blue-Point (24a)
Körperfarbe: eisfarbenes Weiß, auf dem Rücken kaltes Dunkelblau erlaubt
Abzeichen: blaugrau
Nasenspiegel: schieferfarben
Farbe der Pfotenballen: schieferfarben
Chocolate-Point (24b)
Körperfarbe: elfenbein
Abzeichen: milchschokoladenfarben
Nasenspiegel: schokoladenfarben
Farbe der Pfotenballen: zimtfarben bis milchschokoladenfarben
Lilac-Point (24c)
Körperfarbe: gebrochenes weiß, eventuell mit blasslila Schattierung
Abzeichen: hellgrau mit rosa Schimmer
Nasenspiegel: blasslila
Farbe der Pfotenballen: blasslila
Weitere Farbschläge
Zu den vier Grundfarben kommen noch die roten Farbschläge Red Point und dessen Verdünnung Cream Point. Weitere, erst seit kurzem in der Siamkatzenzucht entstandene Farbschläge sind Cinnamon Point (über die Einkreuzung von Abessinierkatzen in den 1960er Jahren) und Fawn Point.
Caramel Point und Apricot Point sind neuere Farbschläge, die durch das Gen für modifizierte Verdünnung (Dilute Modifier, Dm) entstanden sind. Aus Cream Point und dem Dilute Modifier entsteht so die Apricotfärbung der Points. Aus Blue, Fawn und Lilac Point und dem Dilute Modifier entsteht der Farbschlag Caramel, jeweils nochmals unterteilt in blue-based, fawn-based oder lilac-based caramel.
Tortie
Jeder Farbschlag außer Red und Cream (nicht-genetisches Rot) kann in Kombination mit der zweiten Farbe Rot in Form von Schildpatt (gängige englische Bezeichnung: Tortie) vorkommen. Eine Farbkombination mit Tortie als zusätzliche Farbe gibt es aufgrund der geschlechtsgebundenen Vererbung dieser Eigenschaft über das Orange-Gen nur bei weiblichen Tieren. Eine Tortiefärbung der Pointfarbe zeichnet sich durch klar erkennbare rotorangefarbene Farbanteile in der Pointfärbung aus. Die Katze wird dann beispielsweise als Siam Seal-Tortie Point bezeichnet. Eine Kombination der Tortiefärbung mit weiteren modifizierenden Faktoren wie Tabby, Silver usw. ist möglich. Treten die Merkmale Tortie und Tabby gemeinsam auf, werden diese bei der Farbbezeichnung auch als Torbie abgekürzt.
Modifikationen der einzelnen Farbschläge
Zusätzlich zu den unterschiedlichen Farbschlägen gibt es noch andere Faktoren, welche die Farbgebung und -ausprägung beeinflussen.
Tabbymuster
Die prinzipiell einheitliche Pointausfärbung kann durch ein eingekreuztes Tabbymuster abgewandelt werden. Bei einer Siam Seal-Tabby Point Katze (32SP) ist die Pointfärbung mit helleren Streifen der normalen Fellfarbe durchsetzt. Das Tabbymuster kann bei allen Farbschlägen und in Kombination mit allen anderen modifizierenden Faktoren auftreten.
Silberfärbung
Bei Siamkatzen mit der Modifikation „Silver“ unterdrückt ein Melanin-Inhibitorgen (im Genotyp als I oder i bezeichnet, Polygen) die vollständige Ausfärbung des einzelnen Haares durch Unterdrückung der Pigmentbildung. Je nach Ausprägungsintensität dieses Faktors werden nur die oberen Haarbereiche, im Extremfall nur die Haarspitze, ausgefärbt. Dies führt zu einer Silberfärbung, die ebenfalls mit allen anderen modifizierenden Faktoren kombinierbar ist. Eine Seal-Pointkatze mit entsprechender Silver-Modifikation wird als Siam Seal-Silver Point (24Sv) bezeichnet.
Weiß (Bicolor, Tricolor)
Die Pointfärbung der Siamkatze kann durch Scheckung fast ganz oder teilweise mit Weiß überdeckt werden. Man unterscheidet hier Bicolor- und Tricolor-Siamkatzen. Bei ersteren ist die Pointfarbe, sowie weitere eventuell vorhandene Farbmodifikationen, mit weißer Scheckung kombiniert und wird dann beispielsweise als Siam Seal Point weiß (24w) bezeichnet. Bei den Tricolor Siamkatzen besteht die Kombination aus der Pointfarbe, aus Tortie und aus der weißen Scheckung. Unter Beibehaltung des eben genannten Beispiels bei Bicolor würde es sich nun um eine Siam Seal-Tortie Point weiß (32bSPw) handeln. Es handelt sich hierbei aber nicht um das auch als Weißscheckung bezeichnete Piebald-White-Spotting, wie es bei anderen Katzenrassen vorkommt.
Im Extremfall bleiben so von der Pointfärbung am Körper nur geringste Färbungsspuren im Fell zurück. Eine vollständige Weißfärbung aller nach wie vor vorhandenen Points am Körper und somit eine vollständig weiße Siamkatze wird als Foreign White bezeichnet.
Durch die Vielfalt an Farbschlägen, Farbkombinationen (Tortie), Farbmodifikationen (Tabby, Silver) sowie einer möglichen Scheckung gibt es weit über 100 verschiedene Kombinationen und einzelne unterschiedlich aussehende Phänotypen bei den Siamkatzen. So vereint beispielsweise eine Siam Seal-Silver-Tortie-Tabby Point weiß (Schlüsselcode 32STPSvw) alle möglichen farbbeeinflussenden Parameter in einem Phänotyp.
Anerkennung einzelner Farbschläge und alternative Rassebezeichnungen
Die Anerkennung einzelner Farbschläge und aller möglichen genetischen Phänotypvarianten liegt bei den einzelnen Dachverbänden oder bei Vereinen. Die klassischen vier Grundfarben werden weltweit anerkannt. Bei dem größten amerikanischen Dachverband, der CFA, werden alle weiteren Farbschläge als eigene Rasse namens Colorpoint Shorthair geführt. Der größte europäische Dachverband, die FIFé, erkennt zwar weitaus mehr Farbschläge an, führt aber beispielsweise die Bicolor- und Tricolor-Siamkatzen als eigene Rasse namens Seychellois. Dachverbände wie die britische GCCF, die deutsche WCF oder die amerikanische TICA sind bei der Anerkennung einzelner Phänotypvarianten liberaler und erkennen sogar die Thaikatze als eigenständige Rassekatze an. Viele deutsche Katzenzuchtverbände orientieren sich bei der Anerkennung an den Standards der WCF und der TICA.
Verwandte Rassekatzen
Die Siamkatze ist die bekannteste Vertreterin einer Gruppe von Rassekatzen, die ähnliche Merkmale bei Körperbau und Farbgebung wie die Siamkatze aufweisen. Man bezeichnet diese Gruppe mit dem Oberbegriff „Orientalische Katzen“ oder kurz „Orientalen“. Zu dieser Gruppe gehören die Balinesenkatze als halblanghaarige Siamkatze und die Orientalisch Kurzhaar. Beide Rassekatzen entstanden durch Selektion und Weiterzucht sowie Kreuzungen von Siamkatzen mit anderen Rassekatzen. Eine weitere Rassekatze, die zu der Gruppe der orientalischen Katzen gezählt wird, ist die Javanese-Katze, die auch unter den Namen Orientalisch Langhaar oder Mandarin bekannt ist.
Während Siamkatzen und Balinesen zu den Point-Katzen gezählt werden, weisen Orientalisch Kurzhaar und Javanesen grüne Augen und eine über das gesamte Körperfell gehende Pointfärbung auf. Im weiteren Sinne werden auch manchmal Burma-Katzen (Burmesen), Tonkanesen und Peterbald, die Nacktvariante der Siamkatze, zu dieser Gruppe gezählt.
Krankheiten und Erbfehler
Neben den allgemein verbreiteten Katzenkrankheiten (→ Erkrankungen) gibt es bei den Siamkatzen spezielle Krankheiten und Fehlbildungen, die bei dieser Katzenrasse gehäuft auftreten können.
Fehlbildungen
Der bereits erwähnte Knickschwanz bei Siamkatzen gehört zu den ursprünglichen Merkmalen der Vorgänger der Siamkatzen. Diese Fehlbildung wird autosomal-rezessiv vererbt. Es kommt zu einem mehr oder weniger leichten Abknicken des ansonsten gerade verlaufenden Schwanzes der Katze. Oft ist eine knochige Verdickung fühlbar. Durch die bereits seit längerem stattfindende Selektion der Zuchttiere ist das Vorkommen eines Knickschwanzes in der Siamkatzenzucht allerdings deutlich zurückgegangen.
Die Bildung eines Wasserkopfs oder Hydrocephalus ist eine erblich bedingte Missbildung, die letal ist. Sie wird bei Siamkatzen häufiger als bei anderen Rassekatzen beobachtet. Werden Siamkätzchen mit dieser Fehlbildung geboren, sterben sie in der Regel unmittelbar nach der Geburt. Der Erbgang dieser Fehlbildung ist ebenfalls autosomal-rezessiv, Teile des Vererbungsmechanismus sind aber noch unbekannt.
Erbkrankheiten des Augenapparates
Ebenso wie Abessinierkatzen sind auch Siamkatzen von der progressiven Retinaatrophie („Netzhautschwund“, PRA) betroffen. Dies ist als klinischer Sammelbegriff für degenerative Netzhautanomalien zu verstehen. Man versteht darunter eine genetisch bedingte, rezessiv vererbte Stäbchen-Zapfen-Degeneration. Dabei wird die Netzhaut des Auges (Retina) durch lokale Stoffwechselstörungen im Gewebe der Netzhaut kontinuierlich fortschreitend zerstört. Ein bei PRA häufig auftretendes erstes Symptom ist eine einsetzende Nachtblindheit.
Strabismus (Schielen) und Nystagmus (Augenzittern) kommen bei Siamkatzen, wie bei allen anderen Point-Katzen auch, sehr häufig vor, stellen aber, anders als bei normal gefärbten Katzen, bei ihnen keine eigenständigen Erbkrankheiten mit eigenem Erbgang dar. Das Schielen und Augenzittern der Pointkatzen sind neben der Fellaufhellung und der blauen Augenfarbe weitere unmittelbare Folgen des für den Albinismus ursächlichen Melaninmangels, da Melanin bei der Differenzierung des visuellen Systems von großer Bedeutung ist. Wegen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen erwünschter Point-Färbung und unerwünschten Sehfehlern ist der züchterischen Beeinflussbarkeit trotz entsprechender Zuchtwahl Grenzen gesetzt. Obwohl die Siamkatzen Probleme bei der Fixation haben und wahrscheinlich ein beeinträchtigtes binokulares Sehen aufweisen, ist ihre Jagdfähigkeit dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt.
Krankheiten des Kardiovaskulären Systems
Im Herz- und Gefäßsystem der Siamkatze gibt es ebenfalls zwei vererbbare Krankheiten. Bei der endokardialen Fibroelastose, deren Erbgang bislang noch unbekannt ist, kommt es zu einer deutlichen Verdickung der inneren Herzwand, welche auch auf die Herzklappen übergreifen kann. Dadurch kann es zu Herzgeräuschen, Kümmerwuchs und Herzversagen kommen. Neben den Siamkatzen sind nur noch Burma-Katzen in nennenswertem Umfang betroffen.
Ebenfalls erblich prädisponiert sind Siamkatzen direkt nach der Geburt für einen so genannten persistierenden Ductus arteriosus. Hierbei handelt es sich um einen ausbleibenden Verschluss der fetalen Kurzschlussverbindung zwischen Aorta und Lungengefäßstamm bei neugeborenen Kätzchen, der eher unspezifische Symptome wie Schwäche oder Herzversagen nach sich ziehen kann. Auch hier ist der Vererbungsmechanismus noch unbekannt.
Blutzelldefekte
Siamkatzen sind in höherem Maße als die meisten anderen Rassekatzen für Porphyrie und Amyloidose anfällig. Bei beiden Erbkrankheiten ist der Erbgang noch nicht bekannt. Als Porphyrien bezeichnet man eine Gruppe erblicher Stoffwechselerkrankungen, die zu einer Störung des Aufbaus des roten Blutfarbstoffs Häm führen. Bei Siamkatzen führt dies zu einer sehr schweren Anämie, Photosensibilität und weiteren Krankheitsausprägungen.
Die Prädisposition für die so genannte familiäre reaktive systemische (oder renale) Amyloidose teilen sich Siamkatzen mit den Orientalisch Kurzhaar-Katzen und den Abessinierkatzen. Als Ursache wird ein Defekt der Leukozyten vermutet. Die Amyloidose führt zu einer kontinuierlichen Ablagerung des unlöslichen Proteins Amyloid in den inneren Organen, deren Funktion dadurch auf Dauer eingeschränkt wird. Primär sind davon Nieren oder Leber betroffen, was bei Siamkatzen mittleren Alters zu chronischer Nieren- oder Leberinsuffizienz führen kann.
Stoffwechselstörungen
Bei dem Stoffwechsel organischer Säuren tritt bei Siamkatzen Isovalerianazidurie als hereditäre Störung auf. Der Erbgang ist auch hier unbekannt, angenommen wird aber ein autosomal-rezessiver Erbgang. Bei erkrankten Katzen liegt ein Defekt des Enzyms Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase vor, wodurch es beim Abbau der Aminosäure Leucin zu Störungen kommt. In der Folge leiden betroffene Katzen an Metabolischer Azidose.
Hereditäre Speicherkrankheiten
Auch hier gibt es spezifisch bei Siamkatzen gehäuft vererbbare Störungen. Diese führen zu einer Anhäufung und Speicherung von nicht abgebauten Stoffwechselprodukten wie beispielsweise Aminosäuren oder Polysacchariden. Die für Siamkatzen bedeutendste Krankheit ist hierbei die Gangliosidose des Typs GM1 (seltener GM2), die auch bei Korat-Katzen auftreten kann. Auslöser des Gendefektes ist eine bislang unbekannte Genmutation, der Erbgang ist autosomal-rezessiv. Befallene Katzen leiden ab einem Alter von circa sechs Monaten unter zunehmender Hirnschädigung durch Anreicherung von Gangliosiden (Fett-Zucker-Verbindungen) im Gehirn. Dies führt zu einer fortschreitenden Degeneration des zentralen Nervensystems. Für Siamkatzen gibt es einen Gentest, mit dem sich Gangliosidose GM1 und GM2 bereits bei Welpen beziehungsweise altersunabhängig auch bei erwachsenen Tieren nachweisen lässt. Der Nachweis kann auch bei heterozygoten Trägertieren durchgeführt werden, die bei positivem Testergebnis von der Zucht ausgeschlossen werden können.
Krebserkrankungen
Bei Siamkatzen können zwei Krebserkrankungen gehäuft beobachtet werden. Bei Mammatumoren konnte in Untersuchungen für Siamkatzen ein etwa zweimal häufigeres Vorkommen als bei anderen Rassen nachgewiesen werden. Die bei Katern sehr selten auftretende Krebserkrankung trifft auch hier vornehmlich Siamkater. Bei Adenokarzinomen, die bei Dünndarmkrebs zweithäufigste Tumorart, gibt es eine eindeutige Rassepräferenz zur Siamkatze. Hier ist die Inzidenz sogar 8fach höher als bei anderen Rassekatzen.
Verhaltensstörungen
Siamkatzen weisen außerdem noch eine gewisse Prävalenz zu dem so genannten Pica-Syndrom auf. Bei Untersuchungen aus dem Jahr 2002 waren 55 % der untersuchten Rassekatzen, die unter dem Pica-Syndrom litten, Siamkatzen. Das Pica-Syndrom zählt zu den Verhaltensstörungen und ist durch Fressen und Annagen von unverdaulichen Stoffen wie beispielsweise Wolle gekennzeichnet.
Filmografie
Ein Paar Siamkatzen haben einen markanten Auftritt in Walt Disneys 15. abendfüllenden Zeichentrickfilm "Susi und Strolch". Als Charakter sind sie negativ angelegt.
Persönlichkeiten
Mouni – Der siamesische Kater des französischen Komponisten Maurice Ravel
Literatur
Eva-Maria Götz, Gesine Wolf: Siam & Co. Orientalische Katzen. Eugen-Ulmer-Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-8001-7441-3.
Maia Beltrame: Siamkatze. Moewig Verlag, Rastatt 1989, ISBN 3-8118-1111-8.
Esther Verhoeff: Illustrierte Katzenenzyklopädie. Nebel Verlag, Eggolsheim, ISBN 3-89555-347-6.
Candida Frith-Macdonald: Die Katze. Parragon Books, Bath 2007, ISBN 978-1-4075-6235-3.
Alex Gough, Alison Thomas: Rassedispositionen bei Hund und Katze. Elsevier, München 2008, ISBN 3-437-58390-5.
Sandra Storch: Vererbtes Design: Zucht, Genetik, Gesundheit und Farben der Katze. Books on Demand, 2006, ISBN 3-8334-6766-5.
Claudia Ricken: Genetik für Pointkatzenzüchter: Siam, Ragdoll, Colourpoint & Co. Books on Demand, 2005, ISBN 3-8334-3167-9.
Roy Robinson: Genetik für Katzenzüchter. 2. Auflage. Pergamon Press, Oxford 1983, ISBN 3-924975-00-0.
Weblinks
Fédération Internationale Féline (PDF; 187 kB) – Rassestandard Siamkatze (engl.)
http://rassekatze.eu/kurzhaarrassen/siam/ – Informationsportal & -Webseite rund um die Siam-Katze
Einzelnachweise und Anmerkungen
Katzenrasse |
207592 | https://de.wikipedia.org/wiki/Joshua%20Norton | Joshua Norton | Joshua Abraham Norton (* 17. Januar 1811 in England; † 8. Januar 1880 in San Francisco) war ein Geschäftsmann aus San Francisco. Er ernannte sich 1859 selbst zum „Kaiser Norton I.“, dem „Kaiser der Vereinigten Staaten“ und „Schutzherrn von Mexiko“.
Obwohl er für verrückt oder zumindest in hohem Maße exzentrisch gehalten wurde, war er bei den Bürgern von San Francisco im mittleren und späten 19. Jahrhundert wegen seines Humors und seiner „kaiserlichen Erlasse“ sehr beliebt: Seine aufsehenerregendsten Befehle waren die gewaltsame Auflösung des US-Kongresses – was sowohl vom Kongress als auch von der Armee ignoriert wurde – und die Errichtung einer Brücke über die San Francisco Bay, der heutigen Bay Bridge, die allerdings lange nach Nortons Tod errichtet wurde. Seine Skurrilitäten wurden aber nicht nur von den Bürgern von San Francisco zur Kenntnis genommen. Mark Twain, der in ihm mehr als nur einen skurrilen Verrückten sah, schuf seine Figur des Königs in Huckleberry Finn angeblich nach dem Vorbild Nortons.
Kindheit und Jugend
Norton wurde in England geboren, die Angaben über Ort und Datum sind jedoch nicht eindeutig: Die Aufzeichnungen aus der Kirchengemeinde von Priors-Lee, das heute zu Telford gehört, besagen, dass er am 17. Januar 1811 als Sohn von John und Sarah Norton geboren und einen Monat später am 20. Februar in Shropshire getauft wurde. In der Volkszählung vom 1. August 1870 wurde Norton mit einem Alter von 50 Jahren und Geburtsort England eingetragen, was auf das Geburtsjahr 1820 hindeuten würde. Sein Nachruf im San Francisco Chronicle beruft sich „in Bezug auf die besten zu erhaltenden Informationen“ auf die Silberplatte auf seinem Sarg, die ihn zum Zeitpunkt des Todes als „ungefähr 65 Jahre alt“ ausweist, was auf 1814 als Geburtsjahr hinweisen würde. Andere Quellen nennen als Geburtsort London und als Geburtstag den 14. Februar 1819. Man kann jedoch annehmen, dass letztere Quellen keine Einsicht in die oben zitierten Aufzeichnungen nehmen konnten.
Nortons Eltern emigrierten 1820 nach Südafrika und waren dort offenbar geschäftlich erfolgreich. Nachdem Norton ein Geschenk von 40.000 US-Dollar von seinem Vater erhalten hatte, begab er sich 1849 nach San Francisco, wo er zunächst einige bemerkenswerte Geschäfte auf dem Grundstücksmarkt abschließen konnte. Als das Kaiserreich China angesichts einer schweren Hungersnot den Export von Reis verbot, stieg der Verkaufspreis in San Francisco schlagartig von 9 auf 79 Cent pro Kilogramm. Norton witterte seine Chance, und als er von einer kommenden Schiffsladung von 91 Tonnen peruanischen Reises hörte, kaufte er den gesamten Vorrat in der Hoffnung auf, damit den Reismarkt unter seine Kontrolle zu bringen. Als dann jedoch ein Schiff nach dem anderen Reis aus Peru lieferte, sackte der Preis wieder ab. Norton musste 1858 Bankrott erklären.
Es gibt bis zu diesem Zeitpunkt keine Dokumente oder Aufzeichnungen, die auf eine besonders exzentrische Persönlichkeit Nortons schließen lassen. Es ist daher unklar, ob seine später gezeigten Skurrilitäten sich bereits während seiner frühen Lebensjahre andeuteten oder ob erst der Verlust seines Vermögens in den 1850er Jahren bei ihm dieses Verhalten auslöste. Es ist jedoch unbestritten, dass sich Norton nach dem Verlust seiner finanziellen Sicherheit merkwürdig benahm; obwohl es keine fachliche Diagnose gibt, werden die Symptome oft als Größenwahn beschrieben.
Regentschaft als Kaiser
Selbsternennung
Enttäuscht von den Unzulänglichkeiten des politischen Systems und der Staats- und Bundesregierungen der USA nahm Norton sozusagen das „Zepter“ selbst in die Hand: Am 17. September 1859 ernannte er sich – in Briefen an die ansässigen Zeitungen – zum „Kaiser dieser Vereinigten Staaten“ (). Gelegentlich fügte er diesem Titel noch den Zusatz „Schutzherr von Mexiko“ bei. So begann seine 21-jährige „unangefochtene“ Herrschaft über Amerika.
Kaiserliche Weisungen
Wie es einem regierenden Kaiser entspricht, erließ Norton zahlreiche Weisungen in Staatsangelegenheiten, die in den Tageszeitungen von San Francisco erschienen. Er erklärte beispielsweise, dass nach der Machtübernahme durch einen Monarchen eine andere gesetzgebende Gewalt, also der US-Kongress, überflüssig sei, und erließ am 12. Oktober 1859 einen Erlass zu seiner Auflösung. Er ließ außerdem verlauten, dass . Deshalb forderte der Kaiser „alle interessierten Seiten“ zum Treffen in Platt’s Music Hall in San Francisco im Februar 1860 auf, „auf dass man das beklagte Übel bekämpfe“.
Dieser Erlass wurde von den „rebellierenden“ Politikern in Washington ignoriert. Da offenbar ernstere Maßnahmen notwendig waren, befahl Kaiser Norton I. in einem weiteren kaiserlichen Erlass vom Januar 1860 der Armee, die Rebellen zu beseitigen:
Sehr zur Verärgerung Seiner Majestät leistete die US-Armee dem Befehl nicht Folge, sodass der Kongress nicht aufgelöst wurde. Dies zog weitergehende Erlasse im Jahre 1860 nach sich, die die Republik auflösen sollten und jegliche Vereinigungen von ehemaligen Kongressmitgliedern untersagten. Der Kampf gegen die früheren Führer des Reiches kam in den Jahren der kaiserlichen Herrschaft nie völlig zum Ruhen. Zeitweise erlaubte jedoch der Kaiser – wenn auch missmutig – dem Kongress die Weiterarbeit.
Kaiser Norton I. verschärfte seine Maßnahmen, nachdem er sich vom störrischen Kongress herausgefordert fühlte, in diesem stets schwelenden Konflikt: Am 4. August 1869 schaffte er sowohl die demokratische als auch die republikanische Partei per kaiserlichem Erlass ab. Der fehlende Respekt, der sich in der Bezeichnung des gewählten kaiserlichen Regierungssitzes San Francisco als Frisco ausdrückt, veranlasste Kaiser Norton I. zu folgendem besorgten Erlass aus dem Jahr 1872:
Es ist nicht bekannt, ob das „kaiserliche Schatzamt“ in irgendeiner Weise von diesem Erlass profitierte.
Amtsausübung
Die „Amtsausübung“ des Kaisers verlief nach einer recht gut dokumentierten Routine: Oft inspizierte er seinen Regierungssitz (die Straßen von San Francisco) in einer kunstvollen blauen Uniform mit goldenen Schulterstücken, welche er von Offizieren des Armeestützpunkts Presidio bekommen hatte und zu der er einen Kastorhut mit Straußenfeder und Rosette trug. Sein Äußeres vervollständigte er dabei gerne durch Stock oder Schirm. Während seiner Wanderungen durch die Straßen von San Francisco überprüfte Kaiser Norton I. den Zustand der Gehwege sowie der Cable Cars, den Fortgang von Reparaturen an öffentlichem Eigentum und das Auftreten und Erscheinungsbild der Polizei. Er nahm sich persönlich der Sorgen seiner Untertanen an und trug ihnen gerne lange philosophische Reden zu einer Vielzahl von Themen vor.
Sein konsequentes Eingreifen in einer Krisensituation auf San Franciscos Straßen während einer dieser Kaiserlichen Inspektionen zählt zu seinen berühmtesten Taten. In den 1860ern und 1870ern gab es oft antichinesische Demonstrationen in den ärmeren Stadtvierteln von San Francisco, die hin und wieder zu blutigen Unruhen eskalierten. Bei einem dieser Vorfälle soll sich Kaiser Norton I. angeblich zwischen die Fronten der Aufständischen und der angegriffenen Chinesen gestellt und geneigten Hauptes immer wieder das Vaterunser gesprochen haben, bis sich der Mob zerstreute.
„Krieg“ mit George Washington II.
Zwischen 1862 und 1865 führte Norton I. eine Fehde mit Frederick Coombs, einem weiteren in San Francisco bekannten Exzentriker, der sich selbst für die Reinkarnation von George Washington hielt. Hintergrund war die Tatsache, dass die nur wenige hundert Meter lange Montgomery Street in San Francisco einfach nicht genug Platz für die Machtausübung zweier so exzentrischer „Herrscher im Exil“ bot. Norton beantragte zunächst die Einweisung von Coombs in die staatliche Irrenanstalt. Die Auseinandersetzung wurde von der Presse ausführlich kommentiert und auch angeheizt, bis Coombs im Mai 1865 Kalifornien verließ und an die Ostküste übersiedelte.
„Hochverrat“ durch Armand Barbier
Ein Skandal ereignete sich 1867, als der Polizist Armand Barbier Norton in Haft nahm, um ihn gegen seinen Willen der Behandlung von Geisteskrankheiten unterziehen zu lassen. Dies führte zu lautem Protest bei den Bürgern und den Zeitungen von San Francisco. Der Polizeikommandant Patrick Crowley reagierte schnell und setzte Norton auf freien Fuß, nicht ohne sich im Namen der Polizeikräfte zu entschuldigen. Norton war großzügig genug, dem jungen Polizisten Barbier diesen „Hochverrat“ zu verzeihen. Als Folge dieses Skandals wurde dem Kaiser in der Folgezeit auf der Straße von den Polizisten salutiert.
Nortons geistiger Zustand
Es gab einige Versuche, anhand eines Studiums der Kaiserlichen Erlasse Rückschlüsse auf den Geisteszustand des einzigen Monarchen der USA zu ziehen. Es ist jedoch nicht möglich, aus den nur anekdotenhaft übermittelten Aufzeichnungen zu seinem Verhalten eine stichhaltige Diagnose seines psychischen Zustands abzuleiten. Möglicherweise litt Norton an Schizophrenie, da Größenwahn oft im Zusammenhang mit diesem Geisteszustand beobachtet wird. Denkbar ist auch, dass Norton nach seinem wirtschaftlichen Bankrott an einer Depression litt, die er durch das Leben in einer Scheinwelt zu überwinden versuchte.
Trotz seiner Ticks und unabhängig von seinem tatsächlichen Geisteszustand sollte nicht vergessen werden, dass Kaiser Norton I. gelegentlich visionäre Ideen entwickelte und dass nicht wenige seiner kaiserlichen Erlasse von Weitsicht zeugten, wenngleich sie utopisch waren. So finden sich darunter Anweisungen zur Gründung eines „Völkerbundes“ und Untersagungen jeglicher Religions- und Sektenstreitigkeiten. Ferner erhob der Kaiser oft die Forderung, eine Hängebrücke zwischen Oakland und San Francisco zu errichten. Die späteren Äußerungen waren hingegen stark von der Irritation über den fehlenden Gehorsam der Amtsträger geprägt:
Im Gegensatz zu seinen anderen Ideen wurde der Brückenbau viel später tatsächlich in die Tat umgesetzt: Die Errichtung der Bay Bridge von San Francisco nach Oakland wurde 1933 begonnen und 1936 abgeschlossen. Eine Gedenktafel, die Kaiser Norton wegen seiner ursprünglichen Idee ehrt, schmückt den westlichen Bogen des Transbay Terminal, der Mautstation und Greyhound Bus Depot am westlichen Ende der Brücke Downtown San Francisco. Am 14. Dezember 2004 befürwortete das San Francisco Board of Supervisors, das neue östliche Segment der Brücke nach Norton zu benennen.
Leben als Kaiser
Öffentliche Wertschätzung
Mit Skepsis zu betrachtenden journalistischen Veröffentlichungen zufolge war Kaiser Norton bei seinen Untertanen sehr beliebt. Obwohl er kaum Geld besaß, soll er häufig in den feinsten Restaurants gespeist haben, und deren Besitzer hängten Schilder mit der Aufschrift „Im Dienste Seiner Kaiserlichen Majestät, Kaiser Norton I. der Vereinigten Staaten“ an die Eingänge. Diese Eitelkeit wurde vom Kaiser offenbar geduldet. Man sagt, diese Plaketten hätten tatsächlich einigen Einfluss auf die Geschäfte dieser Restaurants gehabt.
Ferner wurde Nortons Verhältnis zu den beiden Straßenkötern Bummer und Lazarus legendenhaft ausgeschmückt. „Bummer, Lazarus und Kaiser Norton waren unzertrennlich“, schrieb der Magazinautor Samuel Dickson 1947. „Bei jeder Theaterpremiere waren in der ersten Reihe der Loge drei Sitze für den Kaiser und seine Hunde reserviert, natürlich kostenlos.“ Dafür gibt es allerdings keinen zeitgenössischen Beweis. Basis dieser Legende ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine zeitgenössische Zeichnung von Edward Jump mit dem Titel Three Bummers, die Norton, Bummer und Lazarus gemeinsam vor einem Buffet zeigt. Das Bild wurde damals öffentlich ausgestellt und allgemein bewundert. Norton selbst war von der Darstellung aber alles andere als angetan: Er sah darin „eine Verunglimpfung der kaiserlichen Würde“.
Kaiser Norton I. empfing tatsächlich kleinere Insignien der formalen Anerkennung: Die Volkszählung von 1870 führt ihn als Joshua Norton mit der Berufsbezeichnung (Falschschreibung von Emperor, Kaiser); sie merkt jedoch an . Außerdem gab der Kaiser eine eigene Währung zum Begleichen kleinerer Schulden aus, die von lokalen Geschäften durchaus angenommen wurde. Die Banknoten besitzen einen Nennwert zwischen 50 Cent und 10 Dollar. Sammler zahlen heute deutlich höhere Summen für die wenigen erhaltenen Stücke.
Die Stadt San Francisco ehrte Norton, indem sie ihm, als seine Uniform abgenutzt war, einen angemessen majestätischen Ersatz schenkte. Der Kaiser dankte den Stadträten und nobilitierte jeden von ihnen durch Übersendung eines Adelsbriefes.
Letzte Jahre
In seinen letzten Amtsjahren war der Kaiser immer wieder Gegenstand vielfältiger Gerüchte und Spekulationen. Ein häufig erzähltes Gerücht besagte, er sei tatsächlich ein Sohn von Kaiser Napoleon III., und seine angebliche Herkunft aus Südafrika solle ihn nur vor Verfolgung schützen. Allerdings war Napoleon III. 1808 geboren und damit nur wenige Jahre älter als Norton. Eine andere beliebte Geschichte legte nahe, dass Kaiser Norton beabsichtigte, Queen Victoria zu heiraten. Obwohl auch dies nicht der Wahrheit entspricht, gibt es zumindest Beweise, dass der Kaiser der Queen einige Briefe schrieb und ihr darin Ratschläge erteilte. Ein letztes Gerücht besagt, dass Norton tatsächlich unsagbar reich sei und nur aus einer Neigung heraus den Armen spiele.
Zusätzlich zu diesen Gerüchten wurden einige gefälschte kaiserliche Erlasse in den Zeitungen abgedruckt. Man verdächtigt die Redakteure der Zeitungen, zumindest in einigen wenigen Fällen selbst Edikte mit passendem Inhalt fingiert zu haben. Das städtische Museum von San Francisco verfügt über eine Liste aller Kaiserlichen Weisungen, die man tatsächlich auf Norton zurückführt.
Tod des Kaisers
Die gutwillige und größtenteils schadens- und folgenlose Herrschaft des Kaisers Norton I. endete am Abend des 8. Januar 1880, als Norton auf dem Weg zu einer Vorlesung an der National Academy of Sciences auf der Straße zusammenbrach. Ein Polizeibeamter verlangte schnellstens nach einer Kutsche, um den Kaiser in ein Krankenhaus zu bringen. Der Herrscher starb jedoch, noch bevor die Kutsche ihn erreichte.
Am folgenden Tag veröffentlichte der San Francisco Chronicle auf seiner Titelseite einen Nachruf unter der Überschrift „Le Roi Est Mort“ („Der König ist tot“). Der Ton des Artikels war trauernd und respektvoll:
Der Morning Star, eine andere führende Zeitung in San Francisco, veröffentlichte einen Leitartikel mit der Überschrift: „Norton der Erste, von Gottes Gnaden Kaiser dieser Vereinigten Staaten und Schutzherr von Mexiko, verstorben“.
Entgegen allen Gerüchten wurde schnell klar, dass Kaiser Norton I. in völliger Armut gestorben war und sein gesamtes Vermögen nicht mehr als ein paar Dollar betrug. Fünf bis sechs Dollar Bargeld hatte er bei sich getragen, und eine Durchsuchung seines Zimmers im Mietshaus in der Commercial Street erbrachte weitere zwei Dollar und 50 Cent, seine Sammlung von Wanderstöcken, den Briefwechsel mit Queen Victoria und 1.098.235 Börsenanteile an einer wertlosen Goldmine.
Da absehbar war, dass Nortons hinterlassene Mittel nur für eine Bestattung in einem Armengrab reichten, schritt der Pacific Club (Nob Hill), eine Vereinigung von Geschäftsleuten, mit einer Geldsammlung ein, um dem Kaiser eine würdigere Beerdigung zu organisieren. Letztlich kam es zu großen, ernsten und würdigen Trauerfeierlichkeiten:
Aufzeichnungen sprechen von bis zu 30.000 Menschen, die die Straßen säumten, als der Sarg zum Friedhof gebracht wurde. Der Leichenzug, der dem Sarg folgte, sei zwei Meilen lang gewesen. Der Kaiser fand seine erste Ruhestätte auf dem Freimaurerfriedhof von San Francisco.
Im Jahr 1934 wurden die Gebeine des Kaisers umgebettet. Seitdem ruht Joshua Norton auf dem Woodlawn-Friedhof in Colma, Kalifornien. Der Grabstein bezeichnet ihn als „Norton I., Kaiser der Vereinigten Staaten, Schutzherr von Mexiko“. Im Januar 1980 gab es in San Francisco eine Reihe von Zeremonien und Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100. Todestages des einzigen Kaisers der Vereinigten Staaten.
Rezeption
Kaiser Norton I. in der Literatur
Der Kleist-Preisträger Paul Gurk veröffentlichte 1949 einen Roman mit dem Titel Der Kaiser von Amerika.
Die Geschichte des Kaisers Norton wurde von Neil Gaiman in Three Septembers and a January aufgegriffen, einer Ausgabe seiner Graphic Novel Sandman. Die Geschichte findet sich im Band Fables and Reflections.
Eine Kurzgeschichte von Robert Silverberg, The Palace at Midnight, beschreibt ein post-apokalyptisches Kalifornien mit einem Kaiserreich von San Francisco. Der herrschende Kaiser ist ein seniler „Norton VII.“
Einen kurzen Auftritt haben Kaiser Norton und seine Hunde Bummer und Lazarus in Barbara Hamblys Ishmael, einem Roman vor dem Hintergrund des Star-Trek-Universums.
In Christopher Moores Romanen A Dirty Job, Bloodsucking Fiends, You Suck sowie Bite Me. A Love Story tauchen Norton und seine Hunde Bummer und Lazarus im San Francisco der Gegenwart auf, ebenso in Ellen Wights Roman Tales of the Express (New York 2008).
Die Ausgabe Nr. 14 (wiederaufgelegt als Nr. 57) der Comic-Reihe Lucky Luke mit dem deutschen Titel Der Kaiser von Amerika beschäftigt sich auf humorvolle Art mit dem selbsternannten Kaiser.
Einen frühen Cameo-Auftritt hat Norton in dem 1892 erschienenen Roman The Wrecker (Der Ausschlachter) von Robert Louis Stevenson und Lloyd Osbourne.
In den Parallelwelt-Romanen über das Gallatin-Universum von L. Neil Smith wird mehrfach die Emperor Norton Universität in San Francisco erwähnt, an welcher einige der handelnden Personen tätig sind.
Norton in Film, Fernsehen und auf der Bühne
Im 1956 erschienenen Spielfilm In 80 Tagen um die Welt sieht man in einer San-Francisco-Szene kurz Kaiser Norton, der von den beiden Hunden Bummer und Lazarus begleitet wird.
In Folge 225 von Bonanza („Der Kaiser von Amerika“) gerät Kaiser Norton in Schwierigkeiten, nachdem er mehr Sicherheit für die Minenarbeiter gefordert hat; seine Widersacher versuchen, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Mark Twain und die (seit Staffel 7 nur noch) drei Cartwrights stehen ihm zur Seite. Nortons Konzept der Hängebrücke findet ebenfalls Erwähnung. Joshua Norton wurde von Sam Jaffe dargestellt.
2007 hatte das Musical Emperor Norton, the Musical in San Francisco Premiere.
Sonstige Anspielungen auf Norton
In der Religion der Diskordier ist Kaiser Norton ein Heiliger zweiter Klasse, dem dort höchsten spirituellen Rang, den ein echter, nicht-fiktionaler Mensch erreichen kann. In den Aufzeichnungen der Principia Discordia hat die Gruppe Joshua Norton aus San Francisco den Slogan:
Ghirardelli, ein Chocolatier in San Francisco, bietet einen Kaiser-Norton-Eisbecher an, der mit zwei Bananen und einer Handvoll Nüssen garniert ist. Da in der englischen Sprache mit den Redewendungen he is bananas und he is completely nuts umgangssprachlich die Verrücktheit einer Person beschrieben wird, soll damit an die Exzentrik von Kaiser Norton I. erinnert werden.
An den Exzentriker erinnert auch ein Independent-Label mit dem Namen emperor norton records. Eine Gruppe etwas surrealer Software und Unterhaltungssoftware nennt sich Emperor Norton Utilities. Dies ist zugleich eine Parodie auf die Softwaresammlung Norton Utilities von Peter Norton.
Kaiser Norton erschien als Ehrengast auf der 1993er „World Science Fiction Convention“ in San Francisco. Als Medium seiner Präsenz diente ein eindrucksvoller lokaler Fan. Inzwischen erinnert auch eine von Henry Mollicone geschriebene Oper an Nortons Leben. Sie wurde unter anderem von der West Bay Opera Company in San Francisco im Herbst 1990 aufgeführt.
Von 2003 bis 2011 wurde in der San Francisco Bay Area der nach ihm benannte Science-Fiction-Preis Emperor Norton Award verliehen.
Literatur
Robert E. Cowan: The Forgotton Characters of Old San Francisco. The Ward Ritchie Press, Los Angeles 1964.
Albert Dressler: Emperor Norton of the United States. Dressler, Sacramento 1927.
William Drury: Norton I, Emperor of the United States. Dodd, Mead & Company, New York 1986, ISBN 0-396-08509-1.
Michael Robert Gorman: The Empress Is a Man. Stories from the Life of José Sarria. Haworth Press, New York 1998, ISBN 0-7890-0259-0.
William M. Kramer: Emperor Norton of San Francisco. Norton B. Stern, Santa Monica 1974.
Allen Stanley Lane: Emperor Norton, Mad Monarch of America. Caxton Printers, Caldwell Ida 1939.
David Warren Ryder: San Francisco’s Emperor Norton. Ryder, San Francisco 1939.
Weblinks
Einzelnachweise
Stadtoriginal (Vereinigte Staaten)
Unternehmer (Vereinigte Staaten)
Person (San Francisco)
US-Amerikaner
Geboren im 19. Jahrhundert
Gestorben 1880
Mann |
231462 | https://de.wikipedia.org/wiki/Natt%C5%8D | Nattō | Nattō (jap. oder ) ist ein traditionelles japanisches Lebensmittel aus Sojabohnen. Zur Herstellung werden die Bohnen gekocht und anschließend durch Einwirkung des Bakteriums Bacillus subtilis ssp. natto fermentiert. Dadurch bildet sich ein fädenziehender Schleim um die Bohnen und die Speise bekommt einen starken Geruch. In der traditionellen Zubereitungsart stammen die Bakterien aus Reisstroh, in welches die Bohnen gewickelt werden. Im modernen Herstellungsprozess werden die Bohnen mit Kulturen des Bakteriums beimpft, so dass der Einsatz von Reisstroh nicht notwendig ist. Nattō wird als Beilage zu anderen Gerichten gereicht, als Zutat genutzt und als eigenständige Speise, mit verschiedenen Zutaten gewürzt, verzehrt. Eine gesundheitsfördernde Wirkung wurde für einige der durch die Fermentierung entstehenden Stoffe nachgewiesen.
Herstellung
Für die Herstellung von Nattō werden kleine, getrocknete Sojabohnen mit gleichmäßiger Form und einer glatten Samenschale bevorzugt. Kleinere Bohnen haben eine im Verhältnis zur Masse größere Oberfläche. Dadurch verkürzt sich zum einen die Kochzeit, zum anderen wird angenommen, dass die spätere Fermentierung schneller ins Innere der Bohnen dringt. Durch den höheren Anteil an Kohlenhydraten ist das Endprodukt zudem etwas süßer. Die Bohnen werden zunächst gründlich gereinigt und (meist über Nacht) in Wasser eingeweicht, anschließend weichgekocht und für 20 Minuten getrocknet, oder bei industrieller Herstellung für etwa 30 Minuten bei 121 °C gedämpft.
Bei der traditionellen Herstellungsmethode werden die gekochten Bohnen anschließend in Reisstroh gewickelt. Das auf dem Stroh vorkommende Bakterium Bacillus subtilis natto bewirkt daraufhin einen Fermentationsprozess. Da das Bakterium isoliert und als Starterkultur bereitgestellt werden konnte, ist diese Vorgehensweise heute nicht mehr notwendig. Die gekochten Bohnen werden mit der Starterkultur geimpft, so dass die Fermentation auch ohne Stroh beginnen kann. Der Fermentationsprozess dauert bei Raumtemperatur etwa einen Tag, diese Zeit kann jedoch auf sechs bis acht Stunden reduziert werden, wenn die Temperatur auf 40 °C bis 43 °C erhöht wird. Die maximale Temperatur, die während des Fermentierungsvorgangs erreicht werden sollte, beträgt 50 °C, ab 55 °C stoppt der Fermentierungsprozess und die Bakterien sterben ab.
Während der Fermentierung werden etwa 50 % der in den Bohnen befindlichen Proteine zersetzt, 20 % davon zu Polypeptiden, die zu den Polyglutaminsäuren zählen und aus Glutaminsäure-Einheiten bestehen. Auf der Oberfläche der Bohnen bildet sich daraus eine fädenziehende, schleimige Substanz, die für das typische Aroma und den Geschmack von Nattō verantwortlich ist. Neben Polyglutaminsäuren wird bei diesem Vorgang eine sehr hohe Menge an Vitamin K2 gebildet, mit 880 µg je 100 g gehört es zu den Lebensmitteln mit den höchsten Anteilen an diesem Vitamin. Es wurde nachgewiesen, dass die Konzentration des Vitamins während der Fermentierung um das 124-fache steigt. Weitere wichtige Inhaltsstoffe, die bei der Fermentierung von Nattō entstehen, sind Vitamine des B-Komplexes, Nattokinase und Dipicolinsäure, Levan, zudem wird Ammoniak gebildet, der bei zu langer Fermentierung eine zu hohe Konzentration annimmt und sich negativ auf den Geschmack auswirkt. Die Gesamtkonzentration des Ammoniaks sollte 0,2 % nicht überschreiten.
Das Aroma der Sojabohnen verändert sich während der Herstellung von Nattō deutlich. Während des Kochens der Bohnen entsteht zunächst ein als „grünlich“ beschriebener Geruch, der typisch für Sojabohnen ist. Dieser Geruch wandelt sich nach etwa drei Stunden Kochzeit in eine süßlichere Note. Beide Aromen verschwinden während der Fermentierung. Der endgültige Geruch wird unter anderem durch Pyrazine beeinflusst, die für charakteristische als verbrannt oder geröstet wahrgenommene Aromen verantwortlich sind. Bereits während des Kochens der Bohnen werden außerdem verschiedene Schwefelverbindungen gebildet, die sich noch nach der Fermentation auf den Geruch auswirken.
Arten
Vom japanischen Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie MEXT werden insgesamt vier verschiedene Arten Nattō nach ihrer Herstellungsweise unterschieden:
als Itohiki-Nattō (, deutsch: klebriges Nattō) werden gedämpfte Sojabohnen bezeichnet, die durch Zugabe von Bacillus subtilis ssp. natto fermentieren und dadurch Fäden ziehen.
Hikiwari-Nattō (, deutsch: Nattō aus zerbrochenen Bohnen) ist eine Art von Itohiki-Nattō, welches von der Samenhülle befreite und gespaltene Sojabohnen als Grundzutat verwendet.
Goto-Nattō (, deutsch: 5 To-Nattō) wird hergestellt, indem Nattō mit Kōji und Speisesalz ein weiteres Mal fermentiert wird. Der Name leitet sich von den Verhältnissen der Zutaten ab: zu 1 Koku (= 10 To = 180 l) Nattō werden je 5 To (= 90 l) Kōji und 5 To Salz gegeben und in Fässern gereift.
Tera-Nattō (, deutsch: Tempel-Nattō), Shiokara-Nattō (, deutsch: salziges Nattō), Hamanattō () oder speziell in Kyōto auch Daitokuji-Nattō (, Nattō des Daitoku-ji) sind mit Kōji beimpfte, gesalzene Sojabohnen, die getrocknet werden.
Da bei letztgenanntem kein Nattō-Bakterium für die Fermentierung verantwortlich ist und sich dadurch auch nicht die typische schleimige Substanz um die Bohnen bildet, werden meist nur die ersten drei Arten zum eigentlichen Nattō gezählt.
Eine weitere Unterscheidung erfolgt nach der Größe der verwendeten Bohnen (vor dem Kochen):
groß: mindestens 7,9 mm im Durchmesser
mittel: zwischen 7,3 und 7,9 mm im Durchmesser
klein: zwischen 5,5 und 7,3 mm im Durchmesser
extraklein: zwischen 4,9 und 5,5 mm im Durchmesser.
Verzehr
Nattō kann entweder pur oder auf Reis gegessen werden, wird aber oftmals auch zur Zubereitung weiterer Gerichte verwendet. Beim Verspeisen von purem Nattō werden meist noch weitere Zutaten zum Würzen hinzugeben. In einer Umfrage unter japanischen Nattō-Käufern gaben 87,1 % der Befragten an, die den Packungen beigelegten Saucen (Sojasauce und Senf) als Würzmittel zu verwenden. Weitere häufig zum Nattō gegebene Zutaten sind nach dieser Umfrage Frühlingszwiebeln (55,2 %), Sojasauce (35,0 %) und Ei (25,2 %). Seltener werden auch andere Zutaten wie Kimchi (fermentierter Kohl), Katsuobushi (Flocken von getrocknetem Thunfisch), geriebener Rettich Daikon, Nori-Algen, geröstete Sesamsamen, Mayonnaise, Umeboshi (Salzpflaumen) oder in Stücke geschnittener Thunfisch beziehungsweise Tintenfisch zusammen mit Nattō gegessen.
Die Vorlieben bei Gerichten mit Nattō unterscheiden sich etwas bei der Zubereitung zu Hause und dem Verzehr im Restaurant: In der häuslichen Küche wird von 49,6 % der Befragten aus Nattō Sushi hergestellt (Nattō-Maki), 29,5 % benutzen es als Zutat für Misosuppe, 23,6 % für gebratenen Reis auf chinesische Art, 22,9 % für Eiergerichte, 19,7 % für Udon- oder Soba-Gerichte und 17,8 % für Nattō-Spaghetti. In der Gastronomie hat vor allem Nattō-Sushi Bedeutung: 48,0 % der Befragten gaben an, dieses Gericht zu essen, wenn sie außer Haus Nattō-Speisen essen. Andere Speisen sind deutlich seltener genannt, am zweithäufigsten Tintenfisch-Nattō mit 13,1 %, gefolgt von Thunfisch-Nattō mit 11,0 %. Weitere Gerichte, die sowohl in der häuslichen Küche als auch in der Gastronomie zubereitet werden, sind beispielsweise Nattō-Karē, Nattō-Gyōza oder Nattō-Tōfu.
Gesundheitliche Wirkung
Die gesundheitsfördernde Wirkung von Nattō ist in der japanischen Volksmedizin seit langem bekannt. Während des Bunroku-Kriegs (1592) habe der aus Kumamoto stammende Krieger Kiyomasa Katō seinen Truppen Nattō gegeben, die dadurch im Gegensatz zu anderen japanischen Kriegern weniger unter Infektionskrankheiten und Verdauungsproblemen gelitten haben sollen. Die erste schriftliche Erwähnung der medizinischen Wirkung wird auf das Jahr 1695 datiert: In dem Buch Benchao Shijian (, japanisch Honchō Shokkan, Deutsch: Ein Spiegel der Nahrungsmittel dieser Dynastie), das von dem Japaner Hitomi Hitsudai (; um 1642–1701) auf Chinesisch geschrieben wurde, schreibt der Autor über Nattō, dass es beruhigend sei und gegen Magenprobleme helfe, einen guten Appetit fördere sowie entgiftend wirke. Weiterhin wurde ihm Wirksamkeit gegen Cholera, Typhus und Ruhr zugesprochen.
Ein wichtiger Bestandteil, auf den die medizinische Wirkung von Nattō zurückzuführen ist, ist das zu den Serinproteasen gehörende Enzym Nattokinase. Dieses zeigt eine starke fibrinolytische (fibrinspaltende) Wirkung. Durch das reichlich vorhandene Vitamin K2 wird die Knochenbildung angeregt, zudem wird durch die Bildung der Polyglutaminsäuren die Bindung von Kalzium gefördert. Dipicolinsäure besitzt eine antibakterielle Wirkung gegen Stämme von Escherichia coli und Helicobacter pylori. Durch diese Effekte gilt Nattō als wirksam gegen Thromben, Bluthochdruck, Osteoporose und Magengeschwüre.
Nattokinase ist zudem in der Lage, Amyloide genannte Ablagerungen zu zersetzen, die möglicherweise mit Krankheiten wie der Alzheimerschen Krankheit, der Transmissiblen spongiformen Enzephalopathie und systemischer Amyloidose in Verbindung stehen. Bisher noch nicht identifizierte Inhaltsstoffe des Nattō haben einen einschränkenden Effekt auf die interzellulare Kommunikation bestimmter Zelltypen, was möglicherweise die Bildung von Krebs hemmt. Um diese Wirkungen im menschlichen Körper zu entfalten, müsste Nattokinase allerdings aufgenommen werden, wobei es als Protein größtenteils verdaut wird.
Geschichte
Etymologie
Die älteste bekannte Verwendung des Begriffs Nattō ist in der Schrift Shin Sarugakki niedergeschrieben und stammt aus dem Jahre 1068. Der Autor Fujiwara no Akihira beschreibt darin das Leben in Japan in seiner Zeit. Er erwähnt dabei Shiokara Nattō (). Damit sind jedoch möglicherweise salzige Sojabrocken gemeint, die seit dem 8. Jahrhundert in Japan Verbreitung fanden. Der Begriff Nattō setzt sich aus zwei Kanji zusammen: zum einen (On-Lesung: na), was so viel wie ‚anbieten‘ oder ‚liefern‘ bedeutet, und zum anderen (On-Lesung: zu oder tō) mit der Bedeutung ‚Bohne‘. Das Buch Benchao Shijian/Honchō Shokkan von Hitomi Hitsudai aus dem Jahr 1695 führt den Begriff Nattō auf nassho () zurück, was in etwa ‚Tempelküche‘ oder wortgetreuer ‚Ort der [Opfer]gaben‘ bedeutet.
Entstehungslegenden bis zur Edo-Zeit
Zum Ursprung der Nattō-Zubereitung existieren unterschiedliche Theorien. Am weitesten zurück reichen dabei Aussagen, dass bereits während oder gegen Ende der Yayoi-Zeit um 200 n. Chr. alle notwendigen Bedingungen für die Herstellung von Nattō in Japan vorhanden waren: Bakterien, Sojabohnen und Reisstroh. Mit dem Nattō-Bazillus verwandte Bakterien existierten schon vor 3 Mio. Jahren. Ausgrabungen an verschiedenen Stellen in Japan wiesen angebrannte Sojabohnen auf, die auf die späte Yayoi-Zeit oder noch früher datiert wurden. Der Reisanbau in Japan begann um 300 v. Chr. auf Kyūshū im Süden Japans und verbreitete sich im Anschluss in ganz Japan. Nattō könnte also bereits in dieser Zeit per Zufall entstanden sein. Jedoch gibt es für diese Vermutung keinerlei Belege oder darauf verweisende Legenden. Auch die Vermutung, dass Nattō aus chinesischen tan-shih (fermentierte, nicht-salzige Sojabrocken) entstanden ist, kann nicht belegt werden. Diese wurden 754 n. Chr. vom buddhistischen Priester Jianzhen nach Japan gebracht.
Legenden schreiben die Entdeckung von Nattō entweder Shōtoku, einem Kronprinzen aus dem frühen 7. Jahrhundert, oder dem Samurai-General Hachimantarō Yoshiie (1041–1108) aus der Heian-Zeit zu. Shōtoku soll sich ihnen zufolge in einem Dorf namens Warado in der Präfektur Shiga, das berühmt für den Sojabohnenanbau war, aufgehalten haben. Dort hat er angeblich Reste von gekochten Sojabohnen zum Teil seinem Pferd verfüttert und zum Teil in Reisstroh gewickelt an einen Baum gehängt. Am nächsten Tag hatten sich die Bohnen zu Nattō verwandelt, was der Prinz als sehr schmackhaft empfand. Die Zubereitungsweise wurde von den Bewohnern des Dorfs übernommen, der Name des Dorfs wurde bald in Warazuto Mura (Reisstrohhüllen-Dorf) geändert.
Die Legenden um Hachimantarō Yoshiie besagen, dass Nattō entweder im Zenkunen-Krieg (ab 1051) oder dem Gosannen-Krieg (ab 1083) entdeckt wurde. Nach einer Version der Legende wurden die Soldaten von Hachimantarō Yoshiie angegriffen, während sie aßen. Sie verstauten die noch nicht verspeisten gekochten Sojabohnen in Säcken aus Reisstroh und banden diese an die Sättel der Pferde. Einige Tage später hatte sich durch die Körperwärme der Pferde Nattō gebildet. In einer anderen Version der Legende bekam Hachimantarō Yoshiie von den Einwohnern Iwadeyamas Nattō als Dank für die Hilfe im Zenkunen-Krieg. Während des Gosannen-Kriegs soll Hachimantarō Yoshiie den überlebenden Einwohnern der Stadt Sankanbu gekochte Sojabohnen gegeben haben, die er aus Mangel an anderen geeigneten Gefäßen in Reisstroh einwickelte. Nach einigen Tagen bemerkten die Beschenkten, dass sich die Sojabohnen in Nattō verwandelt hatten. Da sie den Geschmack mochten, bereiteten sie daraufhin selbst Sojabohnen auf diese Weise zu.
Bereits in der Heian-Zeit war Nattō vor allem nördlich des heutigen Tokio, besonders in den sechs nordöstlichen Präfekturen Fukushima, Miyagi, Iwate, Aomori, Akita und Yamagata, bekannt. Dazu kamen Gebiete in den Bergen im Inland Kyushus und in der Provinz Tamba nördlich von Kyōto. Während der Muromachi-Zeit (1333–1568) verbreitete sich die Verwendung von Sojasauce in Japan und ersetzte Salz als Würzmittel für Nattō. Neben Nattō fand in dieser Zeit auch Tofu Einzug in die Küchen der Mönche, Samurai und des Adels.
Eine größere Verbreitung hat Nattō auch einem politischen Kontrollinstrument zu verdanken: Durch das 1635 eingeführte sankin kōtai, waren die Daimyō (Fürsten der Feudalzeit Japans) verpflichtet, einen Teil des Jahres in der Hauptstadt Edo zu verbringen. Der damit verbundene Austausch von Kulturen und Bräuchen führte dazu, dass Nattō auch in südlicheren Gegenden und in größeren Städten bekannt wurde.
Meiji-Zeit bis heute
Die Öffnung Japans zur westlichen Welt am Anfang der Meiji-Zeit (1868–1912) führte zu einem Aufschwung verschiedener Wissenschaften in Japan, so auch der Mikrobiologie, die in den 1870er und 1880er Jahren aus Europa nach Japan kam. Kikuji Yabe veröffentlichte 1894 die erste wissenschaftliche Arbeit über die Fermentation von Nattō und legte damit den Grundstein für die industrielle Nattō-Produktion. Er isolierte insgesamt vier Mikroorganismen (drei Mikrokokken und ein Bacillus) aus Nattō, ohne diese zu benennen oder zu identifizieren.
Einen weiteren wichtigen Beitrag zum mikrobiologischen Verständnis der Nattō-Fermentation lieferte 1905 Shin Sawamura, der zwei Bakterienarten aus Nattō isolierte und zeigte, dass allein eine Beimpfung gekochter Sojabohnen mit diesen Bakterien die Fermentation in Gang setzte. Er benannte die beiden Arten Bacillus natto und Bacillus mesentericus. Es zeigte sich jedoch, dass allein Bacillus natto (später als Bacillus subtilis natto geführt) für die Fermentation ausreicht.
Die Erkenntnisse der Wissenschaft wurden jedoch nicht umgehend in der kommerziellen Nattō-Produktion umgesetzt. Dies führte dazu, dass einige namhafte Hersteller, die Nattō in größerem Stil herstellten, mit zunehmender Produktionsmenge auch mit stärkeren Problemen bei der Steuerung von Temperatur und Sauerstoffgehalt konfrontiert wurden. Die Folge waren zunächst Produktionsausfälle und schließlich oftmals der Bankrott. In dieser Zeit begannen einige Wissenschaftler und ihre Studenten das selbst hergestellte Nattō als Universitäts-Nattō zu verkaufen, um damit einen Nebenverdienst zu erhalten, beispielsweise ab 1912 Shinsuke Muramatsu in Morioka oder später Jun Hanzawa auf Hokkaidō. Jun Hanzawa gelang es, mit einigen Innovationen die Nattō-Produktion zu verbessern und stärker zu industrialisieren. 1919 entwickelte er reine Bakterienkulturen, die in der industriellen Herstellung als Starter zur Beimpfung von gekochten Sojabohnen genutzt werden konnten, was die Verwendung von Reisstroh überflüssig machte. Zudem stellte er neue, hygienischere Nattō-Verpackungen aus Kiefernholz vor, auch ein verbesserter Inkubationsraum für die Produktion wurde von ihm entworfen.
Weitere Änderungen im industriellen Herstellungsprozess erfolgten in den 1970er Jahren. Zum einen wurden die Bohnen unter Hochdruck gekocht, was die Kochzeit auf 20 bis 30 Minuten reduzierte. Zum anderen wurden Verpackungen aus Polystyrol und Polyethylen eingeführt, in denen die beimpften Sojabohnen fermentieren können. In dieser Zeit erschienen auch einige neue Nattō-Produkte auf dem Markt, beispielsweise Nattō mit Mandeln, geräuchertes Nattō mit Weizenkleie, Nattō mit Kombu und Nattō auf Basis von Gerste oder braunem Reis.
Wahrnehmung in der westlichen Welt
Erste Erwähnungen von Nattō in westsprachlicher Literatur stammen aus dem frühen 17. Jahrhundert. Das von Jesuiten herausgegebene japanisch-portugiesische Wörterbuch Vocabulario da lingoa de Iapam, com a declaraçáo em Portugues von 1603 ist wahrscheinlich die früheste Erwähnung einiger auf Sojabohnen basierender Lebensmittel – unter anderem auch von Nattō – in einer europäischen Sprache. Nattō wird dort als eine Art Lebensmittel beschrieben, das durch kurzes Kochen von Körnern oder Samen und anschließendes Lagern in einer Inkubationskammer hergestellt wird. Neben Nattō erwähnt das Buch auch Nattōjiru (Misosuppe mit Nattō).
In englischer Sprache wird Nattō erstmals in der ersten Auflage des japanisch-englischen Wörterbuchs von James Curtis Hepburn von 1867 erwähnt und als „ein aus Sojabohnen hergestelltes Lebensmittel“ beschrieben; die zweite Auflage des Wörterbuchs von 1872 enthält ebenfalls diese Beschreibung unverändert. Auch in Veröffentlichungen aus Frankreich taucht Nattō erstmals in einem Wörterbuch auf, das 1868 erschienene Dictionnaire japonais-français von Léon Pagés ist eine Übersetzung des japanisch-portugiesischen Wörterbuchs von 1603. 1895 erschien eine deutschsprachige Zusammenfassung eines englischen Artikels von Kikuji Yabe über Nattō in „Die landwirtschaftlichen Versuchsstationen“. Dort wird „eine Art vegetablischen Käses“ vorgestellt, in dem „die stark erweichten Sojabohnen durch eine zähe, fadenziehende Substanz zusammengeklebt“ erscheinen. Eine weitere deutsche Bezeichnung für Nattō wird von Andreas Sprecher von Bernegg im 1929 erschienenen Buch Tropische und subtropische Weltwirtschaftspflanzen; ihre Geschichte, Kultur und volkswirtschaftliche Bedeutung. II. Teil: Ölpflanzen verwendet; dort wird das Gericht als „Buddhistenkäse“ bezeichnet.
Eine erste Erwähnung der Herstellung von Nattō auf amerikanischem Boden stammt aus dem Jahr 1933 von Hawaii, die erste bekannte kommerzielle Nattō-Produktion auf dem amerikanischen Festland fand in Los Angeles statt und ist auf 1964 datiert. 1984 existierten insgesamt sechs Nattō-Hersteller in den USA, drei davon auf Hawaii und jeweils einer in den Bundesstaaten Arkansas, Kalifornien und Massachusetts. Seit 2015 wird Nattō in Polen produziert.
Wirtschaftliche Bedeutung
Der Verkauf von Nattō erzielte in Japan 2005 einen Umsatz von etwa 130,1 Milliarden Yen, für 2010 wird ein Umsatz von etwa 131,0 Milliarden Yen (ca. 1,2 Milliarden Euro, Stand September 2010) vorhergesagt. Die wichtigsten Produzenten von Nattō sind (Stand 2005, in Klammern Marktanteil in Prozent):
Takanofoods – 25,6 % (, Takanofūzu K.K.)
Mizkan – 10,8 % (, K.K. Mitsukan)
Azuma Shokuhin – 9,1 % (, Azuma Shokuhin K.K.)
Kume Quality Products – 7,0 % (, Kume Kuoriti Purodakutsu K.K.)
Asahimatsu Shokuhin – 5,3 % (, Asahimatsu Shokuhin K.K.)
Yamada Foods – 4,5 % (, K.K. Yamada Fūzu)
Marukin Shokuhin – 4,8 % (, Marukin Shokuhin K.K.)
Marumiya – 2,6 % (, K.K. Marumiya).
Alle anderen Hersteller haben einen Gesamtmarktanteil von 31,4 %.
Obwohl einheimische Sojabohnen als am besten für Nattō gelten, wird nur ein geringer Teil der für die Nattō-Produktion verwendeten Sojabohnen in Japan selbst angebaut (Stand 2004: 3,8 %). Die wichtigsten Länder, aus denen speziell für die Nattō-Produktion angebaute Sojabohnen importiert werden, sind die USA, Kanada und China. Insgesamt werden über 400 verschiedene Sorten Sojabohnen für Nattō verwendet, sogar außerhalb Japans werden auf die Bedürfnisse der Nattō-Produktion angepasste Sorten gezüchtet.
Ähnliche Lebensmittel
Neben Nattō existieren eine Reihe weiterer vergleichbarer Lebensmittel, insbesondere was die in den ostasiatischen Ländern weit verbreitete Haltbarmachung durch Fermentation anbelangt. In Japan findet man neben dem eigentlichen Nattō auch Hamanattō und die aus Kyōto stammende Version Daitokuji-Nattō, die jedoch durch Beimpfung von Sojabohnen mit Kōji (Aspergillus flavus var. oryzae) hergestellt werden. Auch das oft mit Nattō verglichene indonesische Tempeh wird zumeist aus Sojabohnen hergestellt. Hier ist ein Schimmelpilz der Gattung Rhizopus für die Prozesse während der Fermentation verantwortlich. Sowohl das nigerianische Daddawa, das thailändische Thua nao oder das aus Nepal stammende Kinema werden durch Fermentation von Hülsenfrüchten unter Einfluss eines Bakteriums der Gattung Bacillus erzeugt. Im Gegensatz zu Nattō werden diese als Gewürz für Suppen und andere Speisen verwendet.
In Korea gibt es Cheong-guk-jang (; ) und in Indonesien, Malaysia Tauco, Tauchu, sowie in China Shuidouchi.
Literatur
S. Noma (Hrsg.): nattō. In: Japan. An Illustrated Encyclopedia. Kodansha, 1993. ISBN 4-06-205938-X, S. 1064.
Weblinks
Einzelnachweise
Japanische Küche
Soja
Speise aus Gemüse oder Teigwaren
Wikipedia:Artikel mit Video |
237103 | https://de.wikipedia.org/wiki/Abessinierkatze | Abessinierkatze | Die Abessinierkatze (oft verwendete Namenskurzform: „Abessinier“) ist eine der ältesten gezüchteten Katzenrassen der Welt. Obwohl ihr Name auf Äthiopien, das frühere Kaiserreich Abessinien, in Ostafrika als Herkunftsland schließen lässt, liegen ihre Ursprünge in Südostasien.
Als Zuchtrasse gibt es die Abessinierkatze seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hauptzuchtgebiete sind heute die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Japan und Europa. Abessinierkatzen sind Kurzhaarkatzen in verschiedenen Fellfarben. Typisches Rassemerkmal ist eine zwei-, manchmal auch dreifache Bänderung der Haare. Diese Bänderung wird als Ticking bezeichnet, die daraus entstehende Fellzeichnung als Agouti-Effekt. Diese ist vergleichbar der Fellzeichnung von wilden Hasen und Kaninchen und brachte der Abessinierkatze anfangs den Spitznamen „bunny cat“ (englisch: Hasenkatze) ein.
Im Rahmen der Züchtung von Abessinierkatzen entstanden um die Mitte des 20. Jahrhunderts auch halblanghaarige Abessinierkatzen. Diese werden als Somali-Katzen bezeichnet und bilden mittlerweile einen eigenen Rassekatzenstandard.
Herkunft
Die Abessinierkatze stammt nicht, wie ihr Name vermuten lässt, aus Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Auch die Behauptung, dass Abessinierkatzen als Nachfahren der im Alten Ägypten lebenden und dort als göttlich verehrten Katzen gelten, ist dem Bereich der Legende zuzuweisen.
Die Vorfahren der heutigen Abessinierkatze stammen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ursprünglich aus den Dschungeln Südostasiens. Denn die lange nur bei dieser Katzenrasse auftretende Mutation des Tabby-Gens „Abessinier-Tabby“ (TA) findet sich bei Katzen an der Küste des Indischen Ozeans zwischen Singapur und Sri Lanka, während es in Ägypten und Ostafrika nicht nachweisbar ist. Der Abessinierkatze ähnelnde Wildkatzenarten in Eurasien, Asien und Afrika sind die Falbkatze (Felis silvestris lybica) und die Rohrkatze (Felis chaus).
Die bekannte Vorgeschichte der modernen Abessinierkatzenrasse weist in die gleiche Richtung:
Frühe Illustrationen im englischen Katzenjournal aus dem 19. Jahrhundert, welche der Abessinierkatze ähnlich sehen, wurden dort als „asiatische Katzen“ bezeichnet. Ein ausgestopftes Tier mit Merkmalen des TA-Gens aus den 1830er-Jahren existiert nach wie vor als Ausstellungsstück im zoologischen Museum der niederländischen Stadt Leiden. Die grobgesprenkelte wildfarbene Katze, die einer wildfarbenen modernen Abessinierkatze auch vom Exterieur her sehr ähnlich sieht, wird dort als „Patrie, domestica India“ (Indische Hauskatze) bezeichnet.
Wahrscheinlich kam es in Einzelfällen zu einer Weiterverbreitung des Ursprungstyps von Südostasien in Richtung Vorderasien beziehungsweise Ostafrika; so vor allem durch englische Händler und Kolonialbeamte innerhalb des Britischen Weltreichs.
Geschichte
Die Historie der modernen Katzenrasse „Abessinier“ in Europa beginnt 1868. In einem britischen Katzenbuch von 1874 wird erstmals eine Abessinierkatze erwähnt. Eine kolorierte Lithografie zeigt eine Katze mit gesprenkeltem Fell namens Zula und erläutert in der dazugehörenden Beschreibung: „Zula, die Katze von Frau Captain Barret-Lennard. Die Katze kommt aus Abessinien in Folge des Krieges.“ Da im Mai 1868 britischen Truppen Abessinien verließen und das Land in den Einflussbereich Italiens geriet, liegt die Vermutung nahe, dass Zula als erste Abessinierkatze im Gefolge der englischen Kolonialarmee nach England kam. Wie diese Katze von Südostasien in das damalige Abessinien gelangte und ob es dort eine zeitweilige Population von Katzen mit abessiniertypischen Merkmalen gab, ist unbekannt.
Über Zulas historisches Schicksal in England sind keine weiteren Einzelheiten bekannt. Der neue und bis dahin unbekannte Katzentyp erregte aber insbesondere durch den Agouti-Effekt des Fells bei englischen Katzenzüchtern sehr viel Aufsehen. Es kam zu Kreuzungen mit britischen Kurzhaarkatzen, teils Hauskatzen, teils Rassekatzen um der Inzucht entgegenzuwirken. Ein Ergebnis der Kreuzungen waren auch die ersten Abessinierkatzen mit Silberfärbung. Bereits 1871 wurde eine „abessinische“ Katze (wahrscheinlich Zula oder direkte Nachkommen von ihr) bei der ersten öffentlichen Katzenausstellung im Crystal Palace in London ausgestellt und errang den 3. Preis in der Gesamtwertung. 1882 wurde die Abessinierkatze als neue Katzenrasse offiziell anerkannt. Der damalige Präsident des englischen nationalen Katzenklubs, Harrison Weir, definierte 1889 höchstpersönlich den Rassestandard für die Abessinierkatzen. Damit gehört sie zusammen mit den Siam- und Perserkatzen zu den ältesten Rassekatzen der Welt. Bereits einige Jahre nach der Definition des Rassestandards waren die ersten Abessinierkatzen in englischen Zuchtbüchern zu finden. Kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts gelangten Abessinierkatzen auch in die USA und wurden dort vermehrt gezüchtet. 1911 erfolgte die Anerkennung der Abessinierzucht in den USA durch die Cat Fanciers’ Association (C. F. A.), der damals wie heute größten in den USA anerkannten Registrierungsstelle für Rassekatzen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitete sich die Abessinierkatzenzucht weiter in Europa und den USA. Auf beiden Kontinenten arbeiteten die Züchter in den 1930er-Jahren verstärkt an der Selektion von abessiniertypischen Rassemerkmalen. 1926 gründete Major E. Sydney Woodiwiss, ein bekannter englischer Züchter, den ersten Abyssinian Cat Club. In Deutschland wurden 1933 die ersten Abessinierkatzen beim damals einzigen deutschen Katzenzuchtverein, dem 1. Deutschen Edelkatzenzüchter-Verband (1. DEKZV e. V.), registriert.
Rückschläge in der weiteren Verbreitung und der Zucht der Abessinierkatze gab es durch die beiden Weltkriege. In England, dem damaligen Zentrum der Abessinierkatzenzüchtung in Europa, überlebten lediglich 12 reinrassige Abessinierkatzen und -kater den Zweiten Weltkrieg. Eine Katzen-Leukose-Epidemie in den 1960er-Jahren führte zusätzlich zu den in den beiden Nachkriegszeiten zurückgegangenen Züchter- und Katzenzahlen fast zu einem Aussterben der Abessinierkatzenrasse. Seit den 1970er-Jahren kommt es zu einer langsamen Konsolidierung der Bestandszahlen, die aber bei weitem nicht denen der derzeit populären Katzenrassen wie Maine-Coon, Perser- oder Siamkatzen gleichen.
Aussehen
Abessinierkatzen werden aufgrund ihres Aussehens oft als „Miniaturform“ eines Pumas bezeichnet oder auch mit Wildkatzen verglichen. Sie gehören in der Gruppe der Katzen mit Fellzeichnung zu den so genannten „Ticked Tabby-Katzen“, bei denen die Zeichnung des Fells fast vollständig durch den Agouti-Effekt verdrängt wurde. Aufgrund der züchterischen Einflussnahme ist das Tabby-Muster nur noch am Kopf in Form der Augenumrandung und einer M-förmigen Fellzeichnung auf der Stirn erkennbar. Im Idealfall sind Abessinierkatzen aber völlig frei von allen bekannten Zeichnungsmustern wie Tigerung, Stromung oder Tupfung.
Die Abessinierkatze ist eine schlanke, muskulöse Kurzhaarkatze von mittlerer Größe. Die Katzen wiegen zwischen 2,5 und 4 kg, Kater zwischen 3,5 und 5,0 kg. Aufgrund ihrer langen Beine zählt sie, wie beispielsweise auch die Orientalisch Kurzhaar- oder Siamkatze zu den hochbeinigen Katzenrassen. Die Beine enden in kleinen ovalen Pfoten mit einfarbigen Fußballen. Der Schwanz ist relativ lang, breit am Ansatz und schmal zulaufend.
Der Kopf hat eine gemäßigte Keilform und sitzt auf einem langen schlanken Hals. Das Profil hat eine sanfte Kontur und die Schnauze ist nicht deutlich zugespitzt. Der mittellange Nasenrücken ist sanft geschwungen, ohne Stop (abrupter Übergang von Schnauzpartie in Stirnpartie) oder „römische Nase“ (nach außen gewölbte Nasenpartie). Die Ohren sind weit auseinanderstehend und weisen manchmal noch Ohrbüschel auf, vergleichbar denen der Luchse. Sie stehen aufrecht, sind im Verhältnis zum Kopf groß und an den Spitzen leicht abgerundet.
Die Augen sind groß, mandelförmig und innen umrandet in der gleichen Grundfarbe des Tickings und anschließend im äußeren Bereich der Augenpartie hell umrandet. Die weit auseinanderstehenden Augen können entweder eine bernsteinfarbene (manchmal auch als „gelb“ bezeichnet), nussbraune oder grüne Färbung aufweisen.
Das kurze Fell liegt dicht an und weist wenig Unterwolle auf. Auf dem Rücken verläuft der so genannte Aalstrich, ein durchgehend dunkler Farbstreifen im Fell, der in der dunklen Schwanzspitze endet. An den Hinterbeinen bis zur Ferse setzt sich eine dunkle Haarpartie in der Färbung der Gesamtfarbe als sogenannte „Sohlenstreifen“ fort.
Das besondere Rassemerkmal der Abessinierkatzen, das „Ticking“ der einzelnen Haare, ist nicht zu übersehen. Jedes Haar ist in der Regel zwei-, manchmal auch drei- oder sogar vierfach gebändert, was in der Fachsprache auch als „getickt“ bezeichnet wird. Welche Farbtöne sich bei der Bänderung abwechseln, hängt von der Farbe der jeweiligen Abessinierkatze ab (siehe Abschnitt „Farben“). Die Haarspitze weist jedoch immer den jeweils dunkelsten Farbschlag auf. Nur die Haare bestimmter Körperbereiche sind getickt: Die des Kopfes, des gesamten Rücken- und Flankenbereiches, des Schwanzes und die an der Außenseite der Beine. Die Haare an der Unterseite des Körpers mit Brust, Bauch und den Innenseiten der Beine sind einheitlich in der Grundfarbe gefärbt.
Bei jungen Abessinierkätzchen tritt das Ticking der Haare erst ab der sechsten Woche in Erscheinung, wenn das wollige Babyfell allmählich vom Jugendfell abgelöst wird. Durch das Ticking erscheint das gesamte Fell der Abessinierkatze einheitlich gemustert und dem eines Wildkaninchens oder -hasen ähnlich. Man spricht hierbei auch von dem Agouti-Effekt, wobei für den Begriff Agouti (alternative Schreibweise: Aguti) die Nagetiergattung Dasyprocta (Aguti) namensgebend war. Das Ticking der Haare wird bei Abessinierkatzen homozygot als dominantes Merkmal vererbt (siehe Genotyp unter dem Abschnitt „Farben“).
Charakter
Die Abessinierkatze ist eine intelligente und lebhafte Katze. Eine markante Charaktereigenschaft der Abessinierkatze ist ihre Neugier. Ihren menschlichen Bezugspersonen folgt sie oft auf Schritt und Tritt und beobachtet dessen Aktivitäten. Generell gelten Abessinierkatzen als menschenbezogen und trotzdem unabhängig, ausgeglichen und gesellig. Als weitere positive Charaktereigenschaften werden ihr noch eine gewisse Unkompliziertheit im allgemeinen Umgang sowie eine hohe Stresstoleranz bescheinigt. Sie hat allerdings, vor allem in jungen Jahren, ein lebhaftes Temperament mit großem Bewegungsdrang, den sie gerne zusammen mit anderen Katzen auslebt. Deshalb empfiehlt sich keine Haltung als Einzelkatze. Sehr gut verträgt sie sich auch mit Haushunden. Ein weiteres rassetypisches Merkmal ist die sehr leise Stimme der Abessinierkatzen und ihr eher geringes akustisches Kommunikationsbedürfnis.
Im Zusammenleben mit anderen Katzen nimmt die Abessinierkatze oft eine dominante Stellung ein. Sie gilt dabei aber als sehr sozial und verträglich. Es sind viele Fälle bekannt, bei denen Abessinierkatzenmütter gemeinsam ihren Nachwuchs aufziehen.
Rassestandards und Züchtung
1882 wurde die Abessinierkatze in England offiziell als Katzenrasse anerkannt. Bereits 1889 wurden erste verbindliche Zuchtstandards veröffentlicht, 1896 die ersten Abessinierkatzen im Zuchtbuch des British National Cat Club registriert. 1907 gelangte das erste Abessinierkatzenpaar in die USA. Durch dortige systematische Zucht (vor allem ab circa 1930) kam es in Folge zu einer parallelen Entwicklung der Abessinierkatzen in den USA und in Europa, hier vor allem in England. 1911 erfolgte durch die Cat Fanciers Association (C. F. A.) die endgültige Anerkennung der Abessinierkatzen in den USA. 1933 wurden schließlich die ersten Abessinierkatzen offiziell auch in Deutschland registriert.
Heute gibt es bei den großen nationalen und internationalen Dachverbänden der Rassekatzenzuchtverbände leicht unterschiedliche Versionen des Rassestandards. Für Europa ist hier vor allem die F. I. Fe (Fédération Internationale Féline) als größte Dachorganisation zu nennen. In den USA zählen die C. F. A. (Cat Fanciers’ Association) und T. I. C. A. (The International Cat Association) zu den größeren Dachverbänden.
Fehler
Als Fehler gelten bei den Abessinierkatzen unter anderem zu viele Abzeichen im Gesichtsbereich, zu kleine oder zu spitze Ohren und eine zu runde Augenform. Ebenso unerwünscht ist im Kopfbereich ein Pinch, eine Einbuchtung des Wangenbereichs oberhalb des Schnurrhaarkissens. Ringzeichnungen am Schwanz sind ebenso unerwünscht wie so genannte Geisterzeichnungen oder andere Fellzeichnungen am Körper oder den Beinen.
Weitere Fehler sind beispielsweise eine zu runde Kopfform, Geisterzeichnungen an allen vier Beinen oder ein zu dünner, peitschenförmiger Schwanz. Geschlossene Halsringe (nicht unterbrochene dunkelfarbige Ringe am Hals), Markierungen an Brust und Bauch oder fehlendes bzw. ungenügend ausgeprägtes Ticking der Haare sind weitere Beispiele für Fehler des Felles. Abessinierkatzen, welche die genannten Fehler aufweisen, haben bei einer Rassekatzenausstellung keine Aussicht auf Titelauszeichnungen wie beispielsweise Champion oder Internationaler Champion.
Züchtung
In den meisten Rassekatzenzuchtvereinen dürfen Abessinierkatzen ab einem Alter von 12 Monaten, teilweise sogar erst ab 14 Monate gedeckt werden. Die Wurfgröße liegt bei einem bis vier Kätzchen, statistisch am häufigsten kommen allerdings zwei Kätzchen pro Wurf vor. Dies führt auch zu der, im Vergleich zu den eher bekannteren Katzenrassen wie beispielsweise den Siamkatzen (vier bis sechs Kätzchen pro Wurf), relativ geringen Verbreitung der Abessinierkatzen.
Abessinierkatzen dürfen nur untereinander gekreuzt werden. Fremde Katzenrassen sind nicht als Kreuzungspartner zugelassen. In der Zucht der Somalikatzen ist der einzige erlaubte Kreuzungspartner die Abessinierkatze. Die daraus entstehenden Katzen sind so genannte „Abessinier-Variant“, heterozygote Abessinier-Katzen mit dem rezessiv vorhandenen Gen für Langhaarigkeit. Abessinier-Variant-Kätzchen werden derzeit von den meisten Somali-Katzenzüchtern nur für die Zucht von Somali-Katzen eingesetzt, da in der Abessinierkatzenzucht keine Erbanlagen für Langhaarigkeit erwünscht sind.
Bei Kreuzungen innerhalb der Abessinierkatzenrasse müssen, wie bei einigen anderen Katzenrassen auch, unbedingt die Blutgruppen der Zuchttiere beachtet werden, da es sonst zu Todesfällen bei den Nachkommen kommen kann. Bei Abessinierkatzen kommen drei Blutgruppen vor: A (knapp 95 %), B und AB (jeweils < 3 %, zu den statistischen Angaben siehe). Bei bestimmten Blutgruppenkombinationen wie vor allem Blutgruppe B × A (A/A, reinerbig-homozygot) kommt es bei der gesamten Nachkommenschaft zur so genannten Felinen Neonatalen Isoerythrolyse (FNI, „Fading kitten syndrome“ oder „Kittensterblichkeit“) und zum Tod der Tiere.
Offiziell züchten können nur Mitglieder eines anerkannten Rassekatzenzuchtvereins, der wiederum einem der größeren Dachverbände angeschlossen sein kann. Dort meldet man seinen Zwingernamen (Zuchtname, engl.: cattery) an. Dies ist ein einmalig vergebener und registrierter Zuchtname, z. B. von Abydos-Menes. Sowohl Zwingername wie auch die daraus abgeleiteten Namen der einzelnen Katzen, die aus der Zucht in diesem Zwinger hervorgehen, sucht der Züchter alleinverantwortlich aus. Der eigene Verein stellt dem Abessinierkatzenzüchter die Zuchtstammbäume (engl.: Pedigree) für die Tiere seines Zwingers aus. Damit ist auch die Ausstellung und Prämierung der Katzen in nationalen und internationalen Rassekatzenausstellungen möglich.
Farben
Auch bei den Abessinierkatzen werden die Farben in den Haaren, der Haut oder den Augen durch die Anwesenheit von Melanin, vor allem in den jeweiligen Haarschäften, verursacht. Durch die Variabilität der Melaninstruktur in Form, Größe oder Anordnung kommt es dabei zu einer Variabilität der Farben. Von den beiden Melanintypen Eumelanin (starke Lichtabsorption, dunkle Pigmentierung) und Phäomelanin (schwache Lichtabsorption, Pigmentierung im rot-orangefarbenen und gelben Bereich) werden bei den Abessinierkatzen nur Farben, welche auf Eumelanin basieren, akzeptiert. Bei diesem Melanintyp kommen auch die meisten Farbvariationen vor. Dies führte bei der Zuchtgeschichte der Abessinierkatzen zu der Herausbildung von vier, auf Eumelanin basierenden, Grundfarben:
Wildfarben (ruddy, usual, tawny, lièvre)
Blau (blue)
Sorrel (cinnamon, red)
Fawn (beige-fawn)
Beschreibung des Genotyps einer homozygot wildfarbenen Abessinierkatze: AABBDDTaLL
AA = Agouti-Effekt, Basisfarbe und Ticking (bei allen Abessinierkatzen vorhanden)BB = schwarze PigmentierungDD = intensive („dichte“) PigmentierungTa = „Abessinier-Tabby“, dunkles Zeichnungsmuster auf Agouti-Fellgrund. In dieser genetischen Form reduzierte Musterung. Nur im Gesicht und am Kopf auftretend, idealerweise nicht am restlichen Körper. Dominant gegenüber anderen Tabby-Allelen.LL = Homozygot kurzhaarig
Allgemein anerkannte Farben
Bei der Anerkennung einiger der auf Schwarz basierenden Farbvarianten (Chocolate, Lilac) gibt es bei den bereits erwähnten Dachorganisationen eine unterschiedliche Akzeptanz. Alle Verbände erkennen aber die vier Hauptfarben (wildfarben, sorrel, blau und beige-fawn) an und – außer der CFA – auch deren Silbervarianten.
Wildfarben (ruddy, usual, tawny, lièvre)
Körperfarbe: warmes rötliches Braun mit schwarzem Ticking
Grundfarbe: dunkles Apricot bis Orange
Ohrspitzen: schwarz
Schwanzspitze: schwarz
Farbe der Pfotenballen: schwarz oder dunkelbraun
Nasenspiegel: ziegelrot mit schwarzer Umrandung.
Ursprüngliche Farbe der Abessinierkatzen. Alle anderen Farben und Farbvariationen sind aus Mutationen dieser Farbe hervorgegangen.
Blau (blue)
Körperfarbe: warmes Blaugrau mit dunklem stahlblau-grauem Ticking
Grundfarbe: hell, Fawn (Beige)/Creme
Ohrspitzen: dunkel Stahlblau-grau
Schwanzspitze: dunkel Stahlblau-grau
Farbe der Pfotenballen: altrosa/blaugrau
Nasenspiegel: altrosa mit dunkler stahlblau-grauer Umrandung
Blau ist die verdünnte Form von Wildfarben und das Ergebnis einer Mutation des Gens, welches für die intensive Färbung (engl.: „Dense coloration“) zuständig ist. Mit der Farbbezeichnung ist weniger die Farbe Blau im engeren Sinn gemeint, sondern eher verschieden intensive Schattierungen in den Farbtönen Blau-Grau.
Sorrel (cinnamon, red)
Körperfarbe: leuchtend warmes Kupferrot mit schokoladenbraunem Ticking
Grundfarbe: dunkles Apricot
Ohrspitzen: rotbraun
Schwanzspitze: rotbraun
Farbe der Pfotenballen: rosa
Nasenspiegel: hellrot mit rot-brauner Umrandung
Die Farbe Sorrel ist nicht zu verwechseln mit der genetisch bedingten Farbe Rot. Wie bei der nicht allgemein anerkannten Farbe Chocolate entstand Sorrel durch Mutationen des Gens für die Farbe Schwarz (hier entsprechend Wildfarben), wobei sie sich rezessiv im Verhältnis zu Schwarz und Chocolate vererbt.
Fawn (beige-fawn)
Körperfarbe: stumpfes mattes Beige mit dunklem warmem Cremefarbenen Ticking
Grundfarbe: helles Creme
Ohrspitzen: dunkles warmes Creme
Schwanzspitze: dunkles warmes Creme
Farbe der Pfotenballen: rosa
Nasenspiegel: rosa mit altrosa Umrandung
Fawn ist die verdünnte Form von Sorrel und entstand auf die gleiche Weise wie die Farbe Blau.
Silbervarianten
Alle oben genannten Farbschläge existieren auch als Silbervariante. Dort ist die Grundfarbe sowie das Unterhaar ein reines Silberweiß. Die Tickingfarbe wie auch die Farbe der Pfotenballen und des Nasenspiegels entspricht den oben genannten Farben. Die Silbervariante der Farbe Wildfarben wird dabei abweichend als „Schwarzsilber“ (blacksilver) bezeichnet, während bei allen anderen Farben jeweils die Bezeichnung silber an den Farbnamen angehängt wird (sorrelsilber oder Sorrel Silber).
Nicht allgemein anerkannte Farben
Bei der Fédération Internationale Féline (FIFé) sind die Farbschläge Chocolate und Lilac bisher noch nicht anerkannt, während dies beispielsweise bei dem Governing Council of the Cat Fancy (GCCF), der World Cat Federation (WCF) und kleineren Vereinigungen bereits der Fall ist. Die Farbe Chocolate geht, ebenso wie Sorrel, auf Mutationen des Gens für die Farbe Schwarz zurück, bei denen man annimmt, dass dadurch die Anzahl der Eumelaninpigmente in den Haarschäften reduziert sowie ihre Form verändert wurde. Lilac ist die verdünnte Form der Farbe Chocolate und das Ergebnis einer Mutation des Gens, welches für die intensive Färbung zuständig ist.
Chocolate (chestnut)
Körperfarbe: Warmes Apricot mit schokoladenbraunem Ticking
Grundfarbe: Kräftiges Apricot
Ohrspitzen: Schokoladenbraun
Schwanzspitze: Schokoladenbraun
Farbe der Pfotenballen: Zimtfarben
Nasenspiegel: Altrosa mit schokoladenfarbener Umrandung
Lilac
Körperfarbe: Warmer Beigeton mit lavendelfarbenem Ticking
Grundfarbe: Warmer Cremeton
Ohrspitzen: Bräunlich mit Blautönen
Schwanzspitze: Bräunlich mit Blautönen
Farbe der Pfotenballen: Altrosa bis lavendelfarben mit leicht hellblauer Färbung
Nasenspiegel: Altrosa mit leicht hellblauer Färbung und lavendelfarbener Umrandung
Krankheiten
Zu den allgemein verbreiteten Katzenkrankheiten siehe entsprechendes Kapitel Erkrankungen bei Hauskatzen. Zusätzlich gibt es bei den Abessinierkatzen (und den genetisch fast identischen Somali-Katzen) spezielle Krankheiten, die bei anderen Rassekatzen bisher noch nicht (Pyruvatkinasemangel) oder seltener auftreten.
Vererbbare Krankheiten
Progressive Retina-Atrophie
Die progressive Retina-Atrophie („Netzhautschwund“, PRA) ist als klinischer Sammelbegriff für degenerative Netzhautanomalien zu verstehen. Bei Abessinier- und Somali-Katzen versteht man darunter eine genetisch bedingte, rezessiv vererbte Stäbchen-Zapfen-Degeneration. Dabei wird die Netzhaut des Auges (Retina) durch lokale Stoffwechselstörungen im Gewebe der Netzhaut kontinuierlich fortschreitend zerstört. Ein bei PRA häufig auftretendes erstes Symptom ist eine einsetzende Nachtblindheit.
Man unterscheidet zwei Formen der PRA bei Abessinierkatzen: Bei der degenerativen Form (rezessiver Vererbungsgang) treten Störungen des Sehvermögens ab dem 2. Lebensjahr auf. Diese führen zu einem späteren langsamen Erblinden der Tiere. Bis zum einschließlich sechsten Lebensjahr ist bei Katzen ein Krankheitsbeginn möglich, danach kann von einem bezüglich der genetischen Veranlagung trägerfreien Tier ausgegangen werden. Für Zuchttiere ist daher ab dem 18. Lebensmonat bis zum sechsten Lebensjahr eine jährliche Untersuchung auf diese Krankheit erforderlich. Durch striktes Einhalten der Testabläufe und gezielte Zucht ist diese Krankheit bei Abessinierkatzen mittlerweile deutlich weniger verbreitet. Generell sind neben den Abessinierkatzen alle Katzenrassen mit den Fellfarben Cinnamon und Fawn beziehungsweise dem Zeichnungsmuster Ticked-Tabby PRA-gefährdet. Bei der dysplastischen Form (dominanter Vererbungsgang) zeigen bereits ganz junge Katzen eine Sehschwäche, die innerhalb eines Jahres zur vollständigen Erblindung führt.
Ein entsprechend ausgebildeter und autorisierter Tierarzt kann mittels ophthalmologischen Untersuchungsmethoden auf Retina-Atrophie testen. Durch Atropingabe werden die Pupillen geweitet und der Tierarzt kann die Netzhaut untersuchen, wobei diese Untersuchungen im zweijährigen Abstand bis zum sechsten Lebensjahr erfolgen sollte.
Analog zu DNA-Tests auf PRA und dem Einsatz von DNA-Marker bei verschiedenen Hunderassen (Welsh Corgie, Mastiff und andere), die seit einiger Zeit erfolgreich in der Praxis angewandt werden, gab es Bemühungen, einen solchen Test auch für Abessinier- und Somalikatzen zu entwickeln. Vorteile wären die hohe Diagnosesicherheit, die relativ einfache und einmalige Durchführung eines DNA-Tests auf PRA sowie die Tatsache, dass bei der degenerativen PRA jeweils nur ein Elterntier auf PRA-Freiheit getestet sein muss. Seit Mitte 2007 bietet die Firma Laboklin (Labor für klinische Diagnostik) einen PRA-Gentest für Abessinier- und Somalikatzen an. Dieser kann mit einem Test auf Pyruvatkinasemangel kombiniert werden. Der Gentest kann wahlweise anhand einer Blutprobe (EDTA-Blut) oder eines Backenabstriches mittels Spezialbürsten durchgeführt werden. Als Untersuchungsdauer wird drei Tage nach Eingang der Probe angegeben, als Ergebnis werden Tiere in die Kategorien „Frei“, „Träger“ und „Betroffen“ eingeordnet.
Pyruvatkinasemangel
Bei dem Pyruvatkinasemangel (PK-Defizienz) handelt es sich um eine Erbkrankheit, die zu einer speziellen Form der Blutarmut (Anämie) führt. Neben Menschen und Hunderassen sind bei den Katzenrassen hauptsächlich Abessinier- und Somalikatzen betroffen.
Primär fehlt den an dieser Krankheit leidenden Katzen das Pyruvatkinase-Enzym in den roten Blutkörperchen (Erythrozyt), welches dort zur Energiegewinnung notwendig ist. Durch die daraus resultierende Störung in den aufeinanderfolgenden enzymatischen Reaktionen der Glykolyse (Aufspaltung des Energieträgers Glukose) kommt es zu einer stark verkürzten Lebensdauer der normalerweise rund 70–120 Tage lebensfähigen roten Blutkörperchen. Dies führt zu einer chronischen regenerativen hämolytischen Anämie, eine Anämieform, bei der die Zahl der roten Blutkörperchen durch deren gesteigerten Abbau aufgrund der geringen Lebensdauer zu niedrig ist.
Leidet eine Abessinierkatze unter Pyruvatkinasemangel, können zwei Stadien unterschieden werden: die intermittierende, schubweise auftretende Phase sowie die durch externe Faktoren wie beispielsweise Stress ausgelöste, so genannte „hämolytische Krise“. Bei der letztgenannten Form können Bluttransfusionen zwar lebensrettend sein, gegen Pyruvatkinasemangel allgemein gibt es allerdings keine Therapie. Bei Untersuchungen in den USA im Jahr 2000 wurde Pyruvatkinasemangel bei Abessinierkatzen bereits ab dem sechsten Lebensmonat und bis in ein höheres Alter von 12 Jahren festgestellt. Überraschenderweise wurden auch ältere erkrankte Tiere gefunden, die asymptomatisch, das bedeutet symptomfrei waren.
Pyruvatkinasemangel wird bei Abessinierkatzen autosomal, also nicht an das Geschlecht des vererbenden Tieres gebunden, und rezessiv vererbt. Da der genetische Defekt bei den Abessinierkatzen bekannt ist, können diese mittels eines DNA-Tests zuverlässig auf PK getestet werden. Träger des Gendefektes selbst erkranken nicht an Pyruvatkinasemangel. Bei der Züchtung sollten demzufolge nie zwei Trägertiere miteinander verpaart werden, was allerdings in Züchterkreisen nicht immer befolgt wird.
Renale Amyloidose
Bei der renalen Amyloidose (RA) handelt es sich um eine Stoffwechselstörung, welche zur Ablagerung nicht abbaubarer Eiweiße (Amyloide) primär in den Nieren führt. Die Erkrankung bricht meist zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr aus und findet sich in 75 % aller Erkrankungsfälle bei Kater. Im weiteren Verlauf der Erkrankung kommt es zu chronischer Niereninsuffizienz (CNI) und in der Regel zum Tod des Tieres. Eine Früherkennung ist bislang nur in geringem Umfang möglich. Zusätzlich wird die Diagnosesicherheit durch eine Vielzahl von Nierenerkrankungen mit ähnlichen Symptomen (aber ohne Amyloidablagerung im Nierengewebe) verringert. Eine Biopsie von Nierengewebe am lebenden Tier ist zwar möglich, allerdings vom Ergebnis her eher als unzuverlässige Diagnosemethode einzustufen. Somit ist die renale Amyloidose meist nur bei toten Tieren durch Anfärbung des untersuchten Gewebes mit dem so genannten „Kongo-Rottest“ zuverlässig festzustellen. Die renale Amyloidose ist nicht besonders häufig bei Katzen anzutreffen. Zu den anfälligen Katzenrassen gehören allerdings primär die Abessinier- und Somalikatzen, seltener auch Siam- und Thaikatzen sowie Orientalisch Kurzhaar (OKH).
In Fachkreisen steht noch nicht definitiv fest, ob die Ursachen für die renale Amyloidose genetisch vererbbar sind. Aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse wird allerdings eine rezessive Vererbung der Veranlagung angenommen. Auch bei der renalen Amyloidose unterstützen europäische Abessinierkatzenzüchter Forschungsgruppen (zum Beispiel an der Universitätsklinik Utrecht, Niederlande) durch die Bereitstellung von Untersuchungsergebnissen, Zuchtdaten und Blutproben bei der weiteren Erforschung und eventuellen Entwicklung eines DNA-Tests für RA.
Patellaluxation
Die Patellaluxation (PL) ist eine Deformation des Kniegelenks bzw. der Kniescheibe. Diese hat zur Folge, dass es zu einer temporären oder dauerhaften Kniescheibenverrenkung kommt. Man unterscheidet hier vier Grade der Luxation. Je nach Grad der Beeinträchtigung, kann das betroffene Bein nicht mehr richtig belastet und angewinkelt werden. Die Symptome der Patellaluxation bei Abessinierkatzen können sehr unterschiedlich sein. Die Luxation der Kniescheibe kann kurzfristig auftreten und sich von selbst wieder „einrenken“ (Grad II der Patellaluxation). Dauert sie länger, kann die Katze den Oberschenkel des betroffenen Beines an den Körper anziehen oder aber das betroffene Bein so ausstrecken, so dass der Fuß den Boden nicht berührt. Auch können beide Hinterbeine gleichzeitig von einer Patellaluxation betroffen sein.
Ein Nachweis der Patellaluxation ist nur bei erwachsenen Katzen über manuelle Streck- und Beugetestreihen der Extremitäten durch einen Tierarzt möglich, wobei betroffene Tiere operiert werden können. Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand wird die Patellaluxation rezessiv polygen vererbt. Dabei scheint es eine Kopplung des Gens für Patellaluxation mit den Farbschlägen Sorrel und Fawn zu geben. Betroffene Tiere sind damit zur Zucht nicht geeignet.
Abessinierkatzen in der Genomforschung
Seit 2007 ist das Genom der Abessinierkatze nahezu vollständig sequenziert. Ein Wissenschaftlerteam des National Cancer Institute, Frederick in den USA identifizierte anhand der DNA-Probe einer ausgewachsenen weiblichen Abessinierkatze insgesamt 20.285 potenzielle Gene.
Die Entschlüsselung des Genoms soll vergleichende Untersuchungen bei genetisch vererbten Krankheiten erleichtern, die sowohl bei Katzen wie auch bei Menschen vorkommen. Ein Beispiel ist hier die Augenkrankheit Retinopathia pigmentosa, von der 30.000 bis 40.000 Menschen in Deutschland betroffen sind. Zudem gelten Katzen als gute Modelllebewesen bei der Erforschung von Infektionskrankheiten wie AIDS, da bei ihnen mit dem Erreger FIV ein eng mit dem HIV verwandtes Virus vorkommt.
Quellenangaben
Literatur
Edeltraut Voigt: Abessinierkatzen. Verlagsgesellschaft Rudolf Müller, Köln 1982, ISBN 3-481-21151-1.
Edeltraut Voigt: Abessinierkatzen. Kauf, Haltung, Pflege. Verlag Neumann-Neudamm, Melsungen 1993, ISBN 3-7888-0950-7.
J. Anne Helgren, J. Anne Hauppauge: Abyssinian Cats. Everything about Acquisition, Care, Nutrition, Behavior, Health Care, and Breeding. Barron’s Educational Series. Barron’s, Hauppauge NY 1995, ISBN 0-8120-2864-3.
Kate Faler: This Is the Abyssinian Cat. TFH Publications, Neptune 1983, ISBN 0-87666-866-X.
Ruth Cooke-Zimmermann: Abyssinians (Kw Series). TFH Publications, Neptune 1992, ISBN 0-86622-197-2.
Weblinks
RAS-Journal – Rassekatzen-Journal für Abessinier und Somalis
Fédération Internationale Féline – Abyssinian Standard, Stand 1. Januar 2015 (englisch, PDF; 133 kB)
The Cat Fanciers’ Association – Breed Profile: Abyssinian (englisch)
E.R.o'S. – Electronic Register of SOMALIS Stammbaumdatenbank Abessinier- und Somalikatzen (englisch)
The History Project: Abyssinian – Geschichte und historische Bilder zu Abessinierkatzen (englisch)
Katzenrasse
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Das Schloss Chenonceau () ist ein Wasserschloss im französischen Ort Chenonceaux im Département Indre-et-Loire der Region Centre-Val de Loire. Sein Hauptgebäude steht – von Wasser umgeben – am nördlichen Ufer des Cher, während die später errichtete Galerie den Fluss überbrückt. Im Herzen der Touraine gelegen, etwa zwölf Kilometer südlich der Loire bei Amboise, gehört Chenonceau zu den Schlössern der Loire. Es ist auch das einzige, neben dem Schloss Montsoreau, das direkt in einem Flussbett gebaut wurde, das des Cher für Chenonceau und das der Loire für Montsoreau.
Alljährlich besuchen rund 800.000 Touristen die Anlage und machen damit Chenonceau nach Versailles zum meistbesuchten Schloss Frankreichs. Das „eleganteste, feinste und originellste der Loire-Schlösser“ wird auch das Schloss der Damen () genannt, denn es waren fast immer Frauen, die seine Geschichte und sein Schicksal bestimmten.
Seine Wurzeln liegen in einem befestigten Anwesen mit dazugehöriger Wassermühle, das über die Familie Bohier in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Besitz der französischen Krone kam. Diane de Poitiers prägte das Aussehen des Schlosses durch Erweiterungen ebenso, wie es ihre Nachfolgerin Katharina von Medici tat, der die Anlage ihre berühmte Galerie zu verdanken hat.
Nachdem die Gebäude seit Ende des 17. Jahrhunderts verlassen und nicht mehr bewohnt waren, wurde das Schloss 1733 von dem reichen Steuerpächter Claude Dupin gekauft. Seine Frau Louise erfüllte es danach wieder mit Leben. Die Tochter des reichen Bankiers Samuel Bernard und Enkelin eines Mitglieds der Comédie-Française unterhielt einen Salon auf Chenonceau und machte es so zum Treffpunkt von bekannten Literaten und geistig interessierten Mitgliedern der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Nachfahren der Dupins veräußerten Chenonceau 1864 an den wohlhabenden Chemiker Théophile-Jules Pelouze, dessen Frau Marguerite das gesamte Familienvermögen einsetzte, um die Schlossgebäude zu restaurieren. Ihre Anstrengungen werden seit 1951 durch die neuen Inhaber, die Familie des Schokoladenfabrikanten Menier, fortgesetzt.
Das Schloss besteht aus einem nahezu quadratischen Wohngebäude, dem sich südlich eine Galerie anschließt. Die beiden Gebäude stehen im Wasser des Cher. Nördlich davon steht der ehemalige Bergfried der Vorgängeranlage – genannt – auf einer von Wassergräben umgebenen Insel, die im Osten und Westen von zwei Renaissancegärten flankiert wird. Außerdem gehören ein ehemaliges landwirtschaftliches Gut, eine Orangerie sowie ein Kanzleigebäude – die – und ein ehemaliger Wirtschaftstrakt zur Schlossanlage. Sie liegen alle nördlich des Hauptgebäudes. Dieses wurde bereits 1840 mitsamt der Galerie unter Denkmalschutz gestellt. Die Gärten und der Park folgten im November 1962.
Geschichte
Die beinahe 800 Jahre alte Geschichte Chenonceaus wurde fast immer von Frauen geprägt, auf deren Geheiß das Schloss zu seiner heutigen Erscheinung ausgebaut wurde. Frauen machten es zum Mittelpunkt ausschweifender Festivitäten des französischen Königshofs und zeitweilig zu einem Treffpunkt illustrer Gäste aus Kunst und Kultur.
Bewohner und Besitzer
Burg und Schloss in Privatbesitz
Chenonceau wurde im 13. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnt. Ein dort existierender Mühlengrund war seit den 1230er Jahren im Besitz der Herren von Marques. Ende des 15. Jahrhunderts kam die Familie in finanzielle Schwierigkeiten, sodass ihr Oberhaupt, Pierre de Marques, ab 1496 gezwungen war, nach und nach Ländereien aus dem Familienbesitz zu veräußern. Käufer war jedes Mal der gleiche Mann: Thomas Bohier. Doch die Verkäufe konnten die Geldprobleme der Familie Marques nicht beheben. 1512 wurde der Restbesitz – bestehend aus einem befestigten Burghaus samt einer dazugehörigen Mühle im Cher sowie etwas Land – zur Versteigerung ausgeschrieben, und wieder war es Thomas Bohier – mittlerweile Eigentümer aller sonstigen Chenonceau umgebenden Ländereien – der den Marqueser Besitz erwarb. Gegen eine letzte Zahlung von 12.500 Livres wurde er am 8. Februar 1513 auch Eigentümer der Burg und der dazugehörigen Mühle.
Bohier hatte unter Karl VIII. und Ludwig XII. Karriere am französischen Königshof gemacht und bekleidete während der Regierung von Franz I. zuerst das Amt des Generalsteuereinnehmers in der Normandie, anschließend das eines königlichen Finanzsekretärs. Vom König in den Adelsstand erhoben, begleitete Bohier ihn auf seinen Italienfeldzügen, sodass er in Chenonceaux während seiner Abwesenheit von seiner Frau Catherine Briçonnet vertreten wurde. Sie war die Nichte des einflussreichen Finanziers Jacques de Beaune-Semblançay.
Eigentum der Königsfamilie
Franz I. veranlasste nach dem Tod Thomas Bohiers 1524 eine Finanzprüfung, um dessen Amtsführung nachträglich zu kontrollieren. Dabei traten Unregelmäßigkeiten zutage, die Bohier angelastet wurden. Laut dem Untersuchungsergebnis hatte er Geld veruntreut. Obwohl ihm dies nie zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, machte der König gegenüber Thomas’ Sohn Antoine Forderungen in Höhe von 190.000 Livres tournois geltend. Um diese Forderung begleichen zu können, überließ Antoine der Krone im Mai 1535 Chenonceau, das Franz I. anschließend als Jagdschloss nutzte. Der Connétable Anne de Montmorency bezog im Namen des Königs Quartier im Schloss. Als offizieller Grund für dessen Abtretung wurde jedoch angegeben, Antoine habe dem König gefällig sein wollen.
Als Heinrich II. 1547 den französischen Thron bestieg, schenkte er das Schloss seiner Mätresse Diane de Poitiers, die er 1548 zur Herzogin von Valentinois erhob. Sie ließ zahlreiche Veränderungen am Schloss vornehmen und machte sich ihre guten Beziehungen zum Königshof zunutze, um Chenonceau nicht nur als Geschenk zu besitzen, sondern es auf offiziellem Weg zu erwerben. Dazu ließ Diane den Vertrag, mit dem Antoine Bohier das Schloss an die Krone abgetreten hatte, annullieren, sodass er wieder Eigentümer der Anlage wurde. Allerdings war er damit auch wieder Schuldner der Krone, sodass das Schloss beschlagnahmt und mittels Versteigerung zum Kauf angeboten wurde. Den Zuschlag bekam erwartungsgemäß Diane de Poitiers, die auf diesem Weg das Anwesen im Jahr 1555 offiziell mit eigenem Geld erwarb.
Nach dem Tod Heinrichs II. wurde seine Witwe Katharina von Medici Regentin für ihren gesundheitlich angeschlagenen Sohn Franz II. Schon lange wollte sie Chenonceau für sich besitzen und nutzte ihre neu gewonnene Macht, um die verhasste Konkurrentin aus dem Schloss zu vertreiben. Sie zwang Diane, es gegen Schloss Chaumont einzutauschen. Katharina gab in Chenonceau rauschende Feste zu Ehren ihrer Söhne und Schwiegertöchter, die oft mehrere Tage dauerten und nicht selten den Charakter ausschweifender Orgien besaßen. Anlässlich der Thronbesteigung von Franz II. fand auf Schloss Chenonceau unter der Regie Katharinas das erste königliche Feuerwerk Frankreichs statt. Außerdem initiierte sie den Bau der großen Galerie und ließ – ebenso wie ihre Vorgängerin – einen Garten anlegen.
Katharina von Medici vermachte das von ihr so geliebte Schloss ihrer Schwiegertochter Louise de Lorraine-Vaudémont, der Frau Heinrichs III. von Frankreich. Nach dessen Ermordung im August 1589 trug diese gemäß der höfischen Sitte nur noch weiße Trauerkleidung, was ihr den Beinamen Die weiße Königin einbrachte. Acht Jahre lebte sie vollkommen zurückgezogen auf Chenonceau. Als Ausdruck ihrer Trauer ließ sie ihr Zimmer mit einer schwarzen Täfelung verkleiden, die Bezüge ihrer Möbel schwarz gestalten und verbrachte ihre Zeit mit Beten, Sticken und Lesen. Für ihr Seelenheil waren Kapuzinerinnen zuständig, die in einer klosterähnlichen Gemeinschaft im Dachgeschoss des Schlosses lebten. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen Louise de Lorraine dazu, Chenonceau 1597 zu verlassen und in das Schloss von Moulins umzuziehen. Ein Vertrag vom 24. Dezember des gleichen Jahres setzte Gabrielle d’Estrées, die Mätresse Heinrichs IV., in alle Rechte und Pflichten als Louises Nachfolgerin ein. Gabrielle hatte das Schloss erstmals in jenem Jahr bei einem gemeinsamen Besuch mit ihrem König kennengelernt. Ihr Sohn César de Vendôme wurde schon im Kindesalter mit Louises Nichte Françoise de Lorraine-Mercœur verlobt, und die Königswitwe überließ Louise und deren zukünftigem Ehemann Schloss Chenonceau 1601 als Hochzeitsgeschenk.
Ungenutzt und vernachlässigt
Da die beiden Verlobten noch zu jung waren, um ihre Rechte selbst auszuüben, blieb Chenonceau weiterhin unter der Obhut von Césars Mutter Gabrielle d’Estrées. Doch weder sie noch ihr Sohn und seine spätere Frau nutzten es als Wohnsitz. César de Vendôme wurde 1624 durch seine Frau offiziell Eigentümer des Anwesens, doch er bevorzugte Schloss Anet als Aufenthaltsort und überließ die Verwaltung Chenonceaus samt der dazugehörigen Ländereien seiner Frau. Doch auch sie nutzte es nicht als Wohnsitz, es blieb jahrelang verlassen. Auf César folgte dessen Sohn Louis als Schlossherr, dessen Nachfolge ab 1669 Louis II. Joseph de Bourbon und sein Bruder Philippe antraten. Unter ihrer Ägide wurden viele Stücke der wertvollen Inneneinrichtung sowie Kunstgegenstände und Bücher, die Katharina von Medici und Louise de Lorraine-Vaudémont angesammelt hatten, entweder in andere, bevorzugte Residenzen gebracht (zum Beispiel Schloss Anet) oder an Ludwig XIV. verkauft und verschenkt. So kamen beispielsweise die Statuen aus den Nischen der Galerie nach Versailles.
Nach dem Tod Louis Josephs erbte seine Frau Marie-Anne de Bourbon-Condé den Besitz, die ihn bei ihrem Ableben 1718 ihrer Mutter Anna Henriette von Pfalz-Simmern, Fürstin von Condé, hinterließ. Diese verkaufte das Schloss 1720 an den Herzog von Bourbon, Louis IV. Henri.
Eine zweite Blütezeit
1733 erwarb Claude Dupin, seines Zeichens Steuerpächter und später Verwalter der königlichen Krongüter, das recht heruntergekommene Schloss. Seine zweite Frau Louise belebte es anschließend neu, indem sie dort philosophische und literarische Salons veranstaltete und Chenonceau zum Treffpunkt der berühmtesten Literaten und Philosophen ihrer Zeit machte. Zu Gast waren dort zum Beispiel Voltaire, Montesquieu, Buffon und Madame de Deffand sowie Fontenelle, Marivaux und Madame de Tencin. Seit 1747, möglicherweise sogar schon ab 1740, beschäftigte Madame Dupin einen jungen Mann als Sekretär und Erzieher für ihren Sohn, der später europaweit von sich reden machen sollte: Jean-Jacques Rousseau.
Louise Dupin starb 1799 und wurde im Park von Chenonceau am Südufer des Cher begraben. Ihrem Ansehen und ihrer Beliebtheit bei der Bevölkerung war es zu verdanken, dass das Schloss die Französische Revolution unbeschadet überstand und nicht von Revolutionären geplündert oder beschädigt wurde. Die unterschiedliche Schreibweise des Schlossnamens (Chenonceau) und des Ortes (Chenonceaux) geht angeblich auf sie zurück. Durch Weglassen des X – ein Zeichen königlichen Besitzes – beim Namen des Schlosses soll sie während der Französischen Revolution ihre Verbundenheit mit dem republikanischen Gedanken zum Ausdruck gebracht haben. Zwar ist dieser Zusammenhang nicht belegt, gleichwohl war es aber Louise Dupin, die als Erste in Schriftstücken den Schlossnamen ohne ein X am Ende schrieb. Das Schloss hinterließ sie ihrem Großneffen, einem Grafen von Villeneuve, nach dessen Tod 1863 seine Erben Chenonceau 1864 an Théophile Pelouze veräußerten.
19. und 20. Jahrhundert
Pelouzes Frau Marguerite machte es zu ihrer Lebensaufgabe, das Schloss unter hohem finanziellem Aufwand zu restaurieren, und knüpfte an die alte Tradition der pompösen Feste im Schloss an. So bot sie zum Beispiel dem französischen Präsidenten Jules Grévy, dem Schwiegervater ihres Bruders, ein venezianisches Fest mit Gondeln auf dem Cher, die sie eigens aus Venedig hatte kommen lassen. Der Erhalt und die Wiederherstellung der Anlage im Zustand des 16. Jahrhunderts verschlang Marguerite Pelouzes gesamtes Vermögen. 1888 war sie vollkommen überschuldet und musste Chenonceau an ihre Bank abtreten. Diese ließ es 1913 versteigern. Käufer war der Schokoladenfabrikant Henri Menier, dessen Familie heute noch Eigentümerin ist. Während des Ersten Weltkriegs diente die Galerie als Lazarett.
Von 1940 bis 1942 bestand im Schloss die kuriose Situation, dass die Demarkationslinie zwischen Vichy-Frankreich, der sogenannten „freien Zone“ (), und dem von deutschen Truppen besetzten nördlichen Teil des Landes entlang des Cher und deshalb quer durch das Gebäude verlief. Während der Haupteingang also auf besetztem Gebiet stand, lag der Südausgang der Galerie im freien Teil, sodass das Schloss einen häufig genutzten Fluchtweg darstellte.
Das Absinken des Wasserstandes des Cher durch anhaltende Trockenheit auf 0,30 m im April 2019 (gegenüber von 1,20 m sonst um diese Jahreszeit) bedroht die Holzpfähle durch Sauerstoffzutritt. Mit einer Sondergenehmigung ordnete die Präfektur daher die Öffnung eines 1,5 km flussaufwärts gelegenen Nadelwehrs an, um den Wasserspiegel anzuheben.
Baugeschichte
Die Anfänge
Funde von behauenen Feuersteinen lassen darauf schließen, dass die Ufer des Cher schon in prähistorischer Zeit besiedelt waren, aber erst für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts liegen Erkenntnisses über das Aussehen des damaligen Chenonceau vor. Die mittelalterliche Burg der Familie Marques war eine rechteckige Anlage mit runden Ecktürmen am nördlichen Ufer des Cher, der die Burggräben mit Wasser speiste. Hinter dieser Anlage stand im Fluss eine befestigte Wassermühle. Weil sich Jean I. Marques an einer Rebellion gegen den König beteiligt hatte, ließ Karl VI. Jeans Anwesen 1411 zur Strafe vom Marschall Jean II. Le Maingre schleifen. Jean II. Marques erhielt von Karl VIII. und Louis d’Amboise 1432 die Genehmigung, den Besitz seiner Familie wieder aufzubauen und zu befestigen.
Das Logis Thomas Bohiers
Nachdem Thomas Bohier 1513 sämtliche Ländereien der Familie Marques in seinen Besitz gebracht hatte, begann er noch im gleichen Jahr mit dem Abriss der Gebäude von Chenonceau. Lediglich den Bergfried ließ er stehen und gestaltete ihn in frühen Renaissanceformen um. 1515 begannen die Arbeiten für den Neubau eines Schlosses auf den Fundamenten der ehemaligen Wassermühle. Chenonceau wurde damit ungefähr zur gleichen Zeit wie Schloss Azay-le-Rideau und früher als die meisten anderen Loire-Schlösser erbaut. Es ist eines der ersten Renaissancegebäude in Frankreich. Welcher Architekt dafür die Pläne lieferte, ist bis heute unbekannt. Noch im Jahr des Baubeginns waren die Arbeiten zur Errichtung eines zentralen Vestibüls abgeschlossen. Aufgrund seiner beruflichen Verpflichtungen war Thomas Bohier bis 1521 in Italien unterwegs und konnte deshalb die Bauarbeiten nicht selbst überwachen. Seine Frau Catherine Briçonnet vertrat ihn in diesen Belangen, sodass ihr die für damalige Zeiten moderne Anordnung der Räume zugeschrieben wird. Der Neubau wurde 1522 beendet. 1521/22 war der Onkel des Schlossherrn, Kardinal Antoine Bohier, in Chenonceau anwesend, um die Schlosskapelle zu weihen. In älteren Darstellungen findet sich die Behauptung, dass schon in den Bauplänen Bohiers der Bauteil vorgesehen war, der Chenonceau später aufgrund seiner Einzigartigkeit so bekannt machen sollte: die Galerie. Dies ist aber mittlerweile widerlegt und resultierte aus der fehlerhaften Interpretation einer alten Urkunde.
Zum Schloss gehörte zu jener Zeit ein 1 Morgen großer Obst- und Gemüsegarten zur Versorgung der Schlossbewohner. Über sein genaues Aussehen ist nichts bekannt. Es steht jedoch fest, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits die lange Zufahrtsallee existierte, die seinerzeit noch von Ulmen und Eichen gesäumt war.
Chenonceau unter Diane de Poitiers
Diane de Poitiers prägte entscheidend das Aussehen Chenonceaus. Eine ihrer nachhaltigen Hinterlassenschaften war die Anlage eines zwei Hektar großen Gartens ab 1551. Als Vorbild dienten die durch den italienischen Landschaftsarchitekten Pacello da Mercogliano gestalteten Gartenanlagen von Blois und Amboise. Die ersten Arbeiten dazu beinhalteten das Erhöhen des Areals nordöstlich des Schlosses durch das Aufschütten von Erde und dessen Abstützen durch Pfähle an der zum Cher gelegenen Seite. An den übrigen drei Seiten war der Bereich von Gräben umgeben, die vom Cher gespeist wurden.
Der Garten war einer der spektakulärsten und modernsten seiner Zeit. Für seine Beete und Parterres spendeten Besitzer der schönsten Gärten der Touraine Blumen und Gewächse, darunter so seltene Pflanzen wie Artischocken und Melonen. Unter den Spendern war zum Beispiel der Erzbischof von Tours, der zudem seinen eigenen Gärtner als Unterstützung an den Cher sandte, und dessen Generalvikar Jean de Selve. Letzterer war ein Freund und Förderer Bernard Palissys, der wenige Jahre später ebenfalls in Chenonceau tätig werden sollte.
Die Arbeiten am Garten Dianes de Poitiers dauerten rund fünf Jahre und verursachten Kosten in Höhe von mehr als 5000 Livres. Damit wurden unter anderem 7000 Bruchsteine, 1100 Fuhren Rasen, 13.000 Weißdorne und Haselnusssträucher für Hecken und Laubengänge sowie Johannisbeersträucher, Wildrosen, Lilien, Paradiesapfel- und Pfirsichbäume bezahlt. Aus den umliegenden Wäldern wurden sogar 9000 Veilchen und wilde Erdbeeren gesammelt, um sie im Garten anzupflanzen.
Die Herzogin von Valentinois ließ zudem am südlichen Cher-Ufer einen Park anlegen, der nur per Boot erreichbar war. Um ihn leichter zugänglich zu machen, wurde 1555 die Idee geboren, eine Brücke über den Fluss zu bauen. Diane de Poitiers beauftragte Philibert Delorme mit der Ausführung dieses Plans. Er entwarf eine Bogenbrücke mit einer niedrigen Galerie, um den neuen Bau nicht nur als Verbindung zum anderen Flussufer, sondern auch als Festsaal nutzen zu können, denn Feste mussten zu jener Zeit immer im Freien gefeiert werden, weil das Schloss keine ausreichend große Räumlichkeiten dafür bot. Ausgeführt wurde aber nur die Brücke, denn die Bauarbeiten wurden 1559 durch den Tod Heinrichs II. unterbrochen, als mit dem Bau der Galerie noch nicht begonnen worden war. Eine Federzeichnung gibt den Bauzustand zwischen 1559 und 1576 wieder. Sie zeigt die fertiggestellte Bogenbrücke, an deren Südende ein befestigter Torbau mit Zugbrücke steht.
Veränderungen unter Katharina von Medici
Es war Katharina von Medici, die – nachdem sie ihre langjährige Nebenbuhlerin aus dem Schloss vertrieben hatte – die von Delorme geplante Galerie zwischen 1570 und 1576 ausführen ließ. Bei einem Fest zu Ehren Heinrichs III. im Mai 1577 wurde der Neubau eingeweiht. Wer der Architekt war, kann bis heute nicht mit Sicherheit gesagt werden und ist unter Bauhistorikern umstritten. Sowohl Denis Courtin als auch Jean Bullant, der Delorme im Amt des ersten Architekten der Königin gefolgt war, kommen dafür in Frage. Während Jean-Pierre Babelon (siehe Literatur) Bullant als Architekten der Galerie angibt, verweist Jean Guillaume auf das sehr unterschiedliche Dekor im Vergleich zu den Anlagen von Écouen und Fère-en-Tardenois. Zumindest wurde Bullant von Katharina mit Plänen für eine Vergrößerung der Schlossgebäude beauftragt. Dabei kam ein riesiges Umbauprojekt heraus, das die bestehenden Bauten auf das Zehnfache vergrößert hätte und das der französische Architekt Jacques I. Androuet du Cerceau in mehreren Stichen festhielt. Von den Plänen kamen aber nur wenige Dinge zur Ausführung; darunter ein Flügel der Wirtschaftsgebäude in der Zeit von 1580 bis 1585. Dort baute Katharina eine Seidenraupenzucht auf und führte dieses Metier damit in Frankreich ein. Zudem ließ sie das verändern. Auf der kleinen Terrasse zwischen der Kapelle und dem Kabinett-Anbau wurde ein Verbindungsbau errichtet, der für einen glatten Abschluss der Fassade nach Nordosten sorgte. Auch die repräsentative Nordfassade erfuhr eine Umgestaltung: Die Fensterflächen wurden verdoppelt und dazwischen Karyatiden sowie Atlanten angebracht. Château de Chenonceau und insbesondere seine durch Katharina von Medici umgestaltete Nordfassade, war Vorlage für das ab 1860 errichtete Château Régis.
Außerdem tat Katharina es ihrer Rivalin Diane de Poitiers gleich und ließ den Garten Katharinas von Medici anlegen. Nach Plänen Bernard Palissys 1563 begonnen, besaß er neben einem von Blumen- und Strauchbeeten umgebenes großes Wasserbecken im heute genannten Bereich außerdem eine Voliere, eine Menagerie, eine Schäferei und eine künstlich geschaffene Grotte. Außerdem ließ die Regentin Zitronen- und Orangenbäumchen für die Gärten importieren und über 1000 Maulbeerbäume für die geplante Seidenraupenzucht pflanzen.
Stillstand
Louise de Lorraine zog sich nach dem Tod ihres Mannes nach Chenonceau zurück und ließ ihr Schlafzimmer, das in dem von Katharina von Medici erbauten Mitteltrakt zwischen Kapelle und Kabinett lag, mit einer schwarzen Täfelung verkleiden. Anschließend wurden die Gebäude lange Zeit nicht mehr verändert.
Erst unter Louise Dupin wurden wieder Umgestaltungen vorgenommen. Sie ließ das Dachgeschoss der Galerie in kleine Appartements unterteilen und ein kleines Theater einrichten, in dem unter anderem Jean-Jacques Rousseaus Oper und seine Komödie L’Engagement téméraire uraufgeführt wurden. Louise Dupin bewahrte die Schlosskapelle zudem davor, während der Französischen Revolution zerstört zu werden, indem sie daraus ein Holzlager machte.
Erste Restaurierungen im 19. Jahrhundert
Unter hohem finanziellem Aufwand ließ Marguerite Pelouze das Schloss von 1865 bis 1878 umfassend restaurieren. Verantwortlicher Architekt war dabei Félix Roguet, ein Schüler Eugène Viollet-le-Ducs. Anhand von Stichen Jacques I. Androuet du Cerceaus wurden sämtliche Gebäude der Schlossanlage in den Zustand des 16. Jahrhunderts zurückversetzt. So ließ die Schlossherrin den Zwischenbau mit dem Schlafzimmer Louises de Lorraine abreißen und deren Trauer-Vertäfelung anschließend an der Decke der Galerie anbringen. Außerdem ließ sie die Karyatiden und Atlanten von der Nordfassade entfernen und sie östlich der Allee im Park aufstellen. Bei den Arbeiten wurde auch die Innenausstattung des erneuert – wenngleich nicht in einem authentischen Zustand –, ebenso wie die vollkommen verwilderten Gärten wiederhergestellt wurden.
Das 20. Jahrhundert
Der heutige Zustand der Schlossanlage von Chenonceau ist das Ergebnis weiterer umfassender Restaurierungsarbeiten, die seit mehr als 50 Jahren kontinuierlich durchgeführt werden. Im Sommer 1951 beschlossen Hubert Menier und seine Frau, das Anwesen wieder aufzubauen. Zu jener Zeit waren alle Dächer der Gebäude abgedeckt und der Garten Dianes de Poitiers durch ein Hochwasser am 7. Mai 1940 vollkommen zerstört. Für die Wiederaufbauarbeiten engagierte die Menier-Familie den Architekten Bernard Voisin. Erneute Wiederherstellungsarbeiten in den Innenräumen des waren dabei ebenso notwendig wie die Befreiung des großen Parks von dichtem Unterholz. Eine der letzten Maßnahmen, die bisher durchgeführt wurden, war im Jahr 2000 die Renovierung der ehemaligen Pferdeställe in den Wirtschaftsgebäuden.
Beschreibung der Schlossanlage
Eine etwa 330 Meter lange Platanenallee mit Wassergräben an den Seiten führt geradlinig auf ein Rasenparterre zu, dessen Eingangsbereich von zwei Sphinxstatuen aus der Regierungszeit Ludwigs XIV. flankiert wird. Sie stammen wahrscheinlich vom Schloss Chanteloup. Dem Parterre schließt sich südlich eine von Wassergräben umschlossene Insel mit dem ehemaligen Bergfried der Anlage an. Von dort ist über eine Brücke das Hauptgebäude des Schlosses mit seiner sich anschließenden Galerie über den Cher erreichbar. Westlich der Allee befinden sich das ehemalige landwirtschaftliche Gut des Schlosses sowie die Orangerie.
Ein Komplex von ehemaligen Wirtschaftsgebäuden flankiert die Westseite des Rasenparterres. Von dort kann sowohl der östlich gelegene Garten Dianes de Poitiers als auch der südwestlich gelegene Garten Katharinas von Medici betreten werden.
Architektur
Gutshof und ehemalige Wirtschaftsgebäude
Die Gebäude des landwirtschaftlichen Schlossguts stammen aus dem 16. Jahrhundert und haben im Laufe der Jahrhunderte schon viele verschiedene Nutzungen erfahren. Einst zur Versorgung der Schlossbewohner errichtet, dienen sie heute zwar teilweise als Möbellager und Blumengeschäft, aber auch ihr ursprünglicher Zweck wird heute wieder verfolgt. Die zum Gutshof gehörigen etwa 10.000 m² großen Flächen des einstigen Gemüsegartens werden durch einen Gärtnereibetrieb genutzt, der das Schloss mehrmals wöchentlich mit frischen Blumengestecken beliefert.
Der langgestreckte Trakt mit den einstigen Wirtschaftsgebäuden am westlichen Rand des Rasenparterres wird (deutsch: Kuppelbau) genannt und ist eines der wenigen Projekte von den umfassenden Erweiterungsplänen Katharinas von Medici, das in die Tat umgesetzt wurde. In der Anfangszeit waren dort Wohnungen für Bedienstete und eine von Katharina initiierte Seidenraupenfarm untergebracht, ehe das Gebäude im 19. Jahrhundert zu Pferdeställen umfunktioniert wurde. Das zweigeschossige Gebäude ist aus hellem Kalkstein errichtet und besitzt ein Dach in Form eines umgestürzten Schiffskiels. Seine Mitte mit dem Rundbogenportal weist im Obergeschoss einen turmartigen Aufsatz mit Uhr auf, der von einer Laterne abgeschlossen ist. Die Ecken des Gebäudetrakts, dessen Dach in regelmäßigen Abständen mit Lukarnen bestückt ist, werden durch Pavillontürme gebildet.
Der ehemalige Bergfried
Auf einer Insel, die dem Hauptgebäude vorgelagert ist, steht der Bergfried der Vorgängeranlage, der nach seiner langjährigen Besitzerfamilie genannt wird. Trotz eines Umbaus unter Thomas Bohier im Stil der frühen Renaissance besitzt er noch seinen Wehrgang mit Maschikulis, die zu jener Zeit jedoch nur noch dekorativen Zwecke dienten. Bohier hat sich hier – wie an vielen Stellen des Schlosses – mit den Initialen TBK (die Anfangsbuchstaben seines Namens sowie des Vornamens seiner Frau) und dem Sinnspruch (deutsch: „Wenn es vollendet ist, wird es an mich erinnern“) verewigt.
Der Rundturm besitzt einen mit Schieferschindeln gedeckten Kegelhelm mit abschließender Laterne. Seine drei Geschosse sind über einen Treppenturm erschlossen, in dem sich auch das Turmportal befindet. Dies ist wie die Mehrheit der Fenster von Pilastern umrahmt. Als zusätzliche Zier besitzen einige Fenster des Wehrgangsgeschosses kleine Giebel in Kielbogenform mit Muschelfüllung.
Vor dem Turm steht das einzige weitere Überbleibsel der mittelalterlichen Burganlage: der ehemalige Burgbrunnen. Seine Mauer ist mit einer Chimären- und einer Adlerskulptur, dem Emblem der Marques-Familie, verziert.
Das Hauptgebäude mit der Galerie
Über eine Brücke an ihrer Südseite ist die Vorinsel mit dem als bezeichneten Hauptgebäude des Schlosses verbunden. Der dreigeschossige Bau aus weißem Kalkstein besitzt einen quadratischen Grundriss und steht auf zwei steinernen Fundamentblöcken mitten im Fluss. Im Erdgeschoss ist das an seiner Nordost-Seite um zwei Anbauten erweitert, die eine Kapelle sowie ein Kabinett beherbergen und zwischen sich eine kleine Terrasse einfassen.
Am Hauptgebäude sind die ersten italienischen Einflüsse auf die französische Architektur sichtbar. Die dreiachsige Nordfassade ist mit ihrem mittig gelegenen Portal in der Anordnung der Fenster- und Türöffnungen vollkommen symmetrisch. Der Balkon über dem Portal besitzt eine Brüstung, die mit einem aufwändig gestalteten Balusterfries verziert ist. Dieses Fries wiederholt sich als umlaufendes Kordongesims auf Kragsteinen unter der Traufe eines Schieferdaches und ist nur an der Nordost-Seite durch die Anbauten der Kapelle und des Kabinetts unterbrochen. Alle Fenster sind von Pilastern umrahmt, die auf Horizontalgesimsen stehen. Die Dreiachsigkeit wird im Dachgeschoss beibehalten, indem dort drei Lukarnen zu finden sind, von denen die Lukarne der mittleren Achse größer ausgebildet ist als die beiden benachbarten. Gemeinsam mit den Außenkaminen weisen sie einen außergewöhnlich vielfältigen Skulpturenschmuck in Form von Arabeskenfriesen, Medaillons, Dreiecksgiebeln, Kandelabern und Muschelbögen auf.
Dem schließt sich südlich eine Brücke mit fünf Bögen über den Cher an, die eine schlichte, dreigeschossige Galerie im Stil des französischen Klassizismus trägt und dem Schloss seine so unverwechselbare Silhouette verleiht. Ihre Mauersteine sind unverputzt. Das Dachgeschoss besitzt an jeder seiner Längsseiten neun regelmäßig angeordnete Lukarnen mit Ochsenaugen.
Innenräume
Das Innere des Hauptgebäudes besticht durch eine außergewöhnliche Fülle an altem und wertvollen Mobiliar sowie zahlreichen Kunstwerken. Die im Schloss beheimatete Gemäldesammlung fußt vor allem auf der Sammeltätigkeit Marguerite Pelouzes und beinhaltet zahlreiche alte Meister.
Die Symmetrie der Fassaden setzt sich im Inneren durch eine entsprechende Raumaufteilung fort. Auf allen Etagen sind vier nahezu gleich große Räume um ein zentrales Vestibül angeordnet.
Erdgeschoss
Durch ein monumentales, zweiflügeliges Portal aus Holz kann das Vestibül des Erdgeschosses betreten werden. Die Tür stammt aus der Zeit Franz’ I. und ist durch bunte Bemalungen sowie Schnitzereien reich verziert. Das linke Türblatt zeigt das Wappen Thomas Bohiers, sein rechtes Pendant das seiner Frau Catherine Briçonnet. Über dem Türsturz findet sich an der Außenseite das Wappentier Franz’ I., der Salamander, und die lateinische Inschrift FRANCISCVS DEI GRATIA FRANCORVM, CLAVDIA FRANCORVM REGINA (deutsch: „Franz von Gottes Gnaden König von Frankreich, Claude, Königin der Franzosen“). Über der Tür zeigt ein Buntglasfenster von Max Ingrand eine Szene aus dem Leben des heiligen Hubertus.
Das zentrale Vestibül orientiert sich gemeinsam mit der Treppe in die erste Etage an italienischen Vorbildern und bot erstmals eine Alternative zu der bis dahin in Frankreich üblichen Anordnung der Räume entlang einer langen Galerie. Der Raum besitzt eine Decke mit Kreuzrippengewölbe aus dem Jahr 1515, dessen Schlusssteine nicht in einer geraden Linie angebracht sind, sondern immer abwechselnd auf drei verschiedenen Achsen liegen. Mit 3,5 Metern ist er halb so breit wie die angrenzenden Räume. Der Fußboden ist mit emaillierten Kacheln ausgelegt. Deren Verzierung mit geometrischen Figuren ist durch Abnutzung an den meisten Stellen bereits nicht mehr vorhanden und nur in den seltener genutzten Randbereichen noch erkennbar.
Hinter dem Eingang führt linkerhand eine Eichentür mit rechteckigen Kartuschen und den beiden Namenspatronen der Erbauer – der heiligen Katharina und dem heiligen Thomas – auf den Türflügeln in den Gardensaal (), der nach dem Mittelalter als Esszimmer genutzt wurde. Der aus Italien stammende Majolikabelag des Fußbodens ist bereits abgetreten und nur noch an den Rändern erhalten. Der Saal besitzt eine Balkendecke mit kassettierter Täfelung sowie einen Kamin aus dem 16. Jahrhundert, der das Wappen Thomas Bohiers zeigt. An den Wänden hängen ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammende flämische Tapisserien mit Szenen aus dem Schlossleben.
Dem Gardensaal schließt sich östlich die Schlosskapelle im Stil der ausgehenden Gotik an. Sie besitzt einen rechteckigen Grundriss und eine dreijochige Apsis. Die bunten Bleiglasfenster wurden 1954 von Max Ingrand gefertigt, weil die Originale bei einem Bombenangriff 1944 zerstört worden waren. Zur Ausstattung der Kapelle zählt außerdem das Relief einer Madonna mit Kind aus Carrara-Marmor, die im 16. Jahrhundert vom italienischen Bildhauer Mino da Fiesole angefertigt wurde. Von einer hölzernen Empore über dem Eingang aus dem Jahr 1521 verfolgten die Königinnen die Messe, während der sich die zu ihrem Schutz abgestellten Wachen offenbar ab und zu langweilten und sich die Zeit deshalb mit Wandgraffitis vertrieben. Zwei von diesen sind heute noch erhalten. Eine stammt von einer schottischen Garde Maria Stuarts aus dem Jahr 1543, die zweite datiert in das Jahr 1546.
Der zweite auf der östlichen Seite des Vestibüls liegende Raum wird nach seiner einstigen Bewohnerin Zimmer Dianes de Poitiers () genannt. An den Wänden hängen Tapisserien aus der gleichen flämischen Werkstatt wie diejenigen aus dem Gardensaal. Nach ihren Motiven besitzen sie die Namen Triumph der Stärke und Triumph der Barmherzigkeit. Blickpunkt des Zimmers ist indes der Jean Goujon zugeschriebene Kamin mit einem neuzeitlichen Porträt Katharinas von Medici. Der Kamin trägt an seinem Gesims die vergoldeten Initialen Heinrichs II. und seiner Frau (Hs und Cs). Diese Buchstaben wiederholen sich auch in der Kassettendecke des Raums. Dessen weitere wertvolle Ausstattungsstücke sind zwei Stühle mit einem Bezug aus Corduanleder sowie das Bartolomé Esteban Murillo zugeschriebene Gemälde Madonna mit Kind.
Vom Zimmer Dianes de Poitiers führt eine Tür in den Kabinett-Anbau. Er diente Katharina von Medici als Arbeitszimmer mit sich anschließender kleiner Bibliothek. Die Balkendecke des Arbeitszimmers mit grüner Malerei auf Zinnfolie – ineinander verschlungene Cs zeigend – war gemeinsam mit einer grünen Wandbespannung namensgebend für den Anbau: Grünes Kabinett (). Die Motive einer an der Wand hängenden Brüsseler Tapisserie aus dem 16. Jahrhundert sind von der Entdeckung Amerikas sowie dessen Flora und Fauna inspiriert. Die Bibliothek besitzt eine aufwändig gestaltete Kassettendecke aus Eichenholz mit den Initialen der ersten beiden Schlossbesitzer. Aus dem Jahr 1525 stammend, ist sie die älteste erhaltene Decke dieser Art in Frankreich. Auf engem Raum hängen in diesen beiden kleinen Räumen zahlreiche wertvolle Gemälde alter Meister, zum Beispiel von Jacopo Tintoretto (unter anderem Salomon bei der Königin von Saba), Jacob Jordaens (Der trunkene Silen), Hendrick Goltzius (Samson und der Löwe), Nicolas Poussin, Antonio da Correggio und van Dyck.
Vom Vestibül aus betrachtet liegt gegenüber dem Zimmer Dianes de Poitiers der Salon Franz’ I. (). Er erhielt seinen Namen in Anlehnung an zwei Besuche des französischen Königs, der von Catherine Briçonnet im Schloss beherbergt wurde. Am Sims des großen Renaissancekamins findet sich wie schon am der Sinnspruch Thomas Bohiers (siehe Der ehemalige Bergfried). Die Wände sind mit bemalten Leinentapeten aus dem 19. Jahrhundert bespannt, welche die im 16. Jahrhundert beliebten Ledertapeten imitieren. Darauf hängen unter anderem ein Selbstporträt van Dycks, Gabrielle d’Estrées als Jagdgöttin Diana von Ambroise Dubois, Die drei Grazien von van Loo sowie Primaticcios berühmtes Porträt Dianes de Poitiers als Jägerin. Unter dem Mobiliar sticht ein italienischer Kabinettschrank hervor. Das im 16. Jahrhundert von einem Florentiner Meister gefertigte Möbelstück besitzt Einlegearbeiten aus Perlmutt und Elfenbein, die mit Federzeichnungen verziert sind. Es war ein Hochzeitsgeschenk an Franz II. und Maria Stuart.
Der vierte Wohnraum im Erdgeschoss wird nach dem letzten französischen König, der auf Schloss Chenonceau weilte, mit Salon Ludwigs XIV. () bezeichnet. An seinen mit karminroten Stofftapeten bespannten Wänden erinnert ein großes Porträt des Sonnenkönigs von Hyacinthe Rigaud an dessen Besuch. Ludwig machte das Gemälde dem damaligen Schlossherrn, seinem Onkel, dem Herzog von Vendôme, zum Geschenk. Sein aufwändig geschnitzter Rahmen besitzt eine Auflage aus Dukatengold. Der große, weiß stuckierte Kamin zeigt in goldener Farbe die Wappentiere Franz’ I. und seiner Frau Claude de France, den Salamander und das Hermelin. Sein Aussehen ist das Ergebnis einer Restaurierung im 19. Jahrhundert. Neben Rigauds Königsporträt sind in diesem Raum Werke weiterer bekannter Maler zu finden, unter anderem Rubens’ Der Jesusknabe und der heilige Johannes, ein Porträt der einstigen Schlossbesitzerin Louise Dupin von Jean-Marc Nattier sowie eines von Nicolas Mignard, das ihren Vater Samuël Bernard zeigt.
Erstes Geschoss
Ebenso wie mit dem Vestibül wurden in Chenonceau auch bei der Treppenform neue architektonische Wege beschritten. Thomas Bohier ließ eine an italienische Vorbilder angelehnte Treppe mit zwei geraden Läufen erbauen, anstatt auf das in Frankreich zu jener Zeit noch übliche Prinzip der Wendeltreppe zurückzugreifen. Sie ist damit die wahrscheinlich zweite je in Frankreich errichtete Treppe in dieser Form. Nur im Schloss Bury war schon zuvor eine solche Treppe realisiert worden, die jedoch heute nicht mehr erhalten ist. Das Treppenhaus besitzt eine Decke in Form eines Tonnengewölbes mit Schlusssteinen und Kassetten nach antiker Art und führt in das Vestibül des ersten Geschosses, auch Vestibül Catherine Briçonnets genannt. Die Raumaufteilung dieser Etage ist – mit Ausnahme des Kapellanbaus – identisch mit derjenigen des Erdgeschosses.
Das Vestibül besitzt einen Kachelboden sowie eine offenliegende Balkendecke. An seinen Wänden hängen Tapisserien des 17. Jahrhunderts aus Oudenaarde. Ihre Motive nach Vorlagen van der Meulens zeigen Szenen einer Parforcejagd. Über den Türstürzen finden sich Medaillons, die Katharina von Medici aus Italien mitbrachte. Sie zeigen die Porträts römischer Kaiser.
Linkerhand der Treppe befindet sich das Zimmer Gabrielles d’Estrées (). Die einstige Mätresse Heinrichs IV. nutzte diesen Raum für die Dauer ihrer zeitweiligen Aufenthalte im Schloss als Schlafzimmer. Er besitzt neben einer Balkendecke und einem gekachelten Fußboden einen großen Kamin aus der Zeit der Renaissance. Auch die Tapisserien nach Vorlagen von Lucas van der Leyden oder Lucas van Nevele stammen aus dieser Epoche.
Auf der anderen Seite der Treppe liegt das ehemalige Schlafzimmer Césars de Vendôme (), Gabrielles gemeinsamem Sohn mit Heinrich IV. Unter einer bemalten Balkendecke stehen Möbel aus dem 16. Jahrhundert, die von einer dreiteiligen Tapisserie-Serie aus dem 17. Jahrhundert ergänzt werden. Der Renaissancekamin trägt das Wappen Thomas Bohiers erst seit einer Restaurierung des Raums im 19. Jahrhundert. An der Wand hängt das Porträt des heiligen Joseph von Murillo. Blickfang sind in diesem Zimmer die zwei hölzernen Karyatidenfiguren aus dem 17. Jahrhundert, die das Westfenster umrahmen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Vestibüls und damit über dem Zimmer Dianes de Poitiers liegt das einstige Schlafzimmer Katharinas von Medici (). Wie Césars Raum verdankt dieses Zimmer sein heutiges Aussehen Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert. Er ist mit Möbeln sowie Wandbehängen aus dem 16. Jahrhundert ausgestattet und besitzt einen Renaissancekamin aus weißem Carrara-Marmor. Wertvollstes Gemälde in diesem Raum ist Correggios Unterrichtung der Liebe als Öl-auf-Holz-Ausführung. Die Leinwandversion dieses Gemäldes befindet sich in der National Gallery London.
Von Katharinas Schlafzimmer führt eine Tür in den Kabinett-Anbau. Über dem Grünen Kabinett des Erdgeschosses befindet sich das Kabinett der Drucke (), in der eine Sammlung von Zeichnungen und Stichen zu sehen ist. Sie alle haben das Schloss zum Motiv.
Neben Katharinas Schlafzimmer befindet sich das Zimmer der fünf Königinnen (), das durch seinen Namen an Elisabeth von Valois, Margarete von Valois, Maria Stuart, Elisabeth von Österreich und Louise de Lorraine-Vaudémont erinnern soll. Deren Wappen finden sich in der Kassettendecke aus dem 16. Jahrhundert. An den Wänden hängen Tapisserien aus dem gleichen Zeitraum sowie Gemälde, die unter anderem von Rubens und Nicolas Mignard stammen.
Dachgeschoss
Neben dem Vestibül des Dachgeschosses, dessen außergewöhnlich geformte Balkendecke seit der Restaurierung im 19. Jahrhundert wieder voll zur Geltung kommt, gibt es auf dieser Etage nur einen Raum von Interesse: das sogenannte Schlafzimmer Louises de Lorraine (). Bei dem Raum handelt es sich nicht um das Original-Zimmer, denn dieses befand sich seinerzeit in einem heute nicht mehr existenten Teil des Schlosses. Der Raum ist jedoch mit der zeitgenössischen Täfelung Louises ausgestattet, welche die Königswitwe nach dem Tod ihres Mannes Heinrich III. in ihrem Schlafzimmer hatte anbringen lassen, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Die schwarzen Paneele sind mit weißen Motiven wie Dornenranken, Witwenkordeln und Knochen bemalt, während die Möbel eine Stoffbespannung aus schwarzem Damast besitzen.
Kellergeschoss
In den zwei hohlen Grundpfeilern des befinden sich die Wirtschaftsräume des Schlosses. Über eine schmale Treppe am südöstlichen Ende des Erdgeschoss-Vestibüls ist der erste Raum des Kellergeschosses erreichbar: die sogenannte Anrichte (). Der Raum besitzt eine Decke mit Kreuzgewölbe und ist mit dem größten Kamin des gesamten Schlosses ausgestattet. Direkt neben diesem befindet sich in der gleichen Wand ein Backofen. Nordöstlich grenzt der Speisesaal der Bediensteten an die Anrichte, während sich im Südwesten eine Vorratskammer anschließt. Über eine Tür ist der Raum zudem mit der Fleischerei () verbunden, in der noch heute sämtliche Utensilien für das fachmännische Schlachten und Zerlegen eines Tiers vorhanden sind.
Eine schmale Brücke führt von der Anrichte in den zweiten Fundamentpfeiler, in dem sich die eigentliche Küche befindet. Zwar besitzt diese noch immer ihren großen Kamin mit Bratspießen aus der Zeit der Renaissance, doch wurde sie am Anfang des 20. Jahrhunderts mit modernen Geräten ausgestattet, um den Versorgungsbedürfnissen des Lazaretts, das während des Ersten Weltkriegs in der Galerie eingerichtet war, Genüge zu tun. Von der Brücke ist eine Bootsanlegestelle am zweiten Pfeiler sichtbar. Händler, die das Schloss in früheren Zeiten mit Lebensmitteln und sonstigem Notwendigen versorgten, konnten dort mit ihren Booten ganz in der Nähe der Wirtschaftsräume anlegen, ohne lange Anlieferwege zu Land in Kauf nehmen zu müssen.
Galerie
Dem zentralen Vestibül des Erdgeschosses schließt sich im Südosten die 60 Meter lange und sechs Meter breite Galerie an, die von einer Bogenbrücke über dem Cher getragen wird. Weil sie erst später dem angefügt wurde, ist durch sie die architektonische Symmetrie des Gesamtensembles zerstört, denn sie schließt sich nicht auf Höhe der symmetrischen Mittelachse des Hauptgebäudes an, sondern ist etwas nach Süden verschoben. Ihr Inneres ist sehr schlicht gehalten. Sie besitzt einen mit schwarzen und weißen Fliesen aus Schiefer und Tuffstein belegten Fußboden sowie eine Balkendecke. Zwischen den neun Fenstern an beiden Seiten finden sich Nischen, in denen heute Pflanzen früher hingegen Statuen standen, sowie Wandverzierungen in Form von Medaillons aus dem 18. Jahrhundert. An den beiden schmalen Stirnseiten der Galerie stehen große Kamine, wovon derjenige am südlichen Ende jedoch ohne Funktion ist. Er umrahmt lediglich einen Ausgang, der über eine Zugbrücke an das linke Ufer des Cher führt.
Gärten und Park
Zum Schloss Chenonceau gehören rund 80 Hektar Garten- und Parkflächen, die sich auf zwei Renaissancegärten im italienischen Stil sowie einen großen, fast ausschließlich waldbestandenen Park verteilen.
Um die beiden Gärten vor Überschwemmungen bei Cherhochwasser zu schützen, wurden sie auf ummauerten Terrassen angelegt. Jeweils im Frühjahr und im Sommer werden sie mit neuen, in der schlosseigenen Gärtnerei gezogenen Blumen bepflanzt. Pro Jahr werden dafür etwa 60.000 bis 64.000 Pflanzen benötigt.
Garten Dianes de Poitiers
Nordöstlich des befindet sich die rechteckige, mehr als 12.000 m² große Terrasse mit dem Garten Dianes de Poitiers. Sie kann über eine steinerne Brücke vom Rasenparterre her betreten werden. Am Eingang des Gartens steht die einstige Kanzlei () aus dem 16. Jahrhundert, bei der sich auch eine Bootsanlegestelle befindet.
Den Mittelpunkt des Gartens bildet ein Rondell. In seiner Mitte befindet sich eine Wasserfontäne, deren Strahl sechs Meter hoch ist. Schon der französische Architekt Jacques I. Androuet du Cerceau beschrieb diese außergewöhnliche Konstruktion 1576 im ersten Band seines Stichwerks Les plus excellents Bastiments de France. Seinerzeit war sie einmalig in Frankreich. Vom mittigen Rondell führen acht gerade Wege strahlenförmig zu den Ecken und Kanten der Terrasse und unterteilen das Areal dadurch in acht mit Rasen bepflanzte Parterres.
Neben Blumen und Ziergehölzen wie Buchsbaum, Oleander und Lorbeerbäumen sowie Europäische Eiben und Straucheibisch finden sich im Garten Dianes de Poitiers Obstbäume und Haselnusssträucher als Bepflanzung.
Garten Katharinas von Medici
Der Garten Katharinas von Medici ist der jüngere und kleinere der beiden Schlossgärten von Chenonceau. Er besitzt einen annähernd trapezförmigen Grundriss. In seiner Mitte steht ein kreisrundes, niedriges Wasserbecken mit einem Durchmesser von 15 Metern. Von diesem führen vier gerade Wege fort und unterteilen den Garten auf diese Weise in vier ungleich große Parterres. An seiner Nordwest- und Südwest-Seite ist der Garten umsäumt vom alten Baumbestand des großen Schlossparks.
Schlosspark und Grüner Garten
Die Gebäude und Gärten Chenonceaus werden von einem 70 Hektar großen Park umgeben, der mehrheitlich aus Wald besteht. Er erstreckt sich sowohl nördlich als auch südlich des Cher und machte bereits im Mittelalter einen großen Teil der damals zum Schloss gehörigen Domäne aus.
In dem Teil des Parks, der östlich der langen Zugangsallee liegt, befindet sich ein nach Original-Plänen aus der Zeit Katharinas von Medici rekonstruierter Irrgarten aus 2000 Eiben. In direkter Nachbarschaft dazu stehen die acht Karyatiden und Atlanten, die ehemals an der Nordfassade des angebracht waren.
An der Nordwestseite des Gartens Katharinas von Medici schließt sich der sogenannte Grüne Garten () an. Er wird an seiner Ostseite von den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden und im Norden von der Orangerie begrenzt. Der nach Entwürfen Bernard Palissys gestaltete, schlichte Garten besteht aus einer großen Rasenfläche, die mit Bäumen und Sträuchern – unter anderem Japanische Kerrien und Gewürzsträucher – bepflanzt und mit Skulpturen dekoriert ist.
Heutige Nutzung
Schloss Chenonceau beheimatet heute zwei Museen und eine Kunstgalerie. Als erstes Museum dient das mit zahlreichen Gemälden alter Meister sowie Mobiliar und Tapisserien aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. In einem Teil des befindet sich seit Juni 2000 zudem ein Wachsfigurenkabinett, das genannt wird. Dort sind 15 bedeutsame Ereignisse mit wichtigen Personen der Schlossgeschichte als Szenen dargestellt. Alle Figuren tragen dabei Kleidung, die nach Original-Dokumenten angefertigt und aus Stoffen geschneidert wurden, die bezüglich Material und Verarbeitung bereits zur Lebzeiten der realen Personen verfügbar waren.
Im ersten Geschoss der Galerie über dem Cher werden seit 1979 während der Sommermonate regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Kunst gezeigt. Unter den Ausstellern waren schon Künstler wie Bernard Buffet, Miquel Barceló und Zao Wou-Ki.
Das Orangeriegebäude kann für Feiern und Empfänge gemietet werden, während in den einstigen Pferdeställen heute ein Selbstbedienungsrestaurant für die Schlossbesucher angesiedelt ist.
Wie bei vielen anderen Schlössern der Loire findet auf Schloss Chenonceau an Sommerabenden nach Einbruch der Dunkelheit eine Veranstaltung namens , eine Licht- und Tonschau, statt. Zu Musik von Arcangelo Corelli werden die Gebäude und Gärten mit Scheinwerfern bestrahlt und dabei in buntes Licht getaucht.
Literatur
Alfred Andersch: Mit dem Chef nach Chenonceaux. In: Gesammelte Werke. Band 4. Erzählungen I, Diogenes, Zürich 2004, ISBN 3-257-06364-4, S. 358–370
Jacques Androuet du Cerceau: Les plus excellents bastiments de France. Band 2. L’Aventurine, Paris 1995, ISBN 2-84190-011-8, doi:10.11588/diglit.1562.
Eugène Aubry-Vitet: Chenonceau. In: Revue des deux mondes. Jahrgang 37, Nr. 69, Paris 1867, S. 851–881 (Digitalisat).
Jean-Luc Beaumont: Chronologie des châteaux de France. Pays de la Loire et Centre. TSH, Le Cannet 2004, ISBN 2-907854-29-1.
Philip Jodidio (Red.): Chenonceau. Société française de promotion artistique, Paris 2001.
Wilfried Hansmann: Das Tal der Loire. Schlösser, Kirchen und Städte im «Garten Frankreichs». 4. Auflage. DuMont, Köln 2011, ISBN 978-3-7701-6614-5, S. 143–152 (auszugsweise bei Google Books).
Wiebke Krabbe (Übers.): Die Schlösser der Loire. Komet, Frechen 2001, ISBN 3-89836-200-0, S. 44–49.
Herbert Kreft, Josef Müller-Marein, Helmut Domke: Jardin de la France. Schlösser an der Loire. CW Niemeyer, Hameln 1967, S. 178–179.
Jules Loiseleur: Les résidences royales de la Loire. E. Dentu, Paris 1863, S. 295–362 (Digitalisat).
Georges Poisson: Schlösser der Loire. Goldmann, München 1964, S. 87–93.
René Polette: Liebenswerte Loireschlösser. Morstadt, Kehl 1996, ISBN 3-88571-266-0, S. 43–46.
Werner Rau: Mobil reisen. Loiretal. Rau Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-926145-27-7, S. 99–103.
Christoph Seeberger, Hermann Schreiber: Die Schlösser der Loire. Sehen & erleben. Südwest, München 1996, ISBN 3-517-01348-X, S. 136–140.
Janine und Pierre Soisson: Die Schlösser der Loire. Parkland, Stuttgart 1981, ISBN 3-88059-186-5, S. 37–43.
Françoise Vibert-Guigue (Hrsg.): Centre, châteaux de la Loire. Hachette, Paris 1991, ISBN 2-01-015564-5, S. 353–356.
Bertrand du Vignaud: Monuments de France. Chêne, Paris 1991, ISBN 2-85108-694-4, S. 170–175.
Schlösser an der Loire. Michelin, Landau-Mörlheim 2005, ISBN 2-06-711591-X, S. 161–163.
Weblinks
Website des Schlosses (französisch, englisch, spanisch)
Fotos aus der Base Mémoire
Interaktiver Grundriss- und Gebäudeplan (französisch, QuickTime oder Flash erforderlich)
Fußnoten
Wasserschloss in Frankreich
Renaissancebauwerk in Centre-Val de Loire
Schloss im Département Indre-et-Loire
Parkanlage in Frankreich
Monument historique im Département Indre-et-Loire
Interieurmuseum in Europa
Schloss in Europa
Schloss
Interieurmuseum in Frankreich
Parkanlage in Europa
Monument historique seit 1840
Monument historique (Schloss)
Monument historique (Parkanlage)
Cher (Fluss) |
259144 | https://de.wikipedia.org/wiki/Tetraethylblei | Tetraethylblei | Tetraethylblei (TEL, von ) ist eine bleiorganische Verbindung mit der Summenformel C8H20Pb (Konstitutionsformel (C2H5)4Pb), bei der vier Ethylgruppen tetraedrisch an einem zentralen Bleiatom gebunden sind. Es handelt sich um eine farblose, viskose Flüssigkeit mit einem angenehmen, süßen Geruch, die luft- und wasserstabil ist.
Der deutsche Chemiker Carl Löwig berichtete 1853 erstmals über die Herstellung von Tetraethylblei. Technische und kommerzielle Bedeutung erlangte es ab den 1920er-Jahren, als Thomas Midgley im Forschungslabor von General Motors seine Wirksamkeit als Antiklopfmittel für Motorenbenzin entdeckte. Die Standard Oil of New Jersey, die das Patent auf die Herstellung hatte, und General Motors, die das Anwendungspatent besaßen, gründeten daraufhin 1924 die Ethyl Corporation, die Tetraethylblei herstellte und vermarktete.
Tetraethylblei wirkt als Antiklopfmittel, da es die bei der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen im Motor entstehenden Hydroperoxyl-Radikale abfängt und dadurch eine verzweigte Kettenreaktion inhibiert und so das Klopfen unterbindet. Aufgrund seines guten Preis-Wirksamkeits-Verhältnisses wurde es weltweit als Antiklopfmittel eingesetzt. Seine sekundäre Funktion bestand darin, die Abnutzung an Ventilen und Ventilsitzen in Motoren zu begrenzen.
Die Aufnahme von Tetraethylblei in den Körper kann durch Inhalation, über Hautresorption oder durch Verschlucken erfolgen. Es ist lipophil, giftig und bereits die Aufnahme von geringen Mengen führt zu einer schweren Bleivergiftung. Das letztlich toxische Molekül ist das Triethylblei-Ion, welches das Zentralnervensystem schädigt und eine toxische Psychose oder Lähmungen auslösen kann. Die bei der Verbrennung von Tetraethylblei im Motor entstehenden Bleioxid- und -halogenidpartikel werden mit dem Abgas ausgestoßen und mit der Atemluft aufgenommen. Sie schädigen ebenfalls das Nervensystem, insbesondere das von Kindern. Durch die Verwendung von Tetraethylblei im Benzin wurden allein in den Vereinigten Staaten zwischen seiner Einführung und dem Verbot mehrere Millionen Tonnen Blei emittiert.
Nachdem es anfangs bei der Herstellung von Tetraethylblei zu Vergiftungen und Todesfällen gekommen war, verbot der Surgeon General of the United States 1925 kurzzeitig seine Produktion und Anwendung. Ab den 1970er-Jahren schränkten die Vereinigten Staaten gemäß dem Clean Air Act die Verwendung von Tetraethylblei ein. Neben dem Schutz der Gesundheit sollte damit die Vergiftung von Drei-Wege-Katalysatoren vermieden werden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1976 der Bleigehalt im Benzin auf 0,15 Gramm pro Liter eingeschränkt, der Gesetzgeber verbot 1988 verbleites Normalbenzin in Deutschland. Das Verbot von verbleitem Superbenzin folgte 1996. Die Europäische Union und die Schweiz verboten verbleites Benzin am 1. Januar 2000.
Geschichte
Tetraethylblei gehört zu den metallorganischen Alkylverbindungen, deren Geschichte 1760 begann. In diesem Jahr synthetisierte Louis Claude Cadet de Gassicourt die erste Verbindung dieser Art, das Kakodyl. Robert Wilhelm Bunsen und seine Schüler Carl Kolbe und Edward Frankland untersuchten das Kakodyl ab 1836 systematisch. Frankland vertiefte seine Forschungen in dieser Richtung und synthetisierte 1849 weitere metallorganische Alkylverbindungen, das Diethylzink und das Dimethylzink.
Laborsynthesen
Angeregt durch Franklands Studien widmeten sich weitere Chemiker diesem Forschungsgebiet. So berichtete Carl Löwig, der 1853 die Nachfolge von Bunsen am Lehrstuhl für Chemie der Universität Breslau angetreten hatte, im selben Jahr über die Darstellung der ersten metallorganischen Alkylbleiverbindung. Für deren Darstellung verwendete er eine Blei-Natrium-Legierung, die er mit Iodethan umsetzte. Durch Extraktion mit Diethylether erhielt er eine farblose Flüssigkeit, die sich in Diethylether und Ethylacetat löste, jedoch nicht in Wasser. Löwig konnte Tetraethylblei nicht als reine Verbindung darstellen, da es sich bei der Destillation zersetzte.
Über die erste Darstellung von reinem Tetraethylblei berichtete schließlich George Bowdler Buckton, zur damaligen Zeit Assistent von August Wilhelm von Hofmann am Royal College of Chemistry in London. Er setzte dazu Diethylzink mit einem Überschuss von Blei(II)-chlorid um. Durch eine Destillation des Reaktionsprodukts im leichten Vakuum gelang ihm die Reindarstellung von Tetraethylblei. Buckton untersuchte ebenfalls die Reaktionen von Tetraethylblei mit Chlorwasserstoff unter Bildung von Triethylbleichlorid, mit Schwefelsäure unter Bildung von Hexaethyldibleisulfat ([(C2H5)3Pb]2SO4) und mit Kaliumhydroxid unter Bildung von Hexaethyldibleioxid ([(C2H5)3Pb]2O). Die später im industriellen Bereich übliche Wasserdampfdestillation von Tetraethylblei führte 1879 Frankland ein, der auch als Erster die richtige Strukturformel von Tetraethylblei vorschlug.
Entdeckung des Antiklopfverhaltens
In den Chemielaboratorien der europäischen Hochschulen synthetisierten die Chemiker gegen Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts viele weitere metallorganische Alkylverbindungen, und Tetraethylblei war nur eine von vielen. Es war nicht abzusehen, dass diese Verbindung ab den 1920er-Jahren eine große technische Bedeutung zur Lösung des Klopfproblems erlangen würde. Das Phänomen des Klopfens und dessen schädigende Auswirkung auf den Motor beschrieb bereits Nicolaus Otto 1862 in den Anmerkungen zu den Arbeiten an seinem ersten Viertaktmotor, einer Vierzylinder-Versuchsmaschine:
Dieses Klopfen begrenzte die Steigerung des Wirkungsgrads des Ottomotors, vor allem im oberen Lastbereich. Ein klopffester Kraftstoff lässt ein höheres Verdichtungsverhältnis zu, das zu einer höheren Kraftstoffeffizienz und einer besseren Nutzleistung führt.
Charles Kettering, der Erfinder des elektrischen Anlassers und Gründer der Dayton Engineering Laboratories Company (Delco), beschäftigte sich ab etwa 1910 mit der Verbesserung des thermischen Wirkungsgrads von Verbrennungsmotoren. Er ahnte, dass dazu die Lösung des Klopfproblems von entscheidender Bedeutung wäre, und beauftragte 1916 seinen Mitarbeiter Thomas Midgley mit dessen Untersuchung. Midgley testete daraufhin die Antiklopfeigenschaften von Iod, Anilin und tausenden weiteren organischen und anorganischen Substanzen. Obwohl einige der getesteten Stoffe brauchbare Antiklopfeigenschaften zeigten, schieden sie wegen anderer unerwünschter Eigenschaften wie zu hoher Kosten oder ihrer Korrosionsneigung aus. Die metallorganischen Alkylverbindungen Diethylselenid ((C2H5)2Se) und Diethyltellurid ((C2H5)2Te) zeigten gute Antiklopfeigenschaften, doch besonders die letztere verlieh dem Abgas laut Midgley einen „satanischen Knoblauchgeruch“.
General Motors (GM) übernahm 1919 Ketterings Firma und funktionierte sie zur Forschungsabteilung des Automobilkonzerns um, die Kettering als Vice President führte. Zu dieser Zeit arbeitete der Chemiker Robert E. Wilson, Professor für Angewandte Chemie am Massachusetts Institute of Technology, ebenfalls an Forschungsprojekten für GM. Basierend auf den guten Antiklopfeigenschaften der Alkylmetallverbindungen lenkte er Midgleys Interesse auf eine systematische Untersuchung dieser Produktgruppe. Im Dezember 1921 fanden schließlich Tests mit Tetraethylblei statt, wobei sich gute Antiklopfeigenschaften bereits bei einer Konzentration von 0,025 % zeigten. Tetraethylblei erwies sich als 118 mal effektiver als Anilin und etwa 1200 mal effektiver als Ethanol und war allen anderen getesteten Produkten weit überlegen.
Basierend auf den Arbeiten von Löwig erfolgte die erste technische Synthese von Tetraethylblei auf Basis von Iodethan, die sich jedoch schnell als zu teuer erwies. DuPont entwickelte daraufhin einen Prozess auf Basis von Bromethan, der sich jedoch ebenfalls als zu teuer erwies. In der Zwischenzeit verhandelte GM mit Standard Oil of New Jersey über den Einsatz von Tetraethylblei in deren Produkten. Die von GM angebotenen Konditionen veranlassten Standard Oil, einen eigenen Prozess auf Basis von preiswertem Chlorethan zu entwickeln. Die Forschungsarbeiten dazu vergab Standard Oil an Charles August Kraus, der das industrielle Verfahren mit seinem Mitarbeiter Conrad Callis entwickelte und 1923 patentierte.
Da Tetraethylblei nach diesem Verfahren wesentlich günstiger herzustellen war als nach den Verfahren von GM und DuPont, gründeten Standard Oil Company of New Jersey, die das Herstellungspatent besaß, und General Motors, die das Anwendungspatent besaß, am 18. August 1924 die Ethyl Gasoline Corporation. In dieser Gesellschaft bündelten die Anteilseigner die Aktivitäten zur Herstellung, Verwendung und Vermarktung von Tetraethylblei. Die Ethyl Corporation beauftragte DuPont mit der Produktion, da weder Standard Oil noch GM Erfahrungen auf diesem Gebiet hatten.
Bei Testfahrten und auf Motorprüfständen zeigte sich, dass sich Tetraethylblei nicht problemlos einsetzen ließ. Das verbrannte Tetraethylblei hinterließ eine Schicht aus Blei(II)-oxid im Brennraum sowie auf den Zündkerzen. Thomas Alwin Boyd, ein Mitarbeiter Midgleys, entdeckte, dass die Zugabe von 1,2-Dibromethan diese Ablagerungen verhinderte. Durch diesen Zusatzstoff bildete sich das leichter flüchtige Blei(II)-bromid, das mit dem Abgas emittiert wurde.
Da Brom knapp und teuer war, entwickelte die GM-Forschungsabteilung in Zusammenarbeit mit Dow Chemical einen Prozess zur Gewinnung von Brom aus Meerwasser. Dazu wurde Chlor ins Meerwasser eingespeist, das die dort vorhandenen Bromide oxidierte und so Brom freisetzte. Anlagen in Kure Beach, North Carolina, und Freeport, Texas, lieferten das benötigte Brom für die Bromierung von Ethen. Kurioserweise geht dieses Verfahren ebenfalls auf Carl Löwig zurück, der 1825 durch Einleiten von Chlor in Bad Kreuznacher Solewasser Brom gewann.
Am 2. Februar 1923 verkaufte die Refiners Oil Company die ersten Liter eines mit Tetraethylblei versetzten Benzins an einen Autofahrer in Dayton (Ohio). Mittels eines sogenannten „Ethylizers“, einer Handpumpe, wurde das Tetraethylblei zum Benzin gepumpt. Bis August 1923 waren etwa 30 Ethylizer im Einsatz, die Zahl stieg bis Oktober 1924 auf über 17.000 an. Die ersten drei Plätze des Indianapolis-500-Rennens im Jahr 1923 belegten Rennwagen, die mit Tetraethylblei versetztes Benzin verwendet hatten, ein Ergebnis, das in der Presse besonders herausgestellt wurde. Etwa 18 Monate später betrug der Verkauf von verbleitem Benzin bereits 380 Millionen Liter pro Jahr.
Erstes Verbot von Tetraethylblei
Arbeiter, die mit der Herstellung von Tetraethylblei beschäftigt waren, verhielten sich bald seltsam. Die Arbeiter bekamen Halluzinationen und schnappten nach imaginären Schmetterlingen, die vermeintlich um sie herumflogen oder sich auf ihrem Körper niederließen. Tetraethylblei bekam daraufhin den Spitznamen „The loony gas“ (dt.: „Das verrückte Benzin“), das Produktionsgebäude erhielt den Spitznamen „House of Butterflies“ (dt.: „Haus der Schmetterlinge“). Im Herbst 1924 verschlechterte sich der Zustand der Arbeiter rapide, 32 kamen ins Krankenhaus, 5 von ihnen starben.
Das Office of Chief Medical Examiner of the City of New York (OCME) unter Charles Norris leitete die Untersuchungen der Todesfälle. Alexander O. Gettler, ein US-amerikanischer Biochemiker und Pionier der forensischen Toxikologie, wies in den Körpern der Toten hohe Konzentrationen an Blei nach, die Todesursache war letztendlich Bleivergiftung. Dies führte zu einem vorübergehenden Verbot von Tetraethylblei als Benzinzusatzstoff unter anderem in New York City, New Jersey und Philadelphia. Mehrere europäische Staaten schlossen sich dem Verbot 1925 an. Die Schweiz ergänzte die Lebensmittelverordnung und verbot neben Blei ebenso die Verwendung von Selen- und Tellurverbindungen.
Auf einer Anhörung des Surgeon General 1925 über die Gefahren von Tetraethylblei sprachen sich Yandell Henderson, ein US-amerikanischer Physiologe von der Yale University sowie David Lynn Edsall von der Harvard Medical School gegen die Verwendung von Tetraethylblei aus. Sie prognostizierten eine schleichende Vergiftung durch das emittierte Blei.
Die Unterstützer hingegen nannten Tetraethylblei ein „Geschenk Gottes“, das die knappen Erdölvorräte entscheidend verlängere. Ein Verbot wäre nur gerechtfertigt, wenn ein Beweis einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit vorläge. Die US-amerikanische Bundesregierung hob das Verbot von Tetraethylblei schließlich 1926 wieder auf.
Siegeszug des Tetraethylbleis
Die Entwicklung des modernen und leistungsstarken Motors war weitgehend von der Verfügbarkeit hochwertigen Benzins abhängig. Die Zugabe von Tetraethylblei schien der wirtschaftlichste Weg zu sein, diese hochwertigen Benzine herzustellen, und galt als einer der wichtigsten Fortschritte der Kraftstoff- und Automobilindustrie. Alfred P. Sloan, der 1923 die Nachfolge von Pierre Samuel du Pont als Präsident von GM antrat, nutzte die Verfügbarkeit hochoktaniger Kraftstoffe für den Bau von Automobilen mit höherer Geschwindigkeit und Leistung. Dies erlaubte GM eine stärkere Differenzierung zwischen den Konzernmarken, welche dem Kunden das Erklettern einer „Erfolgsleiter“ erlaubte. Der Kunde fuhr Chevrolet als Einsteigermarke, um dann über Pontiac, Oldsmobile und Buick schließlich zu Cadillac aufzusteigen. Mit dieser Strategie gelang es GM, Ford aus seiner Marktbeherrschung zu verdrängen und zum größten amerikanischen Automobilkonzern aufzusteigen.
Die US-amerikanische Öffentlichkeit feierte Midgleys Entdeckung enthusiastisch, die akademische Welt zeichnete ihn mit der William H. Nichols Medal, der Priestley-Medaille, der Willard Gibbs Medal, der Perkin Medal und zwei Ehrendoktorwürden aus. Die American Chemical Society wählte den Maschinenbauer Midgley, der auch die Fluorchlorkohlenwasserstoffe entwickelt hatte, 1944 zu ihrem Präsidenten. Anlässlich der Überreichung der Perkin Medal an Midgley schrieb die New York Times:
Lizenz an die I.G. Farben
Im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs erlangte Tetraethylblei eine kriegswirtschaftliche Bedeutung. Durch die Zugabe von Tetraethylblei ließ sich Flugzeugbenzin mit einer Oktanzahl von 100 und höher herstellen. Während die Luftwaffe der Wehrmacht bis dahin Kraftstoffe mit 87 bis 90 Oktan eingesetzt hatte, führte die Verwendung hochoktanigen Benzins zu einer signifikanten Verbesserung der meisten kampfbedingten Leistungsfaktoren der Flugzeuge. Dazu gehörten eine erhöhte Motorleistung im Steigflug, ein geringerer Kraftstoffverbrauch sowie eine erhöhte Höchstgeschwindigkeit.
Die I.G. Farben erwarb 1935 eine Lizenz zur Herstellung von Bleitetraethyl, um damit klopffesteres Flugbenzin herstellen zu können. Das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten prüfte den Vorgang und erhob keine Einwände gegen das gemeinsame Unternehmen.
Nach Gründung der Ethyl GmbH durch die I.G. Farben, der Standard Oil of New Jersey und GM wurden zwei Tetraethylblei-Anlagen gebaut und mit der NS-Regierung am 10. Juni 1936 ein Flugbenzinvertrag geschlossen. Eine dieser Tetraethylblei-Anlagen mit einer jährlichen Produktion von 1200 Tonnen entstand 1936 in Gapel, die andere wurde 1938/39 in Frose eröffnet und verfügte über eine Jahresproduktionsmenge von 3600 Tonnen.
Massenmotorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg
Ab den 1950er Jahren stieg mit dem Wirtschaftswunder und der beginnenden Massenmotorisierung die Nachfrage nach hochoktanigem Benzin und damit nach Tetraethylblei in Deutschland und Mittel- und Westeuropa stark an, wobei die Schweiz ein Verbot für dessen Verwendung in Motorenbenzin erst 1947 aufhob. In den Vereinigten Staaten stieg die Anzahl der Automobile pro 1000 Einwohner zwischen 1945 und 1970 von 222 auf 545 und 1980 auf 711 an; der Bedarf an Tetraethylblei stieg dementsprechend an. Deutschland verbrauchte 1983 etwa 4600 Tonnen Blei in Form von Tetraethylblei.
Der Esso-Tiger und der Slogan „Pack den Tiger in den Tank!“, der 1959 erfunden worden war, bewarb in den 1960er und 1970er Jahren mit Tetraethylblei versetztes Benzin von Esso. Die erfolgreiche Kampagne steigerte die Umsätze des Unternehmens erheblich, das Time Magazine erklärte deshalb das Jahr 1964 zum Jahr des Tigers. Zur gleichen Zeit herrschten in der DDR mit maximal zulässigen 0,04 % Tetraethylblei-Gehalt strengere Grenzwerte als in Westdeutschland (0,06 %) und den USA (0,08 %).
Im Zuge der Massenmotorisierung wuchs die Umweltbelastung durch den Automobilverkehr und die damit verbundenen Emissionen von Kohlenstoffmonoxid, Kohlenwasserstoffen, Stickoxiden und Schwefeldioxid. Der durch den Straßenverkehr verursachte Smog in US-amerikanischen Großstädten wie New York City oder Los Angeles führte zu Maßnahmen zur Verringerung der Abgasemissionen. Der dichte Smog in Los Angeles führte zu Gerüchten über einen japanischen Gasangriff. Präsident Lyndon B. Johnson und Mitglieder des Kongresses begannen, Bundesgesetze zur Regulierung der Luftverschmutzung in den Vereinigten Staaten auszuarbeiten, in denen Grenzwerte für die Schadstoffgruppen definiert wurden. Eine Reduktion der Emissionen sollte durch den Einsatz von Drei-Wege-Katalysatoren erreicht werden. Hierzu wiederum war es notwendig, flächendeckend auf Tetraethylblei zu verzichten.
Die Muskie-Anhörungen
Der Senator von Maine, Edmund Muskie, leitete 1966 einen Ausschuss für die Anhörungen zum Clean Air Act, eine US-amerikanische gesetzliche Regelung zur Luftreinhaltung. Muskie legte einen Schwerpunkt der Anhörungen auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Bleiemissionen durch die Verbrennung von verbleitem Benzin. Der damalige Surgeon General of the United States, William Stewart, der operative Leiter des United States Public Health Service, brachte bei der Anhörung seine Besorgnis über den gesundheitlichen Effekt einer Bleiexposition für Kinder und schwangere Frauen zum Ausdruck. Studien zufolge gab es einen Zusammenhang zwischen der Bleiexposition und dem Auftreten einer geistigen Behinderung bei Kindern. Kernpunkt der Anhörung war die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Robert A. Kehoe und Clair Cameron Patterson.
Robert A. Kehoe war der leitende Mediziner der Ethyl Corporation und Direktor des von GM, DuPont und der Ethyl Corporation finanzierten UC Kettering Laboratory of Applied Physiology. Er galt als der führende Experte in Bezug auf die toxikologische Wirkung von Blei. Kehoe hatte den Blutbleigehalt von mexikanischen Bauern untersucht und dabei Werte gefunden, die mit einer US-amerikanischen, innerstädtischen Gruppe vergleichbar waren, obwohl die Bauern kaum dem Einfluss von Bleiemissionen durch Autoabgase ausgesetzt waren. Daraus zog Kehoe die Schlussfolgerung, dass Blei ein natürlicher Bestandteil der Körperchemie sei. Die richtige Erklärung für die erhöhten Blutbleiwerte war jedoch, dass diese Bauern durch bleihaltiges Tongeschirr kontaminierte Nahrung aufnahmen. Kehoe vertrat überdies die Meinung, dass der Mensch im Laufe der Evolution eine biologische Anpassung an Blei erreicht habe. Seine Arbeiten und sein Wirken führten dazu, dass ein System der freiwilligen Selbstregulierung durch die Bleiindustrie als Modell für die Bewertung der Umweltverträglichkeit akzeptiert wurde.
Clair Patterson war ein US-amerikanischer Geochemiker, der die Uran-Blei-Datierung zur Berechnung des Alters der Erde entwickelt hatte und dafür unter anderem mit dem V. M. Goldschmidt Award der Geochemical Society ausgezeichnet wurde. Bei seinen Untersuchungen stellte er fest, dass Blei aus der Umwelt seine Messungen verfälschte und dass aufwändige Methoden zur Kontrolle der Probenkontamination erforderlich waren, um sichere Ergebnisse bei der Bestimmung des Verhältnisses der Blei-Isotopen zu erreichen. Seine Arbeiten zeigten schließlich, dass es seit der Einführung von Tetraethylblei einen starken Anstieg der Umweltbelastung durch Blei gab und dass der natürliche Wert sehr viel niedriger lag. Eine evolutionäre Anpassung an Blei durch den Menschen war damit ausgeschlossen. Patterson zeigte in der Anhörung nicht nur, dass Kehoes Daten falsch waren und dass aufgrund der Bleibelastung eine große Anzahl von Menschen krank seien, sondern er griff auch die Arbeitsweise des Public Health Service an.
Pattersons Auftritt und die Unterstützung durch Senator Muskie veränderte die öffentliche Wahrnehmung in Bezug auf die Gefahren von Tetraethylblei. Das Bewusstsein der Risiken für die öffentliche Gesundheit nahm in der Folge merklich zu. Muskie unterstützte außerdem das von Patterson eingeführte Konzept der Dosis-Wirkungs-Kurve, bei der die akute Bleivergiftung nur ein Punkt eines Spektrums von Reaktionen des menschlichen Organismus auf die Aufnahme von Blei darstellt. Dieses Konzept spielte fortan eine wesentliche Rolle bei der Regulierung von Tetraethylblei in Benzin. Patterson, der als Sieger aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kehoe hervorgegangen war, verlor in der Folge sowohl seinen Vertrag mit dem Public Health Service als auch seinen Vertrag mit dem American Petroleum Institute. Einige Mitglieder des Kuratoriums des California Institute of Technology baten seinen Vorgesetzten um seine Entlassung.
Ausstieg
Die in den 1970er-Jahren eingeführten Drei-Wege-Katalysatoren veränderten die Anforderungen sowohl an die Automobil- als auch die Benzinherstellung. Sie reduzierten die Emissionen von Kohlenwasserstoffen, Kohlenstoffmonoxid und Stickoxiden im Autoabgas, benötigten aber Benzin ohne Zusatz von Tetraethylblei. Ablagerungen von Bleioxiden auf der Katalysatoroberfläche verringerten die Effizienz der Katalysatoren, indem sie die katalytisch aktiven Edelmetalle deaktivierten. Die Einführung der Katalysatoren und die Entwicklung bleifreier Benzine führte zur Einführung gehärteter Ventilsitze durch die meisten Automobilhersteller.
Aufgrund der wissenschaftlichen Belege für die durch Tetraethylblei verursachten Gefährdungen sowohl für die Gesundheit als auch für den Einsatz von Drei-Wege-Katalysatoren erließ die US-Umweltschutzbehörde 1973 Vorschriften zur Reduzierung des Bleigehalts und setzte diese 1976 in Kraft. 1996 wurde verbleites Benzin in den USA gänzlich verboten. Die europäischen und japanischen Umweltschutzbehörden folgten dem US-amerikanischen Vorbild. Ab 1984 wurde bleifreies Benzin an Tankstellen in Deutschland und Österreich angeboten (ab 1985 in der Schweiz), zunächst parallel zu herkömmlichen verbleiten Kraftstoffen. Mit fortschreitender Verbreitung von Katalysatoren, die auf „bleifreies“ Benzin angewiesen sind, war es nach einigen Jahren praktisch überall verfügbar. Verbleites Normalbenzin wurde bereits 1988 in Westdeutschland verboten; das Verbot von verbleitem Superbenzin folgte 1996. Die AK Chemie in Biebesheim am Rhein, eine Tochtergesellschaft der Octel Deutschland, die sich wiederum im Besitz der BP, Caltex, Mobil Oil und der Shell befand, produzierte als einzige Gesellschaft in Deutschland Tetraethylblei; die Firma stellte die Produktion Anfang der 1990er Jahre ein.
Die Europäische Union und die Schweiz verboten verbleites Benzin am 1. Januar 2000. Die EU klassifizierte Tetraethylblei am 19. Dezember 2012 als besonders besorgniserregenden Stoff. Es ist weiterhin als bioakkumulierbarer Stoff und Stoff mit problematischen Umwelteigenschaften eingestuft.
China verbot verbleites Benzin um das Jahr 2001. In anderen Ländern und Regionen kam das Verbot von Tetraethylblei später, im Jahr 2002 verwendeten noch 82 Länder Tetraethylblei als Benzinzusatz. Algerien verwendete als letztes Land Tetraethylblei für Motorenbenzin. Innospec, früher bekannt als Octel Corporation, stellte weltweit als letzter Hersteller Tetraethylblei her und exportierte dieses von Großbritannien nach Algerien.
Im August 2021 wurde in Algerien der weltweit einzige noch verbliebene Vorrat an verbleitem Kfz-Benzin verkauft und der letzte Tropfen vertankt. Seitdem gibt es auf der ganzen Erde keine Tankstelle mehr, die noch verbleites Benzin für Kraftfahrzeuge anbietet.
Die US-amerikanische NASCAR-Rennserien setzten bis 2008 mit einer Ausnahmegenehmigung verbleites Benzin mit 110 Oktan ein. Für Kleinflugzeuge wird unter der Bezeichnung AvGas weiterhin bleihaltiges Benzin angeboten und verwendet. Laut der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA stellt AvGas damit die größte Quelle für Bleiemissionen. Zwar werden hochverbleite AvGas-Varianten nicht mehr angeboten, aber AvGas 100LL mit einer Oktanzahl von 100 und einem Bleigehalt von 0,56 Gramm Blei pro Liter wird als Flugkraftstoff bundesweit für den Betrieb von Flugzeugen mit Hubkolbenmotor vertrieben. In der Schweiz und Österreich ist AvGas 100LL ebenfalls die Standardqualität für Flugbenzin.
Herstellung
Die ausgezeichnete Wirksamkeit von Tetraethylblei als Antiklopfmittel und seine Verwendung als Benzinadditiv ab 1923 führten zu einer enormen Anzahl von Studien über seine Syntheseverfahren und die industrielle Produktion. Die industrielle Produktion erfolgte vorwiegend auf einer Variante des schon von Löwig angewendeten Synthesewegs über eine Blei-Natrium-Legierung sowie über ein elektrochemisches Verfahren.
Industrielle Herstellung
Die industrielle Herstellung von Tetraethylblei erfolgt durch eine Fest-Flüssig-Reaktion einer Natrium-Blei-Legierung mit Chlorethan bei einer Temperatur von 50 bis 75 °C, nach Charles August Kraus und Conrad C. Callis auch Kraus-Callis-Prozess genannt. Das Blei wird dazu mit 10 % Natrium unter einem Schutzgas geschmolzen. Die Legierung wird mechanisch auf eine Korngröße von 5 bis 6 Millimetern zerkleinert und mit Chlorethan in einem Autoklav bei rund 50 bis 75 °C zur Reaktion gebracht. Um einen Druckanstieg im Autoklav zu vermeiden muss das verwendete Chlorethan frei von Verunreinigungen wie Vinylchlorid sein. Aluminiumchlorid dient als Katalysator. Bei einem Ansatz mit 1350 Kilogramm der Blei-Natrium-Legierung und 590 Kilogramm Chlorethan bilden sich rund 400 Kilogramm Tetraethylblei. Die Reaktionsdauer beträgt bei einer solchen Chargengröße etwa 8 Stunden.
4 PbNa + 4 C2H5Cl -> (C2H5)4Pb + 4 NaCl + 3 Pb
Tetraethylblei wird anschließend mittels Wasserdampfdestillation abdestilliert und getrocknet. Das anfallende metallische Blei wird mit Natrium wieder zu einer Blei-Natrium-Legierung umgesetzt. Die Ausbeute beträgt zirka 88 %, bezogen auf Natrium. Typische Nebenprodukte sind Kohlenwasserstoffe wie Butan, die durch Natrium-induzierte Kupplungsreaktionen entstehen.
2 C2H5Cl + 2 Na -> C4H10 + 2NaCl
In der Patentliteratur sind unter anderem Essigsäureethylester, Wasser sowie verschiedene sauerstoffhaltige Kohlenwasserstoffe als Promotoren angegeben. Da die Reaktion möglicherweise eine Reduktionsstufe beinhaltet, könnten diese Stoffe als Wasserstofflieferanten dienen.
Etwa 60 % der US-amerikanischen Produktion von metallischem Natrium sowie 85 % der von Chlorethan wurde für die Synthese von Tetraethylblei nach diesem Verfahren verwendet. In Europa entfiel 65 % der Chlorethanproduktion auf dieses Verfahren. Einhergehend mit dem Verbot von bleihaltigem Benzin sank der Bedarf an metallischem Natrium und Chlorethan signifikant.
Der Nalco-Prozess lieferte ebenfalls Tetraethylblei im technischen Maßstab. Dabei erfolgte die Elektrolyse einer Lösung eines Ethylmagnesiumgrignardreagenz und einem Ethylhalogenid an einer Blei-Anode und einer Magnesium-Kathode. Die bei der Anodenreaktion gebildeten Alkylradikale reagieren mit dem Elektrodenmaterial zu Tetraethylblei. Die Gesamtreaktion ist:
2 CH3CH2MgCl + 2 CH3CH2Cl + Pb -> (CH3CH2)4Pb + 2 MgCl2
Nalco begann mit der Produktion 1964 und besaß in den 1970er-Jahren einen Marktanteil von 11,8 %. Den restlichen Markt teilten sich die Ethyl Corporation (33,5 %), DuPont (38,4 %) sowie PPG Industries (16,2 %).
Andere Darstellungswege
Die Darstellung von Tetraethylblei erfolgt meist durch oxidative Addition an metallisches Blei oder an Blei(II)-Verbindungen unter anschließender Disproportionierung. Die Verwendung von Blei(IV)-Verbindungen zur Synthese ist ebenfalls möglich.
Die Umsetzung von Blei(II)-chlorid mit einer Ethylgrignard-Verbindung führt zum instabilen Zwischenprodukt Diethylblei:
2 PbCl2 + 4 (C2H5)MgCl -> 2 (C2H5)2Pb + 4 MgCl2
Dieses reagiert durch Disproportionierung zum Tetraethylblei und elementarem Blei:
2 (C2H5)2Pb -> (C2H5)4Pb + Pb
Als Nebenprodukt fällt Hexaethyldiblei an.
(C2H5)3Pb-Pb(C2H5)3
Die Darstellung von Tetraethylblei gelingt über die Umsetzung von Blei(IV)-chlorid mit Grignard-Verbindungen oder mit Triethylaluminium. Aufgrund der instabilen Natur von Blei(IV)-chlorid ist dies kein gängiges Verfahren.
PbCl4 + 4 (C2H5)MgCl -> (C2H5)4Pb + 4 MgCl2
3 PbCl4 + 4 Al(C2H5)3 -> 3 (C2H5)4Pb + 4 AlCl3
Tetraethylblei bildet sich ebenfalls durch Reduktion von Bromethan an Blei-Kathoden in Propylencarbonat-Lösungen mit Tetraalkylammoniumsalzen als Leitelektrolyten.
Durch die Reaktion von Diethylzink mit Blei(II)-chlorid kann ebenfalls Tetraethylblei hergestellt werden.
2 PbCl2 + 2 (C2H5)2Zn -> (C2H5)4Pb + Pb + 2 ZnCl2
Tetraethylblei lässt sich durch Salzmetathese von Triethylbleichlorid unter Austausch der Chlorid- und Ethylliganden gewinnen.
2 (C2H5)3PbCl -> (C2H5)4Pb + (C2H5)PbCl2
Durch Hydroplumbierung, etwa der Umsetzung von Triethylplumban mit Ethen, lässt sich ebenfalls Tetraethylblei herstellen. Triethylplumban ist eine unstabile Verbindung, die sich durch die Umsetzung von Triethylbleichlorid mit Natriumborhydrid gewinnen lässt.
(C2H5)3PbCl + Na(BH4) -> (C2H5)3PbH + NaCl + BH3
(C2H5)3PbH + C2H4 -> (C2H5)4Pb
Die Darstellung von Tetraethylblei kann weiterhin durch die Umsetzung von Blei(II)-chlorid mit Ethyllithium zum Triethylbleilithium und anschließender Umsetzung mit Chlorethan erfolgen.
PbCl2 + 3 C2H5Li -> (C2H5)3PbLi + 2 LiCl
(C2H5)3PbLi + C2H5Cl -> (C2H5)4Pb + LiCl
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Tetraethylblei ist eine farblose, ölige, flüchtige Flüssigkeit mit einer Dichte von 1,653 g cm³ bei 20 °C. Der Schmelzpunkt liegt bei −136 °C und der Siedepunkt bei 200 °C (unter Zersetzung), der Flammpunkt liegt bei etwa 80 °C. Die molare Masse beträgt 323,45 g·mol−1. Die Viskosität beträgt 2,2899·10−2 Pas−1 bei −48,15 °C.
Die Beobachtungen des Schmelzpunkts von Tetraethylblei zeigten, dass die Verbindung in mindestens sechs verschiedenen Formen kristallisieren kann, wobei deren Schmelzpunkte in einem Bereich von wenigen Grad liegen. Es wird vermutet, dass die ungewöhnliche Polymorphie von Tetraethylblei auf die Größe des Zentralatoms zurückzuführen ist, die den Ethylgruppen eine Form der Rotationsisomerie erlaubt.
Molekulare Eigenschaften
Die Kohlenstoff-Blei-Bindung ist eine rein kovalente σ-Bindung. Blei ist in organischen Verbindungen sp3–hybridisiert, die Ethylliganden sind tetraedrisch am Zentralatom angeordnet. Die Länge der Pb–C–Bindung beim Tetraethylblei beträgt 229 Picometer (pm), die Dissoziationsenergie 226 Kilojoule pro Mol (kJ/mol).
Chemische Eigenschaften
Tetraethylblei ist in vielen organischen Lösungsmitteln löslich, aber kaum löslich in verdünnten Säuren oder Laugen. Die Löslichkeit in Wasser beträgt 0,29 mg/l bei 25 °C. Da die vier Ethylgruppen tetraedrisch um das Bleiatom angeordnet sind, fallen der positive (Pb) und die addierten negativen Ladungsschwerpunkte (C2H5) zusammen. Da das Molekül zudem ungeladen ist, ist es unpolar und somit lipophil. Daraus resultieren seine gute Löslichkeit in unpolaren und sehr schlechte Löslichkeit in polaren Lösungsmitteln, zum Beispiel Wasser.
Während viele rein anorganische Bleisalze in der Oxidationsstufe II vorliegen, überwiegt in der Chemie der Alkylbleiverbindungen die Oxidationsstufe IV. Alkylbleiverbindungen der Oxidationsstufe II disproportionieren leicht in metallisches Blei und Blei(IV)-Alkyle.
Tetraethylblei brennt mit einer orangefarbenen Flamme, die an den Rändern hellgrün gefärbt ist. Es reagiert heftig bei der Zugabe von Iod und Brom. Die Chemie wird durch die schwache Pb-C-Bindung dominiert. Durch Pyrolyse von Tetraethylblei bei niedrigen Drücken in einem Inertgasstrom in einer Glasröhre konnten freie Ethylradikale nachgewiesen werden. Dazu wurden die Ethylradikale mit einem Bleispiegel, der zuvor auf dem kalten Teil einer Glasröhre abgeschieden wurde, zu Tetraethylblei umgesetzt. Diese Umsetzung gilt als der erste Nachweis der Existenz einfacher aliphatischer freier Radikale.
Die Behandlung des Tetraethylbleis mit Silbernitrat in Essigsäureethylesterlösung, gefolgt von der Zugabe von wässrigem Kaliumhydroxid führt zur Bildung von Bis-triethylbleioxid ([(C2H5)3Pb]2O). An Luft reagiert dieses unter Aufnahme von Kohlenstoffdioxid zu Bis-triethylbleicarbonat. Die Reaktion von Tetraethylblei mit Salzsäure oder wässriger Kaliumbromidlösung führt zur Bildung der Triethylbleihalogenide (C2H5)3PbCl oder (C2H5)3PbBr als kristalline Feststoffe. Mit trockenem Schwefeldioxid reagiert Tetraethylblei in inerten Lösungsmitteln unter Insertion von SO2 in die Pb-C-Bindung zu Organobleisulfinaten.
(C2H5)4Pb + SO2 -> (C2H5)3PbO(O)SC2H5
Tetraethylblei bildet mit Octakis(3,4-dimethylphenylthio)naphthalen Einschlusskomplexe. Die Kristallstrukturanalyse des Tetraethylblei-Addukts zeigt, dass das Addukt in der kubischen Raumgruppe kristallisiert, wobei die Ethylgruppen des Tetraethylbleis stark ungeordnet sind.
Verwendung
In den 1950er-Jahren war eine Lösung names „Ethylfluid“ auf dem Markt. Dieses bestand aus Tetraethylblei (54,6 %), 1,2-Dibromethan (36,4 %), einem blauen Anthrachinonfarbstoff (0,01 %) sowie „Halowachsöl“, 1-Chlornaphthalin, 9 %, welches als Schmierstoff für die Kolbenringe gedacht war. Das 1,2-Dibromethan war zum Teil durch 1,2-Dichlorethan ersetzt. Die Produktionsmenge Tetraethylblei betrug 1937 bereits 30.000 Tonnen, womit etwa 64 Millionen Liter Benzin verbleit wurden, bei einer Oktanzahlerhöhung von 5 Punkten. Die damit verbundene Einsparung betrug annähernd 2,8 Millionen Liter Benzin. Das später entwickelte „TEL Motor 33 Mix“ enthielt etwa 57,5 % Tetraethylblei, 17,6 % Dichlorethan, 16,7 % Dibromethan, 7,0 % (Methylcyclopentadienyl)mangantricarbonyl, 1,2 % Farbstoff sowie Lecithin oder 4-tert-Butylphenol als Antioxidanzien.
Antiklopfmittel für Motorenbenzin
Der Wirkungsgrad eines Ottomotors nimmt mit zunehmendem Verdichtungsverhältnis zu. Die Verdichtung lässt sich jedoch durch das Auftreten des Motorklopfens nicht beliebig steigern. Das Klopfen tritt während der Verbrennung, am Ende des Verdichtungs- und zu Beginn des Arbeitstaktes nach der Zündung durch den Zündfunken auf; durch die Zündung breitet sich im Brennraum eine Flammenfront aus, die normalerweise das gesamte Gemisch kontrolliert entzündet. Beim Klopfen werden die sogenannten Endzonen des Gemisches durch die Flammfront so sehr Wärme und Druck ausgesetzt, dass sie sich von selbst entzünden, ehe sie von der Flammfront erreicht werden. Die daraus resultierende, annähernd isochore Verbrennung des Restgases führt zu steilen Druckgradienten, die sich als Druckwellen im Brennraum verbreiten und zu einem als Klopfen beziehungsweise Klingeln bezeichneten Geräusch führen. Die beim Klopfbetrieb auftretenden Druckwellen können zu Materialschäden führen; die starken thermischen Belastungen können das Metall von Zylinder und Kolben stellenweise zum Schmelzen bringen.
Bei der Verbrennung von Tetraethylblei entstehen Bleioxidpartikel, die eine fein verteilte heterogene Oberfläche bieten. Hydroperoxidradikale, die auf dieser Oberfläche adsorbiert werden, können nicht mehr an radikalischen Kettenreaktionen teilnehmen. Die dadurch erniedrigte Reaktionsgeschwindigkeit reicht aus, um die Selbstentzündung des bis dahin unverbrannten Gemischanteils zu unterdrücken und das Klopfen zu beseitigen.
Von den 1920er-Jahren bis Anfang der 1960er-Jahre diente Tetraethylblei als Oktanzahlverbesserer für Benzine, das sogenannte „Bleibenzin“. Nachdem in den 1960er-Jahren die technischen Probleme bei der Herstellung von Tetramethylblei überwunden waren, wurde diese bleiorganische Verbindung ebenfalls in Mischung mit Tetraethylblei eingesetzt, typischerweise im Verhältnis 1 : 1. Alternativ können durch katalytische Ligandensubstitution der Alkylgruppen zwischen Tetraethylblei und Tetramethylblei gemischte Methyl-Ethyl-Bleiverbindungen synthetisiert werden. Diese wurden etwa unter dem Namen „Lead Mix 75“ vertrieben, einem Produkt der Ligandensubstitution von 75 Mol. % Tetramethylblei und 25 Mol. % Tetraethylblei.
mit n = 1 bis 3
Die Siedepunkte der Tetraalkylbleiverbindungen liegen zwischen 110 °C für Tetramethylblei und 200 °C für Tetraethylblei. Dies erlaubte die gezielte Verbesserung der Klopffestigkeit bestimmter Siedefraktionen. Benzin enthält annähernd 200 verschiedene aromatische und aliphatische Kohlenwasserstoffe unterschiedlicher Struktur und Molekülmasse, vom leichtflüchtigen Butan bis zu Aromaten mit zwölf Kohlenstoffatomen je Molekül. Die Flüchtigkeit der verschiedenen Komponenten beeinflusst die Tauglichkeit eines Kraftstoffs und muss der Jahreszeit entsprechend eingestellt werden. Die Anteile der verschiedenen Siedefraktionen lassen sich mittels Siedeanalyse bestimmen. Der unter 70 °C verdampfende Anteil bildet mit Luft leicht ein brennbares Gemisch und begünstigt das Kaltstartverhalten. Ein zu hoher Anteil an Leichtsiedern könnte im Sommer dagegen zu Dampfblasen im Kraftstoffsystem führen. Aufgrund ihrer den Siedefraktionen angepassten Siedetemperatur ergeben die gemischten Tetraalkylbleiverbindungen häufig eine bessere Klopffestigkeit als Mischungen von Tetramethyl- und Tetraethylblei.
Es zeigte sich schnell, dass der Einsatz von Tetraethylblei zu Ablagerung von Bleioxiden an Motorventilen und Zündkerzen führte. Daraufhin begann die Suche nach Additiven, welche die Bleioxide aus dem Motor entfernen konnten. Thomas Alwin Boyd stellte fest, dass 1,2-Dibromethan bei Zugabe zu dem Tetraethylblei enthaltenden Kraftstoff die Bildung von bleihaltigen Ablagerungen verhinderte. Das 1,2-Dibromethan reagierte mit den schwerflüchtigen Bleioxidkomponenten zu niedrigschmelzenden Bleihalogeniden wie etwa Blei(II)-bromid, das einen Schmelzpunkt von 373 °C aufweist. Dieses wird als Teil des Abgases emittiert.
Schon das erste verkaufte bleihaltige Benzin enthielt bromierte organische Verbindungen, die als „Scavenger“, Spülmittel, bezeichnet wurden. Diese wurden dem Benzin zunächst zusammen mit chlorierten organischen Verbindungen wie Tetrachlorkohlenstoff zugesetzt. 1-Chlornaphthalin wurde zeitweise verwendet. Seit den 1940er-Jahren wurde 1,2-Dichlorethan als Scavenger eingesetzt. Für Motorenbenzin wird ein Molverhältnis von Pb : Cl : Br von 1 : 2 : 1 angestrebt.
Die Ethyl Corporation entwickelte 1957 mit (Methylcyclopentadienyl)mangantricarbonyl (MMT) ein weiteres Antiklopfmittel auf Metallbasis. Dieses wurde ab den 1970er-Jahren, vor allem in den Vereinigten Staaten und Kanada, dem Benzin als Verstärker für Tetraethylblei zugesetzt. Die zugesetzten Mengen bewegten sich im Bereich von 8,3 Milligramm Mangan pro Liter für Motorenbenzin in den USA. In Kanada hatte das Benzin einen Durchschnittsgehalt von 12 Milligramm Mangan pro Liter.
Nach dem Verbot von Tetraethylblei in Kanada wurde dieses zwischen 1990 und 2003 vollständig von MMT als Antiklopfmittel ersetzt. In Kanada verzichteten die Raffinerien ab 2003 freiwillig auf die Verwendung von MMT. Kalifornien verbot 1976 Manganzusätze im Benzin, Neuseeland 2002, in Japan wurde es nicht verwendet. In Deutschland war die Verwendung anderer Metallverbindungen und damit auch die von (Methylcyclopentadienyl)mangantricarbonyl durch das Benzinbleigesetz verboten.
Schutz der Ventilsitze
Die durch die Verbrennung von Tetraethylblei entstehenden Bleioxide lagern sich zwischen Ventil und Ventilsitz ab und dämpfen damit die mechanische Belastung und den Verschleiß der Ventilsitze. Bei Fahrten unter längeren, schweren Fahrbedingungen ist eine Schädigung des Ventilsitzes durch die Verwendung von bleifreiem Benzin in Motoren ohne gehärtete Ventilsitze möglich. Unter normalen Fahrbedingungen tritt diese Schädigung nicht auf.
Antiklopfmittel für Flugbenzin
In Flugbenzin ist Tetraethylblei immer noch ein legaler Zusatz und wird von Flugzeugen mit Ottomotor verwendet. Weltweit wird überwiegend die Sorte AvGas 100 LL mit einem Bleigehalt von 0,56 g Blei pro Liter verwendet. Die US-amerikanische Environmental Protection Agency schätzt, dass Avgas 2019 die Quelle für etwa 60 % der Blei-Aerosole in den Vereinigten Staaten war. Da sowohl die bleihaltigen als auch die bleifreien Benzine dieselben Rohrleitungen in einer Erdölraffinerie nutzen, ist eine Menge von 0,013 Gramm im Liter, gemessen bei +15 °C, für dadurch kontaminierte Motorenbenzine zulässig. Flugzeugbenzin enthält nur 1,2-Dibromethan als Scavenger, das Molverhältnis von Blei zu Brom beträgt hier 1 : 2.
Andere Anwendungen
Die metallorganische chemische Gasphasenabscheidung von Tetraethylblei und Tetraisopropylorthotitanat wurde zur Herstellung von phasenreinen Perowskit-Bleititanat (PbTiO3)-Dünnfilmen auf Quarzglas- und Platin-beschichteten Aluminiumoxidsubstraten angewendet. Bleititanat ist eine technologisch wichtige Keramik, die beim Erreichen der Curie-Temperatur von 447 °C ferroelektrisch wird und eine tetragonale Struktur annimmt. Dieselbe Technik lässt sich zur Herstellung von Bleizirkonattitanatfilmen (PbZrxTi1−xO3) mit ausgezeichneten ferroelektrischen Eigenschaften verwenden.
Weitere technische Anwendungen von Tetraethylblei sind aufgrund seiner Giftigkeit nicht bekannt. Der Einsatz von Tetraethylblei wurde bei Reaktionen erwogen, bei denen Ethylradikale typische Radikalreaktionen induzieren, etwa für die radikalische Polymerisation von Ethen. Im Labormaßstab kann Tetraethylblei für metallorganische Reaktionen wie die Ligandensubstitution eingesetzt werden. Die Synthese von Ethylarsindichlorid kann durch Umsetzung von Tetraethylblei mit Arsen(III)-chlorid erfolgen.
(C2H5)4Pb + 3 AsCl3 -> 3 (C2H5)AsCl2 + C2H5Cl + PbCl2
Die Verwendung von Tetraethylblei zur Herstellung von Alkylquecksilberverbindungen, die als Fungizide und Beizmittel eingesetzt werden, ist ebenfalls bekannt. Der Einsatz von Tetraethylblei wurde in der Kohleverflüssigung durch direkte Hydrierung untersucht. Dabei wurde fast die gesamte Kohle in destillierbare Öl- und Gasfraktionen umgewandelt.
Umweltrelevanz
Umweltverschmutzungen durch Tetraethylblei entstehen durch die Bodenkontamination mit bleihaltigem Benzin, mit Tetraethylblei selbst sowie mit Scavengern wie 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan. Durch die Havarie des jugoslawischen Frachtschiffs „Cavtat“ versanken 1974 etwa 320 Tonnen Tetraethylblei und Tetramethylblei in 900 Fässern in der italienischen Adria bei Otranto. Taucher einer auf Havarien spezialisierten Firma bargen die Fässer später. Tetraethylblei verbrennt im Motor zu Bleioxochlorid und Bleioxobromid und anderen Bleiverbindungen. Etwa 75 % des Bleis wird an die Umgebung emittiert, ein Teil lagert sich am Abgaskrümmer und dem Auspuff ab.
Tetraethylblei war weltweit die Hauptquelle für die Bleikontamination der Umwelt. Die Analyse der Bleikonzentration in den grönländischen Eisschichten zeigte, dass die Bleikonzentrationen nach 1940 verglichen mit den Werten von 800 vor Christus um das Zweihundertfache angestiegen ist. Geringere Konzentrationsanstiege zwischen dem 5. Jahrhundert vor Christus und dem 3. Jahrhundert nach Christus lassen sich auf die römische Bleiverarbeitung zurückführen.
Es wird geschätzt, dass zwischen 1926 und 1985 in den Vereinigten Staaten über sieben Millionen Tonnen Blei dem Benzin als Tetraalkylblei zugesetzt, verbrannt und als Bleioxidpartikel emittiert wurden. Allein in New Orleans lagerten sich etwa 10.000 Tonnen Blei ab, vor allem in der Nähe von vielbefahrenen Straßen. Mit Blei kontaminierter Boden bleibt eine saisonale Quelle der Blei-Exposition. Mit abnehmender Bodenfeuchtigkeit im Sommer und Herbst werden Blei-kontaminierte Stäube aufgewirbelt und eingeatmet.
Zum Teil wurde spekuliert, dass das Waldsterben auf die toxische Wirkung des Triethylblei-Ions als Abbauprodukt von nicht vollständig verbranntem verbleiten Benzin zurückzuführen ist. Die Vermutung ließ sich jedoch nicht bestätigen.
Emittiertes Blei gelangt aus der Umwelt über die Kontamination von Lebensmittel und der Nahrungsaufnahme wieder in den menschlichen Körper. So lagen 2005 die Bleikonzentrationen von getesteten Kakao- und Schokoladenprodukten bei 230 beziehungsweise 70 Nanogramm pro Gramm. Die Kontamination der Produkte wurde auf die Emissionen durch die Verbrennung von Tetraethylblei zurückgeführt, welches 2005 in den Kakaoanbaugebieten wie Nigeria noch als Antiklopfmittel verwendet wurde. Die Kontamination erfolgte nicht nur beim Anbau, sondern in der gesamten Verarbeitungskette der Schokoladenprodukte. Hohe Bleikonzentrationen in Produkten, die vorwiegend an Kinder vermarktet werden, sind aufgrund der Anfälligkeit von Kindern für Bleivergiftungen besonders bedenklich. Der von der Codex-Alimentarius-Kommission vorgeschlagene maximal zulässige Bleigehalt beträgt nur 0,1 Nanogramm pro Gramm für Kakaobutter.
Die Bodenkontamination mit bleihaltigen Benzin erfolgt etwa durch Leckagen von Untergrundtanks. In den 1960er-Jahren gab es in den Vereinigten Staaten mehr als 200.000 Tankstellen, von denen im Laufe der Jahre viele aufgegeben wurden. Viele dieser Tankstellen besaßen mehrere Untergrundtanks. Leckagen treten bei alten Untergrundtanks recht häufig auf, laut der Environmental Protection Agency sind in den Vereinigten Staaten mehr als 400.000 Freisetzungen von verbleiten Benzin aktenkundig.
Bei der Verbrennung der Scavenger entsteht unter anderem auch Brommethan. Brommethan unterliegt in der Atmosphäre leicht der Photolyse, wobei Bromradikale freigesetzt werden, die für den Abbau des stratosphärischen Ozons verantwortlich sind. Als solches unterliegt es den Ausstiegsanforderungen des Montrealer Protokolls über Ozon abbauende Substanzen.
Durch die Verbrennung von chlorierten Scavengern ist die Entstehung und die Emission von polychlorierten Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen möglich. Aufgrund der Vielfalt und Anzahl der Fahrzeuge, deren technischer Ausstattung und die Schwierigkeiten beim Nachweis unter verschiedenen Umweltbedingungen ist die Höhe der Emissionen jedoch unklar. Bei Tests unter kontrollierten Bedingungen konnten verschiedene polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane im Motoröl nachgewiesen werden.
Toxikologie
Blei ist ein natürlicher Bestandteil der Erdkruste, der durchschnittliche Gehalt beträgt etwa 0,0018 %. Bleiverbindungen sind oft schon in geringer Menge giftig; Blei ist ein kumulatives Nervengift mit schwerwiegenden negativen Auswirkungen auf das Nerven-, Kreislauf-, Fortpflanzungs-, Nieren- und Verdauungssystem, wobei erst bei der Überschreitung eines Schwellenwerts Symptome auftreten. Seine Toxizität war bereits in vorchristlicher Zeit bekannt und dokumentiert. So berichtete der griechische Arzt und Dichter Nikandros aus Kolophon um 250 vor Christus über Koliken und Anämien durch Bleivergiftungen. Pedanios Dioskurides beschrieb im ersten Jahrhundert nach Christus die neurotoxischen Eigenschaften von Blei, wobei er feststellte, dass „durch Blei der Verstand nachlässt“.
Die Römer verwendeten Blei und seine Verbindungen vielfältig. Sie setzten Bleipressen bei der Weinherstellung ein und konservierten Wein mit Defrutum, einem Traubensaftkonzentrat, das in Bleigefäßen eingekocht wurde. Sie benutzten bleihaltiges Geschirr und die Aquädukte waren zum Teil mit Blei ausgekleidet. Die neurotoxischen Effekte der daraus resultierenden Bleibelastung leisteten mutmaßlich einen Beitrag zum Niedergang des Römischen Reiches.
In späteren Jahrhunderten waren vor allem bestimmte Berufsgruppen von Bleivergiftungen betroffen, wie Maler, Schriftsetzer oder Beschäftigte in der Keramikindustrie. Diese Berufsgruppen nahmen das Blei durch Einatmen von bleihaltigem Staub oder durch den Verzehr von mit Blei verunreinigten Lebensmitteln auf. Durch die Einführung von Tetraethylblei als Antiklopfmittel im Jahr 1922 erreichten die Bleiemissionen eine neue Größenordnung. In etwas mehr als sieben Jahrzehnten verteilten Fahrzeuge in aller Welt mehrere Millionen Tonnen Blei, insbesondere in Städten und entlang von Hauptstraßen. Die britische Tageszeitung The Guardian nannte 2018 die Verwendung von Tetraethylblei in Motorenbenzin „das mit Sicherheit größte Massenvergiftungsexperiment aller Zeiten“.
Vergiftungen mit Tetraethylblei
Tetraethylblei ist hochgiftig, die Aufnahme weniger Milliliter reicht aus, um eine schwere Vergiftung beim Menschen auszulösen. Aufgrund seiner Lipophilie kann Tetraethylblei die Blut-Hirn-Schranke leicht überwinden und sich im limbischen System, im Frontallappen und im Hippocampus ansammeln und eine akute Vergiftung verursachen. Die Letale Dosis für Tetraethylblei wurde im Tierversuch bei der Ratte bei intragastrischer Applikation mit 14,18 mg/kg bestimmt.
Vergiftungen treten beispielsweise durch Hautresorption, das Verschlucken oder infolge der Einatmung auf, etwa bei der Herstellung von Tetraethylblei, beim unsachgemäßen Umgang mit bleihaltigem Benzin oder durch Benzinschnüffeln. Die Vergiftung mit Tetraethylblei verläuft gegenüber einer normalen Bleivergiftung meist akut und greift das Zentralnervensystem an.
Die Symptome einer Tetraethylbleivergiftung sind unter anderem ein Abfall des Blutdrucks und der Körpertemperatur, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Bewegungsdrang, Überempfindlichkeit gegenüber auditorischen und taktilen Reizen, Appetitlosigkeit, Zittern, Halluzinationen, Psychosen und starke Aggressivität. Außerdem verursacht es einen starken Niesreiz.
Tetraethylblei wird in der Leber zum Triethylbleiion ((C2H5)3Pb+) gespalten, und danach weiter zum Diethylbleiion ((C2H5)2Pb2+), und ionischem Blei (Pb2+) metabolisiert. Die eigentliche toxische Spezies ist das Triethylbleiion. Im Tierversuch wandelte sich nach 24 Stunden etwa die Hälfte des Tetraethylbleis zu diesem um. Der Körper scheidet das Blei über den Urin als Diethylbleiion und über den Kot als anorganisches Blei aus. Bleitetraethyl im unverbrannten Kraftstoff kann durch unkontrolliertes Verdampfen oder den nicht verwendungsgemäßen Gebrauch des Kraftstoffs zu Vergiftungen führen.
Vergiftungen über Partikel
Die durch die Verbrennung von verbleitem Benzin erzeugte Belastung durch Bleioxid- und Bleihalogenidpartikel löst normalerweise keine unmittelbare Bleivergiftung aus. Das mit den Kraftfahrzeugabgasen emittierte Blei wird unmittelbar mit der Atemluft oder über Hautstaub und Nahrungsmittel aufgenommen. Bei Erwachsenen wird anorganisches Blei zu über 90 % in den Knochen gespeichert, die Halbwertszeit beträgt ungefähr 30 Jahre.
Eine Reduzierung der Bleiemissionen aus Kraftfahrzeugen wirkt sich damit deutlich auf die Verringerung der Bleibelastung der Bevölkerung aus. Die toxische Wirkung von Blei beruht, soweit heute bekannt, auf der Inaktivierung verschiedener Enzyme. Daraus folgt eine Hemmung der Blutfarbstoffsynthese oder eine direkte Schädigung roter Blutkörperchen. Mit erhöhten Bleibelastungen sind Anämien sowie Schädigungen der Lungenreinigungsfunktion und verschiedener Stoffwechselprozesse in Verbindung zu bringen. Insbesondere wurden bei entsprechend hohen Bleibelastungen Funktionsstörungen im zentralen Nervensystem bei Kindern beobachtet, die zum Teil irreversibel sind.
Der durchschnittliche Blutbleigehalt US-amerikanischer Kinder lag 2013 bei 1,2 Mikrogramm pro Deziliter (µg/dl). In den Jahren 1976 bis 1980 lag der Durchschnittswert noch bei 15 μg/dl. Die Centers for Disease Control and Prevention legten 2012 einen Schwellenwert für den Blutbleigehalt von 5 μg/dl fest und halbierten damit das bis dahin geltende Interventionsniveau. Als weitere Quellen für Bleikontaminationen wurde in den Vereinigten Staaten 1978 Blei in Anstrichmitteln, 1986 für Wasserleitungen und 1995 als Bestandteil des Lötzinns für Konservendosen verboten. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) haben ihre Kriterien für den Grenzwert der Bleikonzentration im Blut eines Kleinkindes, gemessen in Mikrogramm Blei pro Deziliter Blut, am 28. Oktober 2021 von 5 µg/dL auf 3,5 µg/dL gesenkt. Die Änderung gilt für Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren und könnte die Zahl der Kinder in dieser Altersgruppe, bei denen ein hoher Bleigehalt im Blut festgestellt wird, von etwa 200.000 auf etwa 500.000 verdoppeln. Kinder mit sehr hohen Bleiwerten im Blut können möglicherweise eine Chelattherapie erhalten, um einen Teil des Bleis zu entfernen.
Bei Kindern im Vorschulalter wurde das Verhältnis der Bleiblutspiegel zu den kognitiven Fähigkeiten ermittelt. Obwohl die Bleigehalte unter den Kriterien für eine Bleivergiftung lagen, ergaben statistische Analysen, dass es eine Korrelation zwischen zunehmendem Bleigehalt und der Abnahme der allgemeinen kognitiven, verbalen und Wahrnehmungsfähigkeiten bestand.
Kanzerogenität
Studien in den 1970er-Jahren verneinten einen Zusammenhang zwischen Bleiexposition und Krebssterblichkeit beim Menschen. Spätere Untersuchungen in Bezug auf die Exposition gegenüber Autoabgasen zeigten jedoch, dass Personen, die in der Nähe einer viel befahrenen Straße lebten, ein höheres Krebsrisiko aufwiesen als Personen, die in einer verkehrsarmen Umgebung lebten. Diese Ergebnisse führten zu dem Verdacht, dass ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Krebs und den emittierten Bleipartikeln besteht, womöglich in Kombination mit anderen krebserregenden Substanzen.
Neuere Studien bejahen einen epidemiologischen Zusammenhang zwischen Bleiexposition und Krebsrisiko beim Menschen, wobei Blei allein möglicherweise nicht notwendig und ausreichend für die Auslösung von Krebs ist. Obwohl die biochemischen und molekularen Wirkungsmechanismen von Blei noch unklar sind, kann Blei mutmaßlich die beteiligten karzinogenen Ereignisse verstärken. Die Internationale Agentur für Krebsforschung stufte Blei mittlerweile als mögliches menschliches Karzinogen (Gruppe 2B) und seine anorganischen Verbindungen als wahrscheinlich menschliches Karzinogen (Gruppe 2A) ein.
Einfluss auf Kriminalitätsrate und den Intelligenzkoeffizienten
Verschiedene Studien kamen zu der Schlussfolgerung, dass eine Bleiexposition in der Kindheit zu aggressivem und kriminellem Verhalten führen kann. Untersuchungen in Chicago, Indianapolis, Minneapolis und anderen US-amerikanischen Großstädten zeigten einen engen statistischen Zusammenhang zwischen der Bleiexposition in der Kindheit und schwerer Körperverletzung mit einem zeitlichen Verzug von etwa 23 Jahren. Obwohl die Befunde uneinheitlich sind, sprechen sie für eine Auswirkung der Bleiexposition auf Mordraten. Es scheint, dass das stufenweise Verbot von bleihaltigem Benzin ab den späten 1970er-Jahren im Zusammenhang mit einem Rückgang der Gewaltkriminalität ab den 1990er-Jahren steht. Andere Untersuchungen fanden einen statistischen Zusammenhang zwischen der Bleiexposition in der Kindheit und dem Ausmaß, der Art und den Auswirkungen der Gewaltkriminalität in den Vereinigten Staaten mit den Daten des Uniform-Crime-Reporting-Programms (UCR), jedoch nicht mit den Daten des National Crime Victimization Surveys (NCVS).
Einige Soziologen sahen im Anstieg der Kriminalitätsrate seit Beginn der 1960er-Jahre den Beginn einer Umkehr des langfristigen Kriminalitätsrückgangs. Manche Kriminalitätshistoriker meinen, dass es sich dabei nur um eine kleine Abweichung des seit Jahrhunderten anhaltenden Trends des Rückgangs handelt und dass die Verschiebungen in den Idealen der Lebensführung eine Erklärung für einen langfristigen Rückgang zwischenmenschlicher Gewalt liefert.
Neben den in vielen Studien vermuteten Zusammenhang zwischen bleiinduzierter Neurotoxizität und Aggressivität sowie Kriminalität sehen andere Studien einen Zusammenhang zwischen Bleiexposition und Intelligenzdefiziten, die sich von Kindheit bis Jugend manifestieren. So wurde die Konzentration von Blei im Boden gemessen, der in zentralen Lagen großer Städte mehr als das 100-fache des Wertes in ländlichen Gebieten betragen kann, und die Auswirkungen auf geistige und verhaltensbezogene Defizite bewertet.
Kritiker beanstandeten jedoch das Design verschiedener epidemiologischen Studien. Weiterhin bemängelten sie die Möglichkeit der Stichprobenverzerrung sowie die ungenügende Beurteilung der analytischen Schwierigkeiten bei der Messung der Bleibelastung des Körpers sowie bei der Messung des Intelligenzquotienten eines Kindes. Darüber hinaus beurteilten sie den Einsatz statistischer Analysetechniken und den Umfang vieler Studien als unzureichend.
Nachweis
Für die Bestimmung von Tetraethylblei im Benzin sind mehrere Verfahren entwickelt worden. Die Standardanalysenmethoden basieren auf der Atomabsorptionsspektrometrie. Dazu werden die Tetraalkylbleiverbindungen zum Beispiel mit Tetrachlorkohlenstoff extrahiert und mit Salpetersäure oxidiert, wobei das Blei anschließend im Graphitrohr bestimmt wird. Zum Nachweis geringer Mengen Blei sind die US-amerikanische Methode ASTM D3237 (Standard Test Method for Lead in Gasoline by Atomic Absorption Spectroscopy) oder die DIN EN 237 (Flüssige Mineralölerzeugnisse – Ottokraftstoff – Bestimmung von niedrigen Bleigehalten durch Atomabsorptionsspektrometrie) anwendbar. Das Verfahren eignet sich für die Bestimmung von Blei in Wasser, Luft und biologischen Material.
Ein weiteres gebräuchliches Standardverfahren war das Iodmonochlorid-Verfahren, das in der DIN EN ISO 3830 beschrieben ist. Mittels Röntgenfluoreszenzanalyse lassen sich neben Tetraethylblei auch Scavenger wie 1,2-Dibromethan bestimmen, wobei die Bleikonzentration in einem Bereich von 0,02 bis 0,24 Gew.-% liegen können.
Durch Gaschromatographie, gekoppelt mit Massenspektrometrie, lassen sich die verschiedenen Bleialkyle nebeneinander bestimmen. Das Massenspektrum von Tetraethylblei weist 64 Peaks auf, von denen die Peaks mit einem Masse-zu-Ladung-Verhältnis von 237 für (C2H5)208Pb, 295 für (C2H5)3208Pb und 208 für 208Pb die intensivsten sind.
Die Bestimmung von Tetraethylblei kann ebenfalls durch die Zersetzung mittels Iod und anschließender Titration mit Kaliumchromat erfolgen.
Als weitere Methode wurde die Bestimmung mittels Ethylendiamintetraessigsäure-Titration nach Oxidation des Tetraethylbleis mit Schwefelsäure und Salpetersäure entwickelt. Dabei wird das Blei als Blei(II)-sulfat gefällt und anschließend mit Ammoniumtartrat wieder in Lösung überführt. Die Titration erfolgt unter Verwendung von Eriochromschwarz T als Indikator bei einem pH-Wert von 10.
Im Infrarotspektrum zeigt Tetraethylblei eine starke Bande bei einer Wellenzahl von 240 cm–1 eine starke Bande, die der Pb-C-C-Biegeschwingung zugeordnet wird, sowie zwei moderate Banden bei Wellenzahlen von 132 und 86 cm–1, die der C-Pb-C-Biegeschwingung zugeordnet werden.
Eine schnelle Methode ohne Probenvorbehandlung zur Bestimmung von Blei in Benzin bietet die Atomemissionsspektrometrie. Die Empfindlichkeit der Methode liegt bei etwa 0,25 Mikroliter Tetraethylblei pro Liter Benzin. Für Routinebestimmungen ist eine Genauigkeit von 2,5 Mikroliter pro Liter möglich.
Der quantitative Nachweis von Tetraethylblei im Benzin ist durch die Lösung einer Probe in wasserfreiem Ethylenglycolmonoethylether und anschließender Reaktion mit Chlorwasserstoff möglich, wobei sich die entstehenden Bleiionen durch Polarographie direkt nachweisen lassen. Die Nachweisgrenze liegt bei etwa 0,13 mL/L.
Literatur
Magda Lovei: Phasing out lead from gasoline: worldwide experience and policy implications. World Bank technical paper no. 397, ISBN 0-8213-4157-X.
Dietmar Seyferth: The Rise and Fall of Tetraethyllead. Part 1. In: Organometallics. 22, 2003, S. 2346–2357, doi:10.1021/om030245v.
Dietmar Seyferth: The Rise and Fall of Tetraethyllead. Part 2. In: Organometallics. 22, 2003, S. 5154–5178, doi:10.1021/om030621b.
Weblinks
Einzelnachweise
Kraftstoffzusatz
Bleiorganische Verbindung
Gefährliche Chemikalie nach dem Rotterdamer Übereinkommen
Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 63
Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 72 |
262971 | https://de.wikipedia.org/wiki/Dohle | Dohle | Die Dohle (Corvus monedula), auch Turmkrähe genannt, ist eine Singvogelart aus der Familie der Rabenvögel (Corvidae). Sie ist eine von zwei Arten der Untergattung der Dohlen (Corvus subgen. Coloeus). Im Vergleich zu den eng verwandten Arten der Raben und Krähen (Corvus) ist sie ein eher kleiner Vertreter der Rabenvögel. Sie zeichnet sich durch schwarz-graues Gefieder, einen stämmigen Schnabel und hellblaue Augen aus. Das Verbreitungsgebiet der Dohle reicht vom nordafrikanischen Atlasgebirge über Europa bis zum Baikalsee. Sie bevorzugt offene Lebensräume mit Baumbestand, Felsen oder alten Gebäuden als Habitat. Die Nahrung der Dohle besteht überwiegend aus Samen und Insekten, bei Gelegenheit frisst sie aber auch Aas oder menschlichen Abfall. Dohlen leben meist in größeren Gruppen und bilden lebenslange monogame Paare. Ihre Nester bauen sie in Löchern und Nischen aller Art, etwa in Spechthöhlen oder Gebäudenischen. Das Weibchen brütet vier bis sechs Eier aus, die Nestlinge werden anschließend von beiden Eltern gefüttert.
Erstbeschrieben wurde die Dohle 1758 in Linnés Systema Naturae. Sie wird in vier Unterarten eingeteilt und ist die Schwesterart der ostasiatischen Elsterdohle (Corvus dauuricus). Die Dohle gilt weltweit als ungefährdet, der Bestand bewegt sich wahrscheinlich im zweistelligen Millionenbereich. In einigen Regionen Europas geht er aber vor allem aufgrund Nistplatzmangels zurück.
Merkmale
Körperbau und Farbgebung
Die Dohle ist ein mittelgroßer Rabenvogel von 33–39 cm Körperlänge. Sie wirkt – vor allem im Vergleich mit den meisten Raben und Krähen – gedrungen und besitzt einen stämmigen, kräftigen Schnabel sowie relativ kurze Beine. Der Schwanz der Dohle ist im Gattungsvergleich mittellang und leicht gerundet, ihre Flügel sind rund, schwach gefingert und fallen im angelegten Zustand leicht hinter den Schwanz zurück. Männliche Dohlen werden im Schnitt größer als Weibchen, auch wenn es bei den Maßbereichen Überschneidungen gibt: Männchen erreichen eine Flügellänge von 208–255 mm und eine Schwanzlänge von 122–138 mm. Ihr Schnabel wird von den Nasenlöchern bis zur Spitze 20,6–21,5 mm lang, der männliche Laufknochen misst 42,3–49,0 mm. Das männliche Gewicht liegt bei 174–300 g. Mit 205–250 mm Flügellänge, 115–134 mm Schwanzlänge, einem 19,8–23,2 mm langen Schnabel und 41,2–46,5 mm Lauflänge sowie einem Gewicht von 175–282 g erreichen Weibchen nur unwesentlich geringere Höchstmaße, aber deutlich kleinere Mittelwerte.
Die Dohle zeigt über ihr Verbreitungsgebiet hinweg und auch innerhalb der postulierten Unterarten eine gewisse Variation im Gefieder. Alle Vögel weisen aber das gleiche Grundmuster auf. Die Geschlechter sind sehr ähnlich gefärbt und unterscheiden sich maximal in einer leicht helleren Färbung männlicher Vögel zu bestimmten Jahreszeiten. Nasalborsten, Stirn, Vorderscheitel, Augengegend, Wangen und das Kinn bis hinab zur Kehle sind bei adulten Dohlen schwarz. Die schwarze Kopfplatte schimmert metallisch blau oder violett. Der hintere Scheitel, der Hinterkopf, der Nacken und die Ohrdecken kontrastieren durch ihre hell- bis schiefergraue Färbung mit dem schwarzen Scheitel, gehen aber im Wangen-, Kehl- und Nackenbereich ins Schwarze über. An den Seiten des Halses und im Nacken bildet sich bei einigen Individuen ein mal mehr, mal weniger deutliches, silbergraues Band aus, das zur Brust hin breiter wird und das Gefieder des Kopfes vom Körpergefieder trennt. Der Rücken der Dohle ist, ebenso wie Flügel und Schwanz, schwarzgrau bis schwarz. Die Schwungfedern schimmern schwach grünlich oder bläulich. Die Körperunterseite der Dohle – Brust, Flanken, Bauch und Unterleib – sind schiefergrau und dunkler als der Hinterkopf. Von Mauser zu Mauser verblassen vor allem die grauen Bereiche des Gefieders. Bei schwarzen Federn bleichen meist nur die Ränder aus, wodurch sich ein schuppiges Muster auf dem Rücken ergibt. Die Nasalborsten werden mit der Zeit rostbraun. Altvögel besitzen eine weißblaue Iris, die sich markant von der schwarzen Gesichtsbefiederung abhebt. Ihr Schnabel ist schwarz, genauso die Beine.
Jungvögel unterscheiden sich farblich nur in einigen Details von adulten Artgenossen. Ihre Gefiederfarben sind matter und weisen deutlich weniger Glanz als bei Altvögeln auf. Die schwarzen Partien des Gefieders adulter Vögel erscheinen bei ihnen bräunlicher oder gräulicher, und die farbliche Abgrenzung der Kopfplatte vom Hinterkopf ist weniger deutlich. Der deutlichste Unterschied ist die Augenfarbe: Nach der Jugendmauser wechselt die Irisfarbe der Vögel von hellblau nach dunkelbraun. Erst nach etwa einem Jahr wird es von außen her wieder heller, ab dem dritten Lebensjahr ist es wieder vollständig weißblau.
Flugbild und Fortbewegung
Auf dem Boden bewegt sich die Dohle mit einem forsch anmutenden, flotten Gang. Durch ihre geringe Größe und kürzeren Beine wirkt sie im Laufen hektischer als größere Arten ihrer Gattung. Den Kopf trägt sie dabei stets hoch erhoben, der Schwanz wird leicht hochgewinkelt. Seltener rennt oder hüpft die Dohle über den Boden, teilweise unter Zuhilfenahme der Flügel. In unwegsamem Gelände oder im Geäst bewegt sie sich hüpfend fort. Dohlen sind in der Lage, sich auch an senkrechten Wänden an knappen Vorsprüngen oder Vertiefungen im Fels oder von Wänden festzuhalten, wobei sie ihren Schwanz als Stütze zur Hilfe nehmen.
Auch im Flug fällt die Dohle durch ihre Lebhaftigkeit und Agilität auf. Sie fliegt mit raschen, recht ruckartigen Flügelschlägen und erreicht dabei vergleichsweise hohe Geschwindigkeiten. So ist sie mit rund 60 km/h schneller als Rabenkrähen (Corvus corone) oder Saatkrähen (Corvus frugilegus), passt ihre Geschwindigkeit aber in gemischten Schwärmen an. Durch ihr relativ geringes Gewicht und ihren kompakteren Bau ist die Dohle auch wendiger als größere Rabenvögel, was ihr einen Vorteil an Futterquellen verschafft. So kann sie anders als schwerere Krähen auch auf dünnen Zweigen laufen und schneller als sie landen und wieder abheben. Aufwinde nutzt die Dohle für akrobatisch anmutende Flugmanöver oder kraftsparendes Segeln.
Lautäußerungen
Dohlen sind ruffreudige Vögel und besitzen – wahrscheinlich bedingt durch ihren hohen Grad an Sozialität – ein sehr breites Repertoire an Lauten. Charakteristisch für die Art sind kurze, einsilbige und metallisch-schnalzende Rufe, die höher klingen als die Lautäußerungen größerer Raben oder Krähen. Kja, kjä und tschack sind die am häufigsten zu hörenden Dohlenrufe und existieren in vielen unterschiedlichen Varianten.
Die Dohle verfügt über viele situationsspezifische Rufe, von denen die meisten abgehackt und hoch sind. Daneben lässt sie aber auch langgezogene, krächzende Lautäußerungen vernehmen, im Erregungszustand etwa ein errrr oder ärrrr. Zur Paarungszeit singen Dohlen mit einem aus einer Vielzahl verschiedener Rufe zusammengesetzten Subsong, die aus ihrem eigentlichen Kontext befreit wurden. Durch die stärkere Betonung einzelner Rufe kann in einem Subsong auch eine bestimmte Stimmung zum Ausdruck gebracht werden. Imitation von Umgebungsgeräuschen oder Rufen anderer Arten ist von Dohlen in freier Wildbahn nicht bekannt.
Verbreitung und Wanderungen
Artareal und Verbreitungsgeschichte
Das Verbreitungsgebiet der Dohle umfasst fast die gesamte gemäßigte Westpaläarktis von Zentralasien bis Nordafrika. Die Brutgebiete haben eine Fläche von 15,6 Millionen km², insgesamt ist das Artareal rund 20,0 Millionen km² groß. Die östlichsten Brutgebiete liegen am Baikalsee. Von dort aus reichen sie westwärts entlang der 12-°C-Juliisotherme bis an die Küste des Weißen Meeres. Weiter westlich reichen die Brutgebiete bis nach Finnland, Schweden und Norwegen. Die fennoskandischen Brutvorkommen sparen das nördliche Binnenland und die Atlantikküste weitgehend aus und konzentrieren sich um die Ostsee, die Dohle fehlt aber an der Nordküste der Bottenwiek. Südlich von Skandinavien wird fast das gesamte Festlandeuropa besiedelt, die Dohle fehlt hier – bedingt durch kälteres Sommerklima – nur in den Hochgebirgen, an der Biskaya und der portugiesischen Westküste. Die größeren Britischen Inseln besiedelt sie flächendeckend, nur die Highlands und entlegenere Inselgruppen gehören nicht zu den Brutgebieten. Mit Ausnahme der Balearen und Korsikas ist die Dohle auch auf den großen Inseln des Mittelmeers als Brutvogel anzutreffen. In Nordafrika sind die Vorkommen – vorrangig bedingt durch das Klima – kleinräumiger und disjunkter als in Eurasien. In Marokko kommt die Dohle nur in zwei Arealen im Atlasgebirge vor, die östlich von Ouezzane auch ins Tiefland reichen. In Algerien umfasst das Brutgebiet die Nordwestküste und Constantine, frühere Vorkommen in Tunesien sind erloschen. Kleinasien besiedelt die Dohle fast flächendeckend, ein kleineres Vorkommen besteht in Nordisrael. Östlich davon gehören Kaukasien und der nordwestliche Iran zu den Brutgebieten. Zentralasien wird nur entlang der äußeren Regionen und im Nordwesten bis zum Aralsee besiedelt. Eine isolierte Population besteht im östlichen Elbursgebirge. Das Brutareal umfasst im Osten die Hochgebirge am Rand des Tibetischen Plateaus bis zum Mongolischen Hochland. In Kaschmir existiert am Südwestrand des Himalayas eine weitere kleine Brutpopulation.
Die früh- und mittelpleistozänen Funde, die der Dohle zugeschrieben werden, stammen vorwiegend aus Süd- und Südosteuropa und sind auf Regionen mit warmen Klima beziehungsweise wärmere Interglaziale beschränkt. Erst gegen Ende des Pleistozäns finden sich auch Fossilien im nördlichen Mitteleuropa. Jon Fjeldså nimmt an, dass die Dohle nach den Eiszeiten aus Wärmeinseln entlang des Mittel- und des Schwarzen Meers sowie aus Turkestan nach Norden und Westen vordrang. Bevor der Mensch die Balearen erreichte, war die Dohle auch dort heimisch. Der Norden Europas wurde dagegen spät besiedelt, im heutigen Dänemark und Norwegen wurde die Dohle wohl erst um 1000 v. Chr. Brutvogel. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es zu großen Ausweitungen des Artareals. Zunächst stieß die Dohle entlang des Bottnischen Meerbusens nach Norden vor, was wohl durch eine Erwärmung des lokalen Klimas und eine zunehmende Verstädterung der Art begünstigt wurde. In Tunesien erloschen die vorhandenen Brutvorkommen dagegen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, auf Malta verschwand die Dohle durch intensive Jagd. In Sibirien konnte die Art bis 1980 durch die Öffnung der Taigawälder neue Regionen erschließen. In jüngerer Zeit weitet sie ihr Areal auf den Britischen Inseln nach Norden aus.
Wanderungen
Obwohl Dohlen im Großteil des Verbreitungsgebiets das ganze Jahr über anzutreffen sind, ziehen die meisten Populationen im Winter aus den Brutgebieten fort. Weil wegziehende Brutpopulationen durch Wintergäste ersetzt werden, fällt die Abwanderung aber oft nicht auf. Die Zugwege in die Winterquartiere verlaufen an der Atlantikküste und den angrenzenden Meeren meist in westlicher, in Kontinentaleurasien in südwestlicher Richtung. Nördlich gelegene Brutpopulationen ziehen weiter als südlichere: Die zentralasiatischen russischen Vorkommen legen bis zu 700 km zurück, bei den osteuropäischen sind es nur etwas mehr als 300 km, während Schweizer Vögel oft nur wenige Kilometer ziehen. Auch die Zahl der Standvögel variiert von Nordosten nach Südwesten. So ziehen rund 70 % der polnischen, aber nur 23 % der belgischen Dohlen im Winter aus den Brutgebieten fort. In Nordafrika bestehen alle Brutpopulationen aus Standvögeln, sie erhalten aber im Winter Verstärkung durch eine geringere Anzahl von Vögeln, die über das Mittelmeer ziehen. Türkische Vögel nutzen Mesopotamien als Winterquartier, Dohlen aus Zentralasien sind im Winter in Pakistan und Afghanistan anzutreffen. Im Winter verlassen auch Standvögel die höheren Lagen und ziehen ins Tiefland. Viele Populationen konzentrieren sich dann auf menschliche Siedlungen, wo ausreichend Schlafplätze und Futterquellen vorhanden sind. In Teilen Nordeuropas ziehen Dohlen aus den Städten auch gar nicht weg, wenn die Umstände günstig genug sind. Der Vogelzug setzt im Norden im September ein, im Süden kann er sich bis November verschieben. Der Rückzug beginnt bereits früh im Jahr im Februar und März und ist meist Ende März abgeschlossen.
Lebensraum
Das Angebot an potentiellen Nistplätzen und geeigneten Flächen zur Nahrungssuche beeinflussen die Habitatwahl der Dohle. Als überwiegender Höhlenbrüter ist sie in ihrem Lebensraum zumindest in der Brutzeit stark auf Altholzbestände mit Spechthöhlen, auf Felslöcher oder auf Gebäude mit ausreichend Nischen angewiesen. Steinbrüche, Felsküsten, Siedlungen mit altem Gebäudebestand, mittelalterliche Kirchen sowie Parks und Gehölze mit großen, alten Bäumen sind deshalb häufig von der Dohle genutzte Bruthabitate. Sie dienen daneben auch außerhalb der Brutzeit als Schlafplatz. Wälder werden nur im Randbereich (maximal 2 km vom Waldrand) besiedelt. Im Rahmen der Aktion Lebensraum Kirchturm versucht der Naturschutzbund Deutschland, bestehende Nistmöglichkeiten in Kirchtürmen für Dohlen, Turmfalken und Schleiereulen zu erhalten und neue zu schaffen.
Die Art benötigt relativ weiträumige, offene Flächen, um auf dem Boden nach Nahrung zu suchen. Diese Flächen müssen niedrige Vegetation (maximal 15–20 cm) aufweisen, damit sich die Dohle auf ihnen bewegen kann, bevorzugt werden folglich Parkflächen und Weideland. Weil sie außerdem insektenreich sein sollten, nutzt die Dohle gerne Trockenrasen und extensiv bewirtschaftete Flächen. Die Nahrungsgründe befanden sich in Feldstudien außerhalb der Brutzeit 0,5–3,1 km von den Schlafplätzen entfernt, während der Brutzeit lagen sie in 0,4–2,4 km Entfernung vom Nest. Im Laufe des Jahres nutzt die Dohle sehr unterschiedliche Flächen – Weideland, Steppen, Stoppelfelder, Überschwemmungsflächen – für die Nahrungssuche.
Die Dohle ist verhältnismäßig wetter- und temperaturtolerant, meidet aber Hitze- und Kälteextreme. Sie ist eher im Tiefland und in Tälern als im Gebirgslagen anzutreffen. Unterhalb von 500 m ist sie in der Regel verbreitet, zwischen 500 und 1000 m findet sie sich oft nur in lokalen Ansammlungen. In einigen Ausnahmefällen reichen die Bruthabitate auch über 1000 m hinaus, so etwa in den Alpen, im Atlas oder in Kaschmir bis auf etwa 2000 m. Außerhalb der Brutzeit ist sie auch in Lagen von bis zu 3500 m anzutreffen.
Lebensweise
Ernährung
Wie auch andere Raben und Krähen ist die Dohle ein Allesfresser. Der Schwerpunkt des Nahrungsspektrums liegt auf Samen und Insekten. Daneben frisst sie auch kleine Wirbeltiere, Schnecken, Vogeleier, Aas und in Siedlungen auch menschliche Abfälle.
Pflanzensamen wurden in einer britischen Studie das ganze Jahr über gefressen. Im Herbst handelte es sich meist um Bohnen, Erbsen und die Samen fleischiger Früchte, im Winter dominierten ebenfalls Hülsenfrüchte unter der pflanzlichen Nahrung. Während Wirbellose in der Winternahrung weitgehend fehlten, gewannen sie vor allem von Frühjahr bis Herbst an Bedeutung, besonders oft wurden Käfer, Zweiflügler und Schmetterlingsraupen gefressen. Andere europäische Studien ergaben ähnliche Verteilungen. Aas frisst die Dohle seltener als andere Raben und Krähen. Örtlich können ansonsten unbedeutende Nahrungsquellen stark genutzt werden, wenn sie ausreichend vorhanden sind und die ansässigen Dohlen entsprechende Traditionen entwickelt haben. So ernähren sich einige urbane Populationen überwiegend von den Gelegen von Türkentauben (Streptopelia decaocto), obwohl Eier andernorts nur einen marginalen Teil der Nahrung ausmachen. Auf Viehweiden frisst die Dohle neben den Bodeninsekten auch die Ektoparasiten der weidenden Tiere. Während pflanzliche Nahrung für flügge Vögel eine wichtige Rolle spielt, fehlt sie in der Nahrung von Nestlingen in der Regel völlig. Sie werden von ihren Eltern fast ausschließlich mit eiweißreicher tierischer Nahrung, vor allem Insekten, gefüttert.
Die Dohle nimmt ihre Nahrung überwiegend auf dem Boden offener Flächen auf. Meist wird die Nahrung einfach von der Oberfläche aufgelesen oder Objekte wie Steine oder Holzstücke umgedreht, um an darunter lebende Insekten zu gelangen. Im Gegensatz zu langschnabeligen Krähen graben sie nur selten. Dohlen können sehr geschickt darin sein, auch fliegende Insekten hüpfend aus der Luft zu fangen oder Früchte von Ästen zu pflücken. Gesammeltes Futter wird wie bei allen Rabenvögeln versteckt. Dieser Verstecktrieb ist bei der Dohle aber eher schwach ausgeprägt, sie versteckt überschüssige Nahrung seltener und oberflächlicher als andere Corviden. Unverdauliche Nahrungsbestandteile werden als Gewölle hochgewürgt, aber beim Fressen in der Regel gemieden.
Sozial- und Lernverhalten
Die Dohle ist ein sehr sozialer Rabenvogel. Wenn ausreichend Nistplätze vorhanden sind, bildet sie Brutkolonien, in denen oft zweistellige Zahlen von Brutpaaren dicht nebeneinander brüten und einander tolerieren. Gegen Artgenossen verteidigt wird meist nur die Nestnische und die unmittelbare Umgebung. Auch abseits der Brutplätze bewegen sich Dohlen häufig in größeren Gruppen, etwa bei der Nahrungssuche. Meist sind diese Verbände und die Beziehungen unter den Individuen eher locker, ihren Kern bilden aber in der Regel Dohlen, die einander aus einer gemeinsamen Brutkolonie kennen. Die Gruppenbildung hat vor allem eine Schutzfunktion, weil die einzelne Dohle weniger Zeit in die Kontrolle der Umgebung investieren muss und sich Schwärme auch gegen größere Aaskrähen durchsetzen können. Während der Brutzeit sind überwiegend Nichtbrüter in den 20–50 Vögel starken Trupps zu finden, nach Ende der Brutsaison kommen auch Jungvögel und Brutpaare hinzu, womit die Gruppengröße auf 200 Dohlen anwachsen kann. Nicht selten finden sich Dohlen auch in gemischten Gruppen mit Saatkrähen, denen sie sich auch während des Zugs ins Sommer- und Winterquartier oder zu den Schlafplätzen gerne anschließen. An gemeinsamen Schlafplätzen finden sich meist mehrere hundert bis tausend Dohlen zusammen, es liegen aber auch Berichte über Schlafkolonien von 10.000 und mehr Individuen vor.
Die Frage, ob es innerhalb von Dohlengruppen Hierarchien gibt, ist nicht restlos geklärt. Zumindest innerhalb von Brutkolonien wird die Dominanz einzelner Paare über andere in Auseinandersetzungen als Rangordnung interpretiert. In feldernden Trupps ist diese Dominanz aber weit weniger ausgeprägt, alles in allem scheinen die Dominanzverhältnisse in Gruppen auch äußerst dynamisch zu sein. Zwischen einzelnen Individuen kann es zu sehr engen persönlichen Beziehung kommen, die aber nicht sexuell motiviert sein müssen. Brutpartner zeigen keine Individualdistanz. Sie verhalten sich auffällig oft synchron, ihre enge Bindung äußert sich in Zuneigungsgesten wie Kraulen und Schnabelstreicheln. Abseits von Siedlungen sind Dohlen dem Menschen gegenüber meist scheu, sie zeigen aber kaum Furcht, wo sie nicht verfolgt werden. Im Schwarm sind Dohlen selbstbewusster als alleine, oft wagen sie sich auch erst aus der Deckung, wenn artfremde Vögel oder sozial niedrig gestellte Artgenossen eine Situation unbeschadet überstanden haben. Viele Zusammenhänge lernen Dohlen erst durch Versuch und Irrtum. Sie sind in der Lage, Analogien zu bilden oder zwischen oberflächlich ähnlichen Versuchsaufbauten zu unterscheiden, etwa bei Punktmuster- und Metronomtests.
Fortpflanzung und Brut
Die Geschlechtsreife setzt bei Dohlen normalerweise im Alter von zwei Jahren ein, seltener bereits nach einem Jahr. Sie bilden monogame und in der Regel lebenslange Brutgemeinschaften. In den ersten sechs Monaten einer Paarbindung kann es noch häufig zu Neuverpaarungen kommen, danach ist die Beziehung meist stabil. Die Suche nach Nistplätzen setzt in der Regel gegen Ende des Winters ein. Ins Auge gefasste Nistplätze verteidigen Dohlenpaare energisch gegen Artgenossen, auch wenn sie sie später wieder aufgeben und sich für andere entscheiden. Bis Anfang Mai sind üblicherweise alle Nistplätze besetzt. Als solche dienen etwa Felslöcher, Spechthöhlen, aber auch verlassene Kaninchenbaue, Schornsteine, Maueröffnungen oder hohle Metallkonstruktionen. Besonders enge Durchschlupfe oder schlecht erreichbare Nischen werden bevorzugt. Die Siedlungsdichte kann in urbanen Lebensräumen 4,4–9,9 Paare pro km² erreichen, in ländlichen Gegenden liegt sie durchschnittlich bei nur 0,06 Paaren. Das Nest besteht aus einem Unterbau von fingerdicken, meist 30 cm langen Zweigen, die oft einfach in die Bruthöhle geworfen werden, bis sie sich verfangen und eine Plattform bilden. Die Nestmulde wird anschließend mit verschiedenen weichen Materialien ausgekleidet, etwa Moos, Papier, Fell oder Dung. Beide Partner beteiligen sich am Nestbau, manchmal erhalten sie Hilfe von einjährigen Bruthelfern, die das Nest aber verlassen, sobald die Eier gelegt werden.
Die Eiablage findet von April bis Mai statt. Das Gelege besteht aus zwei bis acht, in der Regel zwischen vier und sechs bläulichen Eiern, die dunkel gesprenkelt sind. Die mittlere Gelegegröße liegt im gesamten Verbreitungsgebiet stets bei etwa fünf Eiern. Das Weibchen bebrütet sie 16–20 Tage, während dieser Zeit wird es vom Männchen gefüttert. Die Nestlinge werden nach 28–41 Tagen flügge, die Dauer hängt unter anderem vom Nahrungsangebot und der Größe des Geleges ab. Nach dem Ausfliegen sind die jungen Dohlen noch etwa fünf Wochen lang von den Eltern abhängig. Der Bruterfolg ist bei spät brütenden Paaren geringer als bei frühen Brütern. Meist werden nicht mehr als ein oder zwei Jungen eines Geleges flügge. Kleinere Gelege mit zwei bis vier Eiern produzieren relativ am meisten Junge, in Gelegen von fünf Eiern werden absolut am meisten Nestlinge flügge. Aus fünften und weiteren Eiern schlüpfen am seltensten Junge. Falls doch, werden diese fast nie flügge.
Lebenserwartung, Krankheiten und Mortalitätsursachen
Die bedeutendsten Fressfeinde flügger Dohlen sind der Habicht (Accipiter gentilis), der Wanderfalke (Falco peregrinus) sowie der Stein- (Martes foina) und der Baummarder (M. martes). Für Nestlinge sind neben den beiden Marder-Arten vor allem das Mauswiesel (Mustela nivalis) und der Waldkauz (Strix aluco) die größten Bedrohungen. Kalte Witterung bei gleichzeitigem Insektenmangel ist für Nestlinge äußerst kritisch und führt regelmäßig zu hohen Todesraten. Häufige Parasiten sind Federlinge wie die wirtsspezifischen Corvonirmus varius varius und Menacanthus monedulae, Milben der Ordnung Astigmata (etwa Montesauria cylindrica) und die Igelzecke (Ixodes hexagonus). Darüber hinaus ist die Dohle Wirt für Saug-, Band- und Fadenwurmarten, die auch von anderen Vögeln bekannt sind.
Frisch flügge gewordene Vögel haben die höchste Sterblichkeit, sie liegt nach unterschiedlichen Schätzungen im ersten Lebensjahr zwischen 30 und 56 % des Nachwuchses. Altvögel haben eine Sterblichkeitsrate von 30–40 % und nach dem ersten Jahr eine Lebenserwartung von zwei Jahren und sieben Monaten. Nach einer Langzeituntersuchung zur Altersstruktur von Dohlenpopulationen sind freilebende Dohlen mit einem Alter von über 13 Jahren selten und machen weniger als 1 % der Population aus. Das höchste dokumentierte Alter einer wildlebenden Dohle liegt bei 20 Jahren und vier Monaten für einen Vogel aus Schweden, weitere Rekordwerte liegen bei über 19 Jahren. In Gefangenschaft können Dohlen noch älter werden. So lebten zwei Männchen im Londoner Zoo 29 beziehungsweise 28 Jahre.
Systematik und Entwicklungsgeschichte
Taxonomie
Wie auch fast alle anderen zur Mitte des 18. Jahrhunderts bekannten Tiere Europas wurde die Dohle 1758 in Carl von Linnés Systema Naturæ erstbeschrieben, damals unter dem Namen Corvus monedula. Das Artepitheton monedula ist ein alter lateinischer Name für die Dohle. Er findet sich bereits bei Cicero und Ovid und leitet sich wahrscheinlich von dem verbreiteten Aberglauben her, die Dohle würde mit Vorliebe Goldmünzen ( für Münzstätte) und andere Wertgegenstände stehlen.
Äußere Systematik
Zu den vergleichsweise langschnabeligen Raben und Krähen (Corvus) besteht ein enges Verwandtschaftsverhältnis. Zusammen mit der sehr ähnlichen ostasiatischen Elsterdohle (Corvus dauuricus) bildet sie die Untergattung Coloeus. DNA-Untersuchungen ordnen beide Arten als Schwestergruppe der restlichen Raben und Krähen ein. Auch das Verhältnis der beiden Dohlen-Arten als Schwesterarten wurde bestätigt. Die untersuchten Gensequenzen von Dohle und Elsterdohle wichen zu 5,8 % voneinander ab. Im Schema der molekularen Uhr deutet dies auf eine Trennung vor etwas weniger als drei Millionen Jahren hin. Dieser Zeitraum fällt mit dem Beginn des Pleistozäns zusammen, in dem die einsetzenden Eiszeiten die Populationen vieler eurasischer Arten voneinander trennten. Trotz der recht großen genetischen Distanz hybridisieren Elsterdohle und Dohle im östlichen Zentralasien, wo sich ihre Brutgebiete überschneiden.
Innere Systematik
Auf Basis der Gefiederzeichnung wurde die Dohle bereits früh in verschiedene Unterarten geteilt. Die Berücksichtigung auch von geringen Unterschieden – etwa der Breite des Halsrings oder Glanzfarbe des Scheitels – führte dazu, dass über zehn verschiedene Unterarten beschrieben wurden, die fließende Übergänge zu anderen zeigten und auf kleinräumige Regionen beschränkt waren. Die meisten dieser Unterarten fanden keine Anerkennung, die phänotypische Klassifizierung wurde aber beibehalten. Heute werden meist vier Unterarten angeführt:
Corvus monedula cirtensis :
Auf das algerische Constantine beschränkte Unterart. Eine helle, fast einheitlich schiefergraue Form mit nur schwach ausgeprägtem Halsring und wenig Kontrast im Gefieder. Sie ist nach der römischen Stadt Cirta, dem Vorläufer des heutigen Constantine, benannt.
Corvus monedula monedula :
Nominatform aus Skandinavien. Eine verhältnismäßig helle Form mit meist deutlichem Halsring.
Corvus monedula soemmeringi :
Unterart aus dem östlichen Europa von Finnland, Ostdeutschland und Griechenland bis nach Asien. Eher helle Form mit meist ausgeprägtem Halsring. Das Epitheton ehrt Samuel Thomas von Soemmerring.
Corvus monedula spermologus :
Unterart des westlichen Europas von Dänemark über Westdeutschland, Frankreich und die Iberische Halbinsel bis nach Marokko. Relativ dunkle Form ohne Nackenstreif, nach Südwesten hin dunkler. Das Wort spermologus leitet sich vom altgriechisch /spermologos für „Samenfresser“ ab.
Diese Einteilung der Unterarten erwies sich in der Vergangenheit mehrfach als problematisch, weil sie sich schwer abgrenzen ließen. Abweichungen von den erwarteten Gefiedermustern und fließende Übergänge über das Verbreitungsgebiet hinweg wurden meist als Zeichen von Mischpopulationen oder vereinzelter Hybridisierung gedeutet. Eine Analyse der DNA verschiedener Individuen aus dem ganzen Verbreitungsgebiet kam jedoch zu dem Schluss, dass Angehörige vermeintlicher Unterarten untereinander oft weniger nahe verwandt waren als mit Vögeln anderer Unterarten. Die phänotypischen Unterschiede hätten demnach also keine populationsgenetische Ursache, sondern wären individueller Natur. Ob die Dohle monotypisch ist, also keine genetisch unterscheidbaren Unterarten besitzt, lässt sich bislang aber noch nicht feststellen, weil die Stichprobe der Studie sehr klein war und keine cirtensis-Individuen umfasste.
Bestand und Status
Die Kenntnisse über den Bestand der Dohle sind dürftig. Die ermittelten Zahlen beruhen weitgehend auf Schätzungen, weshalb sie eine große Schwankungsbreite aufweisen. Die Türkei und Russland beherbergen mit je 1–10 Millionen Brutpaaren einen Großteil des weltweiten Bestands der Dohle, Bulgarien folgt mit 1–5 Millionen Paaren. Größere Bestände halten sich mit rund 600.000 Brutpaaren auf den Britischen Inseln, etwa 500.000 auf der Iberischen Halbinsel und in Belarus mit rund 400.000 Brutpaaren. Insgesamt entfallen auf Europa je nach geographischer Definition 5–15 Millionen Brutpaare und 16–45 Millionen Individuen. Auf das gesamte Verbreitungsgebiet hochgerechnet ergibt sich daraus laut BirdLife International ein Bestand von 21–90 Millionen ausgewachsenen Vögeln.
BirdLife International klassifiziert die Art auf dieser Grundlage als Least Concern (nicht gefährdet). Allerdings gilt die Unterart cirtensis in Algerien als bedroht, weil viele traditionelle Brutplätze durch Staudammbauten verloren gingen. Während die Populationen in Skandinavien, auf den Britischen Inseln, in den Niederlanden und in Sibirien durch Besiedlung neuer Habitate Ende des 20. Jahrhunderts zugenommen haben, dünnten sie sich in weiten Teilen Europas aus. Dieser Schwund hängt vor allem mit dem Abriss und der Sanierung alter Bauten zusammen, in denen die Dohle ausreichend Brutnischen fand. Zusätzlich leidet die Art unter Maßnahmen zur Taubenabwehr, die sie genauso treffen wie die Straßentaube. In ländlichen Gegenden machen ihr vor allem der Rückgang von Dauergrünflächen und Fällungen von Altholzbeständen zu schaffen. Als Gegenmaßnahme fordern Artenschützer, bei der Sanierung von Altbauten stärker auf die Dohle Rücksicht zu nehmen. Außerdem werden für die Dohle geeignete Nistkästen ausgehängt. Begleitet werden diese Maßnahmen von einer Öffentlichkeitsarbeit für die Dohle in vielen europäischen Ländern. So haben etwa BirdLife Österreich, der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und der Landesbund für Vogelschutz in Bayern die Dohle zum Vogel des Jahres 2012 gekürt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Kulturgeschichte
Der deutsche Name der Dohle lässt sich bis auf das althochdeutsche tāha zurückverfolgen, wahrscheinlich eine lautmalerische Bezeichnung, die sich von den Rufen der Vögel ableitete. Im Mittel- und Frühneuhochdeutschen wandelte es sich zu tāhe. Daneben lassen sich seit dem 13. Jahrhundert besonders im mitteldeutschen Raum Nebenformen mit -l- (talle, tole, dole) nachweisen, aus denen sich die heute im Hochdeutschen gebräuchliche Bezeichnung „Dohle“ entwickelte.
Die Dohle wurde als weit verbreitete Art und Kulturfolger schon früh zum Gegenstand einer breiten kulturellen Rezeption. Die Altgriechen betonten etwa ihre Geselligkeit und Paarbindung im Sprichwort „bei einer Dohle sitzt immer eine Dohle“, analog zu „gleich und gleich gesellt sich gern“. Äsop ließ sie in seiner Fabel Die Dohle und die Pfauen als Betrüger auftreten, der sich mit fremden Federn verkleidet unter die Pfauen schleicht. Die negative Darstellung der Dohle setzte sich in späterer Zeit fort, so galt sie bereits bei den Römern als diebisch. Dieser Glaube war auch im Mittelalter und weit bis in die Neuzeit verbreitet. So erzählt etwa die von den Gebrüdern Grimm niedergeschriebene schlesische Sage Der Schweidnitzer Ratsmann von einem betrügerischen Stadtrat, der mit einer abgerichteten Dohle die Goldmünzen aus der Stadtkasse stiehlt. Die Geschwätzigkeit der Dohle wurde häufig als verschwörerisches Tuscheln interpretiert, und in der Frühen Neuzeit wurden Dohlen in Großbritannien auch als Begleiter und Gehilfen von Hexen gesehen.
Obwohl die Dohle tendenziell negativ betrachtet wurde, unterlag sie vergleichsweise schwacher Verfolgung. Wahrscheinlich führten ihre geringe Größe, ihre melodiöseren Rufe und ihre Vorliebe für pflanzliche Nahrung dazu, dass sie nicht die gleiche Abneigung wie die Aaskrähe, der Kolkrabe oder die Saatkrähe hervorrief. Von allen Arten der Gattung wurde der Dohle in Europa am wenigsten nachgestellt, sieht man von regionalen Ausnahmen wie Malta ab. Möglicherweise ist sie deshalb heute auch vergleichsweise furchtlos gegenüber dem Menschen.
Quellen und Nachweise
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Weblinks
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Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch)
Einzelnachweise
Raben und Krähen
Vogel des Jahres (Deutschland)
Vogel des Jahres (Österreich) |
283842 | https://de.wikipedia.org/wiki/Augusta%20von%20Sachsen-Weimar-Eisenach | Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach | Augusta, mit vollem Namen Maria Luise Augusta Catherina von Sachsen-Weimar-Eisenach (* 30. September 1811 in Weimar; † 7. Januar 1890 in Berlin), war als Ehefrau Wilhelms I. seit 1861 Königin von Preußen und nach der Reichsgründung 1871 erste Deutsche Kaiserin. Augusta stammte aus dem großherzoglichen Haus Sachsen-Weimar-Eisenach und war über ihre Mutter Maria Pawlowna eng mit der Familie der russischen Zaren verwandt. Im Juni 1829 heiratete sie Prinz Wilhelm von Preußen. Die Ehe verlief spannungsreich. Wilhelm wollte eigentlich seine vom preußischen Hof als nicht standesgemäß beurteilte Cousine, Elisa Radziwiłł, heiraten und auch die politischen Ansichten und intellektuellen Interessen der beiden Ehepartner lagen weit auseinander. Trotz persönlicher Differenzen arbeiteten Augusta und Wilhelm bei der Erledigung der Korrespondenz und gesellschaftlichen Zusammenkünften bei Hofe oft zusammen. 1831 und 1838 bekamen sie mit Friedrich Wilhelm und Luise zwei Kinder. Nach dem Tod des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. 1840 stieg sie zur Frau des preußischen Thronfolgers auf.
Politischen Einfluss verschaffte ihr kein offizielles Amt, sondern ihre sozialen Beziehungen und dynastisch bedingte Nähe zu Wilhelm. Eine wichtige Rolle spielte dabei eine umfassende Briefkorrespondenz mit ihrem Gemahl, anderen Fürsten, Staatsmännern, Offizieren, Diplomaten, Geistlichen, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Sie selbst verstand sich als politische Beraterin ihres Mannes und sah in dem preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck ihren politischen Hauptfeind. Während Bismarck-Biographien die politische Gesinnung der Kaiserin teils als antiliberal oder als destruktiv allein gegen die Politik Bismarcks gerichtet charakterisieren, stuft die neuere Forschung sie als liberal ein. Demnach sei es Augusta insgesamt zwar nicht gelungen, ihren Mann von einem Umbau Preußens und Deutschlands nach dem Vorbild der konstitutionellen Monarchie Großbritanniens zu überzeugen. Dennoch habe sie bei der Erziehung des Thronfolgers, als Fürsprecherin der katholischen Bevölkerung und durch ihren Zugang zum König sowie einer anti-militaristischen Repräsentation durchaus über politische Handlungsspielräume verfügt. Wie weit Augustas Einfluss als Monarchengattin im 19. Jahrhundert konkret ging, wird in der Forschung noch diskutiert.
Leben
Kindheit und Jugend (1811–1826): Prägung durch den Weimarer Hof
Prinzessin Augusta wurde am 30. September 1811 in Weimar geboren. Sie war das dritte Kind des späteren Großherzogs Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach und der Großfürstin Maria Pawlowna Romanowa, einer Schwester Zar Alexanders I. von Russland. Am 6. Oktober wurde die Prinzessin getauft. Sie erhielt zunächst den Taufnamen Maria Luise Augusta Catherina. Augusta wuchs, wie bei fürstlichen Familien üblich, nicht primär in der Obhut der Eltern, sondern bei ihrer Kinderfrau Amalia Batsch auf.
Ihre Hoflehrer brachten ihr vier Fremdsprachen bei: Englisch, Russisch, Französisch und Latein. Hinzu kamen als weitere Fächer Mathematik, Geographie, Religion, Geschichte, Tanzen, Zeichnen, Reiten und Musik. Zu ihren Lehrern gehörte Fachpersonal wie die Hofmalerin Louise Seidler, der Komponist Johann Nepomuk Hummel und der Numismatiker Frédéric Soret. Zum wichtigsten Bezugspunkt für Augusta wurde jedoch der Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe. Goethe organisierte in Absprache mit Augustas Eltern die Lehrinhalte und unterrichtete sie im Umfeld der Universität Jena. Für Augusta war Goethe im Rückblick der „beste, teuerste Freund“, den sie und ihre drei Jahre ältere Schwester Marie in Kindertagen gehabt hätten. Kontakt zu Gleichaltrigen hatten beide Schwestern kaum. Nach Ansicht des Historikers Lothar Gall prägte das vergleichsweise liberale Elternhaus langfristig Augustas politische Haltung. Bereits 1816 hatte ihr Großvater Carl August im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach eine Verfassung eingeführt. Laut Monika Wienfort trug dies dazu bei, dass Augusta später eine Umwandlung Preußens zu einer konstitutionellen Monarchie befürwortete. Das politische Klima in Weimar begünstigte, wie Gall meint, die spätere Nähe Augustas zu einem Zirkel in der sogenannten Wochenblattpartei. Dieser warb nicht nur für eine kleindeutsche Einheit ohne Österreich, sondern ebenfalls für eine „Allianz mit den führenden Kräften des liberalen Bürgertums“ und eine Fortführung der Preußischen Reformen. Der DDR-Historiker Ernst Engelberg bestreitet dagegen grundsätzlich eine liberale Haltung Augustas: Ihre politischen Anschauungen seien eher in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus zu verorten. Sie habe nichts von einem „parlamentarischen Regime wissen wollen“, sondern sei für „eine vom Monarchen frei gewählte Verfassung“ eingetreten.
Auch in kultureller Hinsicht prägte der Weimarer Hof Augusta. Sie entwickelte ein ausgeprägtes Interesse an Kunst, galt als gebildet und wurde besonders strikt dazu erzogen, offizielle höfische Umgangsformen einzuhalten, die sogenannte Etikette.
Verheiratung mit Prinz Wilhelm: Mittel der Bündnispolitik und dynastische Stellung
Augustas Mutter Maria Pawlowna schmiedete für beide Töchter Heiratspläne in Richtung Preußen, das an mehreren Seiten an Sachsen-Weimar-Eisenach grenzte und daher als eine Bedrohung für das Großherzogtum wahrgenommen wurde. Die Heiraten Augustas mit Prinz Wilhelm und Maries mit Prinz Carl von Preußen, Wilhelms jüngerem Bruder, sollten den Fortbestand des Großherzogtums sichern. Den Schutz allein durch die verwandtschaftliche Beziehung zum Zarenhaus Romanow-Holstein-Gottorp hielt Maria Pawlowna für nicht mehr ausreichend. Da sie 1828 selbst Großherzogin wurde, konnte sie die Heiratsbestrebungen stärker vorantreiben. Auf preußischer Seite bestand die Motivation darin, die dynastischen Bande mit Russland weiter auszubauen, denn Augusta war eine Nichte von Zar Nikolaus I. Seit dem gemeinsam erzielten Sieg über Napoleon I. standen sich Preußen und Russland bündnispolitisch besonders nahe. Eine Tochter des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., Charlotte von Preußen, war bereits 1817 mit Nikolaus, dem zweiten Bruder von Alexander I., verheiratet worden.
Prinz Wilhelm hingegen favorisierte seit seiner Jugend eine ehemalige Spielgefährtin aus Kindertagen, seine Cousine Elisa Radziwiłł, Tochter seiner Tante Luise. Aufgrund ihrer väterlichen Abstammung von dem polnischen Adelsgeschlecht Radziwiłł galt Elisa jedoch nicht als ebenbürtig. Der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach knüpfte seine Zustimmung zur Vermählung von Wilhelms jüngerem Bruder Carl mit seiner Tochter Marie an die Bedingung, dass Wilhelm nur eine morganatische Ehe mit Elisa eingehen dürfe. Eine solche Verbindung wollte Friedrich Wilhelm III. verhindern und untersagte seinem Sohn daher im Juni 1826 eine Heirat mit Elisa. Im selben Jahr begegneten sich Wilhelm und Augusta bei der Verlobung Maries mit Carl zum ersten Mal. Da inzwischen abzusehen war, dass Wilhelms älterer Bruder, der spätere Friedrich Wilhelm IV., kinderlos bleiben würde, kam Wilhelm nun die Aufgabe zu, legitimen dynastischen Nachwuchs zu zeugen. So arrangierte Friedrich Wilhelm III. eine Heirat Wilhelms mit Augusta.
Die Weimarer Prinzessin sah in der Verbindung mehrere Vorteile. Vor der Heirat nahm Augusta als zweitgeborene Tochter einen niedrigeren Rang am Hof ein als ihre ältere Schwester. Da Letztere mit Carl von Preußen nur Wilhelms jüngeren Bruder ehelichen sollte, würde Augusta in Preußen über Marie rangieren und konnte damit rechnen, die Frau des Thronfolgers zu werden. Am 11. Juni 1829 fand die Trauung in der Kapelle von Schloss Charlottenburg statt. Zu diesem Zeitpunkt war Augusta 17 Jahre alt.
Erste Ehejahre: Gespanntes Verhältnis zu Wilhelm und Geburt der Kinder
Die Ehe verlief nach Einschätzung des Historikers Robert-Tarek Fischer aus mehreren Gründen spannungsreich: So machte der 14 Jahre ältere Wilhelm zum einen keinen Hehl aus seiner fortbestehenden Zuneigung zu Elisa. Zum anderen seien Augustas liberale Ansichten und intellektuelle Interessen von Wilhelm und großen Teilen des preußischen Hofes nicht geteilt worden. Vom Weimarer Hof war Augusta, wie die Historikerin Birgit Aschmann annimmt, auch an eine größere „kulturelle Offenheit“ gewöhnt, als dies bei den Hohenzollern der Fall war. Aus Sicht ihres Mannes entsprach sie überdies zu wenig einem bürgerlichen Frauenideal. Sie sei, wie Wilhelm im Oktober 1829 kritisierte, mehr „Verstandes- und nicht Herzensfrau“. Augusta verstieß damit gegen das damalige Geschlechterbild, wonach der Mann rational und die Frau gefühlvoll zu sein hatte. Laut dem Historiker Jürgen Angelow sei die Ehe trotz ihrer politischen Motivation „nicht ganz so unglücklich verlaufen, wie es hätte sein können“. Mit der Zeit habe sich zwischen beiden ein Vertrauens- und Respektverhältnis entwickelt. In ihrer Rolle als preußische Prinzessin wurde von Augusta am Berliner Hof Zurückhaltung erwartet. Von dieser Norm abweichend teilte sie jedoch ihre Ansichten offen mit und wurde daher später als politische Gefahr für ihren Gemahl empfunden.
Am 18. Oktober 1831 brachte Augusta den Sohn Friedrich Wilhelm zur Welt. Der Fortbestand des königlichen Hauses schien durch die Geburt gesichert. Augusta nahm auf die Erziehung des künftigen Thronfolgers großen Einfluss: Friedrich Wilhelm absolvierte zwar eine militärische Laufbahn, wurde aber darüber hinaus nach einem neuhumanistischen Lehrplan in Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und Altertumswissenschaften unterrichtet. Auf Betreiben seiner Mutter gehörten zu seinen Spielgefährten viele Gymnasiasten aus dem Bürgertum. Augusta bestärkte ihren Sohn darin, an der Universität Bonn – fern vom Einfluss des Berliner Hofes – zu studieren. Bis zum zweiten Kind Luise, der späteren Großherzogin von Baden, die am 3. Dezember 1838 in Berlin geboren wurde, vergingen etwa sieben Jahre. Luise blieb Augustas letztes Kind, denn sie erlitt 1842 und 1843 jeweils eine Fehlgeburt.
Höfisches Leben: Konflikte, Residenzgestaltung und Zusammenwirken mit Wilhelm
Augusta hatte ein konfliktreiches Verhältnis zum preußischen Hof. Ihr in Weimar eingeübtes höfisches Auftreten wurde in Berlin und Potsdam als allzu stolz und unnahbar empfunden. Augusta ihrerseits missfiel der im Vergleich mit ihrer Heimat kulturell sparsamere und stärker militärisch geprägte Hof. Sie sah ihre Aufgabe als zunehmend nutzlos an und klagte darüber, dass allein Kronprinzessin Elisabeth, die Frau des späteren preußischen Königs Friedrich Wilhelms IV., karitativ wirken durfte. Zudem pflegte sie weniger mit den etablierten preußischen Adelsfamilien als mit Vertrauten Kontakt, die zum Teil als „Ausländerinnen“ angesehen wurden.
Augustas Sommerresidenz war seit 1835 Schloss Babelsberg bei Potsdam. Als Bauherrin nahm sie einigen Einfluss auf den Schlossbau: Nachdem sie sich mit architekturtheoretischen Werken und Stichen von englischen Landsitzen auseinandergesetzt hatte, fertigte sie eigenhändig Skizzen an und forderte die verantwortlichen Architekten auf, ihre Entwürfe umzusetzen. Augusta widmete sich in den folgenden Jahren ebenfalls der Innenausstattung des Schlosses. Mit dem englisch inspirierten Schloss und Landschaftsgarten drückte sie ihre Sympathien für das liberal regierte Großbritannien aus. Großen Einfluss nahm Augusta auch auf die Inneneinrichtung ihrer Winterresidenz in Berlin, das Alte Palais. Hierhin lud sie Militärs, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Höflinge zu abendlichen Teegesellschaften ein. Einer ihrer bevorzugten Gäste war der Forschungsreisende Alexander von Humboldt. Er berichtete dort von seinen Reisen oder las klassische Literatur vor. Zugegen war als Referent und Schachspieler häufig auch der Altertumsforscher Ernst Curtius.
Es kamen auch politische Themen zur Sprache, wobei Augusta die Zusammenkünfte zur Informationsgewinnung nutzte. Darüber hinaus las sie täglich mehrere Zeitungen und erstellte auf dieser Grundlage für Wilhelm schriftliche Zusammenfassungen der bedeutendsten Ereignisse. Durch die Treffen und den Austausch mit seiner Frau meinte Wilhelm, wie er ihr in einem Brief selbst mitteilte, eine offizielle Richtschnur für ihre Äußerungen vorgeben zu können. Es ging ihm darum, ihre Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen und eventuelle Disharmonien zwischen ihnen vor der Öffentlichkeit zu kaschieren. Wilhelm ließ Augusta einen Teil seiner Schreibkorrespondenz erledigen: Sie hatte von ihm verfasste Texte Korrektur zu lesen oder zu kopieren und war teilweise auch Mitverfasserin bei seiner Korrespondenz. Eine solche Aufgabenteilung bei fürstlichen Ehepaaren war im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, denn die Dynastie galt als eine Art „Familienunternehmen“.
Frau des Thronfolgers (ab 1840)
Verstärktes Politikinteresse
Durch den Tod König Friedrich Wilhelms III. 1840 rückte Wilhelm in die Stellung des Thronfolgers. Augusta sah die Politik des neuen regierenden preußischen Königs, ihres Schwagers Friedrich Wilhelm IV., kritisch. Dessen wenig reformbereiten Kurs hielt sie für einen Fehler, welcher der Monarchie die Treue der Bevölkerung koste. Augusta plädierte für ein frühzeitiges „freiwilliges Einlenken“ und die Erfüllung „allgemeine[r] Wünsche“ der Untertanen. Ihrer Meinung nach war die Existenz der monarchischen Herrschaftsform selbst gefährdet, sollte die Krone nicht auf Forderungen der politischen Öffentlichkeit eingehen. Mit dem Gemahl der britischen Königin, Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, teilte sie dabei die Einschätzung, wonach Preußen zunächst dem britischen Vorbild folgend ein Verfassungsstaat werden und erst dann eine nationale Einheit Deutschlands durchsetzen sollte.
Nach Einschätzung der Historikerin Caroline Galm sah Augusta es insbesondere als ihre Pflicht an, ihrem Sohn Friedrich Wilhelm auch durch ein eigenes politisches Mitwirken eine Aussicht auf den Thron zu erhalten. Sie wandte sich daher verstärkt politischen Themen zu und verfasste ab 1843 mehrere Denkschriften, die sie sowohl ihrem Mann als auch preußischen Staatsmännern vorlegte. Zu ihrer Beratung nahm Augusta unter anderem Kontakt mit den Gesandten Alexander von Schleinitz und Franz von Roggenbach, einem Politiker aus dem Großherzogtum Baden, auf. Der Briefverkehr zwischen Roggenbach und Augusta ist nur teilweise erhalten, da Augusta aus Furcht vor Zensur politisch brisante Briefe vernichten oder von Vertrauten zurückbringen ließ. Am Hof wurde die Vortragsweise ihrer Meinung als allzu temperamentvoll wahrgenommen. Wilhelm bezeichnete seine Frau deshalb in Briefen scherzhaft als „Oppositions-Teufelchen“. Intern äußerte sie Zweifel an Wilhelms intellektuellen Fähigkeiten und warf ihm eine ungenügende Differenziertheit seiner Betrachtungen vor.
Kontakte zum britischen Königshaus und zu Fürst Pückler
Augusta pflegte nun auch Kontakte zur britischen Königin Victoria. 1845 besuchte die Monarchin Augusta und Wilhelm in Berlin. Im Jahr darauf trat das Prinzenpaar den Gegenbesuch in London an. Victoria zeigte Sympathien für Augusta und befand in einem Brief an den belgischen König:
Die briefliche Korrespondenz zwischen der britischen Königin und Augusta blieb über mehrere Jahrzehnte bestehen und leitete letztlich auch die Heiratsanbahnung zwischen ihrem Sohn Friedrich Wilhelm und Victorias gleichnamiger Tochter ein. Seit den 1840er Jahren schrieb Augusta auch Briefe an Fürst Hermann von Pückler-Muskau, einem damals berühmten Schriftsteller und Weltreisenden. Ihn kannte Augusta bereits seit 1826 vom Weimarer Hof. Sie schätzte besonders die Konversation mit Pückler, welcher ihrer Meinung nach mit seiner redegewandten und intellektuellen Art aus dem preußischen Hof herausstach. Mit ihm tauschte sie sich unter anderem über den Weimarer Hof, England, Paris und ihre Gesundheit aus. 1842/1843 vertraute sie dem Fürsten die landschaftsgärtnerische Gestaltung von Park Babelsberg an. Augusta und Pückler waren sich in ihrer Vorliebe für den englischen Cottage-Stil einig und orientierten sich an englischen Musterbüchern, etwa von dem Architekten Robert Lugar. Um seine künstlerische Nähe gegenüber Augusta zu betonen, ließ Pückler im Branitzer Park eine Schmiede errichten, die dem Kleinen Schloss in Park Babelsberg ähnelt.
Revolution von 1848: Politische Reformappelle und Beginn der Feindschaft mit Bismarck
Im Zuge der Revolutionen 1848/1849 kam es auch in Berlin zu gewaltsamen Zusammenstößen des Militärs und der Zivilbevölkerung. Augustas Mann wurde als der Hauptverantwortliche für das Blutvergießen angesehen und musste nach Großbritannien ins Exil gehen. Augusta brachte sich derweil mit den beiden Kindern nach Potsdam in Sicherheit. Da sie in der Öffentlichkeit als vergleichsweise aufgeklärt galt, blieb sie dort ungefährdet. In Reaktion auf die Revolution mahnte Augusta zu schnellen Reformen. In einem Brief an Wilhelm vom 5. Juni 1848 äußerte sie: „Es gilt jetzt die Monarchie und ihre Trägerin die Dynastie zu retten, dies ist die Aufgabe für die kein Opfer groß genug seyn kann.“ Sie empfahl auch, dass Preußen in der deutschen Frage die Initiative ergreifen und unabhängig von der Politik in Wien und Sankt Petersburg eine nationale Einigung vorantreiben müsse. Erneut riet sie dazu, das preußische Volk politisch mitentscheiden zu lassen. Eine Verfassung könne dafür eine gesetzliche und klar geregelte Grundlage schaffen.
Langfristige Folgen hatte die Revolution von 1848/1849 für das Verhältnis Augustas zum späteren Reichskanzler Otto von Bismarck: Am 23. März 1848, kurz nach der Märzrevolution 1848, empfing sie ihn im Potsdamer Stadtschloss. Augustas Version zufolge soll Bismarck sich darum bemüht haben, sie für eine Konterrevolution gegen König Friedrich Wilhelm IV. zu gewinnen. Bismarck habe in Erfahrung bringen wollen, wo sich ihr Gemahl aufhalte, um von ihm einen Marschbefehl auf Berlin zu erbitten. Das hätte den von König Friedrich Wilhelm IV. angeordneten Rückzug der Soldaten hochverräterisch konterkariert. Zudem störte sie sich daran, dass Bismarck äußerte, im Auftrag ihres Schwagers Prinz Carl, dem jüngeren Bruder Wilhelms, zu handeln. Carl hatte erst wenige Tage vorher dem König sowie Prinz Wilhelm nahegelegt abzudanken beziehungsweise auf die Königsnachfolge zu verzichten. Augusta hatte ihn deshalb im Verdacht, selbst den Königsthron besteigen und mit Bismarcks Hilfe putschen zu wollen. Bismarck seinerseits warf Augusta nachträglich vor, 1848 gegen Wilhelm Intrigen gesponnen zu haben: Sie habe darauf hingearbeitet, selbst die Regentschaft für ihren Sohn Friedrich Wilhelm zu übernehmen. Ihm selbst sei es nur darum gegangen, den regierenden König mit der Hilfe des Militärs vor der Revolution zu beschützen. Da sich dem Historiker und Bismarckbiographen Eberhard Kolb zufolge die Aufzeichnungen Augustas und Bismarcks über den Hergang widersprechen, lassen sich die Inhalte der Unterredung nicht mehr rekonstruieren. Sicher lasse sich nur sagen, dass Augusta seit dieser Begegnung Bismarck feindlich gesonnen war.
Der Historiker David E. Barclay schätzt ihre Rolle dahingehend ein, dass „sie im Frühjahr und im Sommer [… Wilhelms] Position als Thronfolger erfolgreich verteidigte“. Das Verhältnis Wilhelms zu seiner Frau verbesserte sich in der Folge. Nach Darstellung Barclays näherte er sich – beeinflusst durch Augustas Denkschriften und Briefe – ihr auch politisch an. Der zuvor noch absolutistisch gesinnte Prinz sei „langsam in eine gemäßigt-konservative, aber konstitutionelle Richtung“ umgeschwenkt. Diese Ansicht ist jedoch umstritten. Dem Historiker Jan Markert zufolge habe Wilhelm eigenständig im Verlauf der Revolution 1848 erkannt, dass die preußische Monarchie sich mit einer konstitutionellen Regierungsform abfinden müsse. Hans-Ulrich Wehler sieht dagegen in Augusta den Grund für die spätere Zuwendung Wilhelms zur rechtsliberalen Wochenblattpartei.
Zur selben Zeit wurde in liberalen Kreisen die Möglichkeit erwogen, einen Herrscherwechsel zu erzwingen. So wurde Augusta als mögliche Regentin für ihren unmündigen Sohn Friedrich Wilhelm ins Gespräch gebracht. Im Unterschied zu Großbritannien, Portugal und Spanien gab es in Preußen allerdings keine Tradition regierender Königinnen oder Regentinnen. Da König Friedrich Wilhelm IV. auch Reformen in Aussicht stellte, wurde der Plan rasch verworfen. Augusta beseitigte nachträglich einige ihrer Briefe aus den Revolutionsjahren.
Koblenzer Jahre (1850–1858)
Hof der Wochenblattpartei, Rheinanlagen, Karitatives
1849 ernannte König Friedrich Wilhelm IV. Prinz Wilhelm zum Militärgouverneur am Rhein und in Westfalen. Seinen Amtssitz bezog der Prinz ab 1850 in Koblenz, der Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz. Im dortigen Schloss hatte Augusta Gelegenheit, ein Hofleben zu gestalten, wie sie es aus ihrer Kindheit am Weimarer Hof gewohnt war. In Koblenz konnte sie sich mit einem ihr genehmen Personenkreis umgeben, Kontakte zum rheinländischen Bürgertum knüpfen und ein weniger distanziertes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung pflegen. Dazu trug ihre Toleranz gegenüber der katholischen Konfession und karitative Förderungen bei. Barclay charakterisiert ihre Inszenierung als sowohl „fürstlich-dynastisch“ als auch „bürgernah“. Einige der Vertrauten Augustas am Koblenzer Hof, oft Angehörige der Wochenblattpartei, wurden in der sogenannten Neuen Ära unter Prinzregent Wilhelm Staatsminister. Dem regierenden Monarchen und teils auch Prinz Wilhelm missfiel Augustas vergleichsweise liberale Gästeauswahl. Wilhelm hatte nicht immer darauf Einfluss, da er sich häufig nicht im Koblenzer Schloss aufhielt.
In Koblenz ließ Augusta ab 1856 am linken Ufer des Rheins einen Park mit Promenade anlegen, die sogenannten Rheinanlagen. Einen repräsentativen Uferabschnitt hatte es bis dahin nur direkt am Schloss und an der Rheinlache gegeben. Zusätzlich ließ sie die Rheinanlagen durch Pavillons und neu gepflanzte Bäume aufwerten. Augusta förderte nun erstmals im größeren Umfang Organisationen, die im Bereich der Krankenpflege oder Armenversorgung wirkten. Hierzu zählten unter anderem die katholische Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Brüder in Weitersburg oder die Kaiserswerther Diakonie. Sie wurde 1850 Schirmherrin des Evangelischen Frauenvereins, zwei Jahre später auch des Katholischen Frauenvereins.
Verheiratung der Kinder
Augusta bahnte die Heirat ihrer Tochter Luise mit dem als liberal geltenden neuen Großherzog von Baden, Friedrich I. an, die 1856 stattfand. Zwei Jahre später begrüßte sie die Heirat ihres Sohnes Friedrich Wilhelm mit Victoria, einer Tochter der englischen Königin. Augusta selbst hatte die Vermählung befördert und darin ein Mittel gesehen, Preußen bündnispolitisch vom ihrer Auffassung nach autokratisch regierten Russland wegzuführen. Stattdessen sollte es sich Großbritannien und Frankreich annähern.
Ihre Vorbehalte gegen Russland führt die Historikerin Hannah Pakula auch darauf zurück, dass Augusta die „Russen“ für ein Attentat auf ihren Großvater Paul I. im Jahr 1801 verantwortlich gemacht habe. Mit Frankreich habe sie dagegen zeitlebens sympathisiert, da sie in ihrer Erziehung besonders mit dessen Kultur vertraut gemacht worden sei. Trotz der Sympathien für das britische Königshaus blieb Augustas Verhältnis zu ihrer Schwiegertochter Victoria recht kühl. Victoria selbst klagte über eine temperamentvolle Launenhaftigkeit Augustas. Beide Frauen teilten zwar eine politisch ähnliche Haltung, stritten aber über die richtige Erziehung der Kinder Friedrich Wilhelms. Während Augusta Wert auf eine traditionelle höfische Repräsentation legte, führte Victoria ein eher bürgerlich orientiertes Familienleben. Zu Augustas Missfallen agierte Victoria zudem öffentlich und setzte sich beispielsweise für universitäre Frauenbildung ein. Sie stand damit der Frauenbewegung ihrer Zeit nahe. Nach Einschätzung von Monika Wienfort blieb Augustas karitative Förderung stets im Bereich „traditioneller monarchischer Wohltätigkeit“. Augustas Engagement habe dazu dienen sollen, das soziale Ansehen ihres Standes zu erhöhen. Eine Erringung emanzipatorischer Gleichstellung mit den Männern war von ihr, wie bei vielen Frauen aus Aristokratie und Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts, nicht beabsichtigt.
Frau des Prinzregenten (1858–1861): politische Einflussnahme und Scheitern
Weil Friedrich Wilhelm IV. nach mehreren Schlaganfällen endgültig nicht mehr als regierungsfähig galt, wurde sein Bruder 1858 als Prinzregent eingesetzt. Im Herbst dieses Jahres kehrte Augusta daraufhin mit ihm nach Berlin zurück, blieb Koblenz aber lebenslang durch häufige Reisen verbunden. Wilhelm ernannte Minister, die für eine liberalere Politik standen und von denen viele am Koblenzer Hof verkehrt hatten. Alexander von Schleinitz, ein Vertrauter Augustas, erhielt das Außenministerium. Augusta war mit Schleinitz bereits seit der Revolutionszeit 1848 eng befreundet. Bismarck spekulierte demzufolge, dass sein Rivale „seine Karriere nur Unterröcken zu verdanken“ habe. Der Historiker Bastian Peiffer sieht darin jedoch eine Unterstellung und bestreitet, dass Augusta die eigentliche Begründerin der neuen Regierung gewesen sei. Birgit Aschmann sieht in zeitgenössischen Bezeichnungen wie „Augusta-Ministerium“ konservative Versuche, den neuen politischen Kurs abzuwerten. Augusta sympathisierte demnach mit dem neu gebildeten Ministerium. Einige der Minister seien wie sie davon überzeugt gewesen, dass eine Anlehnung an Großbritannien auch innenpolitisch vorteilhaft sei. Nach Ansicht des amerikanischen Historikers Otto Pflanze sah sie die Regierung der sogenannten Neuen Ära als „ihr Ministerium“ an; deren Entlassung sei für Augusta daher eine bleibende Kränkung gewesen, weswegen sie gegen den späteren preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck opponiert habe, ganz gleich, ob er in der Politik einen liberalen oder konservativen Kurs einschlug.
Die vergleichsweise liberale Phase hielt nur etwa drei Jahre an. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen starb 1861 mit dem britischen Prinzgemahl Albert von Sachsen-Coburg und Gotha der wichtigste Betreiber der preußisch-britischen Verbindung. Gleichzeitig nahmen die Konflikte zwischen Augusta und ihrer Schwiegertochter Victoria zu. Augusta verübelte ihr ihren Einfluss auf Friedrich Wilhelm. Zum anderen geriet Wilhelm im Zuge einer Reform der preußischen Armee in einen Grundsatzkonflikt mit dem preußischen Abgeordnetenhaus. Angesichts eines preußischen Verfassungskonfliktes dachte er über konservativere Besetzungen in seiner Regierung nach.
Preußische Königin (ab 1861)
Krönung und Gegnerschaft zu Bismarck
Mitten in dieser Staatskrise starb 1861 Friedrich Wilhelm IV. Augusta wurde dadurch Königin von Preußen. Ihre Krönungszeremonie fand am 18. Oktober desselben Jahres in der Königsberger Schlosskapelle statt. Nachdem Wilhelm sich selbst die Königskrone aufgesetzt hatte, krönte er anschließend seine Frau. Augusta war in der preußischen Geschichte die zweite gekrönte Königin. Vor ihr wurde nur Sophie Charlotte im Jahr 1701 eine solche Herrscherweihe in Königsberg zuteil. Während des sich zuspitzendes Konfliktes zwischen ihrem Gemahl und dem Abgeordnetenhaus versuchte Augusta Wilhelm eine Ernennung Otto von Bismarcks zum Ministerpräsidenten auszureden. Sie glaubte nicht, dass er integrierend und versöhnend wirken würde, und erwartete von ihm eine weitere Eskalation der innenpolitischen Auseinandersetzung. Bismarck sei, wie sie 1864 befand, ein „grundsatzlose[r] und leichtsinnige[r] Mensch[...], bei dem manchmal Zweifel über die Zurechnungsfähigkeit seiner Worte und Thaten gehegt“ werden müssten. Augusta empfand bereits Bismarcks Auftreten als Gesandter am Frankfurter Bundestag als diplomatisch untragbar. Er habe mit seinen unverhüllten Großmachtambitionen stets Misstrauen bei den Preußen gegenüber freundlich gesonnenen Regierungen im Deutschen Bund geweckt. Noch Ostern 1862 warnte die Königin ihren Mann mit einer achtzehn Seiten umfassenden Denkschrift vor Bismarck als möglichen Ministerpräsidenten. Wilhelm setzte sich im September 1862 über ihren Rat hinweg. Seine Entscheidung kommentierte der Kronprinz Friedrich Wilhelm mit den Worten: „Arme Mama, wie bitter wird gerade dieses [sic] ihres Todfeindes Ernennung sie schmerzen.“
Bismarck wiederum verachtete Augusta wegen ihres Einflusses auf Wilhelm. Er sah in ihrem Agieren eine Grenzverletzung weiblicher Handlungsräume. Aus seiner Perspektive musste eine weibliche Beeinflussung des vermeintlich schwachen Herrschers vermieden werden. Neben Augusta sah er in der Kronprinzessin Victoria eine Gefahr. Während Bismarck Augusta noch ein Pflichtbewusstsein und vornehmes Verhalten attestierte, sprach er Victoria solche Eigenschaften gänzlich ab. Aus der Perspektive Bismarcks und seiner Verbündeten gehörte Augusta einem gegnerischen politischen Lager am Hof an. Die Bismarckpartei polemisierte daher auch publizistisch gegen Augusta als prominenteste Vertreterin der sogenannten Englandfraktion. Auf diese Weise sollte vor allem ihre Kritik am reaktionären und außenpolitischen Regierungskurs diskreditiert werden. Trotz Bismarcks Berufung bemühte sich Augusta weiterhin, ihren Mann zu beraten. Zu diesem Zweck intensivierte sie ihren Kontakt zu Franz von Roggenbach und besuchte den ehemaligen badischen Außenminister häufig in Baden-Baden, wo sie zur Kur weilte. Roggenbach war wie Augusta ein Kritiker der bismarckschen Politik. So formulierte sie in Absprache mit Roggenbach politische Denkschriften an Wilhelm I. Bismarck machte Augusta dafür verantwortlich, wenn der König nicht seinem Rat folgte. Sie habe in solchen Fällen bei vorhergehenden Frühstücken mit dem König gegen ihn intrigiert. In Augustas Umfeld würden sich, wie Bismarck meinte, seine politischen Gegner formieren, darunter auch Kronprinzessin Victoria und die gesamte ihm feindlich gesonnene Hoffraktion. In späteren Jahren warf Bismarck der Königin vor, mit ihren Intrigen seine Amtstüchtigkeit und Gesundheit zu ruinieren.
Distanzierte Haltung zum Militarismus und Deutschen Krieg
Augusta befürwortete zwar eine nationale Einigung Deutschlands unter preußischer Vorherrschaft. Die Königin wollte eine Einheit jedoch mit friedlichen Mitteln erreicht sehen und verurteilte die drei deutschen Einigungskriege 1864, 1866 und 1870/1871. Karin Feuerstein-Praßer charakterisiert Augusta deswegen als Pazifistin. Birgit Aschmann relativiert diese Wertung mit Hinweis auf das ihr unterstellte Königin Augusta Garde-Grenadier-Regiment Nr. 4, das die Monarchin besonders förderte. Gleichwohl hebt Aschmann hervor, dass Augusta sich im Unterschied zu den meisten liberalen Akteuren auch während der militärischen Siege nicht patriotisch begeistert zeigte. Sie behielt ihre kritische Haltung gegenüber Bismarcks Außenpolitik bei. Gerade im Vorfeld des Deutschen Krieges 1866 versuchte sie mit ihrer Korrespondenz an die verschiedenen Höfe diplomatisch zu vermitteln und die militärische Eskalation noch abzuwenden. Augusta fürchtete insbesondere einen unvorteilhaften Kriegsverlauf gegen Österreich. Sie argumentierte, dass Preußen sich bei einer militärischen Konfrontation vom Wohlwollen Napoleons III. abhängig mache. Die Königin wandte sich mit der Bitte um Vermittlung auch an die britische Königin. Ab Mai 1866 gab sie aber ihre diplomatischen Appelle auf. Im Vorfeld des Krieges von 1866 versuchte Augusta Wilhelm erneut von einer Entlassung Bismarcks zu überzeugen. Zu einem solchen Schritt rieten dem preußischen Monarchen ebenfalls Victoria, Friedrich Wilhelm und der badische Großherzog Friedrich I. Wilhelm hielt jedoch an seinem Ministerpräsidenten fest.
Karitative Betätigung
Die karitative Fürsorge galt im 19. Jahrhundert als ein traditioneller Wirkungsbereich für Fürstinnen. Als Reaktion auf die deutschen Einigungskriege engagierte sich Augusta vor allem in der Soldatenfürsorge. Zur Verbesserung der Verwundetenpflege in den Lazaretten besuchte die Königin die berühmte britische Krankenschwester Florence Nightingale und empfing Henry Dunant, der 1863/64 das Rote Kreuz ins Leben gerufen hatte. Auf ihr Betreiben hin fand die erste internationale Tagung des Roten Kreuzes 1869 in Berlin statt. Viele Bilder zeigen sie mit dem Abzeichen der Organisation. Mehrere Krankenhausgründungen gehen auf ihre Initiative zurück; dazu zählt das noch heute existierende Langenbeck-Virchow-Haus, das Sitz der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ist. Nach dem Tod des Chirurgen Bernhard von Langenbeck setzte sich Augusta bei der Regierung und mit eigenen finanziellen Zuschüssen dafür ein, dieser Gesellschaft einen eigenen Wirkungsort einzurichten.
Außerdem beteiligte sich Augusta an der Organisation des 1865 neu gestifteten Luisenordens. Die Auszeichnung wurde vor allem an Frauen verliehen, die sich bei der Verwundetenfürsorge oder Spendenaktionen für die betroffenen Soldaten hervorgetan hatten. Augusta konnte durchsetzen, dass auch katholische Frauen geehrt wurden. Sie selbst schlug dem König viele der Auszuzeichnenden vor. 1866 gründete sie den Vaterländischen Frauenverein, der sich um verwundete und erkrankte Soldaten kümmerte. 1868 nutzte Augusta den Verein, um in Berlin einen Markt zu organisieren. Der Erlös von 70.000 Talern ging anschließend an Hochwasserbetroffene in Ostpreußen. Augusta selbst spendete 6.000 Taler an Geistliche in der Unglücksregion.
Verhalten im Deutsch-Französischen Krieg
Angesichts sich verschärfender diplomatischer Spannungen zwischen Preußen und Frankreich empfahl die Königin ihrem Mann 1868 versöhnliche Töne anzuschlagen. Er solle in einer Rede „bezeugen, daß Preußen sich der Aufgabe bewußt [sei], den Frieden aufrecht zu erhalten!“. Sie empfahl ihm 1870, die Frankreich provozierende spanische Thronkandidatur des Hohenzollernprinzen Leopold nicht zu unterstützen, und bezeichnete die Unternehmung als „abenteuerliches Projekt“. Bismarck konnte sich in dem Punkt jedoch bei Wilhelm durchsetzen, sodass Leopold die Kandidatur annahm. Die französischen Reaktionen hierauf nutzte Bismarck, um Frankreich zu einer Kriegserklärung an Preußen zu provozieren. Wie vor dem Krieg gegen Österreich 1866 fürchtete Augusta erneut eine preußische Niederlage. Wilhelm war zunächst einer ähnlichen Meinung, wollte jedoch im Juli 1870 der französischen Regierung keine Zusage geben, niemals der spanischen Thronkandidatur eines Hohenzollern zuzustimmen. Augusta äußerte für diese Position Verständnis. Auch sie stufte die Pariser Forderung als ehrverletzende Herausforderung ein, plädierte aber dafür, notfalls auch einen diplomatischen Sieg Frankreichs hinzunehmen.
Bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges weilte Augusta noch in Koblenz. Sie kehrte als letztes Mitglied der königlichen Familie in die Hauptstadt zurück, was Wilhelm verärgerte. Nachdem der Monarch in sein Hauptquartier in Richtung Frankreich abgereist war, übernahm Augusta in Berlin viele seiner repräsentativen Aufgaben. Sie empfing Staatsminister und nahm die Berichte des Generalgouverneurs Bonin entgegen. Auch im militärischen Bereich erfüllte sie Aufgaben, etwa bei der Verabschiedung von Truppen oder bei Besuchen von Offizieren, die einen familiären Verlust im Krieg zu beklagen hatten. Außerdem erschien sie in Lazaretten und nahm an Sitzungen mehrerer Vereine zur Verwundetenpflege teil. In Anwesenheit der Königin wurden vom Balkon des Alten Palais mehrfach Depeschen zu gewonnenen Schlachten verlesen. Die Königin zeigte sich dabei nach Meinung von Aschmann emotional betont zurückhaltend. Sie habe lediglich mit einem Tuch vom Balkon gewunken und so eine gewisse Distanzierung zum Krieg zeigen wollen.
Deutsche Kaiserin (1871–1888)
Abwesenheit bei der Reichsgründung
In die Vorbereitungen zur Gründung des Deutschen Reiches war Augusta kaum involviert. Während Wilhelm sich im Schloss Versailles bei Paris aufhielt, dem Hauptquartier des Generalstabes, blieb sie in Berlin und stand mit ihrem Mann in engem Briefkontakt. In ihrer Korrespondenz bemühte sie sich darum, Wilhelm politisch zu beeinflussen. So schlug sie beispielsweise vor, mit der Kaiserproklamation zu warten, bis der bayerische Landtag einem Beitritt zum deutschen Nationalstaat zugestimmt habe. Wilhelm setzte sich diesbezüglich jedoch über ihre Empfehlung hinweg. Da die Briefe von Berlin nach Versailles meist drei bis vier Tage benötigten, war sie kaum über tagespolitische Fragen informiert. Auf die raschere Kommunikationsmöglichkeit per Telegrafie wollte Wilhelm ihr gegenüber nicht zurückgreifen. Den Titel einer deutschen Kaiserin wollte sie selbst nicht führen. Augusta teilte noch im Dezember 1870 dem Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach mit, dass es ausreichend sei, wenn nur Wilhelm den kaiserlichen Rang einnehme. Auf Augustas Haltung wurde in dieser Frage jedoch keine Rücksicht genommen. Nach der Kaiserproklamation Wilhelms am 18. Januar 1871 erhielt sie – beispielsweise vom preußischen Landtag – Schreiben, die ihr zu der neuen Würde gratulierten. Der Titel einer „deutschen Kaiserin“ wurde allerdings nie in der Verfassung des Deutschen Reiches rechtlich fixiert.
Kritik am Kulturkampf
Eine besondere Rolle nach 1871 spielte das politische Verhältnis der Kaiserin zum Katholizismus: Die wie der Kaiser dem protestantischen Glauben angehörende Augusta sah seit den 1850er Jahren im Ultramontanismus, einer papstreuen politischen Strömung, eine Beeinträchtigung für die Treue der katholischen Bevölkerung. Der Historikerin Caroline Galm zufolge bemühte sich Augusta daher darum, „Integrationsdefizite zu beheben und die Katholikinnen und Katholiken mit dem protestantischen Herrscherhaus zu versöhnen“. Um beispielsweise Sympathien im überwiegend katholischen Süddeutschland zu gewinnen, empfahl Augusta im Oktober 1870 ihrem Mann sich diplomatisch für die Rechte des Papstes einzusetzen. Hintergrund hierfür war die Besetzung des bis dahin unabhängigen Kirchenstaates durch Truppen des Königreichs Italien. Die antikatholische Politik Bismarcks im Kulturkampf hielt die Kaiserin für die falsche Vorgehensweise. Auch sie lehnte zwar den Inhalt des Ersten Vatikanischen Konzils von 1869 ab, meinte aber, dass mit gemäßigten Kräften der Katholiken doch eine Versöhnung erreicht werden könne. Sie ließ Wilhelm dazu 1872 eine eigens verfasste Denkschrift „über die kirchlich-politische Lage“ zukommen. In dem Dokument forderte sie ihn auf, gegenüber der katholischen Kirche „beruhigend einzuwirken, das verlorene Vertrauen herzustellen und die Schroffheit der Gegensätze möglichst zu mildern“. Augusta wandte sich zu Gunsten der katholischen Bevölkerung mehrfach an Behörden und Kaiser. 1872 setzte sie sich beispielsweise dafür ein, dass Philipp Krementz als Bischof von Ermland im Amt bleiben konnte. Die Kulturwissenschaftlerin Andrea Micke-Serin führt eine Abmilderung des Klostergesetzes von 1875 auf Augustas Einfluss zurück. Das Gesetz sah zwar weiterhin die Schließung katholischer Klosterorden in Preußen vor, nahm davon aber reine Krankenpflegeorden aus.
Höhepunkt des Konflikts mit Bismarck
1877 bat Bismarck den Kaiser vorgeblich wegen der andauernden Konflikte mit Augusta und ihrem Umfeld um seine Entlassung. Nachdem Wilhelm ihm daraufhin einen mehrwöchigen Urlaub gewährt hatte, forcierte Bismarck mehrere Presseartikel, in denen er vor allem die Kaiserin für seine Rücktrittspläne verantwortlich machte. Der Reichskanzler konkurrierte, wie der Bismarck-Biograph Christoph Nonn bilanziert, am Hof mit mehreren Akteuren um Einfluss auf den Monarchen. Der Königin und Kaiserin käme hierbei eine besondere Rolle zu. Bismarck habe, wie er selbst klagte, gegen ihren Einfluss auf den Monarchen ständig anarbeiten müssen. Der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg erklärt Bismarcks Feindschaft mit einem psychologischen Kindheitstrauma. Unter einer dominanten und kaltherzigen Mutter habe er eine ausgeprägte Frauenverachtung entwickelt und sich von Frauen, die ihre schwachen Ehemänner beherrschen, bedroht gefühlt. Die gegenüber Wilhelm selbstbewusst auftretende Augusta passte demnach in Bismarcks Feindbild. Gleichzeitig sieht Steinberg die Kaiserin als begünstigenden Faktor für Bismarcks politische Stellung im Kaiserreich. Die Auseinandersetzung mit Augusta habe den Kaiser nachgiebiger werden lassen und seine Bereitschaft begünstigt, den politischen Forderungen seines Reichskanzlers nachzugeben.
Annäherung an den Reichskanzler
Da die katholische Zentrumspartei in den Reichstagswahlen von 1878 an Stimmen gewann, sah sich Bismarck gezwungen, den Kulturkampf zu beenden. Augusta empfand dies als einen persönlichen Erfolg gegen Bismarck. Kurz danach begann die Kaiserin sich Bismarck anzunähern. Grund hierfür war zum einen ihr Respekt vor seiner außenpolitischer Leistung auf dem Berliner Kongress. Augusta bezeichnete den Reichskanzler nun als „genialen Staatsmann“. In Bismarcks Sinne bestärkte sie Wilhelm darin, ohne Russland einen Zweibund mit Österreich einzugehen. Zum anderen hielt sie mittlerweile Bismarck für den geeigneten Mann, ihren Enkel, den späteren deutschen Kaiser Wilhelm II., auf seine Regierungstätigkeit vorzubereiten. Der Augusta-Biografin Karin Feuerstein-Praßer zufolge habe Augustas Annäherung an Bismarck weniger mit dessen Politik als mit innerfamiliären Spannungen zu tun. Wie der Reichskanzler hielt sie ihren Sohn Friedrich Wilhelm als künftigen Herrscher für weniger geeignet als Prinz Wilhelm. Dem Kronprinzen sprach sie die für das kaiserliche Amt benötigten geistigen Fähigkeiten und politische Entschiedenheit ab. Augusta und Bismarck störten sich insbesondere daran, dass Victoria ihren eigenen Einfluss auf Friedrich Wilhelm schmälerte. Beide setzten ihre politischen Erwartungen daher auf Prinz Wilhelm. Da dieser zu seiner Mutter Victoria in keinem guten Verhältnis stand, näherte auch er sich nach seinem Studium Augusta und ihrer Tochter Luise an.
Jährliche Reisen und politisches Mitwirken in den letzten Lebensjahren
Vom Berliner Hof hielt sich Augusta häufig fern. Sie verbrachte nur etwa die Hälfte des Jahres in Berlin. Im Mai reiste sie meist zur Kur nach Baden-Baden. Es folgte im Juni ein Aufenthalt in Koblenz, wo sie karitativen und gesellschaftlichen Aufgaben nachging. Gelegentlich besuchte sie von dort aus ihre Tochter Luise in der badischen Residenzstadt Karlsruhe oder kurte in Bad Ems, wohin auch ihr Mann reiste. Im Herbst hielt sich Augusta erneut in Baden-Baden oder auf der Bodenseeinsel Mainau auf. Die Wintersaison verbrachte sie von November bis April in Berlin.
Die Kaiserin selbst litt zunehmend unter körperlichen Gebrechen und zog sich 1881 bei einem Sturz in Koblenz schwere Verletzungen zu. Fortan war sie auf Krücken und einen Rollstuhl angewiesen. Trotzdem versuchte Augusta weiterhin politisch mitzuwirken und auch ihrer Patronage gegenüber der katholischen Bevölkerung nachzukommen. Hierzu setzte sie unter anderem auf finanzielle Unterstützung.
Bei dem Tod ihres Mannes am 9. März 1888 war Augusta im Alten Palais persönlich zugegen. Wenige Monate später erlebte sie noch, wie ihr Sohn, Kaiser Friedrich III., an Kehlkopfkrebs starb. In der Folge bestieg ihr Enkel, Wilhelm II., den Kaiserthron.
Tod und Erbe
Augusta starb am 7. Januar 1890 im Alter von 78 Jahren an einer Atemwegserkrankung, der Russischen Grippe.
Sie wurde zunächst in ihrem Wohnsitz, dem Alten Palais Unter den Linden, für die Öffentlichkeit aufgebahrt. Ihrem Testament folgend erhielten das Rote Kreuz (Augusta Fonds), weitere Wohltätigkeitseinrichtungen insbesondere in Berlin und Koblenz sowie die Koblenzer Rheinanlagen finanzielle Zuwendungen.
Rezeption
Zeitgenössische Wahrnehmung
Bismarck und sein Umfeld
Da Bismarck seit der Revolution von 1848 mit Augusta in keinem guten Verhältnis stand, zeichnete er in seiner Autobiographie, den Gedanken und Erinnerungen, ein negatives Bild der Kaiserin: Sie habe einen schädlichen Einfluss auf Wilhelm I. ausgeübt und sei aufgrund ihrer Sympathien für die französische und englische Kultur unpatriotisch veranlagt gewesen. Bismarck warf ihr auch fälschlich vor, eine „Landesverräterin“ gewesen zu sein, welche Staatsgeheimnisse an die französische Botschaft weitergegeben habe. Ihre pazifistische Haltung sei realitätsfern gewesen und ihre Intrigen hätten ihm die Führung der Staatsgeschäfte erschwert. Der preußische Ministerpräsident und Reichskanzler schrieb der Kaiserin ein „Bedürfniß des Widerspruchs“ zu: Wenn er auf einen konservativen Kurs schwenkte, habe sie einen liberalen Personenkreis versucht zu befördern. Agierte er dagegen liberaler, habe sich die Kaiserin auf die Seite der Konservativen und Katholiken gestellt. Bismarck meinte, dass Augusta nur während der sogenannten Neuen Ära nicht gegen die preußische Regierung opponiert habe. In dieser Phase habe sie sich in der Ministerwahl durchsetzen können. Die Historikerin Petra Wilhelmy kommt zu dem Ergebnis, dass Bismarck Augusta „bis zu einem gewissen Grade Unrecht tat“. Die Monarchin habe nicht aus einem prinzipiellen „Widerspruchsgeist“ zu seiner Politik agiert, sondern sei im Gegensatz zum Reichskanzler vergleichsweise liberal gesinnt und konfessionell tolerant gewesen. Gegen eine vermeintliche Dominanz Augustas und Victorias positionierte sich neben Bismarck auch Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha öffentlich. Er warnte angesichts der „Frauenpolitik“ vor „feindliche[n] und den Deutschen schädliche[n]“ Unternehmungen.
Umstrittener Ruf in der Öffentlichkeit
Insgesamt wurde im 19. Jahrhundert jedoch die Wirksamkeit des politischen Handelns Augustas aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit Bismarck als gering eingestuft. Bewertungen konzentrierten sich auf ihre repräsentative Rolle in der Monarchie. Wie andere Fürstinnen musste sie dem vorherrschenden Rollenbild entsprechen, das heißt sich im Bereich der karitativen Wohltätigkeit und der königlichen Nachrichtenübermittlung betätigen, Letzteres besonders während der kriegsbedingten Abwesenheiten Wilhelms. Aus der Perspektive der Zeitgenossen war Augusta dafür nur teilweise geeignet. Sie zeigte zwar als Schirmherrin vieler „Vaterländischer Frauenvereine“ Präsenz, abgesehen von diesem Engagement für die Verwundetenpflege hielt sie sich öffentlich jedoch meist zurück.
Die Illustrirte Zeitung kritisierte am 27. Juli 1867 Augustas zunehmenden Rückzug ins Familienleben. Vor der Revolution von 1848/1849 sei sie noch „eine glänzende Erscheinung am Hofe zu Berlin“ gewesen. Mittlerweile halte sie sich jedoch vornehmlich „im stillen Kreise des Familienlebens […] wie verborgen“ und nehme kaum noch am Berliner Hofleben teil. Stattdessen verlebte sie „den größten Theil des Jahres außerhalb der Residenz […], auf ihrem Lieblingssitz zu Koblenz oder in Karlsruhe bei der Tochter, oder in einem deutschen Bad, wo sie die gewöhnliche Cur gebraucht“. Kritik erregte auch, dass sie in der Hauptstadt für eine Monarchin recht unscheinbar, das heißt zu wenig ihren gesellschaftlichen Status repräsentierend in Erscheinung trat. Laut Katrin Feuerstein-Praßer war Augusta außerhalb von Koblenz zu ihren Lebzeiten nie populär. Die Historikerin führt das darauf zurück, dass Augusta zum einen Schwierigkeiten damit gehabt hätte, intensive Kontakte zu der preußischen Elite zu pflegen. Zum anderen habe es Aufsehen erregt, dass sie überwiegend Französisch sprach und schrieb. An den deutschen Höfen war dies in der Reichsgründungszeit schon nicht mehr üblich. Nach Ansicht des Historikers Gerd Heinrich war Augusta bei den Zeitgenossen eine „in fast jeder Hinsicht umstrittene Erscheinung“. Einerseits wurde ihr Einfluss auf die Erziehung des Thronfolgers und der Tochter Luise positiv bewertet. Ihr fürstliches Auftreten und ihre Umgangsformen galten teils als angemessen; andererseits fielen Augustas Reizbarkeit und ihre Stimmungsschwankungen negativ auf. Der auf ihre Weimarer Prägung zurückgeführte Intellekt und ihre Prunkvorliebe hätten am vergleichsweise sparsamen Hohenzollernhof unpassend gewirkt.
Nach Ansicht von Georg Wagner-Kyora verschaffte Augustas karitatives Eintreten Preußen auf internationaler Bühne Ansehen. Ihr diplomatisches Netzwerk zu anderen Fürstenhäusern ließ sie in der öffentlichen Wahrnehmung als unkriegerisch erscheinen. Sie erreichte im Kaiserreich jedoch nie die Popularität von Auguste Viktoria. Die Gemahlin Wilhelms II. war selbst im deutschen Bürgertum respektiert. Augusta dagegen blieb, so die Einschätzung Wagner-Kyoras, zu sehr in einem „dynastischem Traditionalismus“ verfangen. Auch David Barclay zufolge manövrierte sie sich mit der Betonung ihrer hocharistokratischen Herkunft aus dem Weimarer Fürstenhaus in eine Außenseiterposition. Hannah Pakula macht Augustas Persönlichkeit für ihr negatives Image in höfischen Kreisen verantwortlich. Augusta sei zwar intellektuell und intelligent veranlagt, habe es aber „nicht ertragen, wenn jemand mit ihr nicht einer Meinung war“. Ihr energisches Auftreten bei höfischen Veranstaltungen erregte Kritik. Der belgische König gab ihr beispielsweise den Spottnamen „Drache vom Rhein“, womit er gleichzeitig auf ihre Vorliebe für das Rheinland anspielte. In der preußischen Rheinprovinz und vor allem in Koblenz, Augustas langjähriger Residenz, wurde die Rolle der Kaiserin dagegen positiv bewertet. Der Geschichtsdidaktiker Marco Zerwas führt die damalige „regelrechte Verehrung der größtenteils katholischen Bevölkerung […] für die protestantischen Hohenzollern und Wilhelm“ maßgeblich auf Augustas öffentliche Popularität zurück. Aus Anlass ihres Todes 1890 gab die Stadt Koblenz eine Gedenkschrift mit dem Titel Kaiserin Augusta in Coblenz. 1850–1889 heraus. Das Werk schreibt ihrem Wirken eine größere Rolle bei der Integration des Rheinlandes in den preußischen Staat zu als der Gesetzgebung und Verwaltung.
Symbolische Repräsentation und Gedenken
Namensgeberin und Denkmäler
Der Historikerin Alexa Geisthövel zufolge verlor das Gedenken an die Kaiserin schon kurz nach ihrem Tod an Bedeutung. Zwar seien Straßen, höhere Schulen für Mädchen und Krankenhäuser wie das Kaiserin-Augusta-Hospital in Berlin nach ihr benannt worden. Ihr seien jedoch nur „einige wenige Denkmäler“ gewidmet worden. Geisthövel betont, dass es im 19. Jahrhundert eine Besonderheit darstellte, einer nicht regierenden Monarchin überhaupt öffentliche Denkmäler zu errichten. Unter den preußischen Königinnen war Augusta nach Luise die zweite, der in Berlin ein Denkmal gewidmet wurde. 1891 rief ein „Comité“ für das Kaiserin Augusta-Denkmal zu Spenden auf. Im Ergebnis konnte die Sitzfigur 1895 auf dem Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, eingeweiht werden. Die Aufstellung des Augusta-Denkmals „inmitten des monarchischen Repräsentationsareals“ deutet die Historikerin Helke Rausch als „Versuch einer Politisierung“: Da zum damaligen Zeitpunkt Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigsten Jahrestag der deutschen Reichsgründung kurz bevorstanden, plädierte der frühere Vorsteher der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Albert Stryck, in seiner Rede am Denkmal dafür, Augusta neben Wilhelm I., den Feldherren und Staatsmännern als Repräsentationsfigur des Deutschen Reiches wahrzunehmen. Als Begründung führte er an, dass die Kaiserin junge Frauen dazu erzogen habe, sich in der Krankenpflege zu betätigen und sich um die in den deutschen Einigungskriegen verwundeten Männer zu kümmern. Laut Rausch hätten Zeitgenossen Augusta im karitativen Bereich zu einem Vorbild für weibliche „Pflichttreue und Opferbereitschaft“ erhoben. Das 1928 in den Park von Schloss Monbijou versetzte Denkmal der Kaiserin wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
In Baden-Baden beauftragte der Stadtrat den Bildhauer Joseph Kopf mit der Errichtung eines Kaiserin-Augusta-Denkmals. Die Büste wurde 1893 eingeweiht und sollte an die regelmäßigen Kuraufenthalte der Kaiserin in der Stadt erinnern. In ihrer Residenzstadt Koblenz wurde 1893 für einen Denkmalbau ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den Bruno Schmitz für sich entschied. Bis 1896 errichtete er zusammen mit dem Bildhauer Karl Friedrich Moest das Kaiserin-Augusta-Denkmal. Eine Figur der Herrscherin steht in der Mitte der Anlage. Eine baldachinförmige Vertiefung des Denkmals umfängt die Figur rücklings. Die Verzierungen weisen symbolisch auf Augustas Engagement für das Rote Kreuz und die Stadt Koblenz hin. Ein weiteres Denkmal der Kaiserin ließ die Stadt Köln ab 1897 auf dem Kaiser-Wilhelm-Ring planen und bauen. Der Auftrag wurde reichsweit ausgeschrieben und ein Kostenlimit von 60.000 Mark gesetzt. Die Wahl fiel auf die Bildhauer Franz Dorrenbach und Heinrich Stockmann. Sie stellten bis 1903 eine marmorne Sitzfigur der Monarchin fertig.
Bildliche Darstellungen
Augusta nutzte bildliche Darstellungen als Propagandamittel. Entgegen den bürgerlichen Wertvorstellungen ließ sie sich jedoch meistens nicht als Gemahlin neben Wilhelm I. porträtieren. Sie zeigte sich stattdessen als eigenständige Monarchin und folgte damit dem traditionellen Herrscherbild. Gleichzeitig distanzierte sie sich in ihren Darstellungen vom damaligen Militarismus. Wagner-Kyora zufolge sei in dieser Hinsicht ein Holzstich von 1871 typisch, den sie vervielfältigen ließ. Das Bild zeigt sie mit einer Brosche des Roten Kreuzes in einem Medaillon. Zwei verletzte Soldaten flankieren sie. Unterhalb des Medaillons ist das Symbol des Roten Kreuzes und ein Engel mit Krücken zu sehen. Das Bild hebt zum einen Augustas Förderung der Kriegsverwundetenfürsorge hervor. Oben verweisen die Embleme des Deutschen Reiches, des Elsasses und Lothringens zum anderen aber auch auf das neu geschaffene Reichsland Elsaß-Lothringen. Augusta erscheint somit als Triumphator. Adolph Menzel setzte Augusta in seinem Gemälde Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 als Pazifistin in Szene. Angesichts des beginnenden Deutsch-Französischen Krieges drückt sie sich trauernd ein weißes Taschentuch ins Gesicht. Sie steht damit in einem auffallenden Gegensatz zur größtenteils den Krieg bejubelnden Menschenmenge. Bezeichnenderweise, so Wagner-Kyora, sind in dem Gemälde Fahnen des Roten Kreuzes zu sehen, die in der realen historischen Situation nicht vorhanden gewesen seien, hier aber Augustas pazifistische Einstellung betonten.
Ausstellungen und Veranstaltungen
Dem Leben und Wirken Augustas wurden in den letzten Jahren mehrere Sonderausstellungen gewidmet:
Die erste Augusta-Exposition veranstaltete die heutige Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek 1911 in Weimar. Anlass war der 100. Geburtstag der Kaiserin. Der Bibliothekar Paul von Bojanowski verfasste begleitend eine Biographie mit dem Titel „Weimar und die Kaiserin Augusta“. In dem Buch, das zugleich Ausstellungskatalog ist, thematisiert Bojanowski vor allem die kulturelle Wirkung des Weimarer Hofes auf Augusta.
2011 präsentierte die Klassik Stiftung Weimar im Stadtschloss eine Ausstellung mit dem Titel „Die Kaiserin aus Weimar. Augusta von Sachsen-Weimar und Eisenach“. Anlass hierfür war der 200. Geburtstag der Kaiserin. Hauptthema war die Kindheit und Jugend der damaligen Prinzessin, also ihre Zeit am Weimarer Hof. Gezeigt wurden 34 Exponate, darunter Notizen von Augustas Hoflehrern und Zeichnungen aus der Hand der Prinzessin selbst.
2015 zeigte die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg im Schloss Charlottenburg die Sonderausstellung „Frauensache. Wie Brandenburg Preußen“ wurde. Die Präsentation beschäftigte sich neben anderen preußischen Monarchinnen auch mit Augusta. Die Kaiserin wurde als gescheiterte liberale Gegenspielerin von Reichskanzler Bismarck dargestellt.
2017 war in Schloss Babelsberg die Ausstellung „Pückler. Babelsberg. Der grüne Fürst und die Kaiserin“ zu sehen. Der Schwerpunkt der Ausstellung lag auf Fürst Pücklers freundschaftlichem Verhältnis zu Augusta. Der adlige Standesherr hatte ab 1842 im Auftrag Augustas und Wilhelms Park Babelsberg umgestaltet.
Auch die Sonderausstellung „Augusta von Preußen – die Königin zu Gast in Branitz“ nahm 2017 die Beziehung zwischen der späteren deutschen Kaiserin und Fürst Pückler in den Blick. Hauptthema war Augustas Aufenthalt auf Schloss Branitz am 25. Juli 1864. Pückler ließ für Augustas einzigen Besuch Räume seines Schlosses umgestalten und an der Tafel zehn Gänge servieren.
In den Koblenzer Rheinanlagen findet seit 2006 jährlich am UNESCO-Welterbetag, dem ersten Sonntag im Juni, das Kaiserin-Augusta-Fest statt. Die Veranstaltung wird jeweils von einer als Kaiserin Augusta verkleideten Darstellerin eröffnet.
Forschung
Die Forschung befasst sich erst seit den letzten beiden Jahrzehnten intensiver mit Augusta. Bis dahin wurde meist das von Bismarck intendierte Bild der Kaiserin fortgeschrieben. Trotz diverser Veröffentlichungen steht eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Biographie noch aus. Insbesondere stärker quellenbasierte Fachaufsätze stellen mittlerweile Bismarcks Erzählung bezüglich der Kaiserin in Frage. Die Historikerin Monika Wienfort urteilte 2018, dass eine „Augusta-Forschung“ bislang kaum existiere. Auch nach Einschätzung der Historikerin Birgit Aschmann sind „zentrale Teile ihrer Vita ein Forschungsdesiderat“. Es gebe „eine wissenschaftlich befriedigende Biographie nach wie vor nicht.“ Laut Caroline Galm seien bisher „wissenschaftlich fundiert nur kleinere Untersuchungen“ vorhanden, etwa von den Historikern David E. Barclay, Alexa Geisthövel, Georg Wagner-Kyora, Frank Lorenz Müller und Susanne Bauer. Die Augusta-Biographien aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches würden „jeglicher Quellenbasis entbehren und – je nach politischer Herkunft des Autors – entweder harmonisierend-panegyrisch oder grob ablehnend“ die Kaiserin bewerten. Galm zufolge hielten auch Biographien aus den 1930er und 1940er Jahren an dieser Darstellungstradition fest, nicht zuletzt, da Schutzfristen eine Auswertung der Archivalien unmöglich machten. Die zuletzt erschienen Biographien durch den Schriftsteller Helmut H. Schulz 1996 und der Historikerin Karin Feuerstein-Praßer 2011 würden ebenfalls zu keinen neuen Erkenntnissen gelangen und die Kaiserin weiterhin als „Visionärin ohne Macht“ ansehen: Augusta hätte sich demnach zwar um eine politische Steuerung ihres Gemahls bemüht, spätestens seit Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 sei ihr jedoch jede politische Mitwirkungsmöglichkeit entzogen worden. In der Folge sei ihr nur die Förderung der karikativen Fürsorge geblieben. Die Geschichtsschreibung folgte damit weiterhin Bismarcks Augusta-Bewertung. Die Rolle der Kaiserin blieb wie die Kaiser Wilhelms I. zugunsten einer Bismarck bevorteilenden Perspektive historiographisch kaum erforscht. So werde Augusta, wie Ulrich Lappenküper 2018 auf einer Fachtagung äußerte, mitunter immer noch als „Unterrockpolitikerin“ vorgestellt, „die stets gegen die Berliner Politik intrigiert haben soll“.
Beurteilung der politischen Handlungsspielräume
Ein Forschungsschwerpunkt des 21. Jahrhunderts sind Augustas politische Handlungsspielräume und ihr Selbstverständnis als Monarchengattin im 19. Jahrhundert. Aschmann zufolge interessiere die Forschung an Augusta insbesondere, dass sie mit „gängigen Mustern, Gendererwartungen und politischen Präferenzen der damaligen Zeit, nicht zuletzt zum nationalistisch-militaristischen Mainstream“, in Konflikt stand. Galm weist darauf hin, dass der Frau eines Monarchen im 19. Jahrhundert rechtlich und normativ kein politischer Handlungsspielraum zugestanden wurde. In der Praxis habe Augusta jedoch durchaus Möglichkeiten gehabt, politisch mitzuwirken. Bereits ihre Heirat sei außenpolitisch motiviert gewesen. Außerdem hatte sie repräsentative Aufgaben zu erfüllen, beteiligte sich an der Erziehung der Kinder und konnte als politische Beraterin ihres Mannes wirken. Sie knüpfte zudem viele Kontakte und habe so als wichtige soziale Netzwerkerin agiert. Nach Ansicht des Historikers Jan Markert war Augustas politischer Einfluss weder durch die preußische Verfassung von 1848/1850 noch durch das dynastische Hausgesetz rechtlich definiert. Sie habe jedoch über ihre dynastische Stellung und ihre familiäre Verbindung Wilhelm I. besonders nahegestanden. Aus diesem Grund konnte sie nach Meinung von Markert bestimmten Personenkreisen einen Zugang zum König verschaffen oder durch Gespräche und Briefverkehr auf Wilhelm einwirken. Markert urteilt, dass Augusta insgesamt daran scheiterte, „Wilhelm von Ideen zu überzeugen, die dessen persönlicher monarchischer Wirklichkeitswahrnehmung widersprachen“. Der Monarch habe sie demnach lediglich konsultiert, um sein politisches Programm zu konkretisieren. In der Zeit des Preußischen Verfassungskonfliktes gingen ihre Meinungen zudem so weit auseinander, dass gemeinsame Besprechungen kaum noch möglich waren. Während Augusta altliberalen Vorstellungen folgte, war Wilhelm konservativer eingestellt. Der König setzte seine Gemahlin darüber hinaus nicht über alle Themen in Kenntnis.
Georg Wagner-Kyora misst Augustas „Einreden auf Wilhelms Außen- und Innenpolitik“ wenig Bedeutung bei. Dennoch hätten sie bei gemeinsamem Frühstücken oft über politische Berichte der Tagespresse diskutiert. Auch beim Abendessen verbrachten Augusta und Wilhelm Zeit miteinander. Frank Lorenz Müller sieht Augustas politischen Einfluss lediglich auf zwei Felder beschränkt, die Erziehung des Thronfolgers Friedrich Wilhelm und dessen Einheirat in das liberal geltende britische Königshaus. Augusta habe in dieser Hinsicht durchaus Erfolge erzielt. Friedrich Wilhelm habe seiner Mutter politisch näher gestanden als Wilhelm, was in Großbritannien öffentlich anerkannt worden sei. Der krebsbedingte frühe Tod des nachmaligen Kaisers nach nur 99 Tagen im Amt habe Augustas Mission aber wenig wirksam werden lassen.
Erforschung der Briefkorrespondenz
Als wichtigste Quelle gilt Augustas briefliche Korrespondenz. Die Historikerin Susanne Bauer fand heraus, dass Augusta mit 486 Personen in brieflichem Kontakt stand. Es sind bislang 22.086 Briefe bekannt. Die meisten davon richten sich an Fürsten, mit denen Augusta in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stand. Augusta tauschte sich darin sowohl über familiäre als auch politische Inhalte aus. Sie nutzte die Briefe zur Informationsgewinnung und um Einfluss auf ihr Umfeld auszuüben. Bauer sieht in den Briefen das einzige bedeutende Instrument, über das Augusta am politischen Geschehen habe mitwirken können. Die erhalten gebliebene schriftliche Korrespondenz zwischen Wilhelm und Augusta umfasst ungefähr 5800 Briefe und gilt als bedeutende Quelle für das Verhältnis des Monarchenpaares. Neben anderen Fürsten stand Augusta auch mit Staatsmännern, Offizieren, Wissenschaftlern und Schriftstellern in Austausch. Neben Bauer wirkt auch Caroline Galm an der Auswertung der Korrespondenz mit. Sie beschäftigt sich insbesondere mit dem Briefverkehr zwischen Wilhelm und Augusta. Galm möchte auf diese Weise herausfinden, „ob es ein politisches Zusammenarbeiten der beiden Gatten gab, und wenn ja, wie dieses aussah“. Galm zufolge spielte überdies die Korrespondenz mit „politisch ähnlich denkenden Standesgenossinnen und –genossen“ eine Schlüsselrolle für Augustas politisches Briefnetzwerk. Es sei dabei die entscheidende Frage, ob Akteure wie die britische Königin Victoria oder der badische Großherzog Friedrich sie als bedeutende politische Verbündete ernst nahmen oder in ihr lediglich eine „Beziehungsmaklerin“ mit Nähe zu Wilhelm I. sahen.
Vorfahren
Nachfahren
Literatur
Für alle Bände: ISBN 3-428-00182-6.
Korrekte ISBN 3-422-06516-4 (Buchhandelsausgabe).
Alexa Geisthövel: Augusta-Erlebnisse. Repräsentation der preußischen Königin 1870. In: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Campus, Frankfurt/M. / New York 2005, ISBN 978-3-593-37735-3, S. 82–114.
Frank Lorenz Müller: „Frauenpolitik“. Augusta, Vicky und die liberale Mission. In: Ausstellungskatalog Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde. Dresden 2015, ISBN 978-3-95498-142-7, S. 252–259.
Caroline Galm: Integrative „Beziehungsarbeit“: Augusta von Preußen und ihr politischer Umgang mit der katholischen Bevölkerung. In: Michael Borchard, Thomas Brechenmacher, Günter Buchstab, Hans-Otto Kleinmann, Hanns Jürgen Küsters (Hrsg.): Historisch-politische Mitteilungen. Band 27. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2020, ISBN 978-3-412-52147-9, S. 27–49.
Birgit Aschmann: Königin Augusta als „political player“. In: Susanne Brockfeld, Ingeborg Schnelling-Reinicke (Hrsg.): Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen. Duncker & Humblot, Berlin 2020, ISBN 978-3-428-18035-6, S. 271–290.
Caroline Galm: Anmerkungen zum politischen Handlungs- und Gestaltungsraum der Königin. Das Beispiel Augusta von Preußen. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 32 (2022), S. 53–70.
Weblinks
Anmerkungen
Maria Pawlowna
Wilhelm I. (Deutsches Reich)
Kaiserin (Deutsches Reich)
Königin (Königreich Preußen)
Prinz (Sachsen-Weimar-Eisenach)
Wettiner (Linie Sachsen-Weimar, Sachsen-Weimar-Eisenach)
⚭Augusta #SachsenWeimarEisenach
SachsenWeimarEisenach Augusta von
Trägerin des Verdienstkreuzes für Frauen und Jungfrauen
Ritter des Schwarzen Adlerordens
Namensgeber für ein Schiff
Deutscher
Geboren 1811
Gestorben 1890
Frau |
291062 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gletscherschwund%20seit%201850 | Gletscherschwund seit 1850 | Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist nahezu weltweit ein deutlicher Rückgang der Gletscher zu beobachten. Dieser Vorgang wird Gletscherschwund oder Gletscherschmelze genannt. Gemeint ist damit ein längerfristiger Massenverlust der Gletscher und nicht die in Gebirgen und Hochlagen alljährlich im Frühling einsetzende Schneeschmelze, auch nicht grundsätzlich das Schmelzen im Zehrgebiet, das bei Gletschern, die sich im Gleichgewicht mit dem Klima befinden, im gleichen Maße wie der Massengewinn im Nährgebiet auftritt. Eine wesentliche Messgröße zur Beurteilung des Gletscherschwunds ist die von Glaziologen erhobene Massenbilanz. Das Verhalten des Gletschers wird durch die Gletscherdynamik beschrieben. Der Gletscherschwund steht insbesondere in Zusammenhang mit der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung.
Einführung
Die Mehrzahl aller Gletscher hat in den zurückliegenden Jahrzehnten zum Teil stark an Masse und Fläche verloren. Betroffen sind davon bis auf wenige Ausnahmen alle Regionen, von den Tropen über die mittleren Breiten bis zu den polaren Eiskappen.
Die Alpengletscher beispielsweise schrumpften in den vergangenen 150 Jahren etwa um ein Drittel ihrer Fläche, ihr Volumen ging zwischen 1901 und 2011 um fast die Hälfte zurück. Direkt zu erkennen ist dies an Gemälden, Zeichnungen oder alten Fotografien. Letztere zeigen eindrucksvoll die unterschiedlichen Gletscherflächen von damals im Vergleich zu heute. Ebenso zu beobachten ist ein Rückgang des Eises in den polaren Gebieten, wo es in den zurückliegenden Jahren vermehrt zum Abbrechen größerer Schelfeise gekommen ist. Wachsende Gletscher wurden zum Ende des 20. Jahrhunderts vor allem in Norwegen, Neuseeland, Island und der östlichen Antarktis beobachtet. Dieser in den 1980er- und 1990er-Jahren kurzzeitig bestehende, auf örtlich veränderte Niederschlagsmuster zurückgehende Trend hat sich allerdings etwa seit dem Jahr 2000 zumindest in den ersten beiden Regionen entweder wieder umgekehrt oder ist zumindest deutlich abgeflacht. In Österreich sind 2012/2013 laut Alpenverein das Kalser Bärenkopf-Kees und das Kleinelend-Kees, zwei kleinere Gletscher, gering angewachsen.
Die Gletscher folgen weltweit den beobachteten Klima- und Temperaturschwankungen. Während der globale Temperaturanstieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer Mischung verschiedener natürlicher und anthropogener Faktoren zugemessen wird (Schwankungen in der Solarvariabilität, geringe vulkanische Aktivität und erster deutlicher Anstieg der Treibhausgase), so wird allgemein der sich beschleunigende Temperaturanstieg seit 1970 dem sich deutlich verstärkenden anthropogenen Treibhauseffekt zugerechnet. Der Temperaturanstieg führt zum Rückgang des Gletschereises – nur eine von vielen Folgen der globalen Erwärmung. Eine indirekte Wirkung des anthropogenen Klimawandels ist eine veränderte Verteilung von Niederschlägen, die ebenfalls die Massenbilanz von Gletschern beeinflussen kann.
Die Folgen des Phänomens bergen erhebliche Risiken für einen momentan nur schwer abschätzbaren Anteil der gegenwärtigen und künftigen Weltbevölkerung. Zunächst droht in betroffenen Gebieten ein erhöhtes Risiko von Überschwemmungen durch steigende Flusspegel und vermehrt auftretende Ausbrüche von Gletscherseen. Daraus folgt sich verschärfender Wassermangel in bestimmten Regionen. Der zunehmende Abfluss des Gletscherwassers führt zudem zum globalen Anstieg des Meeresspiegels und bedroht damit auch Menschen, die nicht unmittelbar im Einflussbereich von Gletschern leben.
Ursachen
Entscheidend für das Fortbestehen eines Gletschers ist seine Massenbilanz, die Differenz von Akkumulation (wie Schneefall, Ablagerung von Triebschnee und Lawinen, Kondensation von atmosphärischem Wasserdampf und Anfrieren von Regenwasser) und Ablation (Schmelze, Sublimation sowie Abbruch von Lawinen). Jeder Gletscher besteht dabei aus einem Nähr- und einem Zehrgebiet. Im Nährgebiet (Akkumulationsgebiet) bleibt zumindest ein Teil des Schnees auch während des Sommers erhalten und formt sich dann zu Gletschereis um. Im Zehrgebiet (Ablationsgebiet) dagegen überwiegt die Ablation gegenüber dem Nachschub durch Schnee. Getrennt sind diese beiden Gebiete durch die Gleichgewichtslinie. Entlang dieser Linie entspricht die Ablation im Sommer der Akkumulation im Winter.
Bei einem Klimawandel können sich sowohl Lufttemperaturen als auch der Niederschlag in Form von Schnee verändern und damit die Massenbilanz verschieben. Gegenwärtig geben diese Indikatoren Aufschluss über die Ursachen des Gletscherrückgangs:
In den meisten Regionen der Welt steigen die Temperaturen hauptsächlich infolge des menschlichen Ausstoßes von Treibhausgasen an. Nach dem 2007 erschienenen Vierten Sachstandsbericht der Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe über Klimaänderungen (IPCC) stieg die weltweite durchschnittliche Lufttemperatur in Bodennähe zwischen 1906 und 2005 um 0,74 °C (± 0,18 °C) an. Die Erwärmung ist mit zunehmender Nähe zu den Polen (siehe Polare Verstärkung) und mit steigender Höhe in Gebirgen (man spricht vom elevation dependent warming, dt. höhenabhängige Erwärmung) stärker ausgeprägt.
Im Gegensatz zur Lufttemperatur existieren für den Niederschlag keine eindeutigen Trends. Mehr Niederschlag entfiel im Laufe des 20. Jahrhunderts besonders auf Kanada, Nordeuropa, Westindien und Ostaustralien. Rückgänge von bis zu 50 % wurden besonders in West- und Ostafrika und im Westen Lateinamerikas gemessen. Deshalb ist für jede der betroffenen Regionen gesondert zu prüfen, welche Faktoren für den Rückgang der Gletscher ursächlich und gegebenenfalls dominierend sind.
Kryokonit ist ein dunkler biogener Oberflächenstaub auf Schnee und Eis, der durch Winde in der Atmosphäre über weite Strecken transportiert wird und gewöhnlich auf Gletschern weltweit zu beobachten ist. Wegen seiner dunklen Färbung reduziert Kryokonit wesentlich die Oberflächenreflexion des Sonnenlichts und beschleunigt oder initiiert damit das Schmelzen der Gletscher. Obwohl Kryokonit aus Mineralpartikeln (Ruß, Kohlenstoff und Stickstoff) und organischer Materie besteht, ist der organische Anteil bezüglich der Wirkung auf das Abschmelzen bedeutender, weil er häufig biologisch aktiv ist und den Hauptteil von Kryokonit ausmacht. Dieses organische Material besteht zum Teil aus photosynthetisch aktiven Mikroorganismen wie Cyanobakterien oder auch Bärtierchen, wie es am Rotmoosferner nachgewiesen wurde. Zumindest in den Alpen wird beim Auftreten von Kryokonit der ebenfalls dunkel gefärbte Gletscherfloh beobachtet, der sich von dem eingetragenen biologischen Material ernährt, so dass eine wachsende, dunkel gefärbte Flora und Fauna im Gletscher entsteht, die in dem Schmelzwasser lebt und sich vermehrt.
Auf eine Abkühlung oder eine Verstärkung des Schneefalls, die eine positive Massenbilanz hervorrufen, reagiert ein Gletscher mit Wachstum. Dadurch nimmt die Gletscherfläche im Zehrgebiet, dort ist die Ablation am höchsten, zu. Somit erlangt der Gletscher ein neues Gleichgewicht. Derzeit gibt es ein paar Gletscher, die wachsen. Die geringe Wachstumsgeschwindigkeit deutet allerdings darauf hin, dass sie sich nicht weit vom Gleichgewicht befinden. Auf eine Klimaerwärmung wie die globale Erwärmung oder eine Abnahme des Schneefalls, die zu einer negativen Massenbilanz führen, reagiert der Gletscher mit einem Rückgang. Dadurch verliert der Gletscher Teile seines meistens tiefer gelegenen Ablationsgebiets, sodass Akkumulation und Ablation wieder ausgeglichen sind. Wenn sich ein Gletscher jedoch nicht zu einem neuen Gleichgewichtspunkt zurückziehen kann, befindet er sich im andauernden Ungleichgewicht und wird, sofern dieses Klima bestehen bleibt, komplett abschmelzen.
Es hat im Rahmen der Klimageschichte aus unterschiedlichen Gründen immer wieder natürliche Klimaveränderungen mit Vorstößen und Rückzügen von Gletschern gegeben. Gegen Ende des Mittelalters begann die Zahl der Gletschervorstöße zu steigen. Zum Ende der so genannten Kleinen Eiszeit gegen 1850 war die globale Durchschnittstemperatur leicht angestiegen, was einen Teil des weltweiten Gletscherrückgangs in den folgenden Jahrzehnten erklären kann. Ab 1940 blieben die Durchschnittstemperaturen relativ stabil oder sanken leicht, worauf die meisten Gletscher mit relativem Stillstand oder Wachstum reagierten. Der dann ab den späten 1970er-Jahren infolge der rasch ansteigenden Lufttemperaturen in den meisten Regionen wieder einsetzende und sich in den letzten Jahren zunehmend beschleunigende Gletscherschwund wird hauptsächlich anthropogenen Einflüssen zugeschrieben und kann nicht als Teil eines natürlichen Klimawandels betrachtet werden.
Als initialer Auslöser für den Gletscherrückgang ab 1850 kann, zumindest in den Alpen, eine Senkung der Albedo der Gletscher durch im Zuge der Industrialisierung freigesetzte Rußpartikel angenommen werden. Würde man nur die Klimafaktoren betrachten, wären die Gletscher noch bis ca. 1910 gewachsen. Der gegenwärtige rapide, in allen Gebirgsregionen der Welt beobachtbare Rückgang in einer Zeit, in der die Änderung der Erdbahnparameter eher Gletschervorstöße begünstigt, ist für das Holozän sehr ungewöhnlich und deutliches Zeichen der gegenwärtigen menschenverursachten Klimaveränderungen.
Gletscher als Klima-Indikatoren
Die Ausdehnungs- und Schrumpfungstendenzen von Gletschern, die sich praktisch nie in einem Ruhezustand befinden, spielen in der Klimaforschung eine bedeutende Rolle. Die Gletscher existieren in einer glazialen Oszillation zwischen Rückzug und Vorstoß. Wenn mehr Niederschlag fällt oder die Temperaturen fallen, stoßen sie in der Regel weiter vor. Bei abnehmender Niederschlagsmenge und steigenden Temperaturen schrumpfen sie. So schrumpfen die Alpengletscher seit etwa 1850, auch wenn vor allem kleinere Gletscher in dieser Region um 1920 und um 1980 wieder ein Stück vorgestoßen waren.
In der Regel sind kleinere Gletscher „klimaempfindlicher“ und so als Indikatoren für kurz andauernde Ereignisse brauchbar. Ebenso sind Gletscher in maritim geprägten Regionen eher als Klima-Indikatoren für kürzer andauernde Ereignisse geeignet als Gletscher in kontinentalen Regionen. Das liegt daran, dass in kontinentalen Regionen mit niedriger Luftfeuchte zwar ein beträchtlicher Teil des Gletschereises Ablation durch Verdunstung erfährt, aber dadurch wiederum Verdunstungswärme abgeführt wird. Diese Wärme fehlt dann, um das Gletschereis zum Schmelzen zu bringen.
Innerhalb einer klimatischen Region reagieren Gletscher aber nicht nur durch unterschiedliche Eismassen unterschiedlich auf Veränderungen. Einen großen Einfluss haben auch Oberflächengröße, Beschaffenheit des Untergrundes, Hangneigung und Talform von Talgletschern, Wind und Luv/Lee-Effekte sowie Verhalten von Gletscherschmelzwassern, um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen. Dennoch sind gerade größere Gletscher insgesamt als relativ träge zu bezeichnen, weshalb sie weniger durch einzelne Wetterlagen beeinflusst werden als vielmehr durch Klimaveränderungen während größerer Zeiträume. Daher sind sie in ihrer Gesamtheit ein nützlicher Indikator für die langfristige Temperaturentwicklung. So rekonstruierte der Glaziologe Johannes Oerlemans anhand der Auswertung von Längenänderungen von 169 weltweit verteilten Gletschern die globale Mitteltemperatur während der letzten 400 Jahre. Demnach begann eine moderate Erwärmung Mitte des 19. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte er eine Erwärmung um etwa 0,5 °C ermitteln.
Eine andere für die Klimaforschung wichtige Besonderheit von Gletschern besteht in ihrem hohen Alter. So können Eisbohrkerne aus ihnen gewonnen werden, die mehrere Jahrtausende zurückreichen und Aufschluss über die Entwicklung eines Gletschers und die Klimageschichte geben können. Am weiter unten aufgeführten Beispiel des Kilimandscharo etwa lässt sich so zeigen, dass dessen Gletscher seit über 11.700 Jahren durchgehend existiert haben und heutzutage vom Verschwinden bedroht sind. Noch weiter lassen Eisbohrkerne aus dem antarktischen und grönländischen Eisschild in die Vergangenheit blicken. Über mehrere hunderttausend Jahre lässt sich dadurch das Klima und die Zusammensetzung der Atmosphäre rekonstruieren.
Durch von den zurückweichenden Gletschern freigegebene Funde von Torfen und Baumstämmen zum Beispiel an der österreichischen Pasterze lässt sich auch zeigen, dass die Ausdehnung einiger Gletscher in früheren Zeiten (vor 6000–9000 Jahren) deutlich geringer gewesen ist als heute. Folglich geht man von höheren Temperaturen in Zeiten zurückweichender Gletscher aus. Prominentes Beispiel ist „Ötzi“, der vor etwa 5300 Jahren auf einem damals eisfreien Joch in der Nähe von Vent/Ötztaler Alpen ums Leben kam und dann von einer Schnee- und Eisdecke eingeschlossen wurde, wo er infolge des Gletscherrückzuges 1991 unter dem Eis auftauchte. Christian Schlüchter und Ueli Jörin vom Institut für Geologie der Universität Bern gingen in ihrer Veröffentlichung Alpen ohne Gletscher? von 2004 davon aus, dass die kleine Eiszeit vom 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts die größte Alpengletscherausdehnung der letzten 10.000 Jahre zur Folge hatte und die Gletscher etwas über 50 % dieses Zeitraums von geringerer Ausdehnung waren, als heute. Sie kamen zu dem Schluss, dass der Einfluss der Sonnenaktivität auf die Gletscherentwicklung bisher unterschätzt wurde.
Globale Bestandsaufnahme des Prozesses
Die nachfolgende eingehendere Bestandsaufnahme des weltweiten Gletscherschwunds ist dreiteilig gegliedert in mittlere Breiten, tropische Zone und Polarregion. Dem liegt nicht allein die Anlehnung an gängige geografische Unterscheidungsmuster zugrunde, sondern auch die Tatsache, dass für die Eisbildung und Gletscherschmelze in diesen drei Zonen jeweils besondere Voraussetzungen bestehen. Auch hinsichtlich der zu erwartenden Folgen eines fortgesetzten Abschmelzungsprozesses ergeben sich für die künftigen Lebensbedingungen von Menschen spezifische Unterschiede.
Gletscher mittlerer Breite
Gletscher mittlerer Breite befinden sich entweder zwischen dem nördlichen oder südlichen Wendekreis und einem der Polarkreise. In diesen jeweils 4.785 km breiten Regionen gibt es Gebirgsgletscher, Talgletscher und auf höheren Gebirgen auch kleinere Eiskappen. Alle diese Gletscher befinden sich in Gebirgszügen, u. a. dem Himalaya, den Alpen, den Pyrenäen, den Rocky Mountains, den patagonischen Anden in Südamerika oder auch auf Neuseeland. Je näher die Gletscher dieser Breiten den polaren Regionen sind, desto ausgedehnter und massiver sind sie. Die Gletscher mittlerer Breite sind die in den letzten 150 Jahren am gründlichsten untersuchten. Wie auch die tropischen Gletscher, gehen praktisch alle Gletscher der mittleren Breite zurück und weisen eine negative Massenbilanz auf.
Alpen
In den 1970er-Jahren gab es in den Alpen etwa 5.150 Gletscher, die eine Fläche von 2.903 km² bedeckten (davon 1.342 km² in der Schweiz, 602 km² in Italien, 542 km² in Österreich und 417 km² in Frankreich). Eine Studie über die Entwicklung dieser Gletscher seit 1850 kommt zu dem Ergebnis, dass bis 1970 bereits 35 % der ursprünglich vorhandenen Gletscherfläche verschwunden war und dass sich dieser Schwund bis 2000 auf annähernd 50 % vergrößert hatte. Das bedeutet, dass um die Jahrtausendwende bereits die Hälfte der ehemals von Gletschern bedeckten Fläche durch den Rückgang des Eises freigelegt worden war. Zwischen 2000 und 2015 gingen pro Jahr weitere 1,8 % Gletscherfläche verloren.
Der World Glacier Monitoring Service (WGMS) berichtet alle fünf Jahre über Veränderungen des Endpunkts von Gletschern überall auf der Erde. Nach dem Bericht zum Zeitraum 1995–2000 gingen in den Alpen in diesem Fünf-Jahres-Zeitraum 103 von 110 untersuchten Gletschern in der Schweiz, 95 von 99 Gletschern in Österreich, alle 69 Gletscher in Italien und alle 6 Gletscher in Frankreich zurück.
Die Gletscher in den Alpen ziehen sich heute zudem schneller zurück als noch vor einigen Dekaden: So verlor der Triftgletscher von 2002 bis 2005 500 m oder 10 % seiner vorherigen Länge. Der Große Aletschgletscher, der mit einer Länge von 22,9 km der längste Gletscher der Alpen ist, hat sich seit 1870 um knapp 2.800 m zurückgezogen. Die letzte Vorstoßphase zwischen 1588 und 1653 ist relativ detailliert erfasst. Seine Rückzugsgeschwindigkeit hat sich ebenfalls erhöht. Seit 1980 sind 965 m geschmolzen. Allein 2006 büßte er fast 115 m an Länge ein (2007 waren es etwa 32 m). Um 2000 hatte der Aletschgletscher in etwa die gleiche Ausdehnung wie während des Klimaoptimums der Römerzeit (200 v. Chr. bis 50 n. Chr.) und war noch 1000 Meter länger als vor etwa 3300 Jahren während des Bronzezeit-Optimums. Seit der Jahrtausendwende schmolz die Oberfläche in den unteren Lagen um mehr als acht Meter pro Jahr, so eine Auswertung von Satellitendaten der Jahre 2001–2014 an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Holz- und Torffunde aus Gletscher-Moränen in den Alpen lassen darauf schließen, dass einige Gletscher im Laufe des Holozäns mitunter wesentlich weiter zurückgegangen waren, als dies derzeit der Fall ist. Andere Gletscher sind nachweislich seit wenigstens 5000 Jahren nicht kleiner gewesen als heute.
Im Sommer 2006 wurden die Folgen des Gletscherrückgangs in den Alpen durch Felsabstürze am schweizerischen Eiger besonders deutlich: Mehr als 500.000 m³ Felsen stürzten am 13. Juli auf den Unteren Grindelwaldgletscher. Insgesamt gelten bis zu 2 Millionen m³ Gestein mit einem Gewicht von fünf Millionen Tonnen als absturzgefährdet. Ursache für die Abbrüche ist unter anderem der Rückgang von Gletschern, die überhängende Bergteile stützten, und das Schmelzen von Permafrost-Bereichen (Ausaperung), in denen zerklüftetes Gestein vom Eis wie von einem Klebstoff zusammengehalten worden war.
Szenarien für das 21. Jahrhundert zeigen an, dass bei einer Erhöhung der durchschnittlichen Lufttemperatur im Sommer (April bis September) um 3 °C bis 2100 die Gletscher der Alpen etwa 80 % der im Zeitraum zwischen 1971 und 1990 noch vorhandenen Fläche verloren haben könnten. Das entspräche nur noch einem Zehntel der Ausdehnung von 1850. Eine Erwärmung um 5 °C könnte praktisch jeden alpinen Gletscher verschwinden lassen.
Deutschland
Die Gletscher in den deutschen Alpen ziehen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Ende der 2010er Jahre gab es noch fünf Gletscher mit einer Gesamtfläche von weniger als 0,5 km²: den Höllentalferner, Nördlichen und Südlichen Schneeferner, den Watzmanngletscher und das Blaueis. Seit 2022 wird der Südliche Schneeferner, dessen Fläche zuletzt auf weniger als 1 Hektar geschrumpft war, nicht mehr als Gletscher geführt. In keinem der vier verbliebenen Gletscher gibt es noch ein Gebiet, in dem regelmäßig Akkumulation stattfindet. Die zunehmend warmen Sommer lassen den Winterschnee mittlerweile in weniger als einem Monat schmelzen. Bei Fortschreibung des Trends zu zunehmenden Schmelzraten könnte es schon in den 2040er Jahren praktisch keine Gletscher mehr in Deutschland geben.
Frankreich
Die französischen Alpengletscher gingen in den Jahren 1942 bis 1953 stark zurück, dann dehnten sie sich bis 1980 wieder etwas aus, und seit 1982 schrumpfen sie erneut. Seit 1870 zogen sich beispielsweise der Argentière-Gletscher und der Mont-Blanc-Gletscher um 1.150 m beziehungsweise um 1.400 m zurück. Der größte Gletscher in Frankreich, das Mer de Glace, das heute 11 km lang und 400 m dick ist, hat in den letzten 130 Jahren 8,3 % seiner Länge (≈1 km) verloren. Außerdem wurde er im Mittelteil seit 1907 um 27 % (≈ 150 m) dünner. Der Bossons-Gletscher in Chamonix hat sich seit Anfang des Jahrhunderts um 1.200 m zurückgezogen.
Italien
Ähnlich wie die Gletscher der Schweizer Alpen zogen sich 1980 in den italienischen Alpen (1989 waren dort ca. 500 km² vergletschert) ca. ein Drittel der Gletscher zurück, 1999 waren es 89 %. Von 2004 bis 2005 haben sich sogar alle Gletscher der italienischen Alpen zurückgezogen. Bis zum Jahr 2011 schrumpfte die vergletscherte Fläche auf 370 km².
Österreich
Der Glaziologe Gernot Patzelt berichtete 2007 über 100 vom Österreichischen Alpenverein beobachtete Gletscher, dass durch deren Rückgang derzeit Land freigelegt werde, das seit wenigstens 1300 Jahren ständig vergletschert gewesen sei. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass Funde von Torfen und Baumstämmen belegten, dass diese Gebiete früher teilweise von Lärchenwäldern bedeckt gewesen seien und die aktuellen Gletscherstände historisch gesehen „nicht außergewöhnlich“. Laut Gletscherbericht 2021/2022 hatten in dem Jahr alle beobachteten Gletscher Länge verloren, der Rückgang war der größte seit Beginn der Beobachtungen Ende des 19. Jahrhunderts und unzweifelhaftes Zeichen der Erderwärmung. Der Alpenverein rechnet damit, dass die österreichischen Alpen langfristig ohne Gletscher sein werden.
Schweiz
Gemäß einer Studie der ETH Zürich hat sich das Volumen der Gletscher in der Schweiz zwischen 1931 und 2016 halbiert. Von 2016 bis 2022 haben die Gletscher laut dem Schweizerischen Gletschermessnetz (GLAMOS) weitere 12 Prozent an Volumen verloren. Das im November 2014 veröffentlichte Schweizer Gletscherinventar beschreibt für den Zeitraum zwischen 1973 und 2010 einen Rückgang um 28 Prozent, was einem Verlust von 22,5 km³ Firn und Eis entspricht. Während um 1850 noch 1.735 und 1973 noch 1.307 km² vergletschert waren, gab es Ende 2010 noch 1.420 Einzelgletscher, welche eine Fläche von nur noch 944 km² einnahmen. Laut dem Glaziologen Matthias Huss (Leitung GLAMOS) hat sich bis 2016 mit einem Rückgang von 1735 km² auf 890 die gesamte Gletscherfläche in der Schweiz halbiert, von 2.150 (1973) Gletschern seien 750 geschmolzen. Vor allem Lagen unter 3.000 Metern seien schon bald eisfrei. Seit dem Anfang der jährlichen Längenmessungen beim Morteratschgletscher 1878, verlor er bis 1995 etwa 2 km seiner Länge. Im Durchschnitt zog sich der Gletscher also um etwa 17 m pro Jahr zurück, in der jüngsten Vergangenheit erhöhte sich die durchschnittliche Abschmelzgeschwindigkeit; zwischen 1999 und 2005 betrug sie 30 m pro Jahr. Für das Jahr 1999 wurde das Gesamtvolumen der Gletscher auf 74 km³ berechnet, für 2016 auf 54 km³. Das Eisvolumen für 1850 wurde auf rund 130 km³ geschätzt. In Folge des schneearmen Winters 2021/22 erreichte der Gletscherschwund im überdurchschnittlich heißen Sommer 2022 einen neuen Rekordschwund. Die Gletscher verloren dabei rund 3 km³ Eis, was mehr als sechs Prozent des verbleibenden Volumens entspricht. Beim vorherigen Rekord aus dem Hitzejahr 2003 verloren die Gletscher rund 2,6–2,9 km³ Eis.
Pyrenäen und südliches Europa
In den Pyrenäen, im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien, befinden sich einige der südlichsten Gletscher Europas. Im Vergleich zu anderen Regionen ist dort die vergletscherte Fläche sehr klein. Aufgrund ihrer südlichen Lage in meist geringer Höhe und ihrer kleinen Fläche sind die Pyrenäengletscher durch den Klimawandel besonders verwundbar. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stießen die meisten Pyrenäengletscher vor, seitdem gehen sie zurück, seit etwa 1980 in einem drastischen Ausmaß.
Zwischen 1850 und 2016 haben die Pyrenäengletscher knapp 90 % ihrer Fläche verloren: Sie ging von insgesamt 20,6 km² auf nurmehr 2,4 km² zurück. Ihre Anzahl sank von 52 auf 19. Von den verbleibenden Gletschern hatten 2016 noch vier eine Fläche von mehr als 0,1 km²: der Aneto-Gletscher (0,51 km²), der Monte Perdido-Gletscher (0,38 km²), der Oussoue-Gletscher am Vignemale (0,37 km²) und der Maladeta-Gletscher (0,29 km²). Der Zustand der meisten Gletscher gilt als kritisch.
Außerhalb der Alpen und Pyrenäen gibt es mit dem Calderone-Gletscher noch ein Relikt im Apennin (Italien), das seit 1794 mehr als 90 % seines Volumens verloren hat, und mehrere Mikrogletscher auf dem Balkan (in Montenegro, Albanien, Bulgarien). Mit voranschreitender Erwärmung werden die europäischen Gletscher südlich des 44. Breitengrades, einschließlich der in den Meeralpen und slowenischen Kalkalpen, verschwinden.
Nordeuropa
Nicht nur in den Alpen, sondern auch in anderen Gebieten Europas schwinden die Gletscher. Die nördlichen Skanden im Norden Schwedens erreichen eine Höhe von bis zu 2.111 m (Kebnekaise). Zwischen 1990 und 2001 gingen dort 14 von 16 in einer Studie untersuchten Gletschern zurück, von den beiden übrigen wuchs einer und einer blieb stabil. Auch in Norwegen, wo es 1.627 Gletscher gibt, die eine Fläche von ca. 2.609 km² bedecken, ist ein Gletscherrückgang, unterbrochen von einigen Perioden mit Wachstum um 1920, 1925 und in den 1990er-Jahren, zu beobachten. In den 1990er-Jahren wuchsen 11 von 25 beobachteten norwegischen Gletschern, da die winterlichen Niederschlagsmengen mehrere Jahre in Folge überdurchschnittlich hoch waren.
Seit 2000 gehen die Gletscher aufgrund mehrerer Jahre mit geringen winterlichen Niederschlägen und wegen mehrerer heißer Sommer (2002 und 2003) signifikant zurück. Insgesamt zeigt sich ein starker Rückgang im Anschluss an die 1990er-Jahre. Bis 2005 wuchs nur einer der 25 beobachteten Gletscher, zwei blieben unverändert und die restlichen 22 zogen sich zurück. 2006 war die Massenbilanz der norwegischen Gletscher stark negativ: Von 26 untersuchten Gletschern schwanden 24, einer zeigte keine Längenveränderungen und einer wuchs. Der norwegische Engabreen-Gletscher verkürzte sich zum Beispiel seit 1999 um 185 m. Der Brenndalsbreen und der Rembesdalsskåka haben sich seit 2000 um 276 bzw. 250 m verkürzt. Allein 2004 verlor der Briksdalsbreen 96 m – der größte jährliche Längenverlust dieses Gletschers seit dem Beginn der Messungen im Jahr 1900. Von 1995 bis 2005 wich die Gletscherstirn um 176 m zurück.
Asien
Der Himalaya und andere Gebirgsketten in Zentralasien umfassen große Regionen, die vergletschert sind; allein im Himalaya bedecken etwa 6.500 Gletscher eine Fläche von 33.000 km². Diese Gletscher spielen eine zentrale Rolle für die Wasserversorgung arider Länder wie der Mongolei, des westlichen Teils von China, Pakistans und Afghanistans. Einer Schätzung zufolge sind um die 800 Mio. Menschen zumindest teilweise auf Schmelzwasser der Gletscher angewiesen. Wie andere Gletscher weltweit schwinden die asiatischen Gletscher schnell. Der Verlust dieser Gletscher würde enorme Auswirkungen auf das Ökosystem und für die Menschen in dieser Region haben.
Himalaya
Die meisten Gletscher im Himalaya schmelzen seit Mitte des 19. Jahrhunderts ab, mit Ausnahme der Gletscher im Karakorumgebirge und in Teilen des nordwestlichen Himalayas. Der Massenverlust hat sich in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich beschleunigt. Die bis in die 2010er Jahre fast ausgeglichene Massenbilanz im zentralen Karakorum, die ähnlich auch im westlichen Kunlun Schan und östlichen Pamirgebirge beobachtet wurde, wird als Karakorum-Anomalie bezeichnet. Im Jahr 2021 veröffentlichte Auswertungen von Satellitendaten deuten jedoch darauf hin, dass die Karakorum-Gletscher nun auch an Masse verlieren.
Einige Gebiete im Himalaya erwärmen sich fünfmal so schnell wie der globale Durchschnitt. Die Ursachen dafür sind neben dem Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen auch große Mengen an Ruß und anderen Partikeln, die bei der Verbrennung fossiler Rohstoffe und Biomasse entstehen. Diese Partikel absorbieren Solarstrahlung, wodurch Luft erwärmt wird. Diese Schicht erwärmter Luft steigt auf und beschleunigt in den Gebirgen den Rückgang der Gletscher. Ein Vergleich digitaler Höhenmodelle der Jahre 1975–2000 und 2000–2016 zeigt eine Verdopplung des Eisverlustes in allen untersuchten Regionen. Das deutet darauf hin, dass nicht Rußimmissionen, sondern die Klimaänderungen im Himalaya dominanter Treiber der Gletscherschmelze sind. Im Karakorum gibt es einige Surge-Gletscher. Vergleichsweise niedrige Sommertemperaturen und eher zunehmenden Niederschlägen – möglicherweise durch intensivierte Bewässerung im Tarimbecken oder einen noch geringeren Einfluss des Sommermonsuns – erklären wahrscheinlich die Karakorum-Anomalie, ein Zusammenhang mit Surge-Effekten konnte noch nicht belegt werden.
In China schmolzen zwischen 1950 und 1970 53 % von 612 untersuchten Gletschern. Nach 1995 befanden sich bereits 95 % im Rückgang. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der Gletscherschwund in dieser Region zunimmt. Der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Zentralasien anhaltende Gletscherschwund zeigte jedoch auch Unterbrechungen. Aus dem Inneren Himalaya sind beispielsweise Gletscherzungenstagnationen bzw. geringe Zungenvorstöße für den Zeitraum von ca. 1970 bis 1980 bekannt. Die Gletscher des chinesischen Gebiets Xinjiang sind seit 1964 um 20 % abgeschmolzen. In diesem Gebiet befindet sich fast die Hälfte der vergletscherten Fläche Chinas.
Ausnahmslos alle Gletscher in der Region um den Mount Everest im Himalaya befinden sich im Rückgang. Der Khumbu-Gletscher in der Nähe des Mount Everests zog sich seit 1953 um etwa 5 km zurück. Auf der Nordseite befindet sich der Rongbuk-Gletscher, welcher jährlich 20 m an Länge verliert. Der etwa 30 km lange Gangotri-Gletscher in Indien, der als Quelle des Ganges gilt, schmolz zwischen 1971 und 2004 jährlich um 27 m ab. In den 69 Jahren von 1935 bis 2004 verlor er durchschnittlich 22 m Länge im Jahr. Insgesamt ist er in den letzten 200 Jahren um zwei Kilometer kürzer geworden. Durch das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya haben sich neue Gletscherseen gebildet. Es besteht die Gefahr, dass diese ausbrechen (Gletscherlauf) und dabei Überschwemmungen verursachen.
Übriges Zentralasien
Im nördlichen Teil des Tian Shan, dessen höchster Gipfel 7.439 m hoch ist und das sich auf die Staatsgebiete von China, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan erstreckt, haben die Gletscher, die zur Wasserversorgung dieses ariden Gebietes beitragen, zwischen 1955 und 2000 jedes Jahr fast zwei Kubikkilometer (km³) Eis verloren. Zwischen 1974 und 1990 haben die Gletscher zudem jährlich durchschnittlich 1,28 % ihres Volumens eingebüßt.
Gletscher im Ak-Shirak-Gebirge des zentralen Tian Shan in Kirgisistan verloren zwischen 1943 und 1977 bereits einen kleinen Teil ihrer Masse. Zwischen 1977 und 2001 haben sie weitere 20 % an Masse verloren.
Südlich des Tian-Shan-Gebirges befindet sich der Pamir, ein weiteres Hochgebirge mit einer Höhe von bis zu 7.719 m. Im Pamir, der sich hauptsächlich in Tadschikistan befindet, gibt es tausende von Gletschern, die zusammen eine Fläche von etwa 1200 km² bedecken. Sie alle befinden sich im Rückgang. Während des 20. Jahrhunderts haben die Gletscher in Tadschikistan 20 km³ Eis verloren. Der 70 km lange Fedtchenko-Gletscher, der größte Gletscher in Tadschikistan und zugleich der längste nicht polare Gletscher der Welt, hat bereits 1,4 % seiner Länge (0,98 km) und 2 km³ Eis während des 20. Jahrhunderts eingebüßt. Auch der benachbarte Skogatch-Gletscher schmilzt: Zwischen 1969 und 1986 hat er 8 % seiner gesamten Eismasse verloren. Tadschikistan und die anderen Anrainerstaaten des Pamirs sind vom Schmelzwasser der Gletscher abhängig, da es den Wasserstand in den Flüssen während Dürreperioden und in trockenen Jahreszeiten aufrechterhält. Aufgrund des Gletscherschwundes wird kurzfristig mehr, langfristig aber weniger Flusswasser zur Verfügung stehen.
Nordasien
Insgesamt kommt es in allen Regionen Nordasiens zu einem Rückgang der vergletscherten Fläche, der bis 2018 von 10,6 % in Kamtschatka bis zu 69 % im Korjakengebirge reichte. Auch in der Orulgan-Kette im Werchojansker Gebirge und im Bargusingebirge ging mehr als die Hälfte der Gletscherfläche verloren. In den flächenmäßig bedeutsamen Gletschergebieten des Altai, Suntar-Chajata-Gebirges und Tscherskigebirges liegt der Rückgang bei etwa einem Viertel. Einzelne Ausnahmen gibt es in Kamtschatka, wo vulkanisches Gesteinsmaterial Gletscher teilweise bedeckt und besondere Isolation bietet.
In vergletscherten Gebirgen ist eine deutliche Steigerung der Sommertemperaturen zu verzeichnen, in den 1990er Jahren begannen sie, die Maximalwerte des vergangenen Jahrhunderts zu überschreiten. Im westlichen und zentralen Teil Sibiriens sind die Trends geringer als im Osten. Seit der ersten Hälfte der 2010er Jahre traten außerdem einige blockierende Hochdrucklagen und Hitzewellen auf. In einigen Regionen kommt eine abnehmende Niederschlagsmenge im Winter hinzu, hier kommt es zu einem doppelt negativen Effekt auf die Gletscher: geringere Akkumulation im Winter und erhöhte Schmelzraten im Sommer. Aber auch im Altai und im östlichen Sajangebirge, wo der Niederschlag anstieg, konnte der sommerliche Eisverlust dadurch nicht kompensiert werden.
Mit dem Abschmelzen der Gletscher geht in einigen Gebieten ein erhöhtes Risiko von Gletscherläufen einher.
Vorderasien
In Vorderasien gibt es eine größere Anzahl Gletscher im Kaukasus, dazu je eine niedrige zweistellige Zahl im Iran und der Türkei. Die Gletscher des Großen Kaukasus sind vorwiegend kleine Kargletscher. Um die höchsten Gipfel, wie den Elbrus und den Kazbek, gibt es auch ausgedehnte Eisfelder. Die vergletscherte Fläche im Kaukasus sank zwischen 1960 und 1986 um 11,5 %. Zwischen 1986 und 2014 beschleunigte sich der Verlust, es gingen weitere 19,5 % der Gletscherfläche verloren. Die Zahl der Gletscher ging von 2349 auf 2020 zurück, obwohl durch die Auflösung größerer Gletscher zahlreiche kleinere entstanden waren.
Im Iran stellen Gletscher in einigen Regionen in Trockenzeiten ein wichtiges Wasserreservoir dar. In fünf Regionen gab es 2009 insgesamt noch etwa 30 kleine Gletscher. Über die Entwicklung der meisten Gletscher dort ist wenig bekannt. In der Takhte-Soleiman-Region im westlichen Teil des Elburs-Gebirges wurden deutliche Eisverluste festgestellt. In der Türkei zeigen Satellitenmessungen, einhergehend mit steigenden Minimum-Temperaturen im Sommer, mehr als eine Halbierung der vergletscherten Fläche, von 25 km² in den 1970er Jahren auf 10,85 km² in den Jahren 2012–2013. Fünf Gletscher verschwanden gänzlich. Nur noch zwei, am Ararat und Uludoruk, hatten eine Fläche von mehr als 3,0 km².
Neuseeland
Die neuseeländischen Gletscher, die 2010 eine Fläche von 1.162 km² bedeckten, sind – bis auf kleine Gletscher am Ruapehu – auf der Südinsel entlang der Neuseeländischen Alpen zu finden. Die Gebirgsgletscher sind seit 1890 allgemein im Rückgang, der sich seit 1920 beschleunigt hat. Zwischen 1978 und 2014 haben die neuseeländischen Gletscher insgesamt ca. 19,3 km³ Eisvolumen verloren (entsprechend 36 %). Das gesamte Eisvolumen betrug 2014 etwa 34,3 km³. Bei einer extremen Hitzewelle 2017/2018 gingen weitere 3,8 km³ Eis, annähernd 10 %, verloren. Die meisten Gletscher sind messbar dünner geworden, haben sich verkürzt, und das Nährgebiet der Gletscher hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in höhere Lagen verschoben. Seit den 1980er-Jahren haben sich unzählige kleine Gletscherseen hinter den Endmoränen vieler Gletscher gebildet. Satellitenbilder zeigen, dass sich diese Seen ausdehnen. Ohne die durch den Menschen verursachte globale Erwärmung hätte es, einer Attributionsstudie zufolge, das Extremereignis 2018 wie auch eines im Jahr 2011 sehr wahrscheinlich nicht gegeben.
Einige Gletscher, erwähnenswert sind der Fox- und der Franz-Josef-Gletscher, haben sich periodisch, besonders in den 1990er-Jahren, ausgedehnt. Doch in der Gesamtbilanz des 20. und 21. Jahrhunderts ist dieses Wachstum gering. Beide Gletscher ziehen sich seit 2009 wieder stark zurück und waren um das Jahr 2015 über 3 km kürzer als zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Diese großen, schnell fließenden Gletscher, die an steilen Abhängen liegen, reagieren stark auf kleine Änderungen. Auf einige Jahre mit günstigen Bedingungen, wie erhöhtem Schneefall oder niedrigeren Temperaturen, reagieren diese Gletscher sofort mit schnellem Wachstum. Doch enden diese günstigen Bedingungen, gehen sie wiederum ähnlich schnell zurück. Die Ursache für das Wachstum einiger Gletscher war verbunden mit kühleren Meerestemperaturen in der Tasmanischen See, möglicherweise infolge eines häufigeren Auftreten des El Niño. Dies verursachte regional kühlere Sommer und mehr Niederschlag in Form von Schnee.
Nordamerika
Gletscher in Nordamerika liegen hauptsächlich in den Rocky Mountains in den USA und Kanada. Darüber hinaus finden sich Gletscher in verschiedenen Gebirgszügen an der Pazifikküste zwischen dem Norden Kaliforniens und Alaska und einige kleine Gletscher verstreut in der Sierra Nevada in Kalifornien und Nevada (Grönland gehört zwar geologisch zu Nordamerika, wird aber aufgrund seiner Lage auch zur Arktis gezählt). Insgesamt ist in Nordamerika eine Fläche von etwa 276.000 km² vergletschert. Bis auf einige Gletscher, wie den Taku-Gletscher, die ins Meer münden, gehen praktisch alle Gletscher in Nordamerika zurück. Seit Anfang der 1980er-Jahre hat sich die Abschmelzgeschwindigkeit drastisch erhöht und in jeder Dekade schwanden die Gletscher schneller als in der vorherigen.
An der Westküste Nordamerikas verläuft die Kaskadenkette von Vancouver (Kanada) bis in den Norden Kaliforniens. Abgesehen von Alaska stellen die mehr als 700 Gletscher der nördlichen Kaskaden (zwischen der Kanadischen Grenze und der Interstate 90 in Zentral-Washington) etwa die Hälfte der vergletscherten Fläche der USA. Diese Gletscher beinhalten so viel Wasser wie alle Seen und Reservoirs im Staat Washington zusammen. Außerdem versorgen sie viele Flüsse und Bäche in den trockenen Sommermonaten mit Wasser in einer Menge von etwa 870.000 m³.
Bis 1975 wuchsen noch viele Gletscher in den Nord-Kaskaden aufgrund von kühlerem Wetter und gestiegenem Niederschlag zwischen 1944 und 1976. Doch seit 1987 schwinden alle Gletscher der Nord-Kaskaden, außerdem hat sich die Geschwindigkeit des Rückgangs seit Mitte der 1970er-Jahre jedes Jahrzehnt erhöht. Zwischen 1984 und 2005 haben die Gletscher im Durchschnitt mehr als 12,5 m an Dicke und zwischen 20 und 40 % ihres Volumens verloren.
Seit 1985 sind alle 47 beobachteten Gletscher der Nord-Kaskaden zurückgegangen. Der Spider-Gletscher, der Lewis-Gletscher (siehe Bild), der Milk-Lake-Gletscher und der David-Gletscher sind sogar komplett verschwunden. Besonders stark schmolz auch der White-Chuck-Gletscher: Seine Fläche verringerte sich von 3,1 km² im Jahr 1958 auf 0,9 km² im Jahr 2002. Ähnlich der Boulder-Gletscher an der südöstlichen Flanke des Mount Baker: Er verkürzte sich um 450 m von 1978 bis 2005. Dieser Rückgang ereignete sich in einer Periode mit verringertem winterlichen Schneefall und höheren Sommertemperaturen. Die winterliche Schneedecke hat in den Kaskaden seit 1946 um 25 % abgenommen und die Temperaturen haben im gleichen Zeitraum um 0,7 °C zugenommen. Die Schneedecke hat abgenommen, obwohl die winterlichen Niederschläge leicht zugenommen haben. Durch die höheren Temperaturen fällt dieser Niederschlag jedoch vermehrt als Regen und dadurch schmelzen die Gletscher sogar in den Wintern. Im Jahr 2005 befanden sich 67 % der Gletscher in den nördlichen Kaskaden in einem Ungleichgewicht und werden daher die Fortdauer der gegenwärtigen Bedingungen nicht überleben. Diese Gletscher werden eventuell sogar dann verschwinden, wenn die Temperaturen sinken und der Schneefall wieder zunehmen sollte. Es wird erwartet, dass sich die restlichen Gletscher stabilisieren, wenn das warme Klima weiterhin erhalten bleibt. Allerdings wird ihre Fläche dann stark abgenommen haben.
Auch die Gletscher des Glacier-Nationalparks in Montana schwinden rasant. Die Ausdehnung jedes Gletschers wurde durch den National Park Service und das US Geological Survey jahrzehntelang abgebildet. Durch den Vergleich von Fotografien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit aktuellen Bildern gibt es viele Beweise, dass die Gletscher des Nationalparks seit 1850 deutlich zurückgegangen sind. Die größeren Gletscher nehmen heute etwa ein Drittel der Fläche ein, die sie 1850 zum Zeitpunkt ihrer ersten Untersuchung noch eingenommen hatten. Eine Vielzahl kleinerer Gletscher ist sogar vollständig geschmolzen. 1993 nahmen die Gletscher des Nationalparks nur noch eine Fläche von knapp 27 km² ein. 1850 waren es noch etwa 99 km² gewesen. Bis 2030 wird der Großteil des Gletschereises im Glacier-Nationalpark vermutlich verschwunden sein, auch wenn die gegenwärtige Klimaerwärmung aufhörte und die Temperaturen wieder abnähmen. Der unten abgebildete Grinnell-Gletscher ist nur ein Gletscher von vielen, die über mehrere Jahrzehnte gründlich mit Fotografien dokumentiert wurden. Die Fotografien demonstrieren deutlich den Rückgang des Gletschers seit 1938.
Weiter südlich im Grand-Teton-Nationalpark in Wyoming gibt es trotz semiariden Klimas etwa ein Dutzend kleine Gletscher. Sie alle gingen während der letzten 50 Jahre zurück. Der Schoolroom-Gletscher, der etwas südwestlich des Grand Teton (4.197 m), des höchsten Bergs des Grand-Teton-Nationalparks, liegt, wird vermutlich bis 2025 abgeschmolzen sein. Untersuchungen zeigen, dass die Gletscher des Bridger-Teton National Forest und des Shoshone National Forest der Wind-River-Bergkette (Wyoming) zwischen 1950 und 1999 etwa ein Drittel ihrer Größe eingebüßt haben. Und Fotografien belegen gar, dass die Gletscher seit den späten 1890er-Jahren etwa die Hälfte ihrer Größe verloren haben. Die Geschwindigkeit des Gletscherrückgangs hat sich zudem erhöht: In den 1990er-Jahren zogen sich die Gletscher schneller als in jedem vorherigen Jahrzehnt der letzten 100 Jahre zurück. Der Gannett-Gletscher am nordöstlichen Hang des Gannett Peaks, des höchsten Bergs Wyomings (4.207 m), ist der größte Gletscher der Rocky Mountains südlich Kanadas. Seit 1929 hat er über 50 % seines Volumens verloren. Die Hälfte des Verlusts fand seit 1980 statt. Die übrigen Gletscher Wyomings werden wahrscheinlich bis Mitte des Jahrhunderts geschmolzen sein.
Die Gletscher der kanadischen Rocky Mountains sind im Allgemeinen größer und weiter verbreitet als die Gletscher der Rocky Mountains in den USA. Der recht leicht erreichbare Athabasca-Gletscher geht vom 325 km² großen Columbia-Eisfeld aus. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat der Gletscher 1.500 m Länge verloren. Zwischen 1950 und 1980 zog sich der Gletscher nur langsam zurück, seit 1980 ist die Geschwindigkeit des Rückgangs gestiegen. Der Peyto-Gletscher in Alberta, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schnell zurückzog, nimmt heute eine Fläche von 12 km² ein. Bis 1966 stabilisierte er sich und seit 1976 geht er wieder zurück. Der Illecillewaet-Gletscher im Glacier-Nationalpark in Britisch-Kolumbien hat sich, seitdem er 1887 zum ersten Mal fotografiert wurde, um etwa 2 km zurückgezogen.
Auch in Yukon, einem Territorium im äußersten Nordwesten Kanadas, ist ein starker Gletscherschwund zu beobachten. Die 1.402 Gletscher in Yukon bedeckten Ende der 50er noch eine Fläche von 11.622 km², 2006–2008 waren es noch 9.081 km². In diesen 50 Jahren nahm die Gletscherfläche also um über 20 % ab. Von den 1.402 Gletschern gingen 1.388 zurück oder verschwanden ganz, zehn blieben in ihrer Länge etwa unverändert und vier wuchsen in diesem Zeitraum.
In Alaska gibt es tausende Gletscher, von denen aber nur relativ wenige benannt sind. Einer von ihnen ist der Columbia-Gletscher in der Nähe von Valdez. Der Gletscher hat in den letzten 25 Jahren 15 km an Länge verloren. Von dem Gletscher kalben Eisberge in die Prince William Sound Bucht. Diese Eisberge waren eine Mitursache für die Exxon-Valdez-Umweltkatastrophe. Beim Versuch, einem Eisberg auszuweichen, lief die Exxon Valdez auf das Bligh-Riff auf, und 40.000 Tonnen Rohöl liefen aus. Ein weiterer, der Tyndall-Gletscher, hat sich seit den 1960er-Jahren um 24 km zurückgezogen, durchschnittlich also um mehr als 500 m jährlich.
Nördlich Juneaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Alaska, befindet sich die 3.900 km² große Juneau-Eiskappe. Seit 1946 werden die Auslassgletscher der Eiskappe im Rahmen des „Juneau Icefield Research Program“ beobachtet. Von den 18 Gletschern der Eiskappe gehen 17 zurück und einer, der Taku-Gletscher, wächst. 11 der Gletscher sind seit 1948 um mehr als 1 km zurückgegangen, darunter der Antler-Gletscher (5,6 km), der Gilkey-Gletscher (3,5 km), der Norris-Gletscher (1,1 km) und der Lemon-Creek-Gletscher (1,5 km). Der Taku-Gletscher wächst seit 1890: Zwischen 1890 und 1948 wuchs er um etwa 5,3 km und seit 1948 bisher um etwa 2 km.
Auf der Kenai-Halbinsel im südlichen Alaska beheimatet das etwa 1.800 km² große Harding Icefield mehr als 38 Gletscher. Die meisten Gletscher dieses Eisfeldes haben seit 1973 an Länge verloren. Einer von ihnen ist der McCarty-Gletscher. Dieser zog sich zwischen 1909 und 2004 um etwa 20 km zurück. Seine maximale Ausdehnung erreichte der Gletscher um 1850; etwa 0,5 km länger als 1909. Der größte Teil des beobachteten Rückzugs geschah vor 1964, und in den 1970ern dehnte sich der Gletscher aufgrund kühlerer Klimabedingungen sogar etwas aus. Zwischen 1986 und 2002 verlor er ca. 306 m an Länge. Stark ging auch der Skilak-Gletscher zurück: Zwischen 1973 und 2002 zog sich dieser Gletscher, der in einen See mündet, um etwa 3,8 km zurück. Insgesamt verlor das Eisfeld zwischen 1986 und 2002 78 km² vergletscherte Fläche.
Mithilfe von Fernerkundungstechnologien (Laser-Höhenmessung) wurden in Alaska zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1990er Jahre starke Dickenverluste von Gletschern gemessen: Die 67 untersuchten Gletscher büßten im Durchschnitt 0,52 Meter Dicke pro Jahr während des Messzeitraums ein. Hochgerechnet auf alle Gletscher Alaskas kam es demnach zu Volumenverlusten von 52 ± 15 km³ Eis pro Jahr. Zwischen Mitte der 1990er-Jahre und 2001 wurden 28 Gletscher weiter beobachtet. Sie verloren pro Jahr durchschnittlich 1,8 m Dicke. Die Schmelze der Gletscher hat sich also beschleunigt. Wiederum hochgerechnet auf alle Gletscher in Alaska bedeutet dies ein Volumenverlust von 96 ± 35 km³ pro Jahr.
Im Jahr 2019 fanden akustische Beobachtungen heraus, dass der LeConte-Gletscher im Südosten Alaskas signifikant schneller schmilzt, als es die wissenschaftliche Theorie prognostiziert.
Patagonien
In Patagonien, einer über 900.000 km² großen Region in Südamerika, die sich über die südlichen Anden Chiles und Argentiniens erstreckt, lässt sich ein weltweit unvergleichbar schnelles Abschmelzen der Gletscher beobachten. Wissenschaftler glauben, dass, sofern die gegenwärtigen Bedingungen anhalten, einige der Eiskappen in den Anden bis 2030 verschwunden sein werden. Das Northern Patagonian Ice Field etwa, ein Teil der patagonischen Eiskappe, verlor zwischen 1945 und 1975 circa 93 km² vergletscherte Fläche. Zwischen 1975 und 1996 hat es weitere 174 km² verloren, was auf eine sich beschleunigende Abschmelzgeschwindigkeit hindeutet. Der San-Rafael-Gletscher, einer der Gletscher dieser Eiskappe, zog sich seit Ende des 19. Jahrhunderts um rund 10 km zurück. Die letzten 3000–5000 Jahre blieb er dagegen relativ stabil. Auch die Gletscher des Southern Patagonian Ice Field gehen fast alle zurück: 42 Gletscher schwanden, vier blieben konstant und zwei wuchsen zwischen 1944 und 1986. Am stärksten zog sich der O'Higgins-Gletscher mit 14,6 km zwischen 1975 und 1996 zurück. Der 30 km lange Perito-Moreno-Gletscher ist einer der wenigen Gletscher, die gewachsen sind. Zwischen 1947 und 1996 verlängerte er sich um insgesamt 4,1 km. Derzeit befindet er sich in einem Gleichgewichtszustand, zeigt also keine Längenveränderungen.
Tropische Gletscher
Tropengletscher befinden sich zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendekreis. Die beiden Wendekreise verlaufen jeweils 2.600 km nördlich und südlich des Äquators. Die tropischen Gletscher sind aus mehreren Gründen ausgesprochen ungewöhnliche Gletscher. Zum einen sind die Tropen der wärmste Bereich der Erde. Außerdem sind die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen gering, wobei die Temperaturen in den Tropen ganzjährig hoch sind. Folglich mangelt es an einer kalten Saison, in der Schnee und Eis akkumulieren könnten. Und schließlich gibt es in dieser Region nur wenige hohe Berge, auf denen es kalt genug ist, dass sich Gletscher bilden können. Alle Gletscher in den Tropen befinden sich auf isolierten Bergspitzen. Allgemein sind tropische Gletscher also kleiner als andere und reagieren somit empfindlicher und schneller auf Klimaveränderungen. Schon ein kleiner Temperaturanstieg wirkt sich daher unmittelbar auf Tropengletscher aus.
Nördliche und mittlere Anden
In Südamerika befindet sich der Großteil der tropischen Gletscher, gemessen an der Fläche sind es mehr als 99 %. Hiervon liegen wiederum die größten Flächen in den äußeren Tropen, in Peru gut 70 %, in Bolivien 20 %, der Rest in den inneren Tropen verteilt sich auf Ecuador, Kolumbien und Venezuela. Mehr als 80 % des Gletschereises der nördlichen Anden ist in kleinen Gletschern von jeweils etwa einem Quadratkilometer Fläche auf die höchsten Berggipfel verteilt. Innertropische Gletscher sind anfälliger gegenüber Temperaturschwankungen, Gletscher in den äußeren Tropen reagieren relativ stark auf Niederschlagsschwankungen. Glaziologen stellen insgesamt einen deutlichen Gletscherrückgang fest, die vergletscherte Fläche ging von 2750 km² in den 1970er Jahren auf, Stand 2013, 1920 km² zurück.
Innere Tropen
In Venezuela sind von 200 km² Gletscherfläche (im 17. Jahrhundert) noch 0,1 km² des Humboldt-Gletschers (2018) übrig. Mit seinem baldigen Abschmelzen wird gerechnet, Venezuela wird dann der erste Andenstaat ohne Gletschereis sein. In Kolumbien sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts 62 % der Gletscherfläche verloren gegangen. Im Jahr 2016 betrug sie noch 42 km², die sich in vier Bergketten auf überwiegend kleinere Gletscher mit einer Fläche von jeweils weniger als 1 km² verteilte: 7,2 km² im isolierten karibischen Küstengebirge der Sierra Nevada de Santa Marta, 15,5 km² in der im Nordosten des Landes gelegenen Sierra Nevada del Cocuy, 11,5 km² im Nationalpark Los Nevados und 8,0 km² am Vulkan Nevado del Huila, für den es bei einem Ausbruch ein signifikantes Risiko von Lahars gibt. Nur die höchstgelegenen könnten noch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vorhanden sein. In Ecuador sank seit den frühen 1990er Jahren die Gletscherfläche von 92 km² auf 43,5 km² im Jahr 2017, die Höhe der Gleichgewichtslinie stieg auf 5120 m. So hat der Antizana-Gletscher in Ecuador zwischen 1992 und 1998 jährlich 0,6–1,4 m Eis verloren, seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich die Rückzugsgeschwindigkeit erhöht.
Äußere Tropen
Zwischen 1986 und 2014 nahm die Fläche der bolivianischen Gletscher um mehr als 40 % bzw. 228 km² ab. Gemäß Prognosen werden bis zum Jahr 2100 noch ca. 10 % der Fläche des Jahres 1986 übrig bleiben. Zugleich steigt damit die Flutgefahr durch Eisstauseen. Der Chacaltaya-Gletscher in Bolivien verlor beispielsweise zwischen 1992 und 1998 jährlich 0,6–1,4 m Eis. Im gleichen Zeitraum büßte er 67 % seines Volumens und 40 % seiner Dicke ein, seine Masse ging seit 1940 um insgesamt 90 % zurück. 2005 nahm er nicht mal mehr eine Fläche von 0,01 km² ein, 1940 waren es noch 0,22 km². Im Jahr 2009 war der Gletscher komplett abgeschmolzen.
Weiter südlich, in Peru, erreichen die Anden größere Höhen (insbesondere in der Cordillera Blanca) und beherbergen etwa 70 % der tropischen Gletscher. Die Fläche peruanischer Gletscher wurde erstmals 1988 anhand von Daten aus dem Jahr 1970 auf 2600 km² geschätzt. Die größten Eisflächen lagen in der Cordillera Blanca (um 1970: 723 km²) und der Cordillera de Vilcanota (um 1970: 539 km²), in anderen Cordilleras waren jeweils weniger als 200 km² vergletschert. Die Gletscher spielen eine bedeutende Rolle für die Wasserversorgung der weitgehend wüstenartigen Küstenregionen. Gletscherläufe bedrohen Siedlungen und Menschen, besonders am Río Santa, unterhalb der Cordillera Blanca, wo es immer wieder zu katastrophalen Ausbrüchen von Gletscherseen kam. Zwischen 2000 und 2016 sind, Forschern der Universität Erlangen-Nürnberg zufolge, insgesamt 29 % der Gletschfläche verloren gegangen, es blieben etwa 1300 km², die sich auf etwa 1800 Gletscher verteilten.
In der Cordillera de Vilcanota befindet sich die etwas weniger als 44 km² (Stand 2018) große Quelccaya-Eiskappe, die bis 2010 ausgedehnteste tropische Eisdecke. Wegen ihrer besonders hohen Schmelzrate hat sie deutliche mehr Fläche verloren als die inzwischen größte, das – ebenfalls schmelzende – Gletschergebiet am Coropuna (44,1 km²) in der peruanischen Cordillera Volcánica. Von der Quelccaya-Eiskappe gehen mehrere Gletscher aus, die alle schwinden. Der größte, der Qori-Kalis-Gletscher, ging zwischen 1995 und 1998 pro Jahr um 155 m zurück. Zwischen 2000 und 2002 ging er gar um etwa 200 m pro Jahr zurück. Das schmelzende Eis bildet seit 1983 einen großen Gletschersee. Die gesamte Eiskappe hat zwischen 1980 und 2010 knapp 30 % ihrer Fläche verloren. Proben nicht fossilisierter Pflanzen, die beim Rückgang der Eiskappe zum Vorschein gekommen sind, deuten darauf hin, dass die Eiskappe zuletzt vor mehr als 5200 Jahren kleiner als heute war. Auch wenn die gegenwärtigen Bedingungen bestehen bleiben, wird die Eiskappe laut dem US-amerikanischen Paläoklimatologen Lonnie G. Thompson in etwa 50 Jahren komplett geschmolzen sein.
Afrika
Fast ganz Afrika befindet sich in den Tropen und Subtropen, so dass seine Gletscher auf zwei abgelegene Berggipfel und das Ruwenzori-Gebirge beschränkt sind. Insgesamt nahmen die Gletscher in Afrika Ende der 2010er Jahre noch eine Fläche von 3 km² ein, alle hatten gegenüber dem Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als 80 % ihrer Fläche eingebüßt. Die afrikanischen Gletscher sind aufgrund ihres geringen Volumens für den Wasserhaushalt unbedeutend, haben aber als Tourismusmagnete Bedeutung.
Der Kilimandscharo ist mit 5.895 m der höchste Berg Afrikas. Zwischen 1912 und 2006 nahm das Volumen des Gletschereises am Kilimandscharo um etwa 82 % ab. Im März 2005 stellte ein Bericht fest, dass kaum noch Gletschereis auf dem Berg vorhanden war und dass zum ersten Mal seit 11.000 Jahren Teile des kargen Berggipfels eisfrei geworden waren. In der Nähe des Kilimandscharo-Gipfels befindet sich der Furtwängler-Gletscher. Zwischen 1976 und 2000 hat seine Fläche von 113.000 m² auf 60.000 m² abgenommen, 2012 waren es noch 25.000 m². Als Ursache für den Rückgang der Gletscher wird vor allem ein beträchtlicher Rückgang der Niederschlagsmenge am Kilimandscharo seit 1880 genannt. Diese Erklärung allein ist jedoch unbefriedigend. Aus historischen Aufzeichnungen wird ersichtlich, dass um 1880 außergewöhnlich viel Niederschlag fiel, jedoch vor 1860 Mengen vorkamen, wie sie auch im 20. Jahrhundert normal waren. Der Gletscher existiert außerdem ohne Unterbrechung seit wenigstens 11.700 Jahren und hat seitdem einige besonders schwere Dürren überstanden, wie aus seinen Eisbohrkernen hervorgeht.
Nördlich des Kilimandscharo liegt der Mount Kenya. Dieser ist mit 5.199 m der zweithöchste Berg Afrikas. Auf dem Berg liegen einige kleine Gletscher, die in den letzten 6000 Jahren sechs Wachstumsphasen durchwandert haben (die beiden letzten in den Jahren 650–850 und 1350–1550). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben die Gletscher mindestens 45 % ihrer Masse verloren. Nach Untersuchungen des US Geological Survey (USGS) gab es 1900 18 Gletscher auf dem Mount Kenya. 1986 waren davon noch 11 übriggeblieben. Die gesamte von Gletschern bedeckte Fläche hat von ca. 1,6 km² im Jahre 1899 auf 0,4 km² (1993) abgenommen.
Westlich des Kilimandscharo und des Mount Kenya erhebt sich das Ruwenzori-Gebirge auf bis zu 5.109 m. Fotografien belegen einen deutlichen Rückgang der mit Eis bedeckten Flächen im letzten Jahrhundert. Um 1900 gab es auf dem Gebirge noch ein Gletschergebiet von 6,5 km². Dieses ist bis 1987 auf etwa 2 km² und 2003 bis auf ca. 0,96 km² zusammengeschmolzen. Zukünftig könnten die Gletscher des Ruwenzori-Gebirges aber aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit der Kongo-Region langsamer zurückgehen als die Gletscher des Kilimandscharo und des Mount Kenya. Dennoch wird ein vollständiges Abschmelzen der Gletscher innerhalb der nächsten zwei Dekaden erwartet.
Neuguinea
Auch auf der mit 771.900 km² zweitgrößten Insel der Erde, Neuguinea, die nördlich von Australien liegt, gibt es fotografische Beweise für einen massiven Gletscherschwund seit der ersten großen Erkundung der Insel per Flugzeug in den 1930er-Jahren. Aufgrund der Lage der Insel in den Tropen schwanken die Temperaturen im Jahresverlauf kaum. Auch die Regen- und Schneemenge ist stabil, ebenso die Wolkenbedeckung. Während des 20. Jahrhunderts gab es keine merklichen Veränderungen der Niederschlagsmengen. Dennoch hat sich die mit 7 km² größte Gletscherdecke auf dem Puncak Jaya, dem mit 4.884 m höchsten Berg der Insel, verkleinert: Die 1936 geschlossene Eisdecke hat sich auf mehrere kleinere Gletscher aufgeteilt. Von diesen Gletschern zogen sich der Meren- und der Carstenszgletscher zwischen 1973 und 1976 um 200 m bzw. 50 m zurück. Auch die Northwall Firm, ein weiterer großer Rest der Eiskappe auf dem Puncak Jaya, spaltete sich seit 1936 in mehrere Gletscher. Das Ausmaß des Gletscherschwunds in Neuguinea wurde 2004 durch Bilder des Satelliten IKONOS deutlich. Zwischen 2000 und 2002 verloren die East Northwall Firm demnach 4,5 %, die West Northwall Firm 19,4 % und der Carstensz-Gletscher 6,8 % ihrer Masse. Der Meren-Gletscher verschwand irgendwann zwischen 1994 und 2000 sogar völlig. Auf dem Gipfel des Puncak Trikora, mit 4.750 m Höhe der zweithöchste Berg Neuguineas, existierte ebenfalls eine kleine Eisdecke, die schon zwischen 1939 und 1962 vollständig verschwand.
Polare Regionen
Trotz ihrer Wichtigkeit für den Menschen enthalten die Gebirgs- und Talgletscher der mittleren Breite und der Tropen nur einen geringen Anteil des Gletschereises auf der Erde. Etwa 99 % allen Süßwassereises befindet sich in den großen polaren und subpolaren Eisschilden der Antarktis und Grönlands. Diese kontinentalen Eisschilde, die mindestens 3 km dick sind, bedecken einen Großteil der polaren und subpolaren Landmassen. Wie Flüsse aus einem riesigen See fließen zahlreiche Gletscher vom Rand der Eisschilde in den Ozean und transportieren dabei riesige Mengen Eis.
In den vergangenen Jahren wurde die Beobachtung und Messung von Eisschilden erheblich verbessert. Noch 1992 glaubte man, dass die jährliche Massenbilanz beispielsweise der Antarktis in einer Bandbreite von −600 Gigatonnen (Gt) bis zu +500 Gt liege. Heute sind die Schätzwerte wesentlich präziser. Die Eisschilde von Grönland und der Antarktis verlieren pro Jahr aktuell zusammen etwa 125 Gt an Masse. Dabei beträgt der Verlust Grönlands 100 Gt und der der Westantarktis 50 Gt. Die Ostantarktis nimmt etwa 25 Gt an Masse zu. Die verbesserten Beobachtungen können also die gegenwärtige Lage recht präzise erfassen. Herausforderungen bereiten der Wissenschaft heutzutage vor allem unverstandene Dynamiken in Eisschilden und Gletschern. Diese machen eine verlässliche Modellierung von Veränderungen in der Zukunft sehr schwierig.
Antarktis
In der Antarktis erhöhte sich die mittlere Temperatur seit dem 19. Jahrhundert um geschätzte 0,2 °C. Die erste vollständige Schwerkraft-Analyse über den gesamten antarktischen Eisschild zeigte, dass im Beobachtungszeitraum zwischen April 2002 und August 2005 der jährliche Verlust an Eismasse durchschnittlich 152 (± 80) km³ betrug. Bei den Niederschlägen lässt sich zwar eine erhebliche Variabilität, jedoch kein eindeutiger Trend feststellen. Wird der gesamte Kontinent betrachtet, besteht wenigstens seit den 1950er Jahren keine dauerhafte und signifikante Veränderung des Schneefalls. Zwischen 1985 und 1994 war besonders im Innern der Antarktis die Niederschlagsmenge gestiegen, während sie in den Küstengebieten teilweise abgenommen hatte. Dieser Trend kehrte sich dann praktisch exakt um, so dass zwischen 1995 und 2004 bis auf drei exponierte Regionen fast überall weniger Schnee fiel, stellenweise bis zu 25 %.
Besonders drastisch wurde der Eisverlust der Antarktis deutlich bei der Auflösung großer Teile des Larsen-Schelfeises. Genau betrachtet besteht das Larsen-Schelfeis aus drei einzelnen Schelfen, die verschiedene Bereiche an der Küste bedecken. Diese werden (von Nord nach Süd) Larsen A, Larsen B und Larsen C genannt. Larsen A ist der kleinste und Larsen C der größte der Schelfe. Larsen A löste sich bereits im Januar 1995 auf, Larsen C ist derzeit anscheinend stabil. Die Auflösung des Larsen-B-Schelfs wurde zwischen dem 31. Januar und dem 7. März 2002 festgestellt, an dem er mit einer Eisplatte von 3.250 km² Fläche endgültig abbrach. Bis zu diesem Zeitpunkt war Larsen B während des gesamten Holozäns für über 10.000 Jahre stabil. Demgegenüber bestand der Larsen-A-Schelf erst seit 4000 Jahren.
Der Pine-Island-Gletscher im Westen der Antarktis, der in die Amundsen-See fließt, verdünnte sich von 1992 bis 1996 um 3,5 ± 0,9 m pro Jahr und hat sich im gleichen Zeitraum um etwa 5 km zurückgezogen. Der Volumenverlust des Gletschers hat sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht: Von −2,6 ± 0,3 km³ pro Jahr (1995) auf −10,1 ± 0,3 km³ pro Jahr im Jahre 2006. Auch der benachbarte Thwaites-Gletscher verliert an Masse und Länge. Und auch am Dakshin-Gangotri-Gletscher lässt sich ein Rückgang beobachten: Zwischen 1983 und 2002 zog er sich pro Jahr durchschnittlich um 0,7 m zurück. Auf der Antarktischen Halbinsel, dem einzigen Teil der Antarktis, der über den südlichen Polarkreis hinausragt, befinden sich hunderte zurückgehende Gletscher. Eine Studie untersuchte 244 Gletscher der Halbinsel. 212 oder 87 % der Gletscher gingen zurück und zwar im Durchschnitt um insgesamt 600 m von 1953 bis 2003. Am stärksten zog sich der Sjogren-Gletscher mit etwa 13 km seit 1953 zurück. 32 der untersuchten Gletscher wuchsen. Das durchschnittliche Wachstum betrug 300 m pro Gletscher und ist damit deutlich geringer als der beobachtete massive Rückgang.
Island
Bei einer durchschnittlichen Dicke von 340 m bedeckten die Gletscher Islands um das Jahr 2020 eine Fläche von ca. 11.000 km², etwa 10 % der Inselfläche. Insgesamt gibt es auf Island um die 250 Gletscher, darunter vier Eiskappen mit einer Fläche von mehr als 550 km² und sieben Gletscher mit mehr als 10 km². Größte Eismasse mit 7.800 km² ist die Vatnajökull-Eiskappe. Die Massenbilanz der isländischen Gletscher wird maßgeblich durch Vorgänge an der Gletscheroberfläche bestimmt, den Gewinn durch winterlichen Schneefall und Schmelzwasserabfluss im Sommer. Basales Schmelzen durch vulkanische und geothermale Prozesse wird demgegenüber als nachrangig angesehen. Die Verdunkelung von Gletscheroberflächen nach Vulkaneruptionen lässt die Massenbilanzen über kürzere Zeiträume stark schwanken. Die Gletscher Islands haben seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. Masse verloren, ursächlich dafür sind vor allem gestiegene Lufttemperaturen. Der Massenverlust hat sich durch die rapide Erwärmung der Arktis beschleunigt, nach 2011 jedoch wieder verlangsamt. Ursache für die Verlangsamung könnte die anomale Abkühlung der Meeresoberflächentemperaturen im Nordatlantik vor der Südküste Grönlands sein (→ Cold blob).
Der Breiðamerkurjökull-Gletscher, einer der Gletscher der Vatnajökull-Eiskappe, hat sich zwischen 1973 und 2004 um 2 km verkürzt. Anfang des 20. Jahrhunderts erstreckte sich der Gletscher bis 250 m in den Ozean hinein. Bis 2004 hat sich das Ende des Gletschers drei Kilometer landeinwärts zurückgezogen. Dadurch hat sich eine schnell wachsende Lagune gebildet, in der sich Eisberge befinden, die vom Gletscher kalben. Die Lagune ist etwa 110 m tief und hat ihre Größe zwischen 1994 und 2004 nahezu verdoppelt. Zwischen 2000 und 2006 gingen von den 40 Gletschern der Vatnajökull-Eiskappe alle bis auf einen zurück. Am 18. August 2019 hat sich Island offiziell vom Okjökull verabschiedet.
Kanadisch-arktischer Archipel
Auf den Kanadisch-arktischen Archipeln gibt es etliche beachtliche Eiskappen. Dazu zählen die Penny- und Barneseiskappen auf der Baffininsel (mit 507.451 km² die fünftgrößte Insel der Welt), die Byloteiskappe auf der Bylot-Insel (11.067 km²) und die Devoneiskappe auf der Devon-Insel (55.247 km²). Diese Eiskappen verdünnen sich und ziehen sich langsam zurück. Die Penny- und Barneseiskappen haben sich zwischen 1995 und 2000 jährlich in geringeren Höhen (unter 1.600 m) um über 1 m verdünnt. Insgesamt haben die Eiskappen der kanadischen Arktis zwischen 1995 und 2000 jährlich 25 km³ Eis verloren. Zwischen 1960 und 1999 hat die Devoneiskappe hauptsächlich durch Verdünnung 67 ± 12 km³ Eis verloren. Die Hauptgletscher, die vom Rand der östlichen Devoneiskappe ausgehen, haben sich seit 1960 um 1–3 km zurückgezogen. Die Simmoneiskappe auf dem Hazen-Hochland auf der Ellesmere-Insel hat seit 1959 47 % ihrer Fläche eingebüßt. Bleiben die gegenwärtigen Bedingungen bestehen, so wird das verbleibende Gletschereis auf dem Hazen-Hochland um 2050 verschwunden sein.
Spitzbergen
Nördlich Norwegens befindet sich die Insel Spitzbergen des Svalbard-Archipels zwischen dem Nordatlantik und dem Arktischen Ozean, die von vielen Gletschern bedeckt ist. Der Hansbreen-Gletscher auf Spitzbergen z. B. zog sich zwischen 1936 und 1982 um 1,4 km zurück. Weitere 400 m Länge verlor er zwischen 1982 und 1998. Auch der Blomstrandbreen hat sich verkürzt: In den vergangenen 80 Jahren hat die Länge des Gletschers um etwa 2 km abgenommen. Seit 1960 zog er sich durchschnittlich mit 35 m pro Jahr zurück, wobei sich die Geschwindigkeit seit 1995 erhöht hat. Der Midre-Lovenbreen-Gletscher hat zwischen 1997 und 1995 200 m Länge verloren.
Grönland
Sowohl die bodennahen Lufttemperaturen Grönlands als auch die Meerestemperaturen rund um die größte Insel der Welt, die 97 % des arktischen Landeises beherbergt, steigen rasch. Zwischen dem Beginn der 1990er Jahre und dem der 2010er Jahre erhöhten sich die für die Massenbilanz an der Oberfläche des grönländischen Eisschildes besonders wichtigen sommerlichen Lufttemperaturen um etwa 2 °C. Die meisten Gletscher Grönlands enden im Meer. Der Anstieg der Meerestemperaturen führt insgesamt zu einem schnelleren Abschmelzen des untermeerischen Gletschereises und kann phasenweise deutlich höhere Eisverluste durch Kalbung auslösen. Zwischen 2003 und 2012 verlor Grönland jährlich etwa 274 ± 24 Gt Eis. Beide Prozesse – Massenverluste an der Oberfläche des Eisschildes und Eisverluste im Meer – trugen in etwa gleichem Ausmaß dazu bei.
Im Vergleich von Messungen aus dem Zeitraum von 2002 bis 2004 hat sich der Gletscherschwund zwischen 2004 und 2006 verdoppelt, also in nur zwei Jahren. Der Massenverlust auf Grönland beträgt nach verschiedenen Messungen zwischen 239 ± 23 km³ und 440 km³ pro Jahr. Er hat sich seit den 1980er Jahren versechsfacht. Besonders deutlich wurde dieser Verlust im Jahr 2005, als an der Ostküste Grönlands eine neue Insel namens Uunartoq Qeqertaq (auf Englisch Warming Island) entdeckt wurde. Nachdem eine große Menge Festlandeis geschmolzen war, stellte sich heraus, dass es sich bei Uunartoq Qeqertaq nicht um eine mit dem Festland verbundene Halbinsel handelt, wie zuvor angenommen worden war.
An einzelnen Gletschern Grönlands zeigt sich eine überraschende Dynamik. Zwei der größten Gletscher der Insel, der Kangerlussuaq Gletsjer und der Helheimgletsjer, die zusammen mit 35 % zum Massenverlust Ostgrönlands in den vergangenen Jahren beigetragen haben, wurden von einem Team um den Glaziologen Ian Howat detaillierter untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Schmelzrate der beiden Gletscher zwischen 2004 und 2005 verdoppelt hatte. Bis 2006 war der Massenverlust dann wieder auf den Wert von 2004 zurückgegangen. Ein solches Verhalten war von Gletschern bislang unbekannt, und es verdeutlicht den hohen Vorhersagefehler der Rate mit welcher der grönländische Eisschild in den nächsten Jahrzehnten weiter schmelzen wird.
Folgen
Unter den Folgen des weltweiten Gletscherschwunds werden hier diejenigen beiden Kernprobleme näher beschrieben, die am empfindlichsten in das natürliche Ökosystem eingreifen und die für die Lebensbedingungen eines noch kaum abschätzbaren Anteils der Weltbevölkerung künftig maßgeblich beeinflussen dürften: der Anstieg des Meeresspiegels und Wassermangel. Auswirkungen anderer Art, etwa solche auf den Gletschertourismus, sind demgegenüber von nachgeordneter Bedeutung.
Weiterführende Informationen finden sich in den Artikeln
Folgen der globalen Erwärmung in Deutschland,
Folgen der globalen Erwärmung in Europa,
Folgen der globalen Erwärmung in der Arktis und
Folgen der globalen Erwärmung in der Antarktis.
Anstieg des Meeresspiegels
Zwischen 1993 und 2003 stieg der Meeresspiegel um 3,1 mm pro Jahr, bei einer Fehlergrenze von ± 0,7 mm. Der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen IPCC schätzt in seinem 2007 veröffentlichten Vierten Sachstandsbericht, dass der grönländische Eisschild mit 0,21 (± 0,07) mm und die Antarktis mit 0,21 (± 0,35) mm zum bislang beobachtbaren Meeresspiegelanstieg beigetragen haben. Schmelzende Gletscher haben mit 0,77 (± 0,22) mm hierbei einen wesentlichen Anteil. Nach verschiedenen Szenarien des IPCC sind bis 2100 Erhöhungen des Meeresspiegels zwischen 0,19 m und 0,58 m möglich, ein Wert der ausdrücklich ohne den möglicherweise ansteigenden Beitrag von den schwer zu modellierenden Eisschilden Grönlands und der Antarktis ausgeht.
Ein im Laufe des 21. Jahrhunderts als unwahrscheinlich erachtetes vollständiges Abschmelzen des grönländischen Eisschildes würde den Meeresspiegel um etwa 7,3 m anheben. Die 25,4 Millionen km³ Eis der gesamten Antarktis könnte im Falle eines Abschmelzens zu einer Erhöhung um ca. 57 m führen; Klimamodellen zufolge wird die Eismasse der Antarktis jedoch im Laufe 21. Jahrhunderts eher zunehmen denn abnehmen und somit den Anstieg des Meeresspiegels mindern. Die weltweit knapp 160.000 Gletscher beinhalten mit einem Volumen von 80.000 km³ etwa so viel Wasser wie die 70 Eiskappen (100.000 km³) und könnten so den Meeresspiegel um 24 cm (Eiskappen: 27 cm) steigen lassen.
Auch ohne das Verschwinden der Eisschilde sind die Folgen für die betroffenen Menschen dramatisch. Zu den Ländern, die durch einen Anstieg des Meeresspiegels am stärksten gefährdet sind, gehören Bangladesch, Ägypten, Pakistan, Indonesien und Thailand, die derzeit alle eine große und relativ arme Bevölkerung aufweisen. So leben z. B. in Ägypten rund 16 % der Bevölkerung (ca. 12 Millionen Menschen) in einem Gebiet, das schon bei einem Anstieg des Meeresspiegels von 50 cm überflutet würde, und in Bangladesch wohnen über zehn Millionen Menschen nicht höher als 1 m über dem Meeresspiegel. Bei einem Meeresspiegelanstieg um 1 m müssten nicht nur sie, sondern insgesamt 70 Millionen Menschen in Bangladesch umgesiedelt werden, falls bis Ende des Jahrhunderts nicht in Küstenschutz investiert wurde. Außerdem würde sich durch den Landverlust und die Erhöhung des Salzgehaltes im Boden die Reisernte halbieren mit schweren Folgen für die Nahrungssicherheit.
Ohne Gegenmaßnahmen würden bei einem Anstieg des Meeresspiegels um 1 m weltweit 150.000 km² Landfläche dauerhaft überschwemmt werden, davon 62.000 km² küstennaher Feuchtgebiete. 180 Millionen Menschen wären betroffen, und 1,1 Billionen Dollar Schäden an zerstörtem Besitz wären nach heutigen Zahlen zu erwarten. Unterhalb eines Anstiegs von 35 cm ließe sich dieser mit entsprechenden Küstenschutzmaßnahmen ebenso handhaben wie der bereits verzeichnete Anstieg um 30 cm seit 1860, vorausgesetzt die betroffenen Länder investieren in benötigtem Umfang in ihre Infrastruktur. Effektiver Küstenschutz kostet Berechnungen zufolge in mehr als 180 der weltweit 192 betroffenen Länder bis zum Jahr 2085 weniger als 0,1 % des BIP, kräftiges Wirtschafts- und nur moderates Bevölkerungswachstum in den zugrundeliegenden Szenarien vorausgesetzt.
Abfluss des Schmelzwassers
In einigen Regionen ist im Jahresverlauf das Schmelzwasser der Gletscher zeitweilig die Haupt-Trinkwasserquelle, weshalb ein lokales Verschwinden von Gletschern schwere Folgen für die Bevölkerung, Landwirtschaft und wasserintensive Industrien haben kann. Hiervon werden besonders asiatische Städte im Einzugsbereich des Himalaya und südamerikanische Siedlungen betroffen sein.
Durch den Gletscherschwund nimmt die von den Flüssen geführte Wassermenge kurzfristig zu. Die zusätzlich freiwerdende Wassermenge aus den Himalaya-Gletschern hat beispielsweise zu einer Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität in Nordindien geführt. Längerfristig – es wird erwartet, dass die Gletscher der Nordhemisphäre bis 2050 durchschnittlich 60 % an Volumen verlieren werden – wird der Rückgang der verfügbaren Wassermenge wahrscheinlich schwerwiegende Folgen (z. B. für die Landwirtschaft) haben. Als weitere Folge kann es zur zunehmenden Hochwassergefahr an den Ufern der Flüsse kommen. So sammeln sich am Himalaya auf den Gletschern die Schneemassen verstärkt im Sommer während des Monsun an. Ziehen sich die Gletscher zurück, wird der Niederschlag in immer höheren Lagen des Himalaya kurzfristig als Regenwasser oder zur Schneeschmelze abfließen, statt wie bisher für längere Zeit als Eis vor Ort zu verbleiben.
Die ecuadorianische Hauptstadt Quito beispielsweise erhält einen Teil ihres Trinkwassers aus einem rasch schrumpfenden Gletscher auf dem Vulkan Antizana. La Paz in Bolivien ist genauso wie viele kleinere Siedlungen abhängig vom Gletscherwasser. Große Teile der landwirtschaftlichen Wasserversorgung in der Trockenzeit werden durch Schmelzwasser sichergestellt. Eine weitere Folge ist das Fehlen von Wasser in den Flüssen, die die zahlreichen Wasserkraftwerke des Kontinents antreiben. Die Geschwindigkeit der Veränderungen veranlasste die Weltbank bereits dazu, Anpassungsmaßnahmen für Südamerika ins Auge zu fassen.
In Asien ist Wasserknappheit kein unbekanntes Phänomen. Ebenso wie weltweit, wird auch auf dem asiatischen Kontinent ein erheblicher Anstieg des Wasserverbrauchs erwartet. Dieser ansteigende Bedarf trifft in Zukunft auf immer weniger verfügbares Wasser aus den Gletschern des Himalaya. In Indien hängt die Landwirtschaft des gesamten Nordteils vom Schicksal der Gebirgsgletscher ab. Ebenfalls sind Indiens und Nepals Wasserkraftwerke bedroht, chinesische Feuchtgebiete könnten verschwinden und der Grundwasserpegel wird sinken.
Ausbrüche von Gletscherseen
Beim Abschmelzen der Gletscher brechen in Gebieten mit hoher Reliefenergie wie dem Himalaya oder den Alpen unablässig Felsen und Geröll ab. Dieses Geröll sammelt sich am Ende des Gletschers als Moräne und bildet einen natürlichen Damm. Der Damm verhindert das Abfließen des Schmelzwassers, so dass hinter ihm ein fortlaufend größer und tiefer werdender Gletschersee entsteht. Wird der Wasserdruck zu groß, kann der Damm plötzlich brechen, wobei große Mengen Wasser freigesetzt werden und katastrophale Überschwemmungen verursacht werden können (Gletscherlauf). Das Phänomen der Gletscherseeausbrüche ist zwar nicht neu, durch den Gletscherschwund erhöht sich jedoch die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens in vielen Gebirgsregionen. In Nepal, Bhutan und Tibet hat sich die Anzahl von Gletscherseeausbrüchen bereits von 0,38 pro Jahr in den 1950ern auf 0,54/Jahr in den 1990ern erhöht. Zwischen 1990 und 2018 sind sowohl die Zahl der Gletscherseen als auch ihre Fläche und das global in ihnen vorhandene Wasservolumen um etwa die Hälfte größer geworden. Mit zunehmender Wassermenge steigt in der Regel die Gefahr, die von einem Gletscherlauf ausgeht.
In Nepal befinden sich gemäß topografischen Karten, Luftbildern und Satellitenaufnahmen 2323 Gletscherseen. In Bhutan wurden im Jahre 2002 insgesamt 2674 gezählt. Davon wurden 24 (in Nepal 20) für Menschen als potenziell gefährlich eingestuft, darunter der Raphstreng Tsho. 1986 war er Messungen zufolge 1,6 km lang, 0,96 km breit und 80 m tief. Bis 1995 wuchs der Gletschersee auf eine Länge von 1,94 km, eine Breite von 1,13 km und eine Tiefe von 107 m an. Ein in der Nähe liegender Gletschersee ist der Luggye Tsho; bei dessen Durchbruch 1994 verloren 23 Menschen ihr Leben. In Nepal brach am 4. August 1985 der Dig Thso durch und verursachte eine bis zu 15 m hohe Flutwelle, die fünf Menschenleben forderte, 14 Brücken, ein kleines Wasserkraftwerk und viele Wohnhäuser zerstörte. Zwischen 1985 und 1995 haben in Nepal weitere 15 größere Gletscherseen ihre Wälle durchbrochen.
Gegenmaßnahmen
Umfang und Bedeutung des verstärkten Gletscherrückgangs in Verbindung mit den zu beobachtenden und noch zu erwartenden teilweise drastischen Folgen verdeutlichen die Notwendigkeit, ihm mit Maßnahmen der Ressourcenkonservierung, steigender Wassereffizienz und besonders mit effektivem Klimaschutz entgegenzuwirken. Möglichkeiten zur besseren Ausnutzung des vorhandenen Wassers finden sich etwa in Methoden nachhaltiger Landwirtschaft, während Klimaschutz auf die Einsparung von Treibhausgasen setzen muss, wie sie im Kyoto-Protokoll erstmals völkerrechtlich verbindlich festgelegt worden sind.
Auf örtlicher Ebene werden in der Schweiz neuerdings Möglichkeiten erprobt, dem Gletscher-Skitourismus eine Perspektive zu erhalten, indem man Gletscherareale zwischen Mai und September mit einem Spezialvlies gegen Sonneneinstrahlung und Wärmezufuhr großflächig abdeckt. Auf die begrenzten Zwecke bezogen, sind erste Versuche am Gurschengletscher erfolgreich verlaufen. Für das Phänomen des globalen Gletscherschwunds ist ein solcher Ansatz aber auch aus der Sicht des in die Aktivitäten am Gurschengletscher einbezogenen Glaziologen Andreas Bauder ohne Bedeutung. Eine Studie von 2021 zeigt auf, dass in der Schweiz inzwischen an neun Orten Gletscher kleinräumig mit Textilien abgedeckt werden, und dass der Erhalt eines Kubikmeters Eis zwischen 0,6 und 8 CHF pro Jahr kostet.
Siehe auch
Abschmelzen der Polkappen
Literatur
Intergovernmental Panel on Climate Change: Fourth Assessment Report – Working Group I, Chapter 4: Observations: Changes in Snow, Ice and Frozen Ground. 2007, S. 356–360, ipcc.ch (PDF; 4,9 MB).
Peter Knight: Glacier Science and Environmental Change. Blackwell Publishing, 2006, ISBN 978-1-4051-0018-2 (englisch).
Wolfgang Zängl, Sylvia Hamberger: Gletscher im Treibhaus. Eine fotografische Zeitreise in die alpine Eiszeit. Tecklenborg Verlag, Steinfurt 2004, ISBN 3-934427-41-3.
Film
Chasing Ice
Weblinks
Website des World Glacier Monitoring Service (englisch)
Gletscherarchiv.de – Dokumentation der Veränderung der Alpengletscher
Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich: Laboratory of Hydraulics, Hydrology and Glaciology – Research, Sammlung von Studien über den Rückgang der Gletscher und Gletscherphysik (englisch)
Artikel bei Telepolis: Wenn die Gletscher tanzen – Als Folge der Klimaerwärmung häufen sich im Sommer die Gletscherbeben in Grönland und Wenige Gletscher, mehr Hochwasser und Dürren
Englischsprachige Artikel bei RealClimate.org: Worldwide glacier retreat, Retreating Glacier Fronts on the Antarctic Peninsula over the Past Half-Century, Tropical Glacier Retreat und Glacier Mass Balance: equilibrium or disequilibrium response?
Berichte von Nichtstaatlichen Organisationen: Greenpeace Deutschland (2006): Alarm für die Gletscher (PDF, 2,0 MB) (PDF; 2,3 MB) WWF: Going, Going, Gone. Climate Change & Global Glacier Decline (PDF, 0,3 MB) (PDF; 266 kB)
Glaciers online: Schwindende Gletscher
Interaktive Gletschervergleiche aus den Schweizer Alpen
Alpendämmerung - Europa ohne Gletscher Reportage & Dokumentation – ARD
Einzelnachweise
Glaziologie
Klimawandel (globale Erwärmung) |
340739 | https://de.wikipedia.org/wiki/Chlordioxid | Chlordioxid | Chlordioxid ist eine chemische Verbindung aus Chlor und Sauerstoff mit der Summenformel ClO2. Die Schreibweise OClO wird anstatt ClO2 verwendet, wenn von der kurzlebigen Verbindung mit gleicher Summenformel Chlorperoxid, ClOO, unterschieden werden soll.
Bei Raumtemperatur ist Chlordioxid ein bernsteinfarbenes, giftiges Gas mit stechendem, chlorähnlichem Geruch. Gemische von Luft mit über 10 Vol.-% an Chlordioxid können explodieren. Es wird daher meist in wässriger Lösung verwendet, die nicht explosiv ist. Chlordioxid ist ein Radikal mit oxidierenden Eigenschaften.
Die Anwendungen von Chlordioxid beruhen auf seiner oxidativen Wirkung. Es wird oft anstelle von elementarem Chlor verwendet, da es weniger giftige oder gesundheitsschädliche chlorierte organische Verbindungen bei der Reaktion mit organischen Substanzen bildet. Als Bleichmittel der ECF-Bleiche (Elementar-Chlor-freie Bleiche) von Zellstoff, so zum Beispiel Papier, hat es elementares Chlor fast vollständig ersetzt. Auch in der Trinkwasseraufbereitung dient es zur Desinfektion anstelle von Chlor.
Der Nachweis von Chlordioxid in der Erdatmosphäre über der Antarktis im Jahr 1986 trug zur Entdeckung der Ursachen des Ozonlochs bei. Es ist eines der Chloroxide, die sich dort in der Stratosphäre aus den früher häufig als Treibgas oder Kältemittel verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) bilden und an der Zerstörung der Ozonschicht beteiligt sind.
Geschichte
Die Entdeckung von Chlordioxid wird generell Humphry Davy zugeschrieben, der es 1811 durch Disproportionierung (Aufspaltung) von Chlorsäure (HClO3) als erstes bekanntes Halogenoxid gewann. In früheren Experimenten wurde Chlordioxid zwar hergestellt, jedoch aufgrund seiner Löslichkeit in Wasser nicht als Gas erhalten und deshalb weder isoliert noch als neue Verbindung erkannt. Davy merkte an, dass .
Chlor selbst wurde zu diesem Zeitpunkt noch als Oxymuriumsäure (oxymuric acid) bezeichnet, da es als Verbindung aus Sauerstoff und Salzsäure (der Muriumsäure) angesehen wurde, bevor Davy Chlor als ein Element erkannte. Heute wird vermutet, dass auch Davy kein reines Chlordioxid isolierte, sondern ein Gemisch aus Chlor und Chlordioxid, das er „Euchlorine“ (‚sehr gelb‘) nannte.
Im Jahr 1921 beschrieben Erich Schmidt und Erich Graumann Chlordioxid als selektives Bleichmittel, das nicht mit Kohlenhydraten (Polysacchariden) reagiert und zum Abbau von Lignin bei Erhaltung von Cellulose verwendet werden kann:
Der industrielle Einsatz zum Bleichen von Zellstoff begann über 20 Jahre später, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Anfangs wurde Chlordioxid nur in der letzten Phase des Bleichens verwendet, später ersetzte es Chlor zunehmend in den früheren Phasen zum Abbau von Lignin, da dies die Qualität des Endprodukts verbesserte.
In den 1990er Jahren nahm das Bewusstsein für die Problematik der chlorierten Abfallprodukte, insbesondere der sehr giftigen Dioxine, beim Bleichen mit Chlor zu. Im Zuge dessen verdrängte Chlordioxid das Chlor mehr und mehr aus den Verfahren zur Zellstoffbleichung.
Durch zunehmende Verbote und Einschränkungen für Chlorbleichung und deren Abfallprodukte entwickelte es sich zum wichtigsten industriellen Bleichmittel. So waren im Jahr 2004 laut Greenpeace 82 % des „chlorfrei gebleichten“ Papiers zwar nicht mit elementarem Chlor gebleicht, allerdings mit Chlordioxid und/oder Chlorperoxid (Cl2O2) (siehe Abbildung zur Zellstoffproduktion im Abschnitt Bleichmittel).
Herstellung
Weil Chlordioxid instabil ist und explodieren kann, wird es direkt vor der Verwendung am Einsatzort hergestellt. Die Darstellung geht entweder von Chlorit (ClO2−) oder von Chlorat (ClO3−) aus; dabei bestimmt die Anwendung, welche Ausgangssubstanz geeigneter ist.
Anwendungen, die große Mengen Chlordioxid benötigen, aber geringe Reinheitsansprüche haben, gehen von Natriumchlorat (NaClO3) aus. So verwenden alle großtechnischen Herstellungsverfahren für den Einsatz als Bleichmittel heutzutage Natriumchlorat als Ausgangsmaterial. Heutige Zellstofffabriken erreichen jeweils eine Produktion von über einer Million Tonnen Zellstoff pro Jahr, zu dessen Bleiche bis zu 40 Tonnen Chlordioxid pro Tag erzeugt werden. Bei diesem Verhältnis von Chlordioxid zu Zellstoff wurden im Jahr 2005 etwa eine Million Tonnen Chlordioxid benötigt, um 70 Millionen Tonnen ECF-gebleichten Zellstoff herzustellen.
Für die Herstellung kleinerer bis mittlerer Mengen mit hohen Reinheitsanforderungen, wie der Trinkwasseraufbereitung, wird hauptsächlich Natriumchlorit (NaClO2) verwendet. Die Reaktionsbedingungen bei der Herstellung aus Chlorit sind einfacher zu kontrollieren, andererseits ist Natriumchlorit teurer und weniger stabil als Natriumchlorat und deshalb für großtechnische Anwendungen weniger geeignet. Es ist zwangsläufig teurer, wenn Natriumchlorit selbst durch Reduktion von Chlordioxid in alkalischer Lösung hergestellt wird:
Natriumchlorit hat dann die Funktion eines Zwischenspeichers, in dem Chlordioxid in eine leichter zu transportierende und zu lagernde Form überführt wird, wodurch gleichzeitig ein Endprodukt mit größerer Reinheit entsteht.
Technische Herstellung
Chlordioxid wird durch Reduktion von Chlorat mit einem geeigneten Reduktionsmittel in stark saurer Lösung erzeugt. Die Reduktion hat ein Standard-Redoxpotential E0 von 1,152 V:
In den 1950er Jahren wurde als erstes großtechnisches Verfahren das Mathieson-Verfahren entwickelt, bei dem zur Reduktion Schwefeldioxid (SO2) eingesetzt wird:
In der Reaktion wird Schwefelsäure im Überschuss eingesetzt, da der für die Reaktion benötigte stark saure pH-Wert beibehalten werden muss.
Da die Reaktion nur unter stark sauren Bedingungen abläuft, verbleibt bei diesem Prozess viel unverbrauchte Restsäure. Er erzeugt zudem als Nebenprodukt viel Natriumsulfat, das beim Sulfatverfahren zur Ergänzung der Natrium- und Schwefelverluste des Aufschlussprozesses für Zellstoff verwendet wird.
Um die spontane Zersetzung oder Explosion des Chlordioxids zu vermeiden, die bei Raumtemperatur ab einem Partialdampfdruck von 10 kPa auftritt, wird Luft durch die Reaktionsmischung geblasen. Das Gemisch aus Chlordioxid und Luft wird im Anschluss zur Lösung des ClO2 in gekühltes Wasser (8–10 °C) eingeleitet.
Übliche Konzentrationen der gekühlten wässrigen Lösung liegen bei 8 g/l bis 10 g/l ClO2.
Die Variante der Reduktion mit Salzsäure ist kostengünstig, hat jedoch den Nachteil, dass als Nebenprodukt mehr Chlor entsteht. In der hier gezeigten Gleichung wird zudem die Salzsäure aus Schwefelsäure und Natriumchlorid (Kochsalz) hergestellt:
Daher wurde die Salzsäure in der Solvay-Variante durch den Einsatz von Methanol als Reduktionsmittel ersetzt:
Die direkte Reaktion von Methanol mit Chlorat zu Chlordioxid geht jedoch nur sehr langsam vonstatten. Als das tatsächlich aktive Reduktionsmittel wird auch hier das Chloridion gesehen, das aus einer Reaktion von Methanol mit Chlor gebildet wird. Sowohl Chlor als auch Chlorid-Anionen sind für die Reaktion unerlässlich. Ein kompletter Verbrauch aller Chloridionen führt zu einem als „white-out“ bezeichneten Stillstand der Reaktion, bis wieder Chlorid nachgebildet wird. Aus diesem Grund wird dem Reaktionsgemisch in einigen der Verfahren ständig eine geringe Menge an Chloridionien zugegeben.
Die nach den Verfahren Mathieson und Solvay eingeführten Verfahren werden unter den Bezeichnungen R2 bis R10 geführt. Dabei handelt es sich jeweils um Weiterentwicklungen, bei denen durch Anpassung der Reaktionsbedingungen die Schwächen der früheren Verfahren vermieden werden sollen. Ziele der Optimierung sind dabei eine hohe Chlordioxid-Ausbeute, geringe Bildung von Chlor als Nebenprodukt und eine geringe Menge an zurückbleibender Restsäure und Salzen. Bei den meisten dieser neueren Verfahren wird das Chlordioxid unter reduziertem Druck laufend aus der Reaktionslösung entfernt und in Wasser gelöst, so zum Beispiel in den auf der Reduktion mit Methanol basierenden Varianten R8.SVP-MeOH, R9 und R10. Das R8-Verfahren zielt bereits auf eine verringerte Menge an Restsäure und in der Reaktion gebildeten Salzen ab (52 % weniger als beim R3 Prozess, 66 % weniger als bei Solvay). Beim R9-Verfahren wird zusätzlich das zurückbleibende Natriumsulfat-Natriumhydrogensulfat-Gemisch elektrolytisch in Natriumhydroxid und Schwefelsäure aufgespalten, die wieder in den Prozess zurückgeführt werden, während beim R10-Verfahren neutrales Natriumsulfat durch Ausfällen unter Weiterverwendung der Säure entfernt wird.
Herstellungsverfahren in der Trinkwasseraufbereitung
In Deutschland regelt der Trinkwasserverordnung, sowie eine darin genannte Substanzliste des Bundesministeriums für Gesundheit, welche Substanzen Trinkwasser zugesetzt werden dürfen und somit, welche Verfahren zur Trinkwasserdesinfektion zugelassen sind.
Die Liste führt zudem für Chlordioxid die Arbeitsblätter W 224 und W 624 des DVGW (Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches) auf. Die in den Arbeitsblättern beschriebenen Herstellverfahren werden zur Herstellung von Chlordioxid eingesetzt.
Beschrieben sind dort das Peroxodisulfat-Chlorit-, das Salzsäure-Chlorit- und das Chlor-Chlorit-Verfahren für den Gebrauch zur Trinkwasseraufbereitung.
Im Chlor-Chlorit-Verfahren wird Chlorwasser mit saurem pH-Wert (< 2) mit 10 % Natriumchloritlösung zur Reaktion gebracht:
Dabei wird Chlor immer im Überschuss eingesetzt, um zu verhindern, dass nicht umgesetztes Natriumchlorit im Wasser verbleibt.
Im Salzsäure-Chlorit-Verfahren wird Natriumchlorit mit Salzsäure zu Chlordioxid, Kochsalz und Wasser umgesetzt:
Bei der Reaktion mit Natriumperoxodisulfat entsteht Natriumsulfat als Nebenprodukt, das auch natürlich in Trinkwasser vorkommt:
Nachteil der genannten Verfahren ist die Tatsache, dass Gefahrstoffe in flüssiger (Salzsäure-Chlorit-Verfahren und Peroxodisulfat-Chlorit-Verfahren) oder gasförmiger Form (Chlor-Chlorit-Verfahren) eingesetzt werden und die Kinetik der genannten Reaktionen unterschiedlich ist. Während das Salzsäure-Chlorit-Verfahren zur sofortigen Chlordioxidbildung führt, benötigt das Peroxodisulfat-Chlorit-Verfahren ca. 24 Stunden, um die Sollkonzentration einzustellen. Gleichzeitig sind die notwendigen, stabilisierenden Gleichgewichte unterschiedlich ausgeprägt, sodass die Chlordioxid-Zubereitung aus dem Salzsäure-Chlorit-Verfahren innerhalb von 1 bis 4 Tagen zerfällt (Raumtemperatur, Lichtabschluss), während die Peroxodisulfat-Chlorit-Zubereitung unter gleichen Bedingungen bis zu 10 Tagen Stabilität aufweist. Weiterhin ist es gängige Praxis, vorgelegte Chlordioxid-Konzentratlösungen zur Stabilisierung zu kühlen, was ebenfalls einen Zusatzaufwand darstellt.
Seit 2013 ist ein Herstellungsverfahren verfügbar, das die genannten Nachteile umgeht. Dieses Verfahren wird über eine Einkomponenten-Feststoff-Mischung abgebildet. Die erforderlichen Einzelkomponenten sind hierbei inert verpresst, sodass eine Reaktion während der Lagerung unterbleibt (Lagerstabilität über 3 Jahre). Das Einkomponenten-Feststoff-Verfahren vereint die drei genannten Gleichgewichte in einem Prozess. Primär wird die Reaktion durch ein Säure-Chlorit-Gleichgewicht initiiert, es folgt die Reaktion mit Peroxodisulfat-Chlorit. Als Intermediat liegt noch ein Chlor-Chlorit-Gleichgewicht vor, das die Abbaukinetik verringert. Auf diese Weise wird einerseits eine volumenstromproportionale Zudosierung (Trinkwasser, Rohwasser) vereinfacht (da der natürliche Zerfall (Disproportionierung) reduziert wird), auf der anderen Seite wird die Arbeitssicherheit erhöht und der logistische Aufwand verringert. Die Handhabung wird durch vorkonfektionierte Darreichungsformen (z. B. Tabletten) weiter vereinfacht.
Das Verfahren führt zu einer sofortigen Chlordioxidbildung, gleichzeitig beträgt die Abbaukinetik bei Raumtemperatur und unter Lichtabschluss ca. 10 bis 15 % pro Monat. Dieses Verfahren ist gem. §11 der Trinkwasserverordnung für die Desinfektion von Trinkwasser in Deutschland nicht zugelassen.
Herstellung im Labormaßstab
Im Labormaßstab wird Chlordioxid ebenfalls durch Oxidation von Chlorit gewonnen. Das Oxidationsmittel dafür ist entweder Natriumperoxodisulfat Na2S2O8 oder Chlorgas:
Alternativ kann Chlordioxid auch durch Disproportionierung von Natriumchlorit in saurer Lösung gewonnen werden:
Eine andere Methode ist die Umsetzung von Kaliumchlorat mittels konzentrierter Schwefelsäure. Um die Explosionsgefahr zu verringern, wird Oxalsäure zugesetzt, wobei ein Chlordioxid-Kohlendioxid-Gemisch entsteht:
Eine weitere Möglichkeit zur Herstellung moderater Mengen von Chlordioxid für die technische Nutzung ist die Reduktion von Chlorat durch Wasserstoffperoxid:
Durch Ansäuern mit Schwefelsäure wird die Redoxreaktion gestartet. Eine geeignete Mischung enthält 40 % Natriumchlorat und 8 % Wasserstoffperoxid, sie ist kommerziell verfügbar. Das entstehende Chlordioxid wird entweder mit Luft ausgetrieben und in kaltem Wasser gelöst oder es wird das Gemisch verdünnt und die stark saure Lösung direkt weiterverarbeitet. Obwohl die Reduktion von Chlorat mit Wasserstoffperoxid auch für große Anlagen geeignet ist, wird üblicherweise Methanol aufgrund der niedrigeren Kosten vorgezogen. In Kraftwerken mit Kühlturmbetrieb wird jedoch aufgrund der geringeren TOC-Werte meist Wasserstoffperoxid eingesetzt.
Eigenschaften
Molekulare Eigenschaften
Das Molekül ist aufgrund der freien Elektronenpaare am zentralen Chloratom gewinkelt aufgebaut, der Bindungswinkel beträgt 117°, die Cl–O-Bindungslänge 147 pm. Da Chlor in Form von zwei verschiedenen Isotopen auf der Erde vorkommt (76 % 35Cl und 24 % 37Cl), haben einzelne Chlordioxidmoleküle die Masse von 67 u oder 69 u. Bindungswinkel und Bindungslänge als Eigenschaft der identischen Elektronenkonfiguration sind jedoch in beiden Fällen gleich.
Durch seine ungerade Anzahl von 19 Valenzelektronen ist das Molekül ein paramagnetisches Radikal. Unterhalb −59 °C kristallisiert Chlordioxid und es bilden sich Dimere (Molekül-Paare), wodurch Chlordioxid unterhalb von −84 °C diamagnetisch wird.
Im Jahr 1933 schlug Lawrence Olin Brockway (1907–1979) eine Drei-Elektronen-Bindung vor.
Linus Pauling entwickelte diese Idee später zu einer Theorie weiter, bei der von einer schwächeren Bindung des dritten Elektrons ausgegangen wird.
Spätere Untersuchungen zeigten, dass das ungepaarte dritte Elektron das höchste besetzte Molekülorbital (HOMO) einnimmt.
Physikalische Eigenschaften
Chlordioxid ist 2,3-mal so schwer wie Luft. In Wasser gelöst besitzt es ein breites Absorptionsband bei einer Wellenlänge von 350 nm. Bei gasförmigem Chlordioxid werden mehrere Maxima aufgrund vibrationsgekoppelter Absorption sichtbar (siehe Abbildung des UV-Spektrums im Abschnitt Ozonloch). Die für die Kopplung verantwortlichen Schwingungen wurden 1933 bestimmt und in Übereinstimmung mit einem erweiterten Franck-Condon-Prinzip gefunden. Die spektroskopischen Eigenschaften erfuhren erneute Aufmerksamkeit zur Aufklärung der Vorgänge im Ozonloch.
Beim Übergang in den festen Zustand unterhalb von −59 °C bildet es explosive orangerote Kristalle. Es kristallisiert im orthorhombischen Kristallsystem in der mit den bei 198 K bestimmten Gitterparametern a = 1087 pm, b = 671 pm und c = 559 pm sowie acht Formeleinheiten pro Elementarzelle. In der Kristallstruktur liegen die Chlordioxid-Moleküle als Dimere (ClO2)2 vor. Die Dimerisierung erfolgt dabei über Cl···O-Kontakte zweier benachbarter ClO2-Moleküle, der Cl···O-Abstand beträgt 278 pm.
Chemische Eigenschaften
Bei Temperaturen zwischen −59 °C und 11 °C ist Chlordioxid eine bernsteinfarbene ölige Flüssigkeit, die oberhalb −40 °C instabil wird und zur Explosion neigt.
Bei Standardtemperatur liegt es als Gas vor, das in Gemischen mit Luft von über 10 Vol.-% oder bei einem Partialdruck von über 76 mmHg (10 kPa; 0,1 atm) explosiv ist.
Als Mechanismus der Explosion von gasförmigem Chlordioxid wird eine Anhäufung von Radikalen in dem Gas angesehen, die aus Zwischenprodukten des langsamen Zerfalls von Chlordioxid entstehen. Die Radikale katalysieren den weiteren Zerfall, bis dieser schließlich explosionsartig stattfindet.
Bei der Explosion zerfällt es in Chlor und Sauerstoff:
Lösungen in Wasser sind gelb bis braungelb gefärbt und sind nicht explosiv, soweit sie kein Chlordioxid-Luft-Gemisch mit mehr als 10 Vol.-% Chlordioxid erzeugen können. Diese Grenze von 10 Vol.-% wird bei Normaldruck in etwa von Lösungen mit 6 g (30 °C) bis 13 g (10 °C) Chlordioxid pro Liter Wasser erreicht (Siehe Abbildung).
Bei niedrigen Temperaturen kristallisieren aus wässrigen Lösungen Clathrate, bei denen das Gas zusammen mit dem Wasser kristallisiert und in Hohlräumen des Kristalls eingeschlossen ist. Die gebildeten Gashydrate haben die Summenformel ClO2 · n H2O (n ≈ 6–10).
Chlordioxid und seine wässrigen Lösungen wirken stark oxidierend. Abhängig vom Reduktionspartner entstehen Chloride (Cl−), Chlorite (ClO2−) oder Hypochlorite (OCl−). Eine Oxidation von ClO2 ist mit noch stärkeren Oxidationsmitteln ebenfalls möglich, unter anderem mit Fluor (F2), Ozon (O3) und rauchender Schwefelsäure.
Chlordioxid ist bei neutralen und sauren pH-Werten relativ unempfindlich gegen Hydrolyse (Aufspaltung durch Wasser). Bei pH-Werten über 10 setzt jedoch bereits erhebliche Disproportionierung (Reaktion mit sich selbst) ein, die je nach pH-Wert zu Chlorat-/Chloridbildung oder Chlorat-/Chloritbildungen führen.
Bei Einbringen von ClO2 in stark alkalische Lösungen läuft diese Reaktion stürmisch ab. Auch die Einwirkung von Licht führt zu einer Zersetzung.
Verwendung
Als Bleichmittel wird Chlordioxid in der Textil- und Zellstoffindustrie verwendet und hat dort Chlor weitgehend ersetzt. Weiterhin wurde es zum Bleichen von Mehl beziehungsweise Stärke, Schmiermitteln, Salben und Wachs verwendet. So war es in Deutschland als Lebensmittelzusatzstoff bis 1957 zum Bleichen von Mehl zugelassen, aus gesundheitlichen Gründen ist es heutzutage aber nicht mehr zur Behandlung von Lebensmitteln erlaubt. Es kann ferner zum Bleichen von Textilfasern verwendet werden, dort wird jedoch meistens Wasserstoffperoxid sowie in Ländern ohne strenge Umweltauflagen Chlor verwendet.
Als Desinfektionsmittel eingesetzt hat es vor allem bei der Trinkwasserdesinfektion Bedeutung, wird aber auch zur Desinfektion von Abwässern sowie zur Schimmelbekämpfung eingesetzt. Bei den Anthrax-Anschlägen im Jahr 2001 wurde es in einem Fall zur Gebäudedesinfektion eingesetzt.
Blutkonserven dagegen werden nicht mittels ClO2 (oder anderen Konservierungsstoffen) haltbar gemacht.
Im Labor findet Chlordioxid Verwendung bei der Herstellung von Chloriger Säure. In der organischen Chemie kann es als Oxidationsmittel eingesetzt werden, zum Beispiel um Sulfide und Thioether in Sulfoxide zu überführen.
Zellstoffbleichung
Bei der Zellstoffbleichung hat Chlordioxid das Bleichen mit Chlor fast vollständig verdrängt. Abhängig vom Entwicklungsgrad und dem Umweltbewusstsein wird in einigen Ländern kein Chlor mehr zur Bleiche verwendet. So wird in Skandinavien seit 1994 kein Chlor mehr zur Zellstoffbleiche eingesetzt.
Dies geschah, nachdem chlorierte Kohlenwasserstoffe, darunter die giftigen Dioxine, in Abwässern der Chlorbleiche nachgewiesen wurden.
Die Chlorbleiche wurde deshalb durch (Elementar-Chlor-Freie) ECF-Bleichen oder (Total-Chlor-Freie) TCF-Bleichen ersetzt. Die ECF-Bleichen verwenden statt elementarem Chlor (Cl2) als Oxidationsmittel chlorhaltige Verbindungen, meistens Chlordioxid.
Die TCF-Bleichen basieren hingegen auf der bleichenden Wirkung von chlorfreien Oxidationsmitteln auf Sauerstoffbasis wie Sauerstoff (O2), Wasserstoffperoxid (H2O2) oder Ozon (O3). Darunter ist jedoch zum Beispiel Ozon nur bedingt für die Zellstoffbleiche geeignet, da es zu reaktiv ist und auch die Zellulose angreift.
Im Bleichprozess werden Abbauprodukte von Lignin aus dem Sulfatverfahren oder Sulfitverfahren, Restlignin sowie Farbstoffe im Zellstoff entfärbt und oxidativ abgebaut.
Die Verdrängung von Chlor ist darauf zurückzuführen, dass Chlordioxid im Gegensatz zu elementarem Chlor nur als Oxidationsmittel, nicht aber chlorierend wirkt.
Im Reaktionsgemisch entstehen jedoch auch immer etwas Hypochlorige Säure und elementares Chlor. Dies führt, wie beim Bleichen mit Chlor selbst, zur Bildung von chlorierten Kohlenwasserstoffen.
Der Verlauf und Mechanismus der Oxidation aromatischer Kohlenwasserstoffe mit Chlordioxid hängt vom pH-Wert des Reaktionsgemisches ab. Normalerweise ist die Konzentration von Hypochloriger Säure und elementarem Chlor sehr niedrig und beide Substanzen werden schnell abgebaut, sodass sie in Filtraten der Bleichlösung nicht mehr nachweisbar sind.
Die Bildung chlororganischer Verbindungen wird durch viele Faktoren beeinflusst und kann durch Verwendung geringerer Chlordioxid-Gaben sowie durch die Zugabe von Dimethylsulfoxid oder Amidosulfonsäure verringert werden. Abwässer von ECF-gebleichten Hölzern enthalten jedoch immer noch Chloroform und andere chlorierte Kohlenwasserstoffe und stellen somit weiterhin ein Umweltrisiko dar. Einer Schätzung von 1999 zufolge, sollte sich jedoch beim Ersatz von elementarem Chlor durch ECF-Verfahren nach damaligen Daten der Chloroformausstoß auf 3 % reduzieren lassen. Die Gesamtmenge gebildeter chlorierter Kohlenwasserstoffe wird bei Chlordioxid als etwa fünf Mal geringer als bei Chlor angegeben.
Lebensmittel
Chlordioxid wurde bis 1957 in der EU als Bleichmittel für Mehl und Nussschalen und wird zur Entkeimung von Trinkwasser eingesetzt. Chlordioxid ist aus gesundheitlichen Gründen (z. B. wegen schwerer Nierenschäden bei Tierversuchen) in der EU kein zugelassener Lebensmittelzusatzstoff, hat keine E-Nummer und ist entsprechend in der europäischen Liste der Lebensmittelzusatzstoffe nicht aufgeführt. Außerhalb der EU, wo Chlordioxid weiterhin als Mehlbehandlungsmittel oder Konservierungsmittel eingesetzt werden darf, hat es die INS-Nummer 926.
In den USA wird Chlordioxid als antimikrobielle Substanz zur Behandlung von Geflügel, rotem Fleisch, Fisch und Meeresfrüchten sowie Obst und Gemüse eingesetzt. Dies geschieht durch ein äußerliches Waschen der Lebensmittel mit einer Lösung von Chlordioxid in Wasser, typischerweise in Konzentrationen von 50-1200 ppm (entspricht 0,005 bis 0,12 %).
Die Anwendung zur Desinfektion von Geflügel in der Europäischen Union wurde diskutiert, jedoch 2008 vom Ministerrat der Europäischen Union abgelehnt. Die EU untersagte 1997 die Einfuhr solcher Geflügelteile. Im Januar 2009 reichten die USA eine Klage vor dem Dispute Settlement Body der WTO ein, da weder die EU-Kommission noch die Mitgliedstaaten eine seriöse, auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützte Begründung für das Verbot vorgelegt hätten. In deutschsprachigen Medienberichten über Beziehungen zwischen EU und USA werden so behandelte Hühnerteile mit „Chlorhuhn“, „Chlorhühnchen“ oder „Chlorhähnchen“ bezeichnet.
Nach Einschätzung der EFSA bietet die Desinfektion von Geflügelfleisch mit Chlordioxid unter den vorgeschlagenen Anwendungsbedingungen keinen Anlass zu Sicherheitsbedenken. Das Bundesinstitut für Risikobewertung vertritt die Auffassung, dass mit Chlordioxid behandeltes Hähnchenfleisch für den Verbraucher nicht gesundheitsschädlich ist und in Sachen Keimfreiheit sogar Vorteile bringt.
Trink- und Abwasserdesinfektion
Chlordioxid findet Verwendung bei der Trinkwasserdesinfektion, in der es Chlor in einzelnen Ländern weitgehend ersetzt hat. In Deutschland ist es nach der Trinkwasserverordnung für die Trinkwasseraufbereitung zugelassen, mit Anweisung und in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt. Zudem müssen vor einem Einsatz Verbraucher durch Rundfunk oder Presse vorab informiert werden.
Es ist gegen Bakterien genauso oder besser wirksam als Chlor und, im Gegensatz zu Chlor, auch gegen Viren und viele Protozoen (Einzeller) wirksam. Im Vergleich zu Chlor hat es den Vorteil, aus organischem Material deutlich weniger chlorierte Kohlenwasserstoffe zu bilden.
Das alternativ eingesetzte Ozon (O3) kann hingegen mit natürlich im Wasser vorkommenden Bromiden reagieren und daraus krebserregende Bromate bilden. Bei dem schwächeren Oxidationsmittel Chlordioxid findet diese Reaktion nicht statt.
In Deutschland und den USA setzten im Jahre 1998 etwa 10 % der Wasserwerke Chlordioxid ein, Italien in 30 %. Als Höchstwert für das im Wasser gebildete Chlorit nach der Desinfektion gelten in Deutschland und der Schweiz 0,2 mg pro Liter. In Deutschland ist die höchste zugelassene Konzentration nach der Desinfektion für Chlordioxid ebenfalls 0,2 mg/l, in der Schweiz beträgt sie 0,05 mg/kg. Empfohlen wird eine Konzentration von 0,05 mg/l.
Chlordioxid wird zudem zur Verbesserung des Geschmacks und Geruchs von Trinkwasser verwendet, wenn diese durch Restverunreinigungen von Algen oder verrottenden Pflanzen unbefriedigend sind. Auch gegen übelriechende phenolische Verunreinigungen ist Chlordioxid aktiv, da es Phenole ähnlich wie bei der Zellstoffbleiche oxidativ abbaut.
Chlordioxid wird auch zur Desodorierung übelriechender Abfälle und Abwässer verwendet. Für Letzteres ist es geeignet, da es im Vergleich zu Chlor hauptsächlich oxidierend wirkt, wodurch mengenmäßig weniger persistente Organochlorverbindungen entstehen, und über einen weiteren pH-Bereich seine Wirksamkeit beibehält. Dies ist auch bei der Trinkwasserdesinfektion ein entscheidender Faktor, da in gechlortem Trinkwasser Chloroform, Dichloressigsäure oder Trichloressigsäure nachgewiesen wurde.
Desinfektionsmittel
Chlordioxid kann zur Desinfektion von Gebäuden eingesetzt werden, da es eine breite Wirksamkeit gegen Mikroorganismen besitzt und als Gas auch ansonsten unzugängliche Stellen erreicht. Es ist seit 1988 in den USA von der Environmental Protection Agency EPA zur Desinfektion von Laborgeräten, Werkzeugen und Raumoberflächen zugelassen.
Durch seine fungizide Wirkung bietet es sich auch für die Bekämpfung von Schimmel an. So wurde 1991 durch Versprühen einer zweiprozentigen Lösung der Schimmelbefall in einer Bibliothek für Jahre gestoppt, der sonst besonders bei Ausfall des Lüftungssystems merklich auftrat.
Im Jahr 2002 wurde eine Firma durch Artikel in der New York Times bekannt, die sich auf die Desinfektion ganzer Häuser durch Fluten mit dem Gas Chlordioxid spezialisiert hatte. Nach Kontamination mit Anthrax (Milzbrand) wurde im Jahr 2007 ein Bürogebäude (das Hart Senate Office) im Kapitol mit Chlordioxid desinfiziert und nach dem Hurrikan Katrina wurde ein Restaurantgebäude in New Orleans nach der Überschwemmung mit Chlordioxid geflutet, um Schimmelpilze und Sporen abzutöten.
Zunehmend wird Chlordioxid auch zur Desinfektion vor der Abfüllung von PET-Flaschen verwendet. Dabei dürfen, ähnlich wie bei Trinkwasser, die Grenzwerte für Chlorit durch in der Flasche verbleibende Reste der Desinfektionslösung nicht überschritten werden.
Da bei der Verwendung von Chlordioxid als Desinfektionsmittel in Schwimmbädern zu hohe Gehalte an Chlorit (über 1 mg/l) im Wasser gefunden wurden, wird in Deutschland ClO2 nicht mehr eingesetzt. Heutzutage wird das Wasser in öffentlichen Bädern durch Chlorgas, Natriumhypochlorit oder Calciumhypochlorit desinfiziert, womit zugleich auch eine Depotwirkung im Schwimmbecken sichergestellt wird.
Missbräuchliche Verwendung
Eine „trinkfertige“ 0,3%ige Chlordioxidlösung mit zahlreichen angeblich gesundheitsfördernden Eigenschaften wird als CDL (auch CDS für chlorine dioxide solution) vermarktet. CDL soll analog wie MMS zur Therapie oder Prävention diverser Erkrankungen (z. B. Krebs, Diabetes, Hepatitis, Multipler Sklerose, Alzheimer, AIDS, Malaria, Potenzprobleme), vermeintlicher Erkrankungen (Autismus; dort in Form von Einläufen bei Kindern) oder der Bekämpfung von Krankheitserregern (Pilzen, Viren, Bakterien, Parasiten) dienen. Reputable Nachweise existieren hierfür nicht.
Die verkaufte Chlordioxidlösung überschreitet 10.000-fach den gesetzlich zugelassenen Höchstwert an ClO2 in Wasser. Es ist kein zugelassenes Arzneimittel, mehrere Behörden warnen vor der Einnahme, sie ist gesundheitsschädlich. So wurde nach einer CDL-Einnahme u. a. von Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Nierenversagen, Darmschädigungen und Blutdruckabfall berichtet. Vor einer Chlordioxid-Behandlungen bei Kindern oder Säuglingen wird ausdrücklich gewarnt, so rät die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin „nachdrücklich und klar von einer Einnahme ab“; zudem kann sie (sorge)rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Auch eine angebliche Wirkung gegen die durch SARS-CoV-2 ausgelöste Infektionskrankheit COVID-19 bei Einnahme von Chlordioxid ist eine Falschinformation. Im Gegenteil, solche Lösungen sind gesundheitsschädlich und ätzend und können zu massiven Schädigungen führen. In mehreren Ländern wie Bolivien, den USA, Österreich oder Argentinien führte die Einnahme, auch zur vermeintlichen Prophylaxe gegen COVID-19, zu Vergiftungen und Todesfällen. Das bolivianische Gesundheitsministerium lehnte die Einnahme ausdrücklich ab: „Diese Substanz ist hochgefährlich und kann ernste gesundheitliche Probleme verursachen.“
Die in anderen Ländern wie Ungarn angebotenen, früher irreführend als Medizinprodukte beworbenen Mittel wie chlordioxidhaltige Zahnbleichlösungen, gelten mittlerweile als zulassungspflichtige Arzneimittel (topisches Desinfektionsmittel) und wurden vom Markt zurückgezogen. Um Zulassungsbeschränkungen und klinische Kontrollen zu umgehen, wird CDL in Online-Shops als Mittel zur „Trinkwasseraufbereitung“ oder als „Desinfektionsmittel“ verkauft, teilweise auch einzelne Komponenten zum Selbermischen.
Nachweis
Nachweise von Chlordioxid beruhen meist entweder auf seinen spektroskopischen Eigenschaften oder seiner Reaktivität.
Als einfache spektroskopische Nachweismethode bietet sich die Messung der Lichtabsorption bei 350 nm an, die insbesondere bei der Detektion in der Atmosphäre bei der Erforschung des Ozonlochs zum Einsatz kam (siehe Abschnitt Ozonloch und das darin abgebildete Absorptionsspektrum).
In Trinkwasser ist der spektroskopische Nachweis am gängigsten, da er am einfachsten automatisiert werden kann.
Direkte Methoden detektieren dazu Chlordioxid entweder bei 360 nm oder im Bereich 320–400 nm.
Weitaus häufiger publiziert wurden jedoch Messmethoden, die die Bleichung eines Farbstoffs durch Reaktion mit Chlordioxid verfolgen. Als Farbstoffe verwendet werden Chlorphenolrot, Rhodamin, Amaranth oder Neutralrot. Die Messungen lassen sich des Weiteren nach der Entnahmetechnik unterscheiden. Entweder wird eine Probe mit einem bestimmten Volumen entnommen und analysiert, oder die Messung geschieht als Fließinjektionsanalyse, bei der hinter einer Zugabestelle die Reaktion nach einem konstanten Zeitintervall im Fluss beobachtet wird.
Seltener als die Analyse der Absorption wird auch das Verschwinden der Fluoreszenz von Farbstoffen bei Reaktion mit Chlordioxid verwendet, unter anderem von Fluorescein oder Rhodamin S. Der Vorteil des Nachweises durch Fluoreszenz ist, dass die Absorption anderer Substanzen die Messung weniger stören kann.
Die Konzentration von Chlordioxid kann auch iodometrisch bestimmt werden. Bei der Bestimmung in Trinkwasser wird dann ebenfalls die Entstehung von Iod aus dem zugegebenen Iodid spektrometrisch gemessen. Ein Nachweis von Chlordioxid alleine neben Chlor, Hypochloriger Säure, Hypochloriten, Chloraminen, Chloriten und Chloraten ist so jedoch schwierig.
Soll Chlordioxid neben anderen oxidierenden (zum Beispiel Eisen-) Salzen nachgewiesen werden, so kann es durch Einblasen von Luft und Einleiten in kaltes Wasser in eine Lösung ohne diese Störsalze überführt werden.
Ozonloch
In der Stratosphäre wird Chlordioxid aus Chlormonoxid (ClO) gebildet, meist mit Hilfe von Brommonoxid, das sich danach durch Reaktion des entstandenen Bromradikals mit Ozon zurückbildet:
Die Schreibweise OClO anstatt ClO2 wird im Zusammenhang mit Reaktionen in der Atmosphäre verwendet, um Chlordioxid von seinem instabilen Isomer Chlorperoxid, ClOO zu unterscheiden. In einem Peroxid sind die beiden Sauerstoffatome miteinander verbunden, wie in der Schreibweise ClOO angedeutet. Chlorperoxid entsteht ebenfalls bei den Reaktionen von Chlorradikalen in der Atmosphäre, zerfällt jedoch in weniger als einer Nanosekunde wieder.
Die Rolle von Chlordioxid für die Entdeckung des Ozonlochs beruht auf seiner Absorption bei 350 nm. Gasförmiges Chlordioxid zeigt kein einzelnes, breites Absorptionsband, sondern es sind viele (etwa 20) Absorptionsspitzen einzeln zu erkennen (siehe Bild). Susan Solomon und ihre Mitarbeiter bestimmten 1986 in der Antarktis durch Messungen der Lichtabsorption vom Boden aus die Chlordioxid-Konzentration der Atmosphäre. Sie verwendeten dazu Mondlicht in der Nacht und gestreutes Sonnenlicht am Tag sowie während der Dämmerung. Das dabei verwendete Spektrometer konnte nur Wellenlängen über 400 nm messen und deshalb nur die weniger intensiven Absorptionsspitzen zwischen 400 nm und 450 nm nutzen. Sie konnten aus den gemessenen Werten die Konzentration von Chlormonoxid abschätzen, von dem bekannt war, dass es eine tragende Rolle bei dem Abbau von Ozon und dem dadurch erzeugten Ozonloch spielt.
Einer der Ozon-Abbauzyklen verläuft über eine Chlordioxid-Zwischenstufe, über die Chlorradikale aus Chlormonoxid zurückgewonnen werden.
Nach anfänglichen Unsicherheiten über die relative Bedeutung der Abbauzyklen wird dieser Abbauzyklus inzwischen für etwa 75 % des Ozonabbaus verantwortlich gemacht.
Gesamtbilanz:
Mit M=O2 oder M=O2+N2
Auf der Erdoberfläche freigesetztes Chlordioxid selbst hat jedoch keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss auf die Bildung des Ozonlochs, da es in der Luft durch Sonnenlicht in kürzester Zeit zu Chlorit und Chlorat zerfällt, die dann mit Regen zurück auf die Oberfläche gelangen, wo sie reduziert werden:
Mitverursacher des Ozonlochs sind jedoch flüchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe (z. B. Chloroform), wie sie bei der Zellstoffbleiche entstehen (siehe Abschnitt Zellstoffbleichung).
Toxikologie
Die Einstufung „Sehr Giftig“ (T+) der Substanz ist auf ihre Giftigkeit beim Einatmen zurückzuführen. So soll die Inhalation von 19 ppm Chlordioxid in der Luft über einen unbestimmten Zeitraum während eines Betriebsunfalls in einem Tank zum Tod eines Betroffenen geführt haben.
Die maximale Arbeitsplatz-Konzentration in der Atemluft beträgt 0,1 ml/m3, das entspricht 0,1 ppm.
Dies ist auch der meist angegebene Wert für die Wahrnehmbarkeitsgrenze des stechenden, chlorähnlichen Geruchs von Chlordioxid. Das Gas ist somit selbst-warnend. Dieser Wert ist ähnlich dem von Chlor, dessen Geruchsgrenze, abhängig vom individuellen Geruchssinn, mit 0,2 bis 3,5 ppm angegeben wird.
Für die Langzeit-Giftigkeit von Chlordioxid in Trinkwasser müssen auch immer Chlorit (ClO2−) und Chlorat (ClO3−) in Betracht gezogen werden, da Chlordioxid bei geeigneten Bedingungen in diese umgewandelt werden kann. Die Einwirkung von UV-Licht katalysiert den Zerfall von Chlordioxid zu Chlorit und Chlorat:
Chlorit kann ebenfalls als Produkt bei der Oxidation anderer Substanzen entstehen, zudem wird Chlordioxid durch Ansäuern von Chloritlösungen hergestellt. Für die Behandlung von Trinkwasser mit Chlordioxid werden in den USA weitaus höhere Dosen verwendet. Dort werden, anders als in Europa, organische Bestandteile nicht zuerst durch Aktivkohlefilter entfernt, weshalb eine höhere Konzentration an Chlordioxid zur Desinfektion nötig wird.
Höhere Organismen sind relativ unempfindlich gegen die Aufnahme von Chlordioxid durch Verschlucken. So wurden zum Beispiel in einer Studie am Menschen bei der einmaligen Einnahme von 24 mg Chlordioxid in einem Liter beziehungsweise 2,5 mg Chlorit in 500 ml Wasser bei zehn gesunden Männern keine negativen Veränderungen festgestellt.
Das ist um Faktor zwanzig beziehungsweise hundert höher als die Höchstwerte zur Trinkwasseraufbereitung in Deutschland von 0,2 mg auf einen Liter Trinkwasser. Diese Unempfindlichkeit bei oraler Einnahme von Chlordioxid ist wahrscheinlich auf eine rasche Deaktivierung durch Reaktion mit Substanzen im Magen zurückzuführen. In einer Studie an Äthiopischen Grünmeerkatzen konnten bei einer Gabe von 1,8 mg Chlordioxid (30 ml, 60 mg·l−1) und sofortiger Rückgewinnung der Magenflüssigkeit innerhalb von 5 Minuten nur noch 8 % der ursprünglichen Oxidationswirkung des zugegebenen Chlordioxid durch Titration festgestellt werden, der Rest war durch Reaktion mit den Magensäften unwirksam geworden. Bereits verdünnter Speichel der Affen deaktivierte innerhalb einer Minute Chlordioxid im Reagenzglas in der Größenordnung von 0,15 mg (zu 95 % deaktiviert) bis 1,5 mg (zu 88 % deaktiviert) Chlordioxid auf einen Milliliter Speichel.
In Organismen reagiert Chlordioxid leicht mit den Aminosäuren Cystein und Tryptophan sowie freien Fettsäuren. In einer Studie reagierte es jedoch kaum beziehungsweise nur langsam mit (viraler) RNA oder der DNA von Sporen, wesentlich langsamer, als diese abgetötet wurden.
Die antivirale Aktivität konnte in einigen Fällen auf eine Abtrennung der viralen RNA vom Kapsid, der Proteinhülle des Virus, zurückgeführt werden. Während Chlordioxid gegen Viren, Bakterien, Sporen, Schimmelpilze und sogar Prionen wirksam ist, zeigen einige Typen der sich langsamer vermehrenden Mykobakterien eine hohe Resistenz.
Literatur
H. Sixta: Handbook of Pulp. VCH-Wiley, Weinheim 2006, ISBN 3-527-30999-3, S. 741–742 (englisch).
Stefan Wilhelm: Wasseraufbereitung: Chemie und chemische Verfahrenstechnik. 7. Auflage. Springer Verlag, ISBN 978-3-540-25163-7, S. 252–253, doi:10.1007/978-3-540-68887-7, .
Seymour Stanton Block: Disinfection, sterilization, and preservation. Lippincott Williams & Wilkins, 2001, ISBN 0-683-30740-1, S. 215 ff.
Weblinks
Wolfgang Roeske: Die Desinfektion von Trinkwasser mit Chlor und Chlordioxid. Wasser, Luft und Boden · Zeitschrift für Umwelttechnik, Sonderdruck aus Ausgabe 7–8/1998.
Greenpeace: Chronologie der Chlorfrei-Kampagne vom 29. März 2004.
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Einzelnachweise
Chlorverbindung
Oxid
Radikal (Chemie) |
341217 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger%20Hafenarbeiterstreik%201896/97 | Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97 | Der Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97 gilt als einer der größten Arbeitskämpfe im Deutschen Kaiserreich. Er begann am 21. November 1896, dauerte elf Wochen, umfasste auf dem Höhepunkt fast 17.000 Arbeiter und endete am 6. Februar 1897 mit der vollständigen Niederlage der Streikenden. Die Auseinandersetzung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Hamburger Wirtschaft und erregte auch außerhalb Deutschlands Aufsehen. Getragen wurde der Streik vor allem von Arbeitergruppen, die kaum gewerkschaftlich organisiert und deren Arbeitsverhältnisse durch Unstetigkeit gekennzeichnet waren. Ihnen standen gut organisierte Unternehmer gegenüber. Die Geschehnisse waren für Konservative und die Reichsregierung Anlass, zwei Jahre später mit der Zuchthausvorlage eine verstärkte Repressionspolitik gegenüber der Sozialdemokratie zu versuchen.
Voraussetzungen und Vorgeschichte
Bedeutung des Hamburger Hafens
Hamburg war seit Mitte des 19. Jahrhunderts das führende Handels- und Schifffahrtszentrum Deutschlands. Der Hafen der Stadt war dabei ihr wirtschaftlicher Mittelpunkt. In den Jahren von 1856 bis 1886 verdreifachte sich in Hamburg die Zahl der per Schiff importierten Güter, was vor allem an den intensivierten Handelsbeziehungen mit Lateinamerika lag, nachdem diese Region sich von Portugal und Spanien gelöst hatte. Hinzu kam die Auswanderung nach Amerika. Sie verbilligte die Frachtraten für den Warenverkehr von Amerika nach Hamburg, denn der Frachtraum für die Fahrten von Europa nach Amerika war genutzt und bezahlt.
Das Wirtschaftszentrum Hafen prägte auch die Hamburger Industrie, die stark auf den Export orientiert war. Die Produktion von Gütern mit hoher handwerklicher Qualität spielte hier eine größere Rolle als in Industrieregionen, in denen die Massengüterproduktion vorherrschte. Hinzu kam die Fertigung von Großgütern: den Schiffen auf den Hamburger Werften.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Hamburger Hafens wuchs im Kaiserreich. Der Anteil des Hamburger Hafens am Schiffsverkehr in Deutschland, gemessen in Nettoregistertonnen, lag 1873 bei knapp 30 Prozent. Damit war Hamburg unangefochten die Nummer eins der deutschen Hafenstädte. Bremen/Bremerhaven folgte mit einem Anteil von fast 12 Prozent mit weitem Abstand. Hamburgs Anteil wuchs bis 1893 auf über 40 Prozent, um 1911 bei mehr als 44 Prozent anzukommen. Die Häfen an der Weser, immer noch auf Rang zwei, konnten ihren Anteil bis 1911 nur um einen halben Prozentpunkt verbessern. Der große Vorteil des Hamburger Hafens lag in seiner guten Anbindung an das Hinterland. Es gab ein ausgebautes System der Binnenwasser- und Schienenwege von und nach Hamburg. Dieses Hinterland reichte aus Hamburger Sicht über die deutschen Grenzen hinaus. Als Transitstation war der Hafen von großer Bedeutung auch für den Warenverkehr zwischen Teilen Mittel- und Osteuropas und der „Neuen Welt“. Insbesondere die Warenströme aus und nach Österreich-Ungarn, den Staaten des Balkans, Skandinavien und teilweise auch Russland liefen vielfach über Hamburg.
Die Hansestadt bezog einen Großteil ihrer wirtschaftlichen und politischen Kraft aus dem Hafen. Damit lag hier auch ein Potenzial für Verluste, insbesondere, wenn es in der Hafenwirtschaft – beispielsweise durch Streiks – zu Stockungen kam.
Gewerkschaftliche Organisation
Hamburg war der Mittelpunkt der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Die Stadt zählte 1890 84 Gewerkschaften, fast jede Arbeitergruppe hatte hier ihre eigene Organisation, die zusammen mehr als 30.000 Mitglieder vertraten. Ausdruck der herausgehobenen Stellung Hamburgs für die deutsche Gewerkschaftsbewegung war ferner der Umstand, dass die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands ihren Sitz in der Hafenstadt hatte, ebenso eine Reihe von Zentralvorständen der Einzelverbände. Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hatte die Elbstadt zu ihrer Hochburg ausgebaut. 1890 eroberte die Partei alle drei Hamburger Reichstagssitze und verteidigte sie bis zum Ende des Kaiserreichs. Allerdings lag 1896 eine schwere Niederlage der Hamburger Arbeiterbewegung nicht weit zurück. Sechs Jahre zuvor hatte es in einer Reihe von Ländern den Versuch gegeben, am 1. Mai die Einführung des Achtstundentages bzw. eine spürbare Arbeitszeitverkürzung zu erstreiken. In Deutschland konzentrierten sich diese Auseinandersetzungen bald auf die Elbmetropole. Die Streikenden sahen sich in den Hamburger Maikämpfen jedoch einem „hochgerüsteten und gut organisierten Unternehmerblock gegenüber, dessen Macht und Entschlossenheit kaum zu unterschätzen war“. Dieser Machtblock verweigerte Konzessionen und reagierte mit Massenaussperrungen und weiteren Sanktionen. Die Niederlage der Streikenden nach wochenlangen Kampfmaßnahmen führte zu einem erheblichen Mitgliederschwund der Hamburger Gewerkschaften.
Für diese Entwicklung der Mitgliederzahlen war zudem die sich eintrübende Konjunktur verantwortlich. Der 1891 neu gegründete zentrale Hafenarbeiterverband umfasste zwar alle Arbeitergruppen des Hamburger Hafens und zählte in jenem Jahr etwa 5000 Mitglieder, im Folgejahr waren in ihm jedoch nur noch 1800 Gewerkschafter vereint. Die Hamburger Choleraepidemie von 1892 war für diesen Rückgang mitverantwortlich. Ferner schlug 1892 die Gruppe der Schauerleute einen organisatorischen Sonderweg ein, sie trennte sich vom Zentralverband und gründete den Verein der in Hamburg beschäftigten Schauerleute von 1892, eine selbstständige, lokalistische Organisation. Kritik am Funktionärswesen, an zentralistischen Strukturen, an der Verwendung von Mitgliedsbeiträgen und an der Belastung der Einzelmitglieder durch regelmäßige Mitgliedsbeiträge waren die Gründe, die für die Abspaltung angeführt wurden.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Hafenarbeiter
Die Hafenarbeiterschaft war heterogen. Mindestens 15 verschiedene Berufsgruppen bildeten sich durch die unterschiedlichen Tätigkeiten heraus. Nach der größten Gruppe der Schauerleute fielen die Ewerführer zahlenmäßig ins Gewicht. Sie besorgten den Transport der Waren auf dem Wasserweg von und zu den Seeschiffen. Dazu dienten ihnen sogenannte Schuten. Obwohl sich die Bedeutung der Ewerführerei seit den 1860er Jahren verringerte, weil die Schiffe zunehmend nicht mehr „im Strom“, sondern an den neu gebauten Kais be- und entladen wurden, stellte dieses Gewerbe den wichtigsten Zweig der Hamburger Hafenschifffahrt. Selbst am Kai vertäute Schiffe wurden wasserseitig von Ewerführern gelöscht und beladen, damit die für Reeder unproduktive Liegezeit möglichst kurz blieb. Auch die Kaiarbeiter waren eine große Berufsgruppe. Ihre Verantwortung lag in der Verladung von Frachtgut aus den Schiffen in die Lagerhäuser an den Kais oder auf Fuhrwerke beziehungsweise in Eisenbahnwagen zum sofortigen Weitertransport. Speicherarbeiter bewegten die Waren in den Lagern und beluden die Schuten, die die Waren zu den Schiffen brachten. Neben diesen Berufsgruppen gab es weitere wie Kohlearbeiter, Getreidearbeiter, Kesselreiniger, Schiffsreiniger, Schiffsmaler und Maschinisten. Im weiteren Sinn kamen die etwa 13.000 in unterschiedliche Ränge und Berufe gegliederten Seeleute dazu, die in Hamburg wohnhaft waren.
Trotz dieser Binnendifferenzierung gab es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Oft waren die Arbeiter hohen körperlichen Belastungen ausgesetzt, vielfach in gesundheitsgefährdender und unfallträchtiger Umgebung. Die Arbeit wurde zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit verrichtet. Viele der Arbeiter kamen zudem aus dem Gängeviertel, einem beengten Wohngebiet in Hafennähe. Die große Mehrheit war ungelernt und kannte keine dauerhaften Arbeitsverhältnisse. Eine Ausnahme hiervon bildeten die Ewerführer und die Maschinisten, deren Tätigkeit eine mehrjährige Lehrzeit voraussetzte. Weitere Kennzeichen der Arbeit waren die extrem kurzen Beschäftigungsverhältnisse und die abrupten Wechsel zwischen Beschäftigungslosigkeit und tagelanger Arbeit ohne Unterbrechung, die in Spitzenzeiten bis zu 72 Stunden andauern konnte. Einzig die gelernten Kräfte und die Staatskaiarbeiter waren von diesen Wechselfällen unabhängig. Erschwerend kam das Fehlen einer geregelten, behördlich kontrollierten Arbeitsvermittlung hinzu. Die Anwerbung von Arbeitern fand häufig in Hafenkneipen statt, bis ins 20. Jahrhundert hinein die „eigentlichen Zentren der Arbeitsvermittlung“. Die Chance auf Beschäftigung war damit abhängig vom Verzehr und von der persönlichen Beziehung zu Wirten und Agenten. Reeder und Kaufleute wählten die im Hafen benötigten Arbeitskräfte nicht mehr selbst aus, sondern beauftragten damit Zwischenunternehmer, die sogenannten Baase und ihre Vorarbeiter, Vizen genannt. Daneben waren einige Unternehmerverbände in Hamburg dazu übergegangen, in Eigenregie Arbeitsnachweise einzurichten. Auf diese Weise hofften sie, missliebige Arbeiter konsequent von einer Beschäftigung ausschließen zu können. Das „Hamburger System“ der unternehmerdominierten Nachweise verbreitete sich von der Hansestadt ausgehend über ganz Deutschland. Diese Formen der Arbeitsvermittlung fanden in einem Arbeitsmarkt statt, der stets von einem deutlichen Überangebot an Arbeitskräften gekennzeichnet war. Ein weiteres verbindendes Merkmal der Arbeiterschaft war ihr geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad, der sich vor allem aus dem Fehlen einer einschlägigen Berufsausbildung und der hohen Fluktuation ergab. Aus der Unstetigkeit der Anstellungsverhältnisse resultierte zudem die vergleichsweise große Streikneigung der Hafenarbeiter. Sie hatten als Tagelöhner, sofern ein Streik auf wenige Tage begrenzt blieb, den Arbeitsplatzverlust und den Bezug regelmäßiger Einkommen nicht zu fürchten – im Unterschied zu Arbeitern in Dauerbeschäftigungsverhältnissen. Zur relativ hohen Streikneigung trug der geringe Einfluss der Gewerkschaften bei, die den Streik als Ultima Ratio betrachteten und ihm einen langen und komplizierten innergewerkschaftlichen Entscheidungsprozess voranstellten.
Gesunkener Lebensstandard
Die Lohnvereinbarungen für den Hamburger Hafen stammten überwiegend aus den 1880er Jahren. Erhöhungen gab es danach kaum, häufiger dagegen Absenkungen. Das Arbeitstempo hatte sich seither erhöht, ebenso die Lebenshaltungskosten. Der Zollanschluss Hamburgs hatte 1888 zu einer Reihe von teils massiven Preiserhöhungen geführt. Der im selben Jahr geschaffene Freihafen führte zum Abriss hafennaher Wohnungen, die Grundstücke sollten nun als Industrie- und Gewerbeflächen dienen. Wohnungen von etwa 24.000 Menschen verschwanden. Die Mieten für die verbliebenen Wohnungen in Hafennähe stiegen drastisch an. Eine große Zahl der im Hafen Beschäftigten musste sich in entfernten Stadtteilen wie zum Beispiel Eimsbüttel, Winterhude, Barmbek, Hamm, oder Billwerder Wohnraum suchen. Durchweg waren auch dort höhere Mieten zu zahlen, zudem wurden die Wegezeiten zum Hafen deutlich länger.
Verlauf
Prolog
Die Chance einer Verbesserung der Einkommenssituation ergab sich erst, als die Konjunktur im Frühjahr 1896 deutlich anzog. Die Arbeitslosigkeit nahm spürbar ab, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg, die Frachtsätze verdoppelten sich, zeitgenössische Beobachter sprachen im August von einem regelrechten Getreideboom, der dazu führte, dass viele Schiffe sich im Hafen drängten. Die Bilanzen der Reeder wiesen erhebliche Gewinne aus. Die Akkord-Schauerleute reagierten im September und Oktober auf die verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen mit zwei kurzen Streiks, die für sie jeweils siegreich endeten. Organisiert wurden die Streiks von der lokalistischen Gewerkschaft Verein der Schauerleute von 1892 unter Vorsitz von Johann Döring. Auch andere Hafenarbeitergruppen waren in diesen zwei Monaten mit Lohnstreiks erfolgreich, so die Kohlearbeiter, die Getreidearbeiter, die Kaiarbeiter und eine Teilgruppe der Schiffsreiniger.
Die angespannte Situation verschärfte sich durch die Verhaftung und Ausweisung des auch in Deutschland bekannten englischen Hafenarbeiterführers Tom Mann, der Mitte September 1896 in Hamburg und Altona für die gewerkschaftliche Organisation der Hafenarbeiter werben wollte. Adolph von Elm, Hamburger Gewerkschaftsführer und Reichstagsabgeordneter, der eigentlich die Rede Manns übersetzen sollte, sprang als Redner ein und berichtet über die Verhaftung. Diese von dem Hamburger Polizeisenator Gerhard Hachmann veranlasste Maßnahme wurde auch in weiten Kreisen der unorganisierten Hafenarbeiterschaft als unzulässige und ehrverletzende Einschränkung der Koalitionsfreiheit empfunden. Im Ergebnis erzeugte die Ausweisung das Gegenteil ihrer Absicht: Veranstaltungen, die die Behandlung Manns zum Thema hatten, waren sehr gut besucht, auf ihnen wurden bald auch Lohn- und Arbeitsbedingungen diskutiert. Gelegentlich forderten Redner sogar dazu auf, die Niederlage von 1890 auszumerzen.
Beginn und Ausdehnung des Streiks
Der zentralistische Hafenarbeiterverband verhielt sich Streikaktionen gegenüber reserviert, die Führer dieses Verbandes hielten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad für zu gering, um erfolgreich Streiks durchführen zu können. Zudem fürchteten sie ein Heer von Streikbrechern, weil saisonal bedingte Entlassung von Arbeitskräften der Landwirtschaft und des Baugewerbes bevorstanden. Noch am 12. November 1896 lehnte eine Versammlung von Verbandsmitgliedern eine Solidarisierung mit streikwilligen Stückgut-Schauerleuten ab. Vier Tage später allerdings kippte die Stimmung. Auf einer weiteren Versammlung sprach sich die Mehrheit der Anwesenden gegen den Rat aller Gewerkschaftsfunktionäre für eine Unterstützung der Stückgut-Schauerleute aus. Nach weiteren vier Tagen, am 20. November, wurde der große Streik beschlossen, der in die Geschichte als Hamburger Hafenarbeiterstreik eingegangen ist: Mit überwältigender Mehrheit entschlossen sich auch die Mitglieder des Hafenarbeiterverbands für einen Ausstand ab dem 21. November. Die Unternehmer hatten zuvor zwar ihr Einverständnis zu einer generellen Erhöhung der Löhne signalisiert. Zugleich aber wollten sie die Zuschläge senken, die beim Umgang mit gesundheitsschädlichem Gut gezahlt wurden. Dass der Streik sich zu einem mehrwöchigen Arbeitskampf auswachsen würde, damit rechnete zu diesem Zeitpunkt niemand. Allgemein wurde eine Streikdauer von acht bis 14 Tagen angenommen.
Am 21. November 1896 stellten fast alle Schauerleute die Arbeit ein. Die anderen im Hafen beschäftigten Arbeitergruppen begannen in den nächsten Tagen ebenfalls mit Streiks und erhoben Forderungen, die von den Unternehmern strikt abgelehnt wurden. Diese fielen bei den einzelnen Arbeitergruppen unterschiedlich aus. Sie lassen sich im Wesentlichen in solche gliedern, die sich auf den Grundlohn, auf Lohnzuschläge und auf die Arbeitszeit bezogen. Hinzu kann das Eintreten für eine tarifvertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen – die Gewerkschaften galten den Unternehmern 1896 keineswegs als Verhandlungspartner in diesen Fragen. Auch die Ausschaltung der Baasen wurde gefordert. Die abschlägigen Antworten der Unternehmer beschleunigten die Ausstandswelle. Ende November wurden mehr als 8.700 Streikende gezählt. Am 4. Dezember waren es bereits fast 12.000. Am 9. Dezember lag diese Zahl bei 14.500, am 21. Dezember bei mehr als 16.400.
Organisation des Streiks
Die einzelnen Berufsgruppen wählten Streikkommissionen, die in einem etwa 70-köpfigen Zentral-Streikkomitee zusammentraten. Diesem Komitee stand ein fünfköpfiger Vorstand vor, Vorsitzender dieses Lenkungsgremiums wurde der Lokalist Döring. Vertreter des Hamburger Gewerkschaftskartells, also der lokalen gewerkschaftlichen Dachorganisation, waren anfangs nicht beteiligt, ebenso wenig Vertreter der SPD. Allerdings traten sie hinzu, als erste Schlichtungsversuche unternommen wurden. Zu diesen prominenten Arbeiterführern gehörten Carl Legien, Hermann Molkenbuhr, Karl Frohme und Adolph von Elm. Jeder Streikende erhielt eine Streikkarte, die täglich abzustempeln war. Streikposten wurden im Hafen verteilt, um für die konsequente Durchführung des Streiks zu sorgen. Zugleich wurden Barkassen gechartert, um Streifenfahrten durchführen zu können.
Entscheidend für die Streikintensität wurde die Organisation von Unterstützungsgeldern. Die finanziellen Mittel des Hafenarbeiterverbands reichten nicht aus, um einen Streik lange aufrechterhalten zu können, noch weniger waren dazu die Mittel der lokalistischen Organisation der Schauerleute angetan. Obwohl das Gewerkschaftskartell bei der Ausrufung des Streiks nicht beteiligt war und in den folgenden Wochen stets auf eine Eingrenzung und Dämpfung des Konflikts hinarbeitete, erkannte es den Ausstand am 27. November an. Es bat die übrigen Gewerkschaften um finanzielle Unterstützungsaktionen. Diese Maßnahmen beschränkten sich nicht auf die Hansestadt, vielmehr wurden reichsweit Spenden akquiriert. Die Unterstützung der Streikenden erreichte dabei ein in Deutschland bis dahin nie erreichtes Niveau. Selbst aus dem Ausland trafen Spendengelder ein, wenngleich in nur begrenztem Umfang – viele Hafenarbeitergewerkschaften des Auslands waren über den Ausbruch des Streiks in Hamburg wenig erfreut. Sie fürchteten, die Entwicklung der internationalen Hafenarbeiterbewegung könne Schaden nehmen. Nicht allein im Sozialmilieu der Arbeiter waren diese Aufrufe erfolgreich. Auch viele kleine Ladenbesitzer unterstützten den Streik, weil Hafenarbeiter den Großteil ihrer Kundschaft stellten. In gleicher Weise ergriffen die „fliegenden Händler“ Partei, die vom Verkauf ihrer Waren auf Barkassen und im Hafengelände lebten. Sie hatten sich bereits am 25. November mit den Streikenden solidarisch erklärt. Sogar der bürgerliche Nationalsoziale Verein bekundete seine Solidarität mit den Hafenarbeitern und organisierte unter seinen Anhängern eine Geldsammlung, die insgesamt 10.600 Mark einbrachte. Die Aufrufe zur finanziellen Solidarität führten dazu, dass ab dem 2. Dezember 1896 jedem Streikenden ein Streikgeld von 8 Mark wöchentlich gezahlt werden konnte, für Ehepartner sowie für jedes Kind gab es einen Aufschlag von je einer Mark. Diese Unterstützungssätze konnten im Verlauf des Streiks zweimal erhöht werden. Für die Dauer des Streiks war von Bedeutung, dass die Höhe der Streikgelder die Unterstützungssätze der öffentlichen Armenanstalt überstieg. Trotzdem war das Streikgeld nicht üppig, wie ein Vergleich mit den Tagelöhnern zeigt. Diese lagen damals zwischen 2 Mark für Kesselreiniger und 4,20 Mark für Schauerleute.
Ein weiterer Faktor für die Organisation des Streiks war die gezielte Ansprache der Frauen auf eigens dafür organisierten Massenveranstaltungen. Innerfamiliäre Konflikte und damit ein Abbröckeln der Streikfront sollten auf diese Weise verhindert werden. Diese Taktik war im Zuge von Arbeitskämpfen noch relativ jung und hat sich aus Funktionärssicht rückblickend bewährt. Luise Zietz, die selbst auf Versammlungen von Hafenarbeiter-Frauen agitiert hatte, lobte sie auf dem SPD-Parteitag, der im Oktober 1897 in Hamburg stattfand.
Reaktionen im Unternehmerlager
Die Antwort der Unternehmer wurde nicht in erster Linie von den direkt betroffenen Arbeitgebern bestimmt, also den Baasen und Reedern. Sie war stattdessen geprägt von der Politik des lokalen Arbeitgeberverbands (Arbeitgeberverband Hamburg-Altona), der vier Jahre zuvor gegründet worden war. Innerhalb dieses Verbands spekulierten die entscheidenden Akteure auf einen raschen Zusammenbruch des Streiks, denn sie kannten die Finanzschwäche der zuständigen Berufsgewerkschaften sehr genau. Aus diesem Grund wurden die Forderungen der Streikenden strikt abgelehnt. Selbst als finanziell stark betroffene Reeder auf eine Lockerung der ablehnenden Politik drängten, konnten sie sich nicht durchsetzen. Auf der Arbeitgeberseite übernahm Hermann Blohm, Chef der Werft Blohm + Voss, die Führung und erklärte die Auseinandersetzung zur grundsätzlichen Machtfrage. Sein Ziel war nicht die Beilegung des Konflikts, sondern der bedingungslose Sieg. Die Gewerkschaften dürften niemals als Verhandlungspartner anerkannt werden.
Um den Betrieb im Hafen notdürftig aufrechtzuerhalten und um die Kampfkraft der Streikenden zu unterlaufen, warben die Unternehmer im In- und Ausland Streikbrecher an. Am 7. Dezember 1896 waren etwa 2000 im Hafen tätig. Ihre Ziele erreichten die Arbeitgeber damit nur eingeschränkt: Eine Reihe der Angeworbenen ließ sich durch die Argumente der Streikposten von der Arbeitsaufnahme abhalten. Die Arbeitsproduktivität der Angeworbenen war zudem deutlich geringer, denn sie waren mit den Handgriffen der Hafenarbeit kaum vertraut. Albert Ballin, Direktor der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), hielt nur die Hälfte der in seinem Unternehmen beschäftigten Aushilfskräfte für brauchbar. Auf den Kaianlagen und in den Schuppen herrschten deshalb chaotische Zustände. Die Zahl der auf Be- und Entladung wartenden Schiffe nahm stetig zu. Die Folgen für andere Wirtschaftszweige waren erheblich, denn es fehlte nun an Rohstoffen und Vorprodukten, die sich in den Schiffen, auf den Kaianlagen und in Schuppen stapelten. Von überallher liefen Beschwerden wegen Lieferverzugs ein.
Solidarität mit den Unternehmern
Kaiser Wilhelm II. war der prominenteste Fürsprecher einer kompromisslosen Politik gegenüber den Streikenden. Er besuchte am 27. November 1896 Alfred von Waldersee, der im benachbarten Altona als Kommandierender General das IX. Armee-Korps befehligte. Der Kaiser wünschte ein „energisches Eingreifen“ und ermunterte seinen General vor der Abreise: „Fassen Sie nur ordentlich zu, auch ohne anzufragen.“ Wenige Tage später instruierte er den preußischen Justizminister Karl von Schönstedt, staatsanwaltliche Ermittlungen gegen sozialdemokratische Abgeordnete einzuleiten, die in Hafenstädten Solidaritätsmaßnahmen mit den Streikenden in Hamburg organisiert hatten. Seinen seit Mitte August 1896 amtierenden Kriegsminister Heinrich von Goßler wies er an, sich für die Verhängung des Belagerungszustands bereitzuhalten.
In ähnlicher Weise äußerte sich auch die Reichsregierung. Karl Heinrich von Boetticher, Staatssekretär im Reichsamt des Innern, behauptete Anfang Dezember 1896 vor dem Reichstag, der Streik der Hafenarbeiter sei unbegründet. Er stützte seine Argumentation dabei auf Lohntabellen, die ihm von Arbeitgeberseite zugespielt wurden. Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, Großunternehmer der saarländischen Montanindustrie und freikonservativer Politiker, machte im Reichstag Stimmung gegen die streikenden Arbeiter. Er hielt diesen Ausstand für das Werk der SPD und der englischen Gewerkschaften, Gedanken an Verhandlungslösungen seien „Mumpitz“. Der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, eine bedeutende Interessenvertretung schwerindustrieller Unternehmer an Rhein und Ruhr, lobte öffentlich den Dienst, den die Hamburger Arbeitgeber dem Vaterland leisteten, denn „jeder selbst nur scheinbare Erfolg der Arbeiter“ würde die Gefahr internationalistischer Bestrebungen ihrer Organisationen „in bedrohlichster Weise steigern“.
Schlichtungsbemühungen
Der Hamburger Senat verhielt sich zunächst passiv. Bis Ende November 1896 befasste er sich formell nicht mit dem Streik. Die Polizei allerdings besetzte vom 26. November an das Hafengelände und die Kais. Auch vor Arbeitsnachweisstellen wurden Polizeiposten aufgestellt, die Streikagitation hatte nach dem Willen der Obrigkeit hier zu unterbleiben. Gleichzeitig wurde etwa 1000 Italienern, die gewillt waren, als Streikbrecher zu arbeiten, der Zuzug verweigert. Das Ansinnen von Reedern, Marineeinheiten einzusetzen, wurde ebenfalls abgelehnt. Insgesamt folgte die behördliche Linie in dieser Streikphase einer Vermeidung von Eskalationen.
Die Initiative zu einer Verständigung ging nicht vom Senat aus, sondern von bekannten Persönlichkeiten. Senator Gerhard Hachmann, zuständig für die Polizei, Siegmund Hinrichsen, Präsident der Hamburger Bürgerschaft und Dr. Noack, Vorsitzender des Hamburger Gewerbegerichts, starteten am 29. November 1896 einen Kompromissversuch: Ein Schiedsgericht sollte eingerichtet werden. Mitglieder dieses Gremiums sollten neben ihnen selbst ein Arbeitgebervertreter sowie vier Vertreter der Arbeiterseite werden. Alle Seiten sollten vorab Beschlüsse, die von mindestens sechs Schiedsgerichtsmitgliedern getragen wurden, als bindend anerkennen. Die Arbeiter erklärten sich mit diesem Anliegen einverstanden. Anders die Unternehmer. Sie hielten es für das falsche Signal, Arbeitervertreter gleichberechtigt auf eine Stufe mit Vertretern des Bürgertums zu stellen. Ein Schiedsgericht hätte außerdem bedeutet, die Forderungen der Streikenden grundsätzlich als berechtigt anzuerkennen, selbst wenn über Feinheiten der Entgelte und Arbeitsbedingungen noch zu verhandeln war. Die Unternehmerseite spekulierte stattdessen weiter darauf, dass die Zeit gegen die Streikenden arbeiten würde. Die Arbeitgeber hofften auf das, was die Streikenden fürchteten: Die Streikgelder würden langsam versiegen, die Streikbrecher würden sich einarbeiten und auch das Arbeitskräfteangebot würde, bedingt durch die kalte Jahreszeit, merklich zunehmen. Öffentlich sprachen die Unternehmer davon, den Konflikt nicht als ökonomische Interessenauseinandersetzung zu verstehen, sondern als einen „Machtstreit“. Es kam ihnen in dieser Auseinandersetzung auf den entscheidenden Sieg, nicht auf einen Teilerfolg an.
Diese Stellungnahme erbitterte die Streikenden und reduzierte ihrerseits die Bereitschaft zu Kompromissen. Stattdessen rief die Streikleitung nun den Generalstreik über den gesamten Hafen aus. Die sich verfestigenden Fronten, die Streikdauer, die unübersehbaren Probleme im Hafen sowie die finanziellen Streikfolgen bewegten den Senat zum Eingreifen. Er beauftragte am 4. Dezember 1896 eine Kommission von vier Senatoren – Hachmann, William Henry O’Swald, Johann Heinrich Burchard und Alexander Kähler – mit der Erarbeitung eines Lösungsvorschlags. Bei den Streikführern stieß diese Initiative auf Interesse. Ihnen war allerdings daran gelegen, dass im Rahmen der Kompromissfindung das Koalitionsrecht der Arbeiter anerkannt werden würde. Die Unternehmer blieben jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung. Der Schiffbauunternehmer Hermann Blohm, einer der Wortführer im Unternehmerlager, machte deutlich, dass der Streik als eine Auseinandersetzung der staatserhaltenden Unternehmerschaft mit der Sozialdemokratie zu verstehen sei. Dieser Partei sei ein vernichtender Schlag beizubringen, wobei man Hilfe des Senats erwarte. Blohm wünschte einen Senatsaufruf, der das Vorgehen der Streikenden nachdrücklich missbilligte. Der Senat entsprach dieser Forderung nicht, sondern sondierte Möglichkeiten, über einen Senatsaufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit und zu Verhandlungen zu gelangen. Dem Senat schwebte eine Erklärung vor, wonach nach Wiederaufnahme der Arbeit eine Untersuchung des Senats über die Beschwerden und Forderungen der Streikenden beginnen sollte. Die Arbeitgeber sollten dazu aufgerufen werden, alle Streikenden wieder einzustellen und auswärtige Streikbrecher entsprechend zu entlassen. Die Streikführer waren mit dieser Konzeption ebenso wenig einverstanden wie die Unternehmer. Die Arbeiterführer betonten, dass ein solcher Aufruf keineswegs die Wiedereinstellung der Streikenden und das Ausbleiben von unternehmerischen Repressionsmaßnahmen gegen Streikende garantieren könne. Für die Wiederaufnahme der Arbeit auf einer solch unsicheren Basis zu werben sei aussichtslos. Die Unternehmer ihrerseits wiesen den Gedanken direkter Verhandlungen mit den Gewerkschaften erneut zurück. Zugleich waren sie nicht auf Wiedereinstellung von streikenden Arbeitern festzulegen. Für sie kam allein die avisierte Senatsuntersuchung in Frage, wenn diese auch die Interessen der Unternehmer berücksichtigte. Allerdings forderten sie dafür, der Senat müsse die Kampfmaßnahmen der Arbeiter öffentlich missbilligen. Der Senat lehnte dieses Ansinnen der Unternehmer am 9. Dezember 1896 mit einer Mehrheit von zehn zu sieben Stimmen ab.
Fortdauer des Streiks und Wintereinbruch
Der Streik dauerte an. Die Behörden neigten jetzt allerdings mehr und mehr der Arbeitgeberseite zu. Sie verboten den Streikenden den Zutritt zum Freihafengelände. Dort, wo Streikende in Gruppen zusammenstanden oder sich in der Nähe von Arbeitswilligen aufhielten, wurden sie von Polizisten auseinandergetrieben. Am 14. Dezember unterband der Senat Haussammlungen für die Streikenden. Die Gewerkschaften umgingen diese Maßnahme allerdings, indem sie Erklärungen verteilen ließen, in denen Spendenwillige die Sammler baten, zur Entgegennahme der Spende regelmäßig zu ihnen in die Wohnung zu kommen. Verdruss und Radikalität unter den Arbeitern nahmen dennoch zu. Teilweise griffen sie zu Sabotageakten. Immer wieder trieben nachts beladene Schuten, Barkassen und andere Wasserfahrzeuge führerlos im Hafenbecken und im Elbstrom. Streikende wurden verdächtigt, einen Dampfer, der Streikbrechern ein Notquartier bieten sollte, versenkt zu haben. Ein Lokal, das einem Schauerbaas gehörte, wurde verwüstet.
Der einsetzende Frost arbeitete gegen die Streikenden, denn die damit verbundene zunehmende Arbeitslosigkeit führte zum Absinken des Spendenaufkommens für die Hafenarbeiter. Arbeitslose Schiffer, Maschinisten und andere Arbeitskräfte der Binnenschifffahrt machten den Streikenden Konkurrenz. Außerdem ging das Schiffsaufkommen im Hafen zurück.
In dieser Lage gingen die Streikführer am 16. Dezember 1896 erneut auf den Senat zu und baten um Vermittlung. Die Unternehmer konterten, indem sie jede schiedsgerichtliche Lösung ausschlossen – diese wäre ein Sieg der Streikenden. Sie beharrten auf sofortiger Beendigung des Streiks, vorher waren sie nicht zu Gesprächen bereit. Der Senat schwenkte auf die Linie der Unternehmer ein. Auch er forderte am 18. Dezember öffentlich das sofortige Ende des Ausstands, erst anschließend könne es eine Untersuchung der Arbeitssituation im Hafen geben. Irgendwelche Zusagen an die Arbeiter machte der Senat nicht. Dennoch beschloss die Streikführung daraufhin den Abbruch des Streiks zu empfehlen. Sie sah ein Abbröckeln der Streikbereitschaft voraus. Zudem fürchtete sie, Kredite zur Finanzierung des Ausstands aufnehmen zu müssen, was die zukünftige Streikfähigkeit erheblich einschränken würde. Überdies erwartete sie Polizeiaktionen zur Durchsetzung des Streikendes und damit insgesamt eine Niederlage mit einer jahrelangen Lähmung der Arbeiterschaft. Die Streikführung konnte sich in den Streikversammlungen mit dieser Empfehlung nicht durchsetzen. Nur eine Minderheit von 3671 Arbeitern stimmte für das Ende des Streiks. Sie setzte sich überwiegend aus Kaiarbeitern und Ewerführern zusammen, die den Verlust von Dauerbeschäftigungsverhältnissen fürchteten. Die Mehrheit – 7262 Personen – lehnte am 19. Dezember die Empfehlung als Kapitulation ab. Sie glaubte weder daran, dass es keine Repressionen geben würde, noch erwartete sie Substanzielles von einer Senatskommission zur Untersuchung der Arbeitsverhältnisse.
Der Streik wurde über die Weihnachtsfeiertage bis ins neue Jahr fortgesetzt, gleichfalls der Versuch, die Arbeitsniederlegung durch den Einsatz von Streikbrechern zu unterlaufen. Diese konnten an ihre Arbeitsplätze gelangen, weil es den Streikenden nicht möglich war, alle Maschinisten zum Ausstand zu bewegen. Diese Arbeitergruppe hatte schon über Jahre überwiegend Abstand von der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung gehalten. Viele Maschinisten, die täglich isoliert von anderen Arbeitergruppen im Halbdunkel des Maschinenraums arbeiteten, betrachteten sich eher als Kapitäne und Vertrauensmänner der Unternehmer. Die verbliebenen Maschinisten hielten die Beförderung im Hafengebiet jedenfalls notdürftig aufrecht. Die behördlichen Repressalien gegen die Streikenden verschärften sich weiter. Die Zahl der Festnahmen, Strafanzeigen und Strafbefehle gegen Streikende stieg sprunghaft an. Streikgelder wurden beschlagnahmt. Die Behörden verhängten Mitte Januar über das gesamte Hafengebiet den Kleinen Belagerungszustand, sodass es von den Streikenden nicht mehr betreten werden durfte.
Weil die Hafenarbeiter Mitte Januar 1897 trotz der mittlerweile mehr als sieben Streikwochen nicht zur Aufgabe bereit waren, begann innerhalb des Unternehmerlagers der Widerstand gegen die harte Linie zuzunehmen. Insbesondere die Reeder und die Exportkaufleute drängten auf eine Änderung der Marschroute. Sie befürchteten, dass ein für die nächsten Tage erwarteter Wetterumschwung zu einem erheblich gesteigerten Bedarf nach Be- und Entladungen neu ankommender Schiffe führen würde. Das hätte die Gewichte wieder zugunsten der Streikenden verschoben. Ein Ende des Streiks sei nach Einsetzen des Tauwetters kaum absehbar, die finanziellen Verluste drohten ins Uferlose zu wachsen. Der Arbeitgeberverband Hamburg-Altona schlug darum dem Senat – nicht den Streikenden – vor, dauerhaft einen behördlichen Hafeninspektor einzusetzen. Er solle künftig die Verhältnisse im Hafen überwachen und – wo nötig – mit Unternehmern und Arbeitern gemeinsam Verbesserungen herbeiführen. Bevor dies geschehe, sei die Wiederaufnahme der Arbeit allerdings Pflicht. Der Senat äußerte sich nicht zu dieser Initiative, wohl aber die Streikleitung. Es missfiel ihr zwar, dass erneut keine Garantien zur Wiedereinstellung, zum Verzicht auf Maßregelungen und zur Berücksichtigung ihrer Klagen und Beschwerden gegeben wurden, sie wollte die Verständigungschance aber nicht verstreichen lassen. Weil direkte Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern jedoch in den Augen der letzteren ein Tabu blieben, trafen sich die gesprächsbereiten Kreise am 16. Januar 1897 in der Hamburger Börse. Die Ausgangslage für einen Kompromiss war verbessert, denn die Unternehmer hatten indirekt Verhandlungen mit Delegierten der Streikenden zugestimmt, zudem war der Ruf nach einem Hafeninspektor eine alte Forderung der Gewerkschaften. Die Vertreter der Streikenden pochten jedoch auf verbindliche Zusagen dafür, dass ihre seit Wochen vorgetragenen Forderungen nach dem Ende des Streiks tatsächlich umgesetzt werden würden. Für die Beilegung der Konfliktpunkte schlugen sie ein schrittweises und zeitintensives Verfahren vor. Trotz der gegensätzlichen Vorstellung über Bedingungen, Verfahren und Inhalte der Verhandlungen schien mit diesen direkten Kontakten ein schiedliches Ende des Konflikts in Reichweite zu sein.
Ende des Streiks
Eine unvermutete Solidaritätserklärung von dritter Seite sorgte jedoch für eine erneute Verhärtung der Fronten und schließlich zum Scheitern der Einigungsinitiative, die am 16. Januar 1897 in der Börse in Angriff genommen worden war. Liberale Politiker und Hochschulprofessoren appellierten an die deutsche Bevölkerung, die Hamburger Hafenarbeiter zu unterstützen, sie erblickten in den Forderungen der Unternehmer die inakzeptable Absicht, die Gegenseite zur bedingungslosen Unterwerfung zu zwingen. Zu den Unterzeichnern des „Professorenaufrufs“ gehörten unter anderem Friedrich Naumann, Otto Baumgarten, Heinrich Herkner, Ignaz Jastrow, Johannes Lehmann-Hohenberg, Moritz von Egidy und Ferdinand Tönnies. Der Aufruf erbrachte zwar etwa 40.000 Mark an Spenden, die Unternehmer erbitterte diese Intervention jedoch ungemein, sodass innerhalb ihres Verbands nun die Hardliner wieder die Oberhand gewannen. Die Unternehmer lehnten darum am 21. Januar 1897 das von den Streikvertretern vorgeschlagene Verfahren der Konfliktbeilegung ab. Polizeidirektor Roscher betrachtete die Intervention der Professoren als einen „plumpen taktischen Fehler“, denn sie sei „im ungeeignetsten Moment“ gekommen. Die Streikleitung ihrerseits gab angesichts dieser Verhärtung im Unternehmerlager ihre Forderung nach Wiedereinstellung aller Streikenden auf. Dieses Entgegenkommen blieb aber wirkungslos, denn die Unternehmer antworteten nicht mehr auf Gesprächsgesuche.
Das Wetter sorgte für eine weitere, erhebliche Schwächung der Streikenden, denn das erwartete Tauwetter blieb aus. Der anhaltende Frost wirkte nun in der von der Streikleitung vorhergesehenen Weise: Die Zahl der zu versorgenden Schiffe blieb weiter klein. Die Zahl der Arbeitslosen stieg, was dem Spendenaufkommen abträglich war – am 26. Januar musste das Streikgeld um 3 Mark gekürzt werden. Durch die Einstellung des Schiffsverkehrs auf der Oberelbe konnten befähigte Arbeitskräfte für die Arbeit im Hamburger Hafen mobilisiert werden. Die lange Streikdauer verbesserte die Arbeitsleistung der Streikbrecher merklich, sie hatten sich mittlerweile eingearbeitet.
Ende Januar 1897 riet die Streikleitung darum zur bedingungslosen Einstellung des Arbeitskampfes. 72 Prozent der Stimmberechtigten lehnten diesen Vorschlag in einer Urabstimmung am 30. Januar 1897 ab. Erst eine Woche später, als der Streik nach elf Wochen mit 16.960 Streikgeld-Empfängern seine größte Ausdehnung erreicht hatte, entschied sich die Mehrheit von 66 Prozent der Abstimmenden für die bedingungslose und sofortige Einstellung des Streiks.
Noch am Tag der Streikbeendigung kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, insbesondere in der Hamburger Neustadt. Streikbrecher hatten Revolverschüsse abgegeben und damit provoziert, dass sich Tausende am Schaarmarkt sammelten. Sie lieferten der anrückenden Polizei Straßenschlachten. Die Polizeikräfte löste die Menge mit Waffengewalt auf, die Zahl der bei diesen Auseinandersetzungen verletzten Personen wurde auf 150 geschätzt. Auch in den folgenden Tagen kam es zu ähnlichen Tumulten. Ein großer Teil der Streikbrecher verließ unter dem Eindruck dieser offenen Gewalt fluchtartig die Stadt. Das erhöhte für die Streikenden die Chancen auf Wiedereinstellung.
Ergebnisse und Folgen
Triumph der Unternehmer und Repressionen
Während die Arbeiter eine totale Niederlage zu verdauen hatten, triumphierten die Unternehmer öffentlich. Sie hielten sich zugute, der „internationalen Sozialdemokratie“ einen kräftigen Schlag versetzt und die gestellte „Machtfrage“ für sich entschieden zu haben. Mit der demonstrierten Unnachgiebigkeit habe man nicht allein der Hamburger Wirtschaft und Schifffahrt einen Dienst erwiesen, sondern dem ganzen deutschen Erwerbsleben. Die „bürgerliche Ordnung, auf der das Wohl und Wehe all’ unserer Mitbürger ruht“, habe man zu verteidigen gewusst.
Die Reaktionen der Unternehmer beschränkten sich nicht allein auf publizistische Überhöhungen. Die Streikenden erfuhren das, was viele von ihnen befürchtet hatten. Sie wurden nur in seltenen Fällen wieder eingestellt. Viele Unternehmer forderten eine schriftliche Erklärung, mit den Streikbrechern Frieden zu halten. Einige Baase ließen sich die Nachweise der Gewerkschaftsmitgliedschaft aushändigen und zerrissen sie. Viele Arbeiter mussten geringere Löhne als vor dem Streik akzeptieren. Auch der Staat kannte als Arbeitgeber kein Pardon. Zunächst wurde keiner, der von den Staatskaiarbeitern gestreikt hatte, wieder eingestellt. Später mussten Wiedereingestellte schlechter bezahlte Stellen als Hilfsarbeiter akzeptieren. Der Posten des Kaidirektors wurde nach Ende des Streiks mit einem ausgewiesenen Gegner der Sozialdemokratie besetzt.
Strafjustiz
Die Staatsanwaltschaft sorgte für gerichtliche Nachspiele. Mehr als 500 Streikende wurden angeklagt. Vorgeworfen wurden ihnen Bedrohung, Ehrverletzung, Misshandlungen oder Aufruhr. 126 der Angeklagten wurden bis Ende 1897 verurteilt. Die Gefängnisstrafen summierten sich auf über 28 Jahre. Hinzu kamen 227 Verurteilungen zu Geldstrafen.
Liberale und konservative Schlussfolgerungen
Liberale Politiker sahen durch den Streik und seinen Ausgang die Notwendigkeit bestärkt, Schiedsgerichte und Schlichtungsstellen verbindlich vorzuschreiben. Mit diesem Instrument ließe sich die Eskalation von Arbeitskämpfen vermeiden. Konservative erblickten in den Ereignissen dagegen eine Chiffre für einen bevorstehenden Umsturz. Vor diesem Hintergrund seien konsequente Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie notwendig. General Waldersee hielt die gewaltsame Auseinandersetzung des Staates mit den Kräften des Umsturzes für unausweichlich und riet dem Kaiser in einer Denkschrift, nicht zu warten, bis der Staat ernstlich bedroht war. Stattdessen sollte präventiv gegen die Sozialdemokratie losgeschlagen werden. Zumindest aber seien Gesetze zu erlassen, die die Organisation der Massen erschweren und Arbeiterführer massiv bedrohen würden. Wilhelm II. stimmte diesen Überlegungen zu und forderte seinerseits die Vernichtung der Sozialdemokratie. 1899 legte der Staatssekretär im Reichsamt des Innern dem Reichstag die sogenannte Zuchthausvorlage vor, die die Wirkungsmöglichkeiten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch massive Strafandrohungen einschränken sollte. Diese Gesetzesinitiative scheiterte jedoch an der Reichstagsmehrheit.
Gewerkschaftliche Organisation nach dem Streik
Die Streikführer betrachteten es als Defizit, dass Tausende von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitern über den Beginn bzw. das Ende des Streiks mitentscheiden durften. Wäre das Mitentscheidungsrecht an eine Gewerkschaftsmitgliedschaft geknüpft gewesen, hätte sich vielleicht ein günstigerer Ausgang des Streiks ergeben – so die Annahme. Die schlimmste Befürchtung der Streikführer, die zugleich die größte Hoffnung der Unternehmer war, trat jedoch nicht ein: Die Hafenarbeiter demoralisierte ihre Niederlage nicht, sie begannen stattdessen, massenhaft in die Gewerkschaft einzutreten. Ende 1897 wurden über 6700 Mitglieder gezählt. Die Schauerleute gaben zudem ihren Lokalismus auf und schlossen sich wieder dem Hafenarbeiterverband an. Die Neigung zu Streiks sank jedoch vor dem Hintergrund der Niederlage von 1897 merklich. Ferner zerschlugen die Repressionsmaßnahmen nach dem Ende des Streiks den gewerkschaftlichen Einfluss unter den Staatskaiarbeitern. Gegenläufig zum Trend sank in dieser Arbeitergruppe der Organisationsgrad erheblich.
Maßnahmen des Hamburger Senats
Der Hamburger Senat ließ sich nicht auf die scharfe Repressionspolitik ein, die Waldersee dem Kaiser angeraten hatte. Stattdessen bekräftigte er die Notwendigkeit einer schrittweisen Sozialreform. Bereits am 10. Februar 1897 wurden dazu erste Maßnahmen beschlossen. Der Senat berief eine Kommission, die die Verhältnisse im Hafen durchleuchten sollte. Diese Arbeitsgruppe widmete sich eingehend den Beschwerden der Arbeiter und ließ auch Stellungnahmen der Gewerkschaften zu, was nichts anderes bedeutete als ihre indirekte Anerkennung durch den Staat. Der vorgelegte Abschlussbericht schonte die Leser nicht, sondern wies deutlich auf die Missstände der Hafenarbeit hin. Ferdinand Tönnies bezeichnete den Abschlussbericht als nachträgliche Rechtfertigung für den Streik.
Die Arbeitgeber setzten einige – nicht alle – Anregungen der Untersuchung um. Löhne wurden fortan nicht mehr in den Kneipen ausgezahlt, sondern in Lohnbüros. Der Verein der Hamburger Reeder richtete einen zentralen Arbeitsnachweis ein, um auch hier die Abhängigkeit von Wirten und Zwischenunternehmern zu verringern. Die Tarife für den Fährverkehr im Hafen wurden verbilligt. Die Unternehmer stimmten auch dem Vorschlag zu, das Amt eines Hafeninspekteurs zu schaffen.
Zu den Folgen des Streiks gehörte ferner, die Sanierung des Gängeviertels in Angriff zu nehmen. Dieses Quartier galt nicht nur als Ort des Elends und des Lasters, sondern auch als Hort politischer Widersetzlichkeit. Die Sanierung zog sich allerdings über Jahrzehnte hin. Anfängliche sozialpolitische Überlegungen, die Wohnqualität für die ortsansässige Arbeiterbevölkerung zu steigern, spielten dabei rasch keine Rolle mehr, denn die wirtschaftlichen Interessen der Grundeigentümer, die in der Hamburger Bürgerschaft dominierten, setzten sich fast ungebrochen durch.
Arbeitsbedingungen, Arbeitslöhne, Arbeitswege
Die Forderung nach einer Beschränkung der Arbeitszeit war gegen die Unternehmer nicht durchsetzbar. Auch ließen sie es sich nicht nehmen, jederzeit Nachtarbeit anordnen zu können. Erst 1907 wurde Schichtarbeit eingeführt, überlange Arbeitszeiten von bis zu 72 Stunden gehörten mehr und mehr der Vergangenheit an. 1912 wurde ein Normalarbeitstag von neun Stunden festgelegt, in der Praxis wurde allerdings oft länger gearbeitet. Auch die körperlichen Anstrengungen und die Gefahr von Arbeitsunfällen und gesundheitlichen Dauerbeeinträchtigungen blieben ständige Begleiter der Hafenarbeit.
Die Löhne wurden nur in einigen Bereichen erhöht, nicht aber durchgängig. Vielfach kam es zu Lohnsenkungen. Nach 1898 stagnierten die Löhne bis 1905. Auch als sie danach anzogen, blieben sie hinter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten zurück.
Der Bau des Elbtunnels brachte 1911 eine Verkürzung des Arbeitswegs mit sich. Noch wichtiger war im selben Jahr die Gründung der Hamburger Hochbahn, die für körperliche Erleichterungen und erhebliche Zeitgewinne auf dem Weg zwischen den Wohnquartieren und den Arbeitsstätten an der Elbe sorgte.
Dauerbeschäftigungsverhältnisse und Tarifverträge
Der Hafenarbeiterstreik wurde wesentlich durch unstetig beschäftigte Arbeiter getragen. Die Unternehmer zogen daraus in den Jahren nach dem großen Streik den Schluss, dauerhafte Arbeitsplätze anzubieten, um sich auf diese Weise eine höhere Loyalität der Arbeitskräfte zu sichern und um die Identifikation der Arbeiter mit der Tätigkeit und dem Betrieb zu stärken. Zumindest aber wollten sie über solche Arbeitskräfte verfügen, die vor einem Streik länger zurückscheuten, weil der Verlust eines Dauerarbeitsplatzes ein deutlich höheres Risiko barg als der Verlust einer nur tageweisen Beschäftigung. Vorreiter dieser Entwicklung waren die Kohlenimporteure und die HAPAG sowie ab 1906 die Hafenunternehmen, die sich zum Hafenbetriebsverein zusammenschlossen und denen es gelang, fast die gesamte Arbeitsvermittlung im Hafen durch ihren Arbeitsnachweis unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Arbeitsnachweis wurde vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Bastion der Unternehmermacht im Hafenbetrieb und zum größten Arbeitsvermittlungssystem in Deutschland.
Dem Abschluss tarifvertraglicher Regelungen verweigerten sich die Unternehmer noch einige Zeit. Aber schließlich setzte auch hier ab 1898 schrittweise ein Umdenken ein. Die Macht der Gewerkschaften sei nicht zu übersehen, geschweige denn zu brechen. Statt eines gärenden Kleinkriegs sei ein Arbeitsfrieden auf kollektivvertraglicher Basis die bessere, weil stabilere und letztlich kostengünstigere Lösung. 1913 war das gesamte Hafengebiet tarifvertraglich erfasst.
Rezeption nach Ende des Streiks
Zeitgenössische Analysen
Die Härte des Arbeitskampfes hat schon Zeitgenossen veranlasst, umfangreichere Schriften zum Hafenarbeiterstreik zu verfassen. Dazu gehört die auf Polizeiakten beruhende amtliche Darstellung, die Gustav Roscher, wenig später Hamburgs Polizeipräsident, fertigte. Carl Legien schilderte die Vorgänge dagegen aus der Perspektive der Generalkommission.
Auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen wurden sofort nach Streikende vorgelegt. Dazu zählen die Arbeiten von Richard Ehrenberg und Ernst Francke sowie vor allem die Darstellungen des Begründers der deutschen Soziologie Ferdinand Tönnies.
Forschung
Mit deutlichem zeitlichen Abstand wurde der Streik zum Gegenstand einiger universitärer Abschlussarbeiten und Dissertationen.
Der Historiker Hans-Joachim Bieber hat zwei Studien zum Streik vorgelegt. Die erste stellt den Streikverlauf dar und arbeitet dabei die Reaktionen des Hamburger Senats heraus. Die zweite widmet sich in kompakter Form den Streikursachen, dem Streikverlauf und den Streikfolgen. Auch Michael Grüttner hat eine knappe Einzelstudie zum Hafenarbeiterstreik veröffentlicht. Der Historiker untersucht dabei die soziale Zusammensetzung der Hafenarbeiterschaft, ihre ökonomische Situation und ihr Organisations- und Streikverhalten, um die gewonnenen Erkenntnisse auf die Charakteristika des Streiks zu beziehen. Das Streikgeschehen wird in einer weiteren Untersuchung Grüttners, seiner Dissertation, eingebettet in die umfassende Betrachtung der Arbeits- und Lebensverhältnisse „an der Wasserkante“. Grüttner zeigt dabei, dass diese Verhältnisse zum einen Unterbeschäftigung und Armut erzeugten, zum anderen aber auch Freiheitsräume eröffneten, die über Jahre hartnäckig gegen die disziplinierenden Ansprüche industrieller Arbeit verteidigt wurden. Der Arbeitskampf von 1896/97 ist nach Grüttner nur ein Glied in einer langen Kette von Konflikten zwischen Hafenarbeitern und Unternehmern um Arbeitsbedingungen und Machtverhältnisse im Hafen. Die Studie macht zudem auf die ausgeprägte Konfliktfähigkeit der Hamburger Hafenunternehmer aufmerksam. Ihnen gelang es, bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges alle zentralen Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden, ohne damit aber endgültig alle Streikbewegungen und freigewerkschaftlichen Gegenmacht-Bestrebungen unterbinden zu können.
Fiktonalisierungen
Georg Asmussen, lange Zeit Ingenieur bei Blohm + Voss, baute den Streik in seinen 1905 erschienenen Roman Stürme ein, in dem insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Streikenden und Streikbrechern thematisiert wird. Der Protagonist Hans Thordsen, selbst auf Seiten der Streikenden tätig, kritisiert vor allem, dass das Solidaritätsprinzip von wenig arbeitswilligen Drohnen ausgenutzt und missbraucht werde.
Eine andere Vermittlungs- und Deutungsform dieses Arbeitskampfes wählte der Regisseur Werner Hochbaum. Er drehte 1929 in Hamburg den Stummfilm Brüder, der die Ereignisse von 1896/97 in Erinnerung rufen wollte.
Anhang
Literatur
Quellen und Literatur zum Streik
Hans-Joachim Bieber: Der Streik der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97 und die Haltung des Senats. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Jg. 64 (1978), S. 91–148. Digitalisat
Hans-Joachim Bieber: Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97. Landeszentrale für Politische Bildung, Hamburg 1987 (Nachdruck aus Arno Herzig, Dieter Langewiesche, Arnold Sywottek (Hrsg.): Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Verl. Erziehung u. Wissenschaft, Hamburg 1983, ISBN 3-8103-0807-2).
Richard Ehrenberg: Der Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97. Jena 1897.
Michael Grüttner: Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97. In: Klaus Tenfelde und Heinrich Volkmann (Hrsg.): Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. C.H.Beck, München 1981, S. 143–161, ISBN 3-406-08130-4.
Michael Grüttner: „Alle Reeder stehen still ... “ Dokumente zum Hamburger Hafenarbeiterstreik. In: Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1984, Bd. 3, S. 869–887.
Carl Legien: Der Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-Altona. Darstellung der Ursachen und des Verlaufs des Streiks, sowie der Arbeits- und Lohnverhältnisse der im Hafenverkehr beschäftigten Arbeiter. Verlag der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Hamburg 1897. ()
Hannelore Rilke: Arbeitskampf und öffentliche Meinung. Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97 aus bürgerlich-liberaler Sicht. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg, Hamburg 1979.
Johannes Martin Schupp: Die sozialen Verhältnisse im Hamburger Hafen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen philosophischen Fakultät der Königlichen Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 1908.
Udo Achten, Bernt Kamin-Seggewies. Curt Legien: Kraftproben. Die Kämpfe der Beschäftigten gegen die Liberalisierung der Hafenarbeit. „Der Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-Altona“ von 1896/97. VSA, Hamburg 2007 ISBN 978-3-89965-263-5.
Ferdinand Tönnies: Schriften zum Hamburger Hafenarbeiterstreik. Hrsg. von Rolf Fechner, Profil, München 2011, ISBN 978-3-89019-660-2.
Weiterführende Literatur
Michael Grüttner: Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886–1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 63). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, ISBN 3-525-35722-2.
Dieter Schneider: … damit das Elend ein Ende hat. Hundert Jahre Zentralorganisation der Hafenarbeiter. Verlagsanstalt Courier GmbH, Stuttgart 1990.
Einzelnachweise
Weblinks
Hamburger Hafenarbeiterstreik, Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 21. November 2021 von Historiker Bernd Ulrich
Bernhard Röhl: „Ditmal strikt wi för wat anneres“ – Artikel in der tageszeitung vom 11. März 2002 über den Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97
Streik im Deutschen Kaiserreich
Hafenarbeiterstreik 1896
Hafenarbeiterstreik 1896
Konflikt 1896
Konflikt 1897 |
360102 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mike%20Hawthorn | Mike Hawthorn | John Michael „Mike“ Hawthorn (* 10. April 1929 in Mexborough, Yorkshire; † 22. Januar 1959 bei Guildford) war ein englischer Autorennfahrer, Le-Mans-Sieger und Formel-1-Weltmeister des Jahres 1958. Zu seinem Auftreten gehörte, dass er auch im Rennwagen stets Fliege oder Krawatte und ein weißes Hemd trug.
Biografie
Jugend
Mike Hawthorn wurde in Mexborough, einer kleinen Industriestadt in der Nähe von Doncaster in Yorkshire, geboren.
1931 zog die Familie in den Süden Englands nach Farnham. Dort eröffnete Hawthorns Vater, Leslie Hawthorn, eine Kraftfahrzeug-Reparatur- und Verkaufswerkstatt, die als „The Tourist Trophy Garage“ firmierte. Eine saubere Begriffstrennung gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, da Werksverträge mit Motorrad- oder Automobilfirmen nur vereinzelt gegeben waren. Auf die üblichen Reparaturarbeiten aller Fabrikate konnte man angesichts der damaligen Typenvielfalt nicht verzichten. Besitzer von JAP-Motoren und Riley-Sportwagen waren somit ein angestrebter Kundenkreis des Vaters, der sein Geschäft daher nach dem renommierten „Tourist Trophy“-Rennen auf der Isle of Man benannt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt kränkelte Mike Hawthorn häufig. Es stellte sich heraus, dass er an einer Nierenkrankheit litt, was ihn wohl ständig behindern würde. An eine Mechanikerausbildung im Betrieb des Vaters nach Abschluss der Volksschule war daher nicht zu denken. Rheuma und Arthrose galten bereits damals als die typischen Berufskrankheiten infolge zugiger Werkstatthallen. Die besorgten Eltern dachten daher wahrscheinlich oft an die Zukunft ihres einzigen Sohnes, der rasch von der allgemeinen Motorsportbegeisterung jener Ära „angesteckt“ wurde. So beeilten sich Winnifred und Leslie Hawthorn, ihn nach Möglichkeit zu unterstützen. Denn in seiner Tuningwerkstatt südwestlich von London präparierte der Vater Sportwagen für Renneinsätze oder verkaufte sie an Privatiers. Außerdem versuchte sich Leslie bei Motorradrennen auf dem nahen Brooklands-Kurs. Die Vorbedingungen für eine erfolgversprechende Rennsportkarriere waren vor diesem Hintergrund gelegt. Ein 2009 herausgegebenes Buch, Tales from the Toolbox: A Collection of Behind the Scenes Tales from Grand Prix Mechanics, betonte den wichtigen Aspekt des Einflusses des Umfeldes von Kfz-Werkstätten auf eine ganze Generation von Rennfahrern.
Der Einstieg in den Rennsport
Als Mike Hawthorn 21 Jahre alt war, stellte der Vater ihm einen Riley-Sportwagen für Rennen zur Verfügung. Außerdem arbeitete der Vater als Teammanager seines Sohnes. Sein eigentliches Renndebüt feierte Hawthorn am 2. September 1950, als er mit einem 1934er Riley Ulster Imp, KV 9475, in der 1100-cm³-Klasse bei den Brighton Speed Trials gewinnen konnte. Bereits 1951 trug der jüngere Hawthorn Rennduelle mit den anderen aufstrebenden Talenten des Vereinigten Königreichs aus: Peter Collins und Stirling Moss. So gewann er in diesem Jahr mit seinem Wagen auf dem Goodwood Circuit die Motor Sport Brooklands Memorial Trophy, die sich über das gesamte Jahr erstreckte. Darüber hinaus entschied er 1951 das Ulster Trophy Handicap auf dem Dundrod Circuit und die Leinster Trophy in Wicklow für sich.
Dadurch ermutigt entschloss sich Bob Chase, ein väterlicher und vermögender Freund der Familie, den fortan „Farnham-Flyer“ genannten Mike Hawthorn mit einem Cooper-Bristol für Formel-2-Rennen zu melden.
Ohne Umwege in die Formel 1
Da durch den Rückzug Alfa Romeos ein zu kleines Fahrerfeld befürchtet wurde, hatten die Verantwortlichen in jenem Jahr das Formel-1-Reglement bis zum Ende der Formel-1-Saison 1953 nach demjenigen der Formel 2 ausgeschrieben. Dies sollte möglichst viele Teams ermutigen, in die Weltmeisterschaftskonkurrenz einzutreten.
Gegen den Ferrari 500, der zu den handlichsten Rennwagen aller Zeiten gezählt wird, kämpften alle anderen Teams mit unterlegenem Material, da ihnen in der Regel 30 PS auf die Konkurrenz aus Maranello fehlten. Achtungserfolge konnten nur bei schwierigen Wetterbedingungen von Fahrern erzielt werden, die ein robustes und gut zu beherrschendes Fahrzeug zur Verfügung hatten. Schließlich gewann der Ferrari 500 vierzehn von 15 möglichen Rennen und benötigte keine besonderen Verbesserungen in den zwei Weltmeisterschaftsjahren, in denen er eingesetzt wurde. Lediglich eine leicht verlängerte Version mit veränderter Fahrzeugnase wurde für Hochgeschwindigkeitskurse vorgestellt.
So war Mike Hawthorn mit seinem Cooper T20 dann auch der aufstrebende Fahrer der Saison 1952: Er erkämpfte sich einen vierten Rang beim Grand Prix in Spa-Francorchamps und einen dritten Platz beim Grand Prix von Großbritannien in Silverstone sowie einen weiteren vierten Rang beim GP der Niederlande in Zandvoort. Damit rangierte er im Endklassement als bester Pilot, der keinen Ferrari steuerte, auf dem vierten Platz. Dies verschaffte ihm schon während der Saison den Respekt Enzo Ferraris.
Der Wechsel zu Ferrari
Auf Empfehlung des motorsportbegeisterten Industriellen und späteren Teamchefs Tony Vandervell lud Enzo Ferrari den jungen Briten nach Modena ein. Dieser erschien mitsamt seinem Vater und einem Cooper-Bristol in Italien, um beide Modelle miteinander vergleichen zu können.
Aus dem Verständnis des „Commendatore“ heraus ging es jedoch nicht um einen Test des Ferraris, sondern den des Piloten. Daher verwies er ihn sichtlich verstimmt darauf, dass er den Cooper gerne weiterhin fahren könne, wenn es seinem Glauben nach das bessere Auto sei. Doch angesichts der guten Fahrleistungen Hawthorns konnte Enzo Ferrari seinen Ärger schnell vergessen. Hawthorn seinerseits war begeistert von dem Tipo 500 und beteuerte, dass er diesen Ferrari unbedingt fahren möchte.
Am nächsten Tag sollte in Modena ein außerhalb der Weltmeisterschaft stattfindender Grand Prix abgehalten werden. Daher plante man den Start Hawthorns mit einem untypischerweise in „British Racing Green“ lackierten Ferrari beim dortigen Training. Aus welchen Gründen auch immer – der grüne Ferrari wurde nicht fertig, sodass Hawthorn mit seinem Cooper am Rennen teilnahm. Dabei beging er allerdings den Fehler, unbedingt an die Rundenzeiten der Ferraris anknüpfen zu wollen. Mike Hawthorn wählte nach einer langen Geraden allzu optimistisch den Bremspunkt nach dem Tipo-500-Maßstab, sodass er mit 130 km/h in die Strohballen prallte und aus dem Monoposto geschleudert wurde. Mit schweren Rückenprellungen lieferte man ihn ins nächste Hospital ein. Dort verkündete ihm der Teammanager Ferraris, dass sich der „Chef“ freuen würde, wenn er für sie fahren könne.
Hawthorn, der lieber einen englischen Wagen pilotieren wollte (laut eigenem Bekunden in seiner Autobiografie), erbat sich zunächst Bedenkzeit. Da es keine bessere Alternative gab, unterzeichnete er jedoch.
Anstatt sich über diesen Aufstieg in das schon damals beste Team zu freuen, startete die britische Boulevard-Presse eine fast beispiellose Hetzkampagne. Man prangerte Hawthorn geradezu als Vaterlandsverräter an, der mit seinem Wechsel nach Italien seinem Militärdienst entgehen wolle. Selbst dem englischen Unterhaus war Hawthorns Weg nach Italien eine kurze Debatte wert. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass er wegen seines chronischen Nierenleidens ohnehin vom Dienst an der Waffe freigestellt war. Doch der Anblick eines nach heutigen Begriffen zum Leistungssport fähigen, großgewachsenen Mannes, der vor Selbstbewusstsein nur so strotzte und keine äußeren Kennzeichen seines Leidens zeigte, war insbesondere für die rechte Presse Provokation genug. Lediglich ein Vorzeigen seiner medizinischen Atteste, die seine häufigen Nierenentzündungen belegten, brachte diese Kampagne zum Erliegen.
Mike Hawthorn, den daraufhin eine ihn selbst schützende Arroganz charakterisierte, beeilte sich, diese Irritationen vergessen zu machen. Schon bei seinem insgesamt neunten Formel-1-Grand-Prix schlug er beim GP von Frankreich 1953 in Reims nach einem erbitterten Windschatten-Duell über fast das ganze Rennen hinweg den großen Juan Manuel Fangio (Maserati). Erst in der letzten Kurve gelang Hawthorn das Überholmanöver, er bedankte sich damit bei seinem vierten Einsatz für das Vertrauen des Commendatore. Zwei dritte Plätze bei den Großen Preisen von Deutschland und der Schweiz, zwei vierte Ränge in Argentinien und den Niederlanden, sowie ein fünfter Platz in Silverstone ließen ihn erneut auf dem vierten Rang der Weltmeisterschaft landen.
Abgerundet wurde dieses Jahr durch den Gewinn der 1953 erstmals ausgetragenen Sportwagen-Weltmeisterschaft, bei der er mit soliden Rennergebnissen an der Seite Alberto Ascaris und Giuseppe Farinas einen der Grundsteine für den Erfolg gelegt hatte. Er siegte als Partner von Farina beim 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps.
Die Formel-1-Saison 1954 schien einen Erfolg versprechenden Weg zu nehmen, als er im März des Jahres beim Grand Prix von Syrakus auf Sizilien einen folgenschweren Unfall hatte: Als vor ihm Onofre Marimón mit seinem Maserati verunglückte und über die Piste kreiselte, entzündeten sich die damals als Streckenbegrenzung aufgestellten Heuballen durch den brennenden Treibstoff. Hawthorn raste unweigerlich in dieses Flammeninferno und wurde nur mit Mühe von seinem Teamkollegen José Froilán González, der ebenfalls Verbrennungen erlitt und mit dem havarierten Wagen kollidiert war, aus dem Monoposto gezogen.
Hawthorn lag nach dem Unfall mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades im Gesicht, an Armen und Oberschenkel zwei Monate lang in Rom und Mailand im Krankenhaus. Dem Veranstalter von Syrakus war dieser Vorfall offensichtlich so peinlich, dass er Hawthorn später eine 18-karätige Goldmedaille verlieh – in der heutigen Zeit ein undenkbares Eingeständnis der Sicherheitsmängel. Strohballen blieben bis in die 1960er-Jahre hinein bei vielen Autorennen und bis weit in die 1980er Jahre hinein auch bei Motorradrennen der Standard bei den Streckenbegrenzungen.
Gerade nach Farnham zurückgekehrt, verunglückte sein Vater Leslie Hawthorn tödlich auf der Rückfahrt von einem Rennen in Goodwood. Den Rest der Saison spulte der sichtlich betroffene Mike Hawthorn mehr als Pflichtprogramm ab, obwohl er beim letzten WM-Lauf in Spanien seinen zweiten Grand-Prix-Sieg erzielte. Dank weiterer sehr guter Platzierungen rangierte er nun auf dem Bronze-Rang der Konkurrenz, um bald darauf zur großen Enttäuschung der Ferrarileitung seinen Vertrag nicht zu verlängern.
Das Sportwagen-Intermezzo und Le Mans 1955
Nach einem einzigen Start bei dem jungen britischen Vanwall-Team überwarf er sich mit der Teamleitung und versuchte sein Glück bei den Sportwagenrennen. In dieser Klasse hatte er schon 1953 – allerdings mit einem Ferrari – das 12-Stunden-Rennen von Pescara gewonnen. Auch hier betonte er seine Nationalität und stieg sehr erfolgreich auf Jaguar um. Bald stand mit dem Sieg beim renommierten 12-Stunden-Rennen von Sebring ein vorzeigbares Ergebnis zu Buche.
Die nächste Herausforderung sollte das 24-Stunden-Rennen von Le Mans sein, die Krone aller Sportwagenrennen. Doch Hawthorn stand sich in jenem Jahr geradezu selbst im Weg. Um die folgenden Ereignisse nachvollziehen zu können, muss man vielleicht auch sein Weltkriegs-Trauma berücksichtigen. Als Jugendlicher hatte er die Bombardierung Londons und die Luftschlacht um England hautnah miterlebt. Er verabscheute daher alles, was irgendwie mit Deutschland zu tun hatte. Dazu gehörten seinem Verständnis nach die damals fast unschlagbaren Rennwagen von Mercedes-Benz.
Mit seinem Jaguar D-Type lieferte er sich am 11. Juni 1955 daraufhin eine erbitterte Privatfehde mit den Mercedes-Benz 300 SLR des Fahrerfeldes, allen voran mit Fangio, der als Starpilot des deutschen Teams galt. Vom Start weg schlugen beide ein überzogenes Renntempo an, das mehr einer GP-Distanz als einem Ausdauerrennen entsprach, so dass sie selbst nach zwei Stunden kaum mehr als zwei Wagenlängen voneinander entfernt lagen.
Am Ende der 35. Runde, etwa gegen 18:20 Uhr, schloss Hawthorn rasch auf die zur Überrundung anstehenden Wagen Pierre Leveghs (Mercedes-Benz) und Lance Macklins (Austin-Healey) auf und wollte sie auf der Zielgeraden in einem Zug überholen, da ihm Fangio buchstäblich im Nacken saß. Er war schon an ihnen vorbei, als er wohl bemerkte, dass ihm das Benzin nicht mehr für eine weitere Runde reichte. So ließ er sich zu einer impulsiven Handlung hinreißen und schoss vor den beiden Wagen quer über die Piste, um für einen Tankstopp noch die Boxen, die damals noch nicht baulich von der Rennstrecke getrennt waren, schnellstmöglich zu erreichen. Trotz einer Vollbremsung kam er erst 80 m hinter seiner Boxenmannschaft zum Stehen, was den Unsinn seines Fahrmanövers veranschaulicht. Doch hinter sich hatte er ein Drama ausgelöst: Macklin konnte zwar seinen Wagen mit einem ebenso waghalsigen Manöver noch aus der Schusslinie herausbugsieren, doch dem alten Routinier Levegh hatte er seinerseits den sprichwörtlichen „Raum zum Überleben“ genommen. Dessen Wagen kollidierte bei 240 km/h mit dem Heck des Austins, wurde auf den Begrenzungswall vor den Zuschauern katapultiert, überschlug sich und fing Feuer. Reifen, Kotflügel und andere Fahrzeug- und Motorteile schleuderten viele Meter weit bis in die Zuschauertribüne. Neben dem Fahrer kamen 83 Zuschauer ums Leben – dies war der schwerste Unfall aller Zeiten im Motorsport. Levegh hatte Fangio mit einem Handzeichen gerade noch warnen können, sonst wäre auch dieser verunglückt.
Die Rennleitung brach das Rennen nicht ab, eine heute kaum nachvollziehbare Entscheidung. Levegh wurde von der Rennleitung – im Gegensatz zur Auffassung der anwesenden Journalisten, der Fachpresse und des Publikums – zum „Sündenbock“ erklärt, was selbst von der englischen Öffentlichkeit anders gesehen wurde. Später begründete man die Fortsetzung des Rennens damit, dass bei einem Abbruch die wegströmenden Zuschauermassen die Zufahrtswege und die Rettungswagen blockiert hätten.
Die Mercedes-Benz-Rennleitung zog nach dem Unfall ihre Rennwagen aus dem weiterlaufenden Wettbewerb ab. Diese Entscheidung, sich nach Ende der Rennsaison 1955 auf die Serienentwicklung zu konzentrieren, hatte der Vorstand jedoch bereits im Frühjahr, also vor dem Le-Mans-Unfall, getroffen.
Doch ausgerechnet der Verursacher Hawthorn blieb im Rennen und gewann es dank nun mangelnder Konkurrenz. Während der Ehrenrunde und der Siegerehrung lächelte er, was durch Fotos bezeugt ist. Daraufhin baute ihn insbesondere die deutsche Presse zur Hassfigur auf. Aber selbst in der Heimat vergaß man seine grob fahrlässige Kurzschlussreaktion nie. In seiner kurz vor seinem Tod erschienenen Biografie äußerte er sich distanziert über diesen Unfall und ohne Mitgefühl für die Opfer.
Wiedereinstieg in die Formel 1 und letzter Triumph
Die Formel-1-Saison 1956 mit einem unzuverlässigen B.R.M. war die sportlich schwächste Phase seiner Laufbahn. Ein einziges Mal konnte er sich mit diesem Wagen in Silverstone für den dritten Startplatz qualifizieren, musste jedoch später mit technischen Problemen aufgeben. Lediglich mit einem Maserati eines Privatteams fuhr er zu Beginn der Saison in Argentinien als Dritter ins Ziel. Als er es in Spa erneut mit einem Maserati versuchte, scheiterte er bereits beim Training infolge seiner Formschwankungen. Ein einzelner Versuch auf einem Vanwall in Reims brachte nach einem sechsten Startplatz nur den zehnten Rang. Seine Bemühungen, wieder zur früheren Form zu finden, drückten sich im unsteten Wechsel zwischen den Fabrikaten aus. Aus seiner Sicht lag der Tiefpunkt seiner Karriere allein im Material begründet.
Bei den 12-Stunden-von-Oulton Park leistete er sich mit einem Lotus einen ähnlichen Fahrfehler wie im Vorjahr in Le Mans. Dennoch stellte Ferrari ihn zur Formel-1-Saison 1957 wieder ein und Hawthorn erzielte weitere gute Platzierungen, sodass er am Ende des Jahres zum wiederholten Mal Platz vier im Schlussklassement erreichte. Das folgende Jahr, 1958, schien für Ferrari schwierig zu werden, da die Wagen noch mit Frontmotoren fuhren. Die Cooper-Climax mit Mittelmotor waren überlegen und auch Vanwall drängte mit den beiden Spitzenpiloten Stirling Moss und Tony Brooks mit aller Macht nach vorne. Chefkonstrukteur Carlo Chiti von Ferrari bevorzugte ihn indirekt, indem er im Zusammenspiel mit Reifenhersteller Dunlop ihm als einzigem der Werksfahrer Scheibenbremsen statt Trommelbremsen montieren ließ.
Die Vanwalls des Industriellen Tony Vandervell waren äußerst schnell, aber auch kapriziös und defektanfällig. Moss und Brooks errangen zwar je drei Siege, konnten aber sonst kaum Punkte erzielen. Dagegen fuhr Hawthorn äußerst zuverlässig. Mit nur einem Sieg in Reims, fünf zweiten Plätzen und drei schnellsten Rennrunden (für die es damals auch Sonderpunkte gab) sowie dank der Fairness seines ärgsten Kontrahenten Moss und des Verzichts seines neuen Teamkollegen Phil Hill entschied er die Weltmeisterschaft mit 41 zu 40 Punkten für sich. Moss hatte ihm in Porto beim Großen Preis von Portugal beim Vorbeifahren den Tipp gegeben, seinen Wagen nach einem Dreher umgekehrt zur Fahrrichtung bergab neben der Strecke wieder zum Laufen zu bringen, um mit dem zweiten Platz wichtige Punkte zu gewinnen. Als die Stewards Hawthorn daraufhin disqualifizieren wollten, brachte Moss sie davon ab. Er gab an, Mike Hawthorn hätte niemanden gefährdet und schließlich sei er – im Gegensatz zu den Verantwortlichen – vor Ort gewesen. Legendär wurde auch der letzte Punkt, den Hawthorn nur mit seiner schnellsten Rennrunde erzielen konnte. Moss wirkte dem nicht entgegen, da er ein Boxensignal beim Großen Preis von Marokko falsch interpretierte.
Hawthorn war nach den Italienern Farina und Ascari sowie dem Argentinier Fangio der erste britische Formel-1-Weltmeister und der erste Fahrer, der den Titel mit nur einem Sieg gewann. Erst Keke Rosberg wurde 1982 dank seiner Beständigkeit ebenfalls mit nur einem Sieg Weltmeister. Hawthorn verlor durch Rennunfälle seine beiden letzten Freunde im Fahrerlager: Luigi Musso und Peter Collins. Möglicherweise war das der Grund dafür, dass er zum Jahresende 1958 seinen Rücktritt vom Rennsport erklärte.
Lange Zeit galt Hawthorn als ausgesprochener Partylöwe und „prankster“ (Scherzbold), der sowohl bei schönen Frauen als auch bei einem guten Tropfen Alkohol zum Schreck seines Teams selbst vor Renntagen nicht „nein“ sagen konnte. Zur Enttäuschung seiner Fans notierte er jedoch in seiner Autobiographie keine einzige Episode jener Zeit. Diese sind lediglich durch Anekdoten und Fotografien wie bei der Hochzeit seines Kollegen Moss dokumentiert. Erst spät fand sein Biograph Belege dafür, dass ein unehelicher Sohn aus einer Verbindung mit einer Französin 1954 existiert. Enzo Ferrari erblickte in diesen Eskapaden den eigentlichen Grund für die schwankende Fitness seines Fahrers, der in seiner letzten Saison oft aufgedunsen wirkte.
Der tödliche Unfall
Am Abend des 22. Januar 1959 lief Hawthorn bei starkem Regen mit seinem Jaguar Mark I auf der Umgehungslandstraße bei Guildford auf einen Mercedes-Benz 300 SL auf und überholte ihn spontan. Beim Überholvorgang erkannte er in dem Fahrer einen Bekannten, den schottischen Rennstallbesitzer Rob Walker, den er zu einem Wettrennen herausforderte. Walker wollte nicht zurückstecken, musste jedoch bald die Überlegenheit Hawthorns anerkennen. Kurz darauf verlor Hawthorn in einer langgezogenen Linkskurve bei starkem Seitenwind und Aquaplaning angesichts eines entgegenkommenden Lkw die Gewalt über seinen Wagen, prallte gegen eine Eiche und starb an seinen schweren Kopfverletzungen. Die Obduktion wie auch die Ergebnisse einer Operation von 1954 ergaben den schwachen Trost für seine Angehörigen, dass er wegen seines Nierenleidens sowieso nur noch wenige Jahre zu leben gehabt hätte, und erklärten damit seine von der Fachwelt bis dahin registrierten Formschwankungen.
Viele Kritiker vergaßen, dass Hawthorn in seinen letzten Lebensjahren von seiner einst zur Schau getragenen Gefühlskälte abgelassen hatte und bei seinen Teamkollegen wie seinen Kontrahenten beliebt war, da er jedem mit Rat zur Seite stand. Dennoch galt er bei vielen Rennsport-Journalisten nach wie vor als der unbeliebteste Weltmeister. Mike Hawthorn war immerhin der erste Engländer, der nach dem Zweiten Weltkrieg einen regulären Grand-Prix-Sieg und einen Formel-1-Weltmeistertitel erringen konnte und damit eine lange Tradition englischer Dominanz im Motorsport begründete.
Statistik
Statistik in der Automobil-Weltmeisterschaft
Grand-Prix-Siege
(Reims)
(Barcelona)
(Reims)
Gesamtübersicht
Einzelergebnisse
1 Mike Hawthorn und José Froilán González teilten sich das Fahrzeug mit der Nr. 10. Hawthorn fuhr die ersten 20 Runden und übergab dann an González.
2 Mike Hawthorn begann das Rennen im Fahrzeug mit der Nr. 3, mit dem er ausfiel. Er übernahm anschließend das Fahrzeug Nr. 1 von José Froilán González.
3 Mike Hawthorn und Eugenio Castellotti teilten sich das Fahrzeug mit der Nr. 16. Hawthorn fuhr die ersten 60 Runden und übergab dann an Castellotti.
4 Mike Hawthorn und Harry Schell teilten sich das Fahrzeug mit der Nr. 24. Hawthorn fuhr die ersten 10 Runden und übergab dann an Schell.
5 Mike Hawthorn begann das Rennen im Fahrzeug mit der Nr. 28, mit dem er ausfiel. Er übernahm anschließend das Fahrzeug Nr. 24 von Wolfgang von Trips.
Le-Mans-Ergebnisse
Sebring-Ergebnisse
Einzelergebnisse in der Sportwagen-Weltmeisterschaft
Zitate
„Dieser große Blonde beunruhigte mich durch seine Launenhaftigkeit. Er konnte die schwierigsten Situationen kaltblütig meistern, nur um im nächsten Moment eine haarsträubende Dummheit zu begehen.“ (Enzo Ferrari)
Das Originalzitat: „Mike Hawthorn è stato un pilota sconcertante per le sue possibilità e la sua discontinuità. Un giovane capace di affrontare e risolvere qualunque situazione con un coraggio freddo e calcolato, con una prontezza eccezionale, ma incline anche a cadere vittima di paurosi cedimenti. ..“
„Er konnte sehr nett sein, wenn er dich mochte.“ (Phil Hill)
„After passing me (Mike) Hawthorn turned too sharply towards the right and braked, (…) I braked my car as hard as I could to avoid him. My wheels locked and I was carried towards the left. Levegh's car hit the back of my car. In an affair of this kind it is difficult to speak of responsibility. Hawthorn no doubt committed an error but the real responsibility was the speed of the cars. In the excitement of his struggle (with Levegh and Juan Manuel Fangio) Hawthorn executed a manouevre which astonished me and he left me no other alternative than to either run into him or turn to the left.“ (Lance Macklin gegenüber dem Untersuchungsgericht zum Le-Mans-Unfall)
Literatur
Derick Allsop: The British Racing Hero. Stanley Paul, London 1990. ISBN 0-09-174491-1.
Pino Casamassima: Die Geschichte der Scuderia Ferrari. Heel, Königswinter 1999. ISBN 3-89365-745-2.
Enzo Ferrari: Le mie gioie terribili. Cappelli Editore, Bologna ²1962.
Peter Gruner: Das Formel-1-Lexikon. ECON, Düsseldorf 1997. ISBN 3-612-26353-6.
Jörg-Thomas Födisch, Erich Kahnt: 50 Jahre Formel 1. Die Sieger. Heel, Königswinter 1999. ISBN 3-89365-615-4.
Mike Hawthorn: Challenge Me The Race. William Kimber, London 1958. (Autobiographie)
Mike Hawthorn: Champion year. My battle for the driver's world title. William Kimber, London 1959, Aston, Bourne End 1989. ISBN 0-946627-33-9.
Chris Nixon: Mon Ami Mate – The Bright Brief Lives of Mike Hawthorn & Peter Collins. Transport Bookman, Isleworth, 1991, ²1998. ISBN 0-85184-047-7.
Peter Scherer: 50 Years of British Grand Prix Drivers. TFM, Kemberton 1999. ISBN 0-9530052-8-3.
Achim Schlang: Die Formel-1-Asse unserer Zeit. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1984. ISBN 3-613-01035-6.
Weblinks
„The driver to lead the way to British dominance“ (engl. Würdigung seines Weltmeistertitels)
Ausführliche Beschreibung des Le-Mans-Unfalls mit zahlreichen Bilddokumenten (spanisch)
Mike Hawthorn bei motorsportmemorial.org (englisch)
On Board with Mike Hawthorn at Le Mans 1956 | D-type Jaguar Von Hawthorn live kommentierte Runde. Auf YouTube. Abgerufen am 23. November 2020. (englisch)
Einzelnachweise
Weltmeister (Formel 1)
Rennfahrer des 24-Stunden-Rennens von Le Mans
Sieger des 24-Stunden-Rennens von Le Mans
Formel-1-Rennfahrer (Vereinigtes Königreich)
Sportwagen-WM-Rennfahrer
Rennfahrer des 12-Stunden-Rennens von Sebring
Sieger des 12-Stunden-Rennens von Sebring
Unfallopfer (Straßenverkehr)
Brite
Geboren 1929
Gestorben 1959
Mann |
383170 | https://de.wikipedia.org/wiki/Operation%20Crossroads | Operation Crossroads | Die Operation Crossroads war die zweite Kernwaffentestoperation der Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Sie umfasste die beiden Nukleartests Able und Baker auf dem während des Pazifikkriegs von den Vereinigten Staaten eroberten Bikini-Atoll, jeder mit einem TNT-Äquivalent von 23 kT: Test Able war eine am 1. Juli 1946 von einer Boeing B-29 abgeworfene und in 158 Metern Höhe über der Lagune gezündete Mk.3-Plutonium-Implosionsbombe, baugleich mit der Fat Man, die über Nagasaki abgeworfen wurde. Test Baker am 25. Juli 1946 war eine Unterwasserzündung einer baugleichen Bombe in 27 Metern Wassertiefe. Ein dritter geplanter Test, Charlie, sollte am 1. März 1947 in noch größerer Tiefe stattfinden, wurde jedoch abgesagt.
An der Operation Crossroads waren insgesamt über 42.000 Soldaten, hauptsächlich Angehörige der United States Navy, und zivile Wissenschaftler beteiligt; darüber hinaus 149 Begleitschiffe und insgesamt 100 Zielschiffe sowie 156 Flugzeuge. Die beiden Kernwaffentests waren die ersten Tests, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfanden. Über einhundert Reporter waren anwesend, ebenso militärische und wissenschaftliche Beobachter aus aller Welt, unter anderem aus der Sowjetunion.
Ziel der Tests war die Erforschung der Auswirkungen von Kernwaffenexplosionen auf Schiffe und deren Einsatzfähigkeit, aber auch auf anderes militärisches Gerät wie Fahr- und Flugzeuge sowie militärische Ausrüstungsgegenstände, die auf den Schiffen den Tests ausgesetzt wurden. Auch eine größere Zahl von Versuchstieren wurde den Auswirkungen der Explosionen ausgesetzt, um die direkten, aber auch langfristigen Auswirkungen der Strahlungsexposition zu untersuchen. 15 Zielschiffe wurden durch die Explosionen versenkt (fünf beim Test Able, zehn bei Baker), die übrigen zum Teil sehr schwer beschädigt. Über 90 % der Zielschiffe wurden schwer radioaktiv kontaminiert, besonders durch den Baker-Test gelangen den begleitenden Wissenschaftlern umfangreiche Erkenntnisse über unmittelbar auftretenden, lokal stark konzentrierten radioaktiven Niederschlag. Die indigene Bevölkerung des Bikini-Atolls, 167 Mikronesier, wurden vor den Tests auf das bis dahin unbewohnte Atoll Rongerik umgesiedelt, wo sie vollständig auf externe Versorgung angewiesen waren. Durch die starke radioaktive Kontamination des Atolls und der Lagune, des Trinkwassers sowie der lokalen Flora und Fauna ist eine Rückkehr der Ureinwohner zum Bikini-Atoll bis heute unmöglich.
Der Chemiker Glenn T. Seaborg, langjähriger Vorsitzender der Atomic Energy Commission, nannte den Baker-Test „die erste nukleare Katastrophe“.
Vorgeschichte
Planungen
Noch während des Zweiten Weltkrieges gab es 1944 bei den Wissenschaftlern in Los Alamos Überlegungen, die japanische Flotte in ihren Hauptstützpunkten durch gezielte Nuklearwaffeneinsätze zu zerstören; nach der fast vollständigen Vernichtung der japanischen Flotte in der See- und Luftschlacht im Golf von Leyte wurden diese Überlegungen jedoch zunächst zurückgestellt. Nur wenige Wochen nach dem erfolgreichen Trinity-Test und kurz nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki brachte Senator Brien McMahon aus Connecticut in einer Rede am 25. August 1945 den Vorschlag ein, die verbleibenden japanischen Schiffe einer Nuklearwaffenexplosion auszusetzen, um damit die Wirksamkeit dieser Waffe auf Schiffe und Flotten zu untersuchen. Er griff damit einen Vorschlag auf, den Lewis Strauss in einem Brief an den Marinestaatssekretär James V. Forrestal gemacht hatte.
Lieutenant General Barney M. Giles, Mitglied des Stabes von General McArthur in Tokio, empfahl am 14. September 1945 die Zerstörung der japanischen Flotte durch einen Nukleartest, er berief sich dabei auf die Rede von Senator McMahon. Unterstützt wurde er hierbei von Major General Curtis E. LeMay.
Am 19. September fragte General Henry H. Arnold von den United States Army Air Forces bei der US Navy an, ob der Air Force zehn der 38 erbeuteten japanischen Schiffe für Waffentests zur Verfügung gestellt werden könnten. Diese Anfrage wurde von der Marine positiv beantwortet, da auch die US-Marine im Rahmen des Underwater Explosion Program des Bureau of Ships und des Bureau of Ordnance eine Untersuchung der Auswirkungen von Kernwaffenexplosionen auf Schiffe plante. Die US-Marine stellte ihre Pläne am 16. Oktober vor, Flottenadmiral Ernest J. King erläuterte in einer Pressekonferenz die Pläne eines Kernwaffentests, der 80 bis 100 Zielschiffe umfassen sollte und gemeinsam von Luftwaffe und Marine unter dem Kommando der Vereinigten Stabschefs durchgeführt werden sollte. Unter diesen Zielschiffen sollten sich auch moderne Schiffe der US-Marine befinden, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit einhergehenden Verkleinerung der Flotte zur Disposition standen. Ende August 1945 hatte der Marineminister vorgeschlagen, die US-Marine von ihrer Kriegsstärke von 1200 Schiffen auf 400 Schiffe und 8000 Flugzeuge zu verkleinern.
Streit um Zuständigkeiten
Am 31. Oktober 1945 beauftragte General Arnold die Joint Staff Planners, ein Planungskomitee der Vereinigten Stabschefs, mit der Ausarbeitung genauerer Pläne für den Kernwaffentest. Am 13. November berief dieser Planungsstab ein Subkomitee, bestehend aus General Curtis LeMay, General W. A. Borden, Colonel C. H. Bonesteel, Captain G. W. Anderson, Jr., Captain V. L. Pottle und Commodore W. S. Patterson. Dieses Subkomitee, das sich in den nächsten sechs Wochen mit wichtigen Fragen zu dem bevorstehenden Test befasste, wurde als „LeMay Subcommittee“ bezeichnet. Seine wichtigsten Aufgaben waren die Beantwortung der Frage, ob die Schiffe beim Test eine volle Ladung Munition und Treibstoff tragen sollten, und die Klärung des Oberkommandos über die aufzustellende gemeinsame Einsatzgruppe. Nach andauernden Streitigkeiten darüber, ob nun die US Army, die bereits am Manhattan-Projekt mitgearbeitet hatte, oder die US Navy, die bei dem Test einen Großteil des Materials und Personals zur Verfügung stellen würde, das Oberkommando erhalten sollten, ernannten die Vereinigten Stabschefs Vizeadmiral William H. P. Blandy am 11. Januar 1946 zum Kommandanten der Joint Task Force One. Der Kandidat der US Army, General Leslie R. Groves, konnte sich nicht durchsetzen. Zuvor hatten die Joint Chiefs of Staff am 28. Dezember 1945 den vom „LeMay Subcommittee“ ausgearbeiteten Plan für den Testablauf akzeptiert, der am 10. Januar 1946 auch von Präsident Harry S. Truman abgezeichnet wurde.
Unter dem Druck der Army war Admiral Blandy bereit, mehr Schiffe als ursprünglich geplant im Zentrum des Zielgebiets zu positionieren; General LeMays Forderung nach der vollen Munitionierung und Betankung der Zielschiffe lehnte er jedoch ab, da durch Folgeexplosionen und Brände mehr Schiffe versenkt werden könnten und so eine Evaluierung der Schäden, die durch die Explosion der Kernwaffe entstanden waren, erschwert würde. Blandys Vorschlag, die Ergebnisse des Tests von einer Kommission der US-Marine auswerten zu lassen, traf auf starken Widerstand von Seiten Senator McMahons und der Army; aus diesem Grund setzte Präsident Truman zur Auswertung der Testergebnisse eine Kommission aus zivilen Wissenschaftlern ein, auch um die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Auswertung objektiv erfolgte.
Leslie Groves stand dem Nukleartest und dessen öffentlicher Durchführung sehr kritisch bis ablehnend gegenüber. Er befürchtete eine Lockerung und Verletzung der bisher sehr strikt gehandhabten Geheimhaltung und arbeitete nur sehr widerstrebend mit der Joint Task Force One zusammen.
Widerstände gegen den Nukleartest
Widerstände gegen den geplanten Test regten sich vor allem von Seiten des diplomatischen Korps und verschiedenen Wissenschaftlern. Einige Wissenschaftler des Manhattan-Projekts, die sich vor dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki für einen öffentlichen Test als Demonstration anstelle des Einsatzes starkgemacht hatten, argumentierten nun, dass weitere Tests unnötig seien und eine Gefahr für die Umwelt darstellten. Eine Studie des Los Alamos National Laboratory warnte davor, dass das Wasser nahe einer Oberflächenexplosion „ein Hexenkessel von Radioaktivität“ sein würde. Als Admiral Blandy auf den Einwand einiger Wissenschaftler, dass die Auswirkungen der Nuklearexplosion auf die Seeleute nicht erforscht werden könnten, den Einsatz von Versuchstieren an Bord der Zielschiffe anordnete, erntete er heftige Kritik von Tierrechtlern und Tierschützern. Aus den gesamten Vereinigten Staaten trafen Beschwerdebriefe von Tierschutzorganisationen und Privatpersonen ein, auch im Ausland wurde zum Beispiel die US-Botschaft in London mit Protestschreiben überhäuft.
US-Außenminister James F. Byrnes, der noch ein Jahr zuvor gegenüber dem Physiker Leó Szilárd einen Nukleartest befürwortet hatte, um die Sowjetunion in Europa beeindrucken zu können, lehnte nun den Test ab, da er befürchtete, dass ein erneuter amerikanischer Nukleartest die Sowjetunion in ihrer ablehnenden Position gegenüber dem Acheson-Lilienthal-Plan bestärken könnte. Bei einer Kabinettssitzung am 22. März 1946 äußerte sich Byrnes dahingehend, dass es seiner Meinung nach am besten für die internationalen Beziehungen wäre, wenn der Test verschoben würde oder gar nicht stattfände. Byrnes konnte sich bei Truman durchsetzen, der den Test um sechs Wochen, vom 15. Mai auf den 1. Juli, verschob. Gegenüber der Öffentlichkeit wurde die Verschiebung damit begründet, dass in der sitzungsfreien Zeit mehr Abgeordnete den Tests beiwohnen könnten.
Auch wurde Kritik von Seiten einiger Kongressabgeordneter, insbesondere des Senators Scott W. Lucas, und von Veteranenverbänden laut, welche die Verschwendung von Steuergeldern befürchteten. Die bei der Operation Crossroads zum Einsatz kommenden Zielschiffe hatten bei ihrem Bau etwa 450 Millionen US-Dollar (inflationsbereinigt: 5.5 Milliarden, Stand 2016) gekostet, Admiral Blandy hielt dem entgegen, dass 90 % der Schiffe nicht mehr einsatzfähig und nur noch schrottreif wären; der Schrottwert der Zielflotte betrug etwa 3,7 Millionen US-Dollar. Zudem kamen Fragen auf, ob es nicht sinnvoller wäre, die Schiffe z. B. als Wohnschiffe für Veteranen umzubauen oder, im Fall der Schlachtschiffe, als Museumsschiffe zu erhalten.
Um seine Kritiker zu besänftigen, hielt Admiral Blandy am 21. Februar eine Rede, die in den folgenden drei Monaten mehrfach wiederholt wurde:
Radio Moskau beschuldigte die Vereinigten Staaten am 20. März, „die Atombombe für Zwecke zu schwingen, die wenig gemein haben mit Frieden und Sicherheit der Welt“. Die Prawda fragte eine Woche vor dem Test: „Warum müssen alle anderen Staaten blindes Vertrauen in die Absichten der USA zeigen, während die Vereinigten Staaten offensichtlich nicht nur ihren Partnern, sondern auch den internationalen Kontrollorganen misstrauen?“
Ziele des Tests
Hauptziel des Nukleartests war die Erforschung der Wirkung von Atombomben auf Kriegsschiffe, „um auf diese Weise für die nationale Verteidigung wertvolle Informationen zu erhalten.“ Die Zielschiffe wurden im Zentrum des Testgebietes in einer drei- bis fünfmal höheren Dichte angeordnet (etwa 7,7 Schiffe pro Quadratkilometer) als es während eines echten Flotteneinsatzes erfolgen würde. Das Ziel dieser Anordnung war nicht die Nachbildung einer echten, vor Anker liegenden Flotte, vielmehr sollte sie möglichst viele Messwerte liefern, um die Schäden an den Schiffen in Abhängigkeit von der Entfernung vom Explosionszentrum darzustellen.
Ein weiteres wichtiges Ziel des Tests war die Klärung der Frage, inwieweit es möglich wäre, Schiffe, die eine Nuklearexplosion überstanden hatten, zu bergen und wieder einsatzbereit zu machen. Wichtigster Aspekt hierbei war die Überwachung und Eindämmung der Radioaktivität an Bord der Schiffe.
An Bord der Zielschiffe wurden Waffen, Flugzeuge, Panzer, Radfahrzeuge, Ersatzteile und militärische Ausrüstungsgegenstände, Stoffe, Kleidung, Nahrungsmittel, medizinisches Material sowie Betriebs- und Schmierstoffe, aber auch elektrische und elektronische Geräte positioniert, um sie der Kernwaffenexplosion und ihrer Strahlungs- und Druckwirkung auszusetzen. Dabei sollte ihre Eignung und Überlebensfähigkeit in einer möglichen nuklearen Auseinandersetzung geprüft werden.
Beteiligte Schiffe
Die Joint Task Force One umfasste zwei große Teile – die Zielflotte, die der Wirkung der Nuklearwaffen ausgesetzt wurde, und die Unterstützungsflotte, die die Logistik sicherstellte und den Test überwachte.
Die Zielflotte umfasste 93 Schiffe. Darunter befanden sich vier ausgemusterte amerikanische Schlachtschiffe, zwei Flugzeugträger, zwei Kreuzer, elf Zerstörer, acht U-Boote, verschiedene Transport- und Landungsschiffe sowie zwei ehemalige japanische Schiffe, das Schlachtschiff Nagato und der Kreuzer Sakawa, und ein ehemaliges deutsches Schiff, die Prinz Eugen. Die Schiffe bildeten mit Baujahren zwischen 1912 und 1944 32 Jahre in der Entwicklung von Kriegsschiffen ab. Flaggschiff der Zielflotte, selbst aber nicht Ziel, war der schwere Kreuzer USS Fall River. Konteradmiral T. A. Solberg, Director of Ship Material, hatte die Aufgabe, die Zielschiffe in Vorbereitung für den Test absolut wasserdicht zu machen. Kriegsschiffe sind, gerade wenn sie genietet und nicht geschweißt wurden, nie hundertprozentig wasserdicht, das eindringende Wasser wird aber im Einsatzalltag durch Lenzpumpen entfernt. Da die Zielschiffe aber im Laufe der Tests teilweise wochenlang ohne Besatzung und mit abgeschalteten Pumpen vor Anker lägen, wurde besonders bei den japanischen Schiffen ein vorzeitiges Sinken befürchtet. Auch wurde großer Wert auf die Aufrechterhaltung der internen Wasserdichtigkeit gelegt, da vorzeitig geflutete wasserdichte Abteilungen die Beurteilung der Überlebensfähigkeit im Fall eines nuklearen Angriffs verfälschen könnten. Auf Deck der Zielschiffe wurden die Ausrüstungsgegenstände und Fahrzeuge der Army positioniert, um sie den Auswirkungen der Explosionen auszusetzen.
Die Unterstützungsflotte der Operation Crossroads bestand aus 149 Schiffen verschiedener Typen, die sich in fünf Task Groups mit verschiedenen Aufgaben gliederten. Das Flaggschiff der Flotte und der gesamten Operation war die USS Mount McKinley. Zur Unterstützungsflotte gehörten neben den beiden Flugzeugträgern USS Shangri-La und USS Saidor 15 Zerstörer sowie verschiedene Transport-, Bergungs-, Rettungs- und Landungsschiffe. Das Flaggschiff Mount McKinley und die Appalachian, die als „schwimmendes Pressezentrum“ dienen sollte, wurden für den Einsatz mit modernster Rundfunk- und Fernsehübertragungstechnik ausgestattet. Die Seeflugzeugtender USS Cumberland Sound und USS Albemarle wurden zu schwimmenden Labors für den Zusammenbau und die Wartung der Nuklearwaffen umgebaut. Sie waren damit 1946 die einzigen mobilen Lager- und Wartungseinrichtungen für Nuklearwaffen.
Vorbereitungen im Bikini-Atoll
Das Bikini-Atoll wurde für die Tests der Operation Crossroads ausgewählt, weil es den meisten der von den US-Streitkräften aufgestellten Forderungen entsprach: Es bot eine ausreichend große Lagune, um die Schiffe dort zu verankern, es war nahezu unbewohnt, es lag weit genug von Schifffahrtsrouten und anderen bewohnten Inseln entfernt, sein Klima war ohne große Extreme, die Wasserströmungen waren vorhersehbar und es befand sich unter amerikanischer Kontrolle. Lediglich die Forderung nach gleich bleibenden Winden von Meereshöhe bis hinauf in 18.000 Metern Höhe wurde nicht erfüllt, da auf dem Bikini-Atoll, wie auf den meisten tropischen Inseln, die Winde in niedriger Höhe mehrheitlich aus östlicher Richtung, in der Stratosphäre jedoch aus westlicher Richtung wehen.
Am 24. Januar 1946 erklärte Admiral Blandy, dass die beiden ersten Tests im Sommer 1946 im Inneren der Lagune stattfinden sollten, der dritte geplante Test sollte dann im Frühjahr 1947 westlich des Atolls in tiefem Wasser erfolgen. Da der erste Test ursprünglich am 15. Mai 1946 stattfinden sollte, begannen unmittelbar nach der Ankündigung die Vorbereitungen auf dem Atoll. Das Vermessungsschiff USS Sumner traf am 6. Februar in Bikini ein und fing an, eine Fahrrinne durch das die Lagune umgebende Riff zu sprengen. Insgesamt wurden über 100 Tonnen TNT verwendet, um die Fahrrinne zu verbreitern und Korallenbänke in der Lagune zu entfernen. Auch wurden fünf verbliebene japanische Seeminen im März durch Minenräumboote geräumt, nachdem der Hauptteil der Minen bereits im September und Oktober 1945 entfernt worden war.
Die USS Bowditch begann mit der genauen Vermessung und Kartierung des Atolls und der Lagune, da die bisher vorhandenen japanischen Karten zu ungenau waren. Zudem studierten Wissenschaftler, die unter anderem vom U. S. Geological Survey, dem Fish and Wildlife Service, von der Smithsonian Institution und der Woods Hole Oceanographic Institution zusammengerufen worden waren, die Flora und Fauna der Inseln und der Lagune. Über 20.000 Fische wurden gefangen und studiert, darunter befanden sich auch etliche bis dahin unbekannte Arten.
1000 Soldaten des 53rd Naval Construction Battalion, dessen erste Einheiten am 11. März auf Bikini eintrafen, begannen ab dem 20. März mit der Errichtung der benötigten Gebäude auf den Inseln. Neben zwölf 25 Meter hohen Stahlfachwerktürmen, die Kameras und wissenschaftliche Instrumente tragen sollten, wurden noch zahlreiche weitere kleine hölzerne Türme und diverse Hütten aus Holz und Stahl für die Unterbringung von Messinstrumenten errichtet. Sieben Pontonbrücken wurden gebaut, um die Inseln des Atolls miteinander zu verbinden. Es entstanden diverse Werkstätten, eine Meerwasserentsalzungsanlage und einer Wasserflugzeugrampe, aber auch Casinos für Offiziere und Wissenschaftler sowie eine Wurfscheibenschießanlage, ein Sportplatz und mehrere Basketball-, Baseball- und Volleyballfelder.
Zur Bekämpfung von Insekten auf den Inseln wurden die beiden Hauptinseln Bikini und Enyu mehrfach und die kleineren Inseln Aomoen und Eniirikku einmal großflächig mit Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) eingesprüht.
Umsiedlung der Bevölkerung
Nach der Auswahl des Bikini-Atolls als Testort befahl der Militärgouverneur der Marshall-Inseln, Commodore Ben H. Wyatt, die Umsiedlung der gesamten indigenen Bevölkerung des Atolls. Er reiste am 10. Februar 1946 persönlich per Wasserflugzeug von Kwajalein auf das Atoll, um die Einwohner zur freiwilligen, zeitweiligen Umsiedlung zu bewegen. Er verglich die Bikinianer in seiner Ansprache mit den „Kindern Israels, die der Herr vor ihren Feinden rettete und in das gelobte Land führte“. Der Häuptling, der sich selbst König Juda nannte, ergriff daraufhin das Wort und erklärte, dass sie bereit wären zu gehen und ihr Schicksal in Gottes Hand läge. Neun der elf Familienoberhäupter („alaps“) sprachen sich dabei für das unbewohnte Atoll Rongerik etwa 200 Kilometer östlich des Bikini-Atolls als neue Heimat aus. Am 25. Februar traf ein Panzerlandungsschiff im Bikini-Atoll ein, das ein Vorauskommando von 22 Bikinianern sowie 15 Seabees nach Rongerik brachte, wo am folgenden Tag ein ganzes Dorf errichtet wurde. Auch Vorräte für einen Monat sowie Trinkwasser wurden nach Rongerik gebracht. Nachdem das Treffen vom 10. Februar vor den Filmkameras der Marine wiederholt worden war, wurden die 161 Bewohner des Atolls am 7. März 1946 vom Panzerlandungsschiff USS LST-1108 zu ihrer neuen Heimat gebracht. Die Kirche des Bikini-Atolls wurde demontiert und auf Rongerik wieder aufgebaut, ebenso wurden die Auslegerkanus der Bewohner an Bord des Panzerlandungsschiffs zur neuen Insel gebracht. Am 10. März war die gesamte Umsiedlungsaktion abgeschlossen.
Wissenschaftliche Instrumente
Die Kernwaffentests der Operation Crossroads wurden von einer Vielzahl von Messgeräten überwacht und von einer großen Zahl von Film- und Fotokameras aufgezeichnet. Hauptaugenmerk der Messungen lag hierbei auf dem Druck, der durch die Explosion auf die Schiffe der Zielflotte ausgeübt wurde. Unmittelbar mit dem Druck zusammenhängend wurde auch der Impuls der Detonationswelle auf die Schiffe gemessen, ebenso wie die Geschwindigkeit der Ausbreitung der Stoßwelle. Weitere Messungen lieferten Aufschluss über die abgegebene optische Strahlung, insbesondere Ultraviolett- und Infrarotstrahlung sowie die ionisierende Strahlung.
Für die Tests wurden über 5000 Druckmessgeräte verwendet, die einfachsten davon simple leere Kanister, die durch die Druckwelle deformiert wurden. Die Schwierigkeiten der Druckmessungen lagen einerseits in den extrem hohen auftretenden Drücken, andererseits in den sehr kurzen Druckspitzen, die durch die Stoßwelle hervorgerufen wurden. Die Messgeräte mussten daher schnell ansprechen und dennoch einen großen Messbereich haben. Die meisten Messgeräte arbeiteten aus diesem Grund mit Verformungen, aus denen der Druck mathematisch hergeleitet wurde, oder mit einer Reihe von Berstscheiben, die bei einem definierten Berstdruck nachgaben. Die Druckmessgeräte wurden überall in der Zielflotte positioniert, die mit dem größten Messbereich in der Mitte, nahe dem geplanten Nullpunkt der Explosion. Besonderer Wert wurde auf die Vermeidung von Druckwellenreflexionen gelegt, die die Messwerte verfälscht hätten.
An Bord der Schiffe wurden zahlreiche Neigungsmesser installiert, um die durch die Druckwelle hervorgerufenen Roll- und Gierbewegungen aufzuzeichnen und damit die Auswirkungen zu dokumentieren.
Die Messung der optischen Strahlung erfolgte durch Bolometer und Thermoelemente sowie Spektrometer. Wichtig war bei diesen Messgeräten ein schnelles Ansprechen, da in sehr kurzer Zeit starke Schwankungen im Spektrum und Intensität des emittierten Lichts stattfinden würden. Hochgeschwindigkeitskameras sollten zudem die Ausbreitung des Feuerballs in den ersten Sekundenbruchteilen aufnehmen. Menschliche Beobachter erhielten stark getönte Brillen, um die Augen vor der intensiven Strahlung zu schützen. Diese Brillen ließen nur etwa 0,003 Prozent des sichtbaren Lichts durch und erwiesen sich während des Tests als viel zu dunkel.
Insgesamt wurden über 700 Kameras verwendet, um Operation Crossroads auf Film zu bannen. Über 500 Fotografen und Kameraleute wurden vom Militär eingestellt und etwa die Hälfte des Weltvorrats an fotografischem Film zum Bikini-Atoll gebracht, dadurch kam es am Weltmarkt zu einer Verknappung von Fotomaterialien. Die fotografische Ausrüstung der United States Army Air Forces allein umfasste insgesamt 328 Kameras, darunter Hochgeschwindigkeitskameras mit Aufnahmegeschwindigkeiten bis zu 10.000 Bildern pro Sekunde und eine Fotokamera mit einem Teleobjektiv mit 1200 mm Brennweite – zum damaligen Zeitpunkt das leistungsstärkste Teleobjektiv der Welt. Diese Kameras wurden auch in B-29-Bomber und C-54-Frachter eingebaut, um die Explosionen aus der Luft zu fotografieren.
Die Planungen sahen vor, in den ersten Sekunden nach der Zündung der Bombe beim Test Able eine Million Fotos zu schießen. Die Army Air Force allein wollte 9 Millionen Bilder der gesamten Tests aufnehmen. Dazu kamen Planungen der Army Air Force, in den ersten vier Sekunden nach der Zündung etwa 360 Minuten Film zu drehen. Umfangreiche Vorkehrungen wurden getroffen, um Kameras und Filme vor der immensen Strahlung, sowohl nichtionisierend als auch ionisierend, sowie den Druckwellen zu schützen. Dazu befanden sich beispielsweise die an Land positionierten Kameras in bleiausgekleideten Gehäusen mit automatisch schließenden Türen. Zur Entwicklung der Filme wurde auf dem Kwajalein-Atoll ein riesiges Fotolabor errichtet, um die große Anzahl an Bildern und Filmen zeitnah entwickeln zu können.
Die Radioaktivität und die ionisierende Strahlung wurden aus gesundheitlichen und sicherheitstechnischen Gründen ebenfalls intensiv gemessen, verfolgt und protokolliert. Die Strahlungsschutzgruppe um Colonel Stafford L. Warren brachte über 20.000 Strahlungsmessgeräte nach Bikini, die meisten davon so genannte Filmdosimeter, die an das im unmittelbaren Gefahrenbereich arbeitende Personal ausgegeben wurden, aber auch auf den Zielschiffen angebracht wurden. Dazu kamen zahlreiche tragbare und stationäre Geigerzähler für die Strahlungsüberwachung während und nach den Tests. Zu Drohnen umgebaute B-17-Bomber, die von Kwajalein aus gestartet wurden und von Bord anderer B-17-Bomber ferngesteuert wurden, sowie Grumman-F6F-Drohnen, die von Bord des Flugzeugträgers Shangri-La ferngesteuert wurden, sollten Luftproben in verschiedenen Höhen des Explosionspilzes nehmen.
Versuchstiere
Im Juni 1946 wurden 200 Schweine, 200 Mäuse, 60 Meerschweinchen, 204 Ziegen und 5000 Ratten an Bord des umgebauten Transportschiffs USS Burleson, das zu diesem Zweck mit Pferchen, Futtertrögen sowie einer rutschhemmenden Decksbeschichtung aus Beton ausgestattet wurde und 80 Tonnen Futter für die Tiere mitführte, nach Bikini gebracht. Die 5664 Versuchstiere wurden auf insgesamt 22 Schiffen der Zielflotte positioniert, sie nahmen dabei die Stationen ein, an denen sich auch die Besatzung im Gefechtsfall aufhalten würde. Um genaue Daten über die Auswirkungen einer Kernwaffenexplosion auf die Besatzung eines Schiffes zu erhalten, wurden einige Ziegen mit Sonnenschutzcreme eingerieben, anderen hingegen wurden die Haare gekürzt, um Auswirkungen der Strahlung auf die Haut erforschen zu können. Die Schweine, deren Haut der menschlichen sehr ähnlich ist, wurden mit Strahlungsschutzanzügen versehen und mit Strahlungsschutzcremes behandelt. Besonderer Wert wurde von Seiten der Wissenschaftler darauf gelegt, dass die Versuchstiere den Test überleben, da „tote Tiere einen geringeren Wert für Studien“ hätten.
Von Seiten der Wissenschaftler wurde davon ausgegangen, dass die Tiere nach Abklingen der Strahlenkrankheit in die Vereinigten Staaten zurückgebracht werden könnten, wo sie bis zu ihrem natürlichen Tod weiter für Studien zur Verfügung ständen.
Testablauf
Test Able
Am 30. Juni verließen die Besatzungsmitglieder die Zielschiffe und, zusammen mit der Unterstützungsflotte, die Lagune. Marineminister Forrestal, der aus Washington angereist war, erhielt an Bord des Flottenflaggschiffs eine letzte Einweisung, bevor die Unterstützungsflotte am Abend ihre Position 15 Seemeilen östlich und nordöstlich des Atolls eingenommen hatte. Auf den umliegenden Inseln und Atollen standen für den Fall, dass der Wind den Fallout ungünstig verblasen würde, Evakuierungsschiffe und -flugzeuge bereit.
Die Planungen für den Testablauf sahen den Start des Bombers für 5:34 Uhr Ortszeit vor. Allerdings kam erst um 5:40 Uhr die Freigabe vom Flaggschiff Mount McKinley, da Admiral Blandy erst eine Wetterverbesserung abwarten wollte. Die Boeing B-29 Superfortress, von ihrer Besatzung um Major Woodrow P. Swancutt zu Ehren eines abgestürzten Staffelkameraden „Dave’s Dream“ getauft, verließ daher das Kwajalein-Atoll erst um 5:55 Uhr. An Bord des Bombers befanden sich neben dem Piloten Major Swancutt 13 weitere Besatzungsmitglieder sowie Brigadegeneral Roger M. Ramey, Kommandant der Task Group 1.5.
Um 8:03 Uhr traf der Bomber über dem Bikini-Atoll ein und begann den ersten von mehreren Übungsanflügen. Nach einem ersten Überflug über die Zielflotte, bei dem Windgeschwindigkeit und -richtung sowie die Funkverbindung überprüft wurden, folgte um 8:20 Uhr eine vollständige Simulation des Zielanflugs inklusive des simulierten Abwurfs der Bombe. 30 Minuten später begann der endgültige Zielanflug aus fast 100 Kilometern Entfernung. In einer Höhe von 28.000 Fuß, etwa 8500 Metern, wurde die Mk.3-Atombombe um 8:59:46 Uhr ausgeklinkt. Unmittelbar nach dem Abwurf ging die B-29 in einer scharfen Linkskurve in den Sinkflug über, um die Distanz zur Bombe zu vergrößern. Der Sprengkörper war nach dem Film „Gilda“ „getauft“ und mit einem Foto von dessen Hauptdarstellerin „verziert“ worden, des Sex-Idols Rita Hayworth.
48 Sekunden später, um 9:00:34 Uhr Bikini-Zeit, explodierte die Bombe mit einer Sprengkraft von 23.000 Tonnen TNT-Äquivalent in 158 Metern Höhe über der Zielflotte. Innerhalb weniger Sekunden stieg der Explosionspilz auf über 6.000 Meter Höhe, seine Spitzenhöhe betrug etwa 16.000 Meter. Die Druckwelle, die sich zunächst mit über 4.800 Metern pro Sekunde ausbreitete, richtete an Bord der Zielflotte schwere Schäden an, an Bord der Begleitflotte war sie aber erst 90 Sekunden nach der Explosion als entferntes Donnern zu vernehmen. Der Feuerball, der in den ersten Sekunden eine Oberflächentemperatur von weit über 100.000 °C hatte, breitete sich mit großer Geschwindigkeit aus, bevor er seine Strahlungsenergie abgegeben hatte. Ein großer Teil der emittierten optischen Strahlung wurde durch die feuchte Atmosphäre abgeschwächt und absorbiert.
Auswirkungen von Able
Die Bombe verfehlte ihr geplantes Ziel, das Schlachtschiff Nevada, um 649 Meter und explodierte nur etwa 50 Meter vom Truppentransportschiff USS Gilliam entfernt, das infolge der Druckwelle innerhalb weniger Sekunden kenterte und sank. Auch ein weiterer Truppentransporter, die Carlisle, die von der Druckwelle über 50 Meter aus ihrer Position bewegt worden war, sank nach 40 Minuten brennend. Die Anderson, ein Zerstörer, sank innerhalb von vier Minuten, ein weiterer, die Lamson, ging nach einigen Stunden unter. Die Lamson war zwar weiter vom Nullpunkt der Explosion entfernt als einige andere Schiffe, sie hatte der Druckwelle im Gegensatz zu anderen Schiffen aber die volle Breitseite zugewandt und war dadurch schwer beschädigt worden. Der japanische Kreuzer Sakawa brannte heftig und sank am nächsten Morgen. Die Nevada, eigentlich Ziel der Bombe, war nur relativ leicht an den Aufbauten beschädigt, kleinere Feuer an Bord erloschen teilweise von selbst. Schwere Schäden erlitt auch der leichte Flugzeugträger Independence, große Teile des Flug- und Hangardecks wurden zerstört, zudem brachen mehrere Brände an Bord aus.
Die Zielflotte wurde aus der Luft mehrfach fotografiert, ferngesteuerte Boote nahmen Wasserproben, um die radioaktive Kontamination zu bestimmen. Ferngesteuerte B-17-Bomber flogen wenige Minuten nach der Explosion in den Explosionspilz, um Luftproben zu nehmen. Als um 14:30 Uhr das OK vom Flaggschiff kam, kehrten die Schiffe der Unterstützungsflotte in die Lagune zurück, wo die Wissenschaftler mit der Auswertung der Ergebnisse begannen. Als großes Problem hierbei erwies sich die große Abweichung der Bombe vom geplanten Ziel. Die meisten Kameras, insbesondere die Hochgeschwindigkeitskameras, waren auf die Nevada gerichtet gewesen und hatten die Explosion nicht aufgezeichnet. Viele Messgeräte waren Werten ausgesetzt, die entweder den Messbereich überschritten oder unterhalb der Empfindlichkeit lagen. Mit der Gilliam waren zudem eine große Zahl Messinstrumente für die Messung der Stoßwellengeschwindigkeit auf den Meeresboden gesunken oder zerstört worden. Aus Sicht vieler Wissenschaftler waren die Daten, die von den Zielschiffen geborgen werden konnten, nicht zu gebrauchen, die Operation als wissenschaftlicher Versuch war entwertet.
Wie auch die zwei Nuklearexplosionen in Hiroshima und Nagasaki war der Able-Test eine Luftexplosion, die hoch genug stattfand, so dass kaum Material vom Boden in den aufsteigenden Pilz gesaugt wurde. Die Spaltprodukte der Explosion wurden durch den Atompilz in die Stratosphäre getragen, wo sie sich global verteilten, der lokal niedergehende radioaktive Niederschlag war eher gering. Die Explosion wurde als „selbstreinigend“ bezeichnet. Allerdings wurden Schiffe nahe am Nullpunkt der Explosion stark durch Neutronenstrahlung bestrahlt. 10 Prozent der eingesetzten Versuchstiere wurden direkt durch die Druckwelle getötet, weitere 15 Prozent durch die Strahlung des Feuerballs. Etliche überlebende Tiere entwickelten infolge des Tests Symptome der Strahlenkrankheit, wohingegen Verbrennungen und Augenschädigungen eher selten waren.
Das Verfehlen des eigentlichen Ziels, der Nevada, sorgte für Spannungen zwischen der Army Air Force und den Los Alamos Laboratories, die sich gegenseitig die Schuld für den Fehlabwurf gaben. Los Alamos behauptete, die Air Force hätte falsche Berechnungen über die Flugbahn angestellt. Auch Paul Tibbets, der im Auswahlverfahren für Operation Crossroads gegen Swancutt und seine Besatzung unterlag, führte an, dass die Berechnungen der Flugbahn und des Abwurfpunktes falsch gewesen seien. Die Army Air Force hingegen machte die Los Alamos Laboratories und deren Entwurf der Bombe beziehungsweise deren schlechter aerodynamischer Auslegung für das Verfehlen des Ziels verantwortlich. Auch eine vom Oberkommando eingesetzte Untersuchungskommission, die alle Besatzungsmitglieder der „Dave’s Dream“ befragte, Filmaufnahmen des Abwurfs analysierte und zusätzlich Testabwürfe mit Attrappen in New Mexico durchführen ließ, konnte trotz monatelanger Untersuchung keine exakte Ursache für das Verfehlen finden.
Vorbereitungen für den Baker-Test
In Vorbereitung für den zweiten Test der Operation Crossroads wurden die Zielschiffe neu angeordnet. Schäden wurden behoben und Lecks abgedichtet, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Die Bombe, die von den am Test beteiligten Soldaten „Helen of Bikini“ getauft worden war, sollte in einem wasserdichten Behälter unter dem Landungsschiff USS LSM-60 gezündet werden. LSM-60 war zu diesem Zweck vor dem Test im Terminal Island Navy Yard in Kalifornien umgerüstet worden. Eine Öffnung wurde auf dem Ladedeck in den Rumpfboden geschnitten, darüber wurde ein Winschgestell aufgestellt, mit dem die Bombe auf ihre vorgesehene Tiefe abgelassen werden konnte. Zudem wurde das Schiff mit einem Funkmast ausgerüstet, um die Funksignale zur Zündung der Bombe empfangen zu können. Da die Funktionstüchtigkeit des Landungsschiffes und seiner technischen Einrichtungen für die Durchführung des Tests sehr wichtig waren, wurden Ersatzteile für die gesamte Ausrüstung an Bord mitgeführt. In direkter Nachbarschaft zu LSM-60, das das Zentrum der Zielflotte bildete, befanden sich in etwa 400 Metern Entfernung die Saratoga und das Schlachtschiff Arkansas, das sogar nur 200 Meter vom geplanten Nullpunkt entfernt verankert wurde.
Am 19. Juli wurde ein Probelauf durchgeführt, um Fehler beim Test ausschließen zu können. Am frühen Morgen des 25. Juli verließen alle Schiffe der Begleitflotte die Lagune, um sich etwa 15 Seemeilen entfernt zu positionieren.
Test Baker
Die Zündung der Atombombe, die sich 27 Meter unter der Wasseroberfläche und damit auf halber Tiefe bis zum Grund der Lagune befand, erfolgte am Morgen des 25. Juli um 8:34:59,7 Uhr Ortszeit durch ein Funksignal von der USS Cumberland Sound. Die Bombe entwickelte, wie schon beim ersten Test, eine Sprengkraft von 23.000 Tonnen TNT-Äquivalent.
Der Baker-Test erzeugte so viele bis dahin unbekannte Phänomene, dass zwei Monate später eine Konferenz abgehalten wurde, um diese zu benennen. Der Feuerball und die durch verdampfendes Wasser erzeugte Gasblase erreichten innerhalb von Millisekunden die Oberfläche der Lagune, während sich die Stoßwelle der Explosion mit einer Geschwindigkeit von 5600 Kilometern pro Stunde ausbreitete, im Wasser klar zu erkennen als dunkler, sich ausbreitender Ring, der einem Ölfleck glich. Diesem Ring folgte eine weiße, stetig größer werdende Scheibe, die durch das Aufwühlen der Wasseroberfläche entstand. Die hydraulische Stoßwelle führte zu den größten Schäden an Bord der Zielschiffe, sie erreichte Drücke von über 680 bar. LSM-60, das sich direkt über der Bombe befand, wurde durch die Druckwelle der Explosion völlig zerstört.
Als die Gasblase des Feuerballs die Wasseroberfläche durchbrach, bildete sich zunächst ein klar erkennbarer Wasserdom, der nach wenigen Millisekunden wie ein Geysir zerbarst. Eine massive Säule aus Wasser, radioaktivem Material sowie Trümmern des Lagunenbodens schoss in die Höhe. Die Wassersäule aus 2 Millionen Tonnen Wasser, die fast 600 Meter im Durchmesser maß und etwa 100 Meter „starke“ Wände hatte, war im Inneren nahezu leer. Nach wenigen Sekunden bildete sich ein blumenkohlförmiger Kopf, der sich immer weiter vergrößerte. Der „Blumenkohl“ bestand zum größten Teil aus Material vom Boden der Lagune, wo die Explosion einen 610 Meter breiten und 9 Meter tiefen Krater hinterließ. Zeitweilig wurde die Säule und die Zielflotte durch eine halbkugelförmige „Wilson-Wolke“ verdeckt, welche durch die sich in der Luft ausbreitende Druckwelle hervorgerufen wurde.
Nach etwa zehn Sekunden begann die Wassersäule, in sich zusammenzufallen. Eine riesige, radioaktiv kontaminierte Gischtwolke („Base surge“) hüllte die gesamte Zielflotte ein, als das Wasser aus knapp 2000 Metern Höhe in die Lagune zurück stürzte. Diese Gischtwolke, zu Beginn nur knapp 100 Meter hoch, erreichte eine maximale Höhe von etwa 600 Metern und breitete sich mit etwa 40 Kilometern pro Stunde aus. Der radioaktive Nebel der Gischtwolke setzte sich auf jeder Oberfläche der Zielschiffe ab und hinterließ auch nach dem Trocknen starke radioaktive Kontaminationen, die ein Betreten der Schiffe teilweise unmöglich machten.
Als das Wasser in den durch die Gasblase entstandenen Hohlraum zurückströmte, entstanden mehrere Tsunami-ähnliche Wellen, die nahe dem Explosionszentrum etwa 25 bis 30 Meter hoch waren. Die Wellen trafen als Gruppe von etwa 15 Wellen mit bis zu fünf Meter hohen Brechern auf die Inseln, wo sie Überschwemmungen anrichteten. Durch das zurückströmende Wasser wurden etwa 50.000 Tonnen Sand von den Stränden der Inseln mitgerissen.
Auswirkungen von Baker
Dem Schlachtschiff Arkansas, das sich in direkter Nähe des Explosionsnullpunkts befand, wurde durch die Unterwasserdruckwelle der Rumpf großflächig aufgerissen, Teile der Ruderanlage und Antriebswellen wurden abgerissen. Es sank innerhalb weniger Sekunden und liegt seitdem kopfüber auf dem Meeresboden in etwa 54 Metern Tiefe. Der Flugzeugträger Saratoga wurde durch die Druckwelle schwer beschädigt und sank siebeneinhalb Stunden nach dem Test mit dem Heck voran. Es wurden zwar Versuche unternommen, ihn zu bergen, die starke Kontamination des Schiffes und des Lagunenwassers nahe dem Explosionszentrum vereitelten jedoch diese Versuche, weil die Besatzungen der Bergungsschiffe einer zu großen Gefahr ausgesetzt hätten werden müssen. Die Saratoga liegt aufrecht auf dem Meeresboden, ihre Mastspitze befindet sich nur 12 Meter unter der Oberfläche. Das japanische Schlachtschiff Nagato kenterte viereinhalb Tage nach dem Test, in der Nacht auf den 30. Juli, unbemerkt von allen Beobachtern. Die drei gesunkenen U-Boote Pilotfish, Skipjack und Apogon hinterließen nur Luftblasen und Ölflecke an der Wasseroberfläche. YO-160, ein Ölleichter aus Beton, sank unmittelbar nach der Explosion. Der Kreuzer Prinz Eugen wurde durch den Test zwar schwer beschädigt, konnte aber zunächst in Schlepp genommen und nach Kwajalein gebracht werden. Dort kenterte er am Morgen des 22. Dezembers 1946, weil die starke Kontamination die Reparatur der erlittenen Schäden nicht zuließ. Das Panzerlandungsboot LCT-1114 kenterte durch die Explosion und wurde später versenkt. Weitere Zielschiffe wurden durch die Explosion schwer beschädigt, darunter die Schlachtschiffe New York und Nevada, der Kreuzer Pensacola, die Zerstörer Hughes und Mayrant, die Truppentransportschiffe Fallon und Gasconade sowie das Panzerlandungsschiff LST-133. Das Sinken der Hughes und der Fallon konnte verhindert werden, indem die Schiffe ans Ufer geschleppt und auf den Strand gesetzt wurden.
Strahlenbelastung
Der Baker-Test war nach dem Trinity-Test die zweite Nuklearexplosion, die nah genug an der Erdoberfläche stattfand, um die entstehenden Spaltprodukte in der lokalen Umgebung zu halten. Im Gegensatz zu Able und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki war er nicht „selbstreinigend“. Die daraus resultierende Kontamination war weitaus stärker als von allen Wissenschaftlern vorausgesagt.
Beim Baker-Test wurde etwa ein Kilogramm hochradioaktiver Spaltprodukte erzeugt, was der Radioaktivität mehrerer hundert Kilogramm Radium entsprach. Diese Spaltprodukte waren mit den 2 Millionen Tonnen Wasser sowie dem Material des Meeresbodens vermischt und befanden sich nun im Wasser sowie am Boden der Lagune. Die Schiffe wurden durch die Base surge stark kontaminiert, nahe dem Explosionszentrum betrug die Ionendosis unmittelbar nach der Explosion an Deck der Zielschiffe etwa 8000 Röntgen (80 Gray) pro Tag, was dem 80.000fachen der zulässigen Strahlungsdosis und dem 20fachen der letalen Dosis entspricht.
Die ersten Schiffe, die die Lagune befuhren, waren ferngesteuerte Drohnen, die ferngelenkte Strahlungs- und Radioaktivitätsmessungen ermöglichten. Sie machten es möglich, die „hot spots“ der größten Radioaktivität zu lokalisieren, denen die anderen Schiffe dann ausweichen konnten. Aufgrund der zulässigen Strahlungsbelastung von 0,01 Röntgen pro Tag konnten nur die fünf am weitesten vom Explosionszentrum entfernten Schiffe gefahrlos betreten werden. Die anderen Schiffe konnten zum Teil erst zehn Tage nach dem Test wieder betreten werden. Trotz der hohen Strahlungswerte schickte die Marine in den ersten sechs Tagen nach dem Test 4900 Mann an Bord der Schiffe, wo sie versuchten, die Radioaktivität mit Besen, Seife und Lauge abzuwaschen oder sie mit Hilfe von Sandstrahlen zu entfernen. Erschwert wurde die Dekontamination durch fehlende Aufklärung der Mannschaften, fehlende Schutzausrüstung und immer wieder versagende Messgeräte für die Strahlungsüberwachung. Dazu kam, dass die „sichere Zeit“ an Bord der Zielschiffe zeitweilig nur wenige Minuten betrug, das Dekontaminationspersonal also ständig ausgewechselt werden musste. Zudem klagte die radiologische Überwachungsgruppe über chronische Personalnot.
Ein weiteres Problem war, dass durch die Neutronenstrahlung große Mengen des radioaktiven Natrium-Isotops 24Na entstanden, das zwar mit einer Halbwertszeit von knapp 15 Stunden zerfiel, aber dennoch Rümpfe und Salzwasseranlagen der Schiffe der Begleitflotte kontaminierte. Dazu kamen die knapp fünf Kilogramm Plutonium der Bombe, die nicht gespalten wurden und sich ebenfalls mit dem lokalen Fallout auf die Schiffe legten und sich mit dem Wasser der Lagune vermischten.
In einer 1996 vom Institute of Medicine der National Academy of Sciences durchgeführten Studie, die von der US-Regierung in Auftrag gegeben wurde, zeigte sich bei ehemaligen Teilnehmern der Operation Crossroads eine um 4,6 Prozent erhöhte Mortalität. Konkret waren zum Ende des Untersuchungszeitraums am 31. Dezember 1992 31,3 Prozent (12.520) der an der Operation Crossroads beteiligten Militärangehörigen verstorben, während in der gleichaltrigen und gleich großen Kontrollgruppe 30,8 Prozent (12.320) verstorben waren. Bei den erwarteten Haupttodesursachen der Crossroads-Veteranen, also Erkrankungen an Leukämie und anderen Krebserkrankungen, waren die Fallzahlen nicht signifikant höher als bei der Kontrollgruppe. Dem widersprechen zahlreiche Fälle von Krebs bei Veteranen des Tests, die sich mit großer Sicherheit auf erhöhte Strahlungsexposition während der ersten Tage nach den Explosionen zurückführen lassen.
Während des Tests befanden sich nur einige Schweine und Ratten an Bord der Zielschiffe. Da die Schiffe zum Teil erst nach zehn Tagen wieder betreten werden konnten, waren bis dahin alle Schweine und fast alle Ratten an der akkumulierten Strahlungsdosis verstorben.
Test Charlie
Nach dem erfolgreichen Baker-Test ging die Joint Task Force One zur Planung des dritten Tests über, der in einer Tiefe von bis zu 1600 Metern unter der Meeresoberfläche stattfinden und nach dem Willen von Admiral Blandy zwischen 1. März und 1. April 1947 erfolgen sollte. Pioniere der Marine begannen, die Verankerungen für die Zielschiffe vorzubereiten, während sich in Washington der Widerstand gegen den Test formierte. Besonders General Groves, der der Operation Crossroads kritisch gegenüberstand, begann einen persönlichen Feldzug, um Test Charlie zu stoppen. Er bezweifelte öffentlich die militärische und wissenschaftliche Notwendigkeit des Tests. Zudem befürchtete er, dass ein weiterer Test der Implosionsbombe vom Nagasaki-Typ die technische Weiterentwicklung der Kernwaffen in Los Alamos behindern würde. Nach weiteren Diskussionen, auch innerhalb der Evaluierungskommission sowie der Joint Chiefs of Staff, wurde Test Charlie in einer Kabinettssitzung am 6. September 1946 auf unbestimmte Zeit verschoben. Auch massive Budget-Kürzungen beim Etat der Army und der Navy begünstigten die Verschiebung. Die 35 Millionen US-Dollar, die Test Charlie kosten sollte, waren ein wesentlicher Teil der 1,6 Milliarden US-Dollar, die Army und Navy einsparen mussten. Die unbestimmte Verschiebung des Charlie-Tests bedeutete das Ende von Operation Crossroads, Joint Task Force One wurde am 1. November 1946 offiziell aufgelöst.
Nach Operation Crossroads
Nachdem zunächst versucht wurde, die Zielflotte in der Lagune des Bikini-Atolls zu dekontaminieren, wobei die Besatzungsmitglieder teilweise weit über den zulässigen Grenzwerten der Strahlung ausgesetzt wurden, wurde am 10. August die Entscheidung getroffen, die gesamte Flotte nach Kwajalein zu verlegen, wo eine weitere Kontamination der Flotte durch das radioaktiv kontaminierte Lagunenwasser ausgeschlossen war. Die Verlegung war am 26. September abgeschlossen, als das letzte Zielschiff Bikini verließ. Hauptaufgabe in Kwajalein war das Entladen und Säubern der Schiffe; diese dauerte teilweise bis 1947 an. Acht Schiffe und zwei U-Boote der Zielflotte wurden zudem an die US-Westküste und nach Hawaii gebracht, wo weitere radiologische Untersuchungen stattfanden. Zwölf Zielschiffe waren nur sehr leicht kontaminiert und konnten nach erfolgter Dekontamination wieder in Dienst gestellt und bemannt werden und fuhren mit eigener Kraft zurück in die Vereinigten Staaten. Die restlichen Zielschiffe wurden zwischen 1946 und 1948 vor Bikini, Kwajalein oder Hawaii als Zielschiffe versenkt.
Die Dekontamination der Schiffe der Begleitflotte erfolgte zum größten Teil in Werften an der Westküste, hauptsächlich in San Francisco. Bei einigen Schiffen war es notwendig, große Teile des Rohrsystems der salzwasserführenden Anlagen zu erneuern und mit Säure auszuwaschen. Bei etlichen Schiffen musste zudem der gesamte Unterwasserrumpf sandgestrahlt und neu lackiert werden. Als letztes Schiff der Unterstützungsflotte existiert der Zerstörer USS Laffey als Museumsschiff bis in die Gegenwart.
Im Sommer 1947 fand eine erste wissenschaftliche Nachuntersuchung des Tests statt. Unter dem Kommando von Captain Christian L. Engleman untersuchten Wissenschaftler von Army, Navy, der Smithsonian Institution, des U. S. Fish and Wildlife Service sowie einiger weiterer wissenschaftlicher Institute die Auswirkungen des Test Baker auf das maritime Leben im Bikini-Atoll und nahmen eine genauere Evaluierung der Schäden an den gesunkenen Schiffen vor. Die Wissenschaftler trafen am 15. Juli 1947 an Bord der USS Chilton, die von dem U-Boot-Rettungsschiff USS Coucal sowie den Landungsschiffen LSM-382 und LCI(L)-615 begleitet wurde, im Atoll ein, wo sie bis zum 1. September blieben. In über 600 Tauchgängen zu den Wracks der Saratoga, Apogon und Pilotfish wurden die Auswirkungen der Unterwasserexplosion untersucht. Auch die Nagato wurde kurz untersucht. Erschwert wurden die Tauchgänge vor allem durch die schlechte Sichtweite, die durch die großen Mengen feinen Schlamms am Grund der Lagune hervorgerufen wurde. Dieser Schlamm, der zum größten Teil aus Sand und durch die Druckwelle zerstörten Korallen bestand, war zudem teilweise hochradioaktiv, weshalb die Taucher umfangreich radiologisch überwacht wurden.
Parallel zu den Tauchgängen untersuchten Biologen die Auswirkungen der Nuklearwaffenexplosionen auf das maritime Leben. Es wurden Proben des Lagunenwassers und der Korallenbänke genommen, um den Grad der radioaktiven Kontaminierung bestimmen zu können, sowie verschiedene Lebewesen gefangen, um sie später auf die Auswirkungen der Radioaktivität untersuchen zu können. Geologen nahmen Bohrproben vom Lagunenboden, um sie zu untersuchen. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden im Dezember 1947 als „Technical Report, Bikini Scientific Survey“ vom Armed Forces Special Weapons Project veröffentlicht.
1988 wurde eine zweite Untersuchung der Wracks angeregt. Der National Park Service entsandte im Auftrag des Energieministeriums der Vereinigten Staaten zusammen mit der US-Marine ein Team von Forschern, das im Juli/August 1989 und im April/Mai 1990 umfangreiche Untersuchungen an den Wracks der Zielflotte in der Bikini-Lagune sowie auf Kwajalein durchführte. Neun der insgesamt 23 dort versenkten oder gesunkenen Schiffe wurden ausführlich fotografiert, kartografiert und vermessen, auch wurden Messungen der verbliebenen Radioaktivität durchgeführt.
2008 führte eine internationale Expedition eine erneute Untersuchung zur verbleibenden Radioaktivität auf Bikini durch. Bei den Untersuchungen wurden im Inneren der Inseln teilweise um das Dreifache über den zulässigen Ortsdosisleistungen liegende Werte gefunden, während sich die Kontamination am Strand und am Grund der Lagune weit unterhalb der Grenzwerte befindet. Die auf den Inseln wachsenden Kokosnüsse enthalten aber gesundheitsschädliche Konzentrationen von 137Caesium, die zum Teil die zulässigen Grenzwerte um das 1,6fache überschritten.
Militärische Konsequenzen
Das Evaluierungskomitee der Joint Chiefs of Staff stellte in seinem Abschlussbericht am 30. Juni 1947 insgesamt 18 Schlussfolgerungen über die militärische Wirksamkeit von Atomwaffen auf. Darunter waren erste Überlegungen zur nuklearen Abschreckung, um den Weltfrieden zu sichern sowie zur Wirksamkeit der Atombombe gegen Städte, militärische Einrichtungen sowie Truppen- und Schiffsansammlungen. Das Komitee formulierte schließlich insgesamt zwölf Empfehlungen, wie die Nuklearstrategie der Vereinigten Staaten zukünftig aussehen sollte.
Diese umfassten neben der zweigleisigen Strategie, einerseits Nuklearwaffen einer nichtstaatlichen übergeordneten Kontrolle zu überstellen (was in den USA nie umgesetzt wurde, da sowohl das Energieministerium der Vereinigten Staaten als auch das United States Strategic Command dafür zuständig sind) und andererseits langfristig auf eine weltweite Abschaffung von Kernwaffen hinzuarbeiten auch Empfehlungen, das US-Kernwaffenarsenal möglichst schnell und stark aufzurüsten, um potentielle Gegner innerhalb kürzester Zeit überwältigen zu können.
Zusätzlich sollten technische und medizinische Verfahren entwickelt werden, die das Überleben von Besatzung und Schiffen nach einem nuklearen Angriff gewährleisten sollten. Eine der technischen Maßnahmen war unter anderem die Entwicklung und Einführung des „Countermeasure Wash Down Systems“ an Bord von Schiffen der US Navy, das über Leitungen und Düsen sowohl Meerwasser als auch Löschschaum aus dem Feuerlöschsystem auf die Außenhaut und Decks der Schiffe versprüht, um damit Ablagerungen radioaktiver Niederschläge auf der Schiffsoberfläche entweder ganz zu verhindern oder zumindest so weit zu verringern, dass eine spätere gründliche Dekontamination deutlich schneller und einfacher erfolgen kann.
Nachdem Schutzmaßnahmen gegen Schäden durch die Druckwelle nicht zweckmäßig sind, weil eine ausreichend starke Panzerung der Schiffe deren Einsatzfähigkeit zu stark einschränken würde, änderte die US Navy ihre grundlegende Doktrin und setzte nicht auf eine Verstärkung der Verteidigung, sondern auf einen offensiven Einsatz von Nuklearwaffen auf See. Dazu gehörte unter anderem die Entwicklung seegestützter Interkontinentalraketen wie die UGM-96 Trident I, die von U-Booten und Schiffen abgefeuert werden können, sowie die Entwicklung von U-Jagd-Waffen mit Nuklearsprengköpfen wie den Torpedo Mark 45 ASTOR.
Kulturelle und mediale Rezeption
Der Able-Test wurde von insgesamt 114 Beobachtern von Presse, Rundfunk und Bilddiensten beobachtet. Die meisten davon bezeichneten den Test als Fehlschlag, da er die Erwartungen in eine spektakuläre Zerstörung der gesamten Zielflotte nicht erfüllte. beschwerte sich ein Radioreporter aus Boston, die New York Times titelte . Auch wegen dieser Enttäuschung waren beim Baker-Test nur noch 75 Pressevertreter anwesend, denen sich dann aber ein „atemberaubender Anblick“ bot, wie Samuel Shaffer für die Newsweek schrieb. schrieb Philip Porter vom Plain Dealer, der größten Tageszeitung Clevelands.
War das Presseecho nach dem Baker-Test noch positiv, so sorgte das Bild von Admiral Blandy und seiner Frau beim Anschneiden einer Torte, die wie ein Atompilz geformt war, für harsche Kritik, insbesondere seitens der Friedensbewegung und der Kirche. Das Bild, das auf einem Empfang am 7. November 1946 zur Feier der Beendigung von Operation Crossroads entstand, zeigt, wie Admiral Blandy zusammen mit seiner Ehefrau eine reich verzierte Biskuittorte anschneidet, die von einem dem Baker-Test nachempfundenen Atompilz gekrönt wurde. Arthur Powell Davies, Pfarrer der unitarischen All Souls Church in Washington, D.C., verwies in seiner Sonntagspredigt am 10. November auf den Eindruck, den dieses Bild in der Sowjetunion sowie bei den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki hinterlassen könnte. Er verurteilte die „Obszönität“ des Bildes aufs Heftigste, mehrere Zeitungskolumnisten, darunter Walter Lippmann, schlossen sich ihm an. Das Bild, das in mehreren hundert Zeitungen und Magazinen abgedruckt wurde, ließ Blandy „wie einen Idioten aussehen“ und war ein schwerer Schlag für die Öffentlichkeitsarbeit im Anschluss an den Kernwaffentest.
Einen Tag nach dem Baker-Test lehnte die Sowjetunion den Baruch-Plan ab, der die Unterstellung sämtlicher Nuklearwaffen unter internationale Kontrolle vorsah. Andrei Andrejewitsch Gromyko teilte der United Nations Atomic Energy Commission mit, dass „der Vorschlag der Vereinigten Staaten in seiner derzeitigen Form in keiner Weise durch die Sowjetunion akzeptiert werden könnte, weder als Ganzes noch in Teilen“. Die sowjetische Presse warf den USA vor, einen Krieg zu planen, und Operation Crossroads sei die „Generalprobe“. L’Unità, Sprachrohr der Kommunistischen Partei Italiens, beschrieb Operation Crossroads als „äußerst alarmierendes, monströses und gleichzeitig tragisch-groteskes Experiment“. Die Zeitung Avanti! stellte die atomare Aufrüstung der Vereinigten Staaten auf eine Stufe mit den Verbrechen des Nationalsozialismus.
Erste Informationen über das Ausmaß der radioaktiven Kontamination des Bikini-Atolls erhielt die Öffentlichkeit mit der Veröffentlichung einer Zusammenfassung der Nachuntersuchung im Sommer 1947. Das Life-Magazin stellte am 11. August 1947 in einem 14-seitigen Artikel die Auswirkungen der Tests auf die Lagune und die Versuchstiere dar, drastisch unterlegt mit Bildern der Auswirkungen auf die inneren Organe. Er schloss mit einer Stellungnahme des Leiters der radiologischen Überwachung, Dr. Stafford L. Warren, der die massive und unaufhaltsame Ausbreitung des Fallouts beschrieb. Aber erst mit dem Buch „No Place to hide“ von David Bradley, das 1948 erschien und sowohl von The Atlantic Monthly, dem Reader’s Digest sowie dem Book of the Month Club empfohlen wurde, wurde das ganze Ausmaß ans Licht der Öffentlichkeit gerückt. Bradley, Mitglied der radiologischen Überwachung während der Tests, führte aus, dass das wahre Ausmaß der Kontamination der an den Tests beteiligten Schiffe und Personen hinter einer Mauer der Geheimhaltung des Militärs versteckt würde und gegenüber der Öffentlichkeit mit „Fantasiezahlen“ gearbeitet würde. Seine Beschreibung der Tests machten der Öffentlichkeit die Gefahren und Ausmaße des nuklearen Fallouts bewusst.
Die bekannteste Rezeption der Ereignisse während der Operation Crossroads ist die Benennung des Bikini-Badeanzugs. Knapp zwei Wochen nach dem Able-Test, am 18. Juli, stellte der Modeschöpfer Louis Réard seinen zweiteiligen Badeanzug vor. Die knappe Badebekleidung schockierte die Weltöffentlichkeit genauso wie der Atomtest, weshalb sich Réard für diesen Namen entschied.
Zwei Filme behandelten die Operation Crossroads: „Crossroads“, ein Kurzfilm von Bruce Conner, der aus extrem langsam abgespielten Hochgeschwindigkeitsaufnahmen des Baker-Tests, untermalt von einem Soundtrack von Terry Riley, bestand, sowie der Dokumentarfilm „Radio Bikini“, der 1988 für den Oscar nominiert wurde. Hauptaugenmerk von Radio Bikini liegt auf dem Schicksal der indigenen Bevölkerung und ihrer Odyssee nach der Umsiedlung.
Das Filmmaterial des Baker-Tests gehört zu den bekanntesten Aufnahmen einer nuklearen Explosion und wurde in zahllosen weiteren Medien verwendet, so in der Schlusssequenz von Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, im Musikvideo zu Michael Jacksons Man in the Mirror, einer Folge der Sitcom Alle unter einem Dach, dem Thriller Deterrence und der SpongeBob-Schwammkopf-Folge Dying for Pie.
Schicksal der Bikinianer
Die Bikinianer wurden im März 1948 erneut umgesiedelt, das Heimweh nach ihrer Heimat sowie die drohende Hungersnot veranlassten die US-Behörden, die Ureinwohner zunächst von Rongerik nach Kwajalein zu bringen. Als neue Heimat suchten sie sich dann die bis dahin unbewohnte Kili-Insel aus, die allerdings zu klein war, um eine autarke Lebensweise zu ermöglichen, so dass die Bevölkerung auf externe Versorgung angewiesen war. 1956 zahlte die US-Regierung erste Entschädigungen, 25.000 US-Dollar wurden an die Bikinianer ausgezahlt sowie ein Treuhandfonds mit 3 Millionen Dollar eingerichtet. 1967 erklärte eine Studie der Atomic Energy Commission Bikini für sicher, so dass im August 1968 die ersten Einwohner zurückkehrten. 1978 mussten sie das Atoll allerdings wieder verlassen, da Untersuchungen erhöhte Strahlungskonzentrationen in den Kokosnüssen, der Hauptnahrungsquelle, zeigten. Bis heute können sie nicht auf die Insel zurückkehren, da insbesondere die Belastung der Kokosnüsse und des Trinkwassers eine autarke Ernährung nicht zulassen.
1975 begannen die ersten Gerichtsverhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, bei dem die Bikinianer bis heute um eine angemessene Entschädigung sowie eine vollständige Dekontamination des Atolls kämpfen. Die Flagge des Bikini-Atolls erinnert an die Bombenversuche.
Literatur
David Bradley: No Place to Hide. University Press of New England, Boston MA 1946, Neuauflage 1984, ISBN 978-0-87451-274-8.
deutsch: David Bradley, Magda Larsen (Üb.): Atombomben-Versuche im Pazifik. Diana-Verlag, Baden-Baden und Stuttgart, 1951
William A. Shurcliff: Bombs at Bikini. The Official Report of Operation Crossroads. William H. Wise and Co Inc, New York NY 1947.
William A. Shurcliff: Operation Crossroads: The Official Pictorial Record. William H. Wise and Co Inc, New York NY 1947.
Jonathan Weisgall: Operation Crossroads. The Atomic Tests at Bikini Atoll. Naval Institute Press, Annapolis MD 1994, ISBN 1-55750-919-0.
Stefan Terzibaschitsch: „Operation Crossroads“. Die Atomwaffenversuche der U.S. Navy beim Bikini-Atoll 1946. Podzun-Pallas, Friedberg/H. 1992, ISBN 3-7909-0462-7 (Marine-Arsenal 20).
Weblinks
Operation Crossroads bei Nuclearweaponarchive.org (englisch)
Film beim Internet Archive: Teil 1, Teil 2
Einzelnachweise
Crossroads
Militärgeschichte der Vereinigten Staaten
Ereignis 1946
Geschichte (Pazifischer Ozean)
Crossroads |
478302 | https://de.wikipedia.org/wiki/Die%20Ehe%20der%20Maria%20Braun | Die Ehe der Maria Braun | Die Ehe der Maria Braun ist ein Spielfilm von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1979. Hanna Schygulla spielt die Hauptfigur der Maria, deren Ehe mit Hermann durch dessen Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg und anschließende Gefangenschaft unerfüllt bleibt. Maria arrangiert sich mit den Nachkriegsverhältnissen, wird die Geliebte eines Industriellen und erlangt Wohlstand, hält jedoch noch immer an ihrer Liebe zu Hermann fest.
Fassbinder nutzt diese melodramatische Geschichte, um einen distanziert-pessimistischen Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit in Westdeutschland zu werfen. Maria Braun wird dabei vielfach als Verkörperung des Wirtschaftswunders gesehen, das Wohlstand nur um den Preis des Verdrängens von Gefühlen brachte. Der Film war eines der international erfolgreichsten Werke Fassbinders und prägte das Bild des Neuen Deutschen Films im Ausland mit; gleichzeitig festigte er Schygullas Ruf als ideale Fassbinder-Schauspielerin. Die Ehe der Maria Braun bildet den Auftakt zu Fassbinders sogenannter BRD-Trilogie, die ihre Fortsetzung in den Filmen Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) fand, ebenfalls Bestandsaufnahmen der Nachkriegszeit in Deutschland aus spezifisch weiblicher Sicht.
Handlung
1943: Während eines Luftangriffs heiratet Maria den Soldaten Hermann Braun. Das Standesamt wird durch die Explosion einer Fliegerbombe zerstört. Hermann muss sofort wieder an die Front, Maria ist danach auf sich allein gestellt. Nach Kriegsende nimmt sie ihr Schicksal in die eigene Hand. Die Nachricht, Hermann sei gefallen, veranlasst die mit ihrer Mutter und ihrem Großvater lebende Maria, als Bardame für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Sie beginnt eine Beziehung mit Bill, einem afroamerikanischen GI, der sich um sie kümmert und sie mit begehrten Gütern wie Nylonstrümpfen und Zigaretten versorgt.
Marias Mann ist jedoch noch am Leben und kehrt überraschend aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Als er Maria und Bill in flagranti antrifft und es zu einem Handgemenge zwischen ihm und dem Amerikaner kommt, erschlägt Maria im Affekt Bill mit einer Flasche. Hermann nimmt die Schuld an der Tat auf sich und geht dafür ins Gefängnis. Maria, die ihren Mann regelmäßig in der Haft besucht, nimmt die Chance wahr, im Büro des Industriellen Karl Oswald zu arbeiten. Der todkranke Oswald findet Gefallen an der geschäftstüchtigen jungen Frau und bietet ihr eine Stelle als seine Assistentin an. Maria willigt ein, jedoch nicht ohne ihren Mann davon zu informieren, dass Oswald mehr von ihr als eine Arbeit für ihn erwartet. Die junge Frau erarbeitet sich wirtschaftliches Wohlergehen, doch hält sie stets an der Liebe zu ihrem Mann fest. Als Hermann aus dem Gefängnis entlassen wird, kehrt er nicht zu seiner Frau zurück, sondern setzt sich unter einem Vorwand nach Kanada ab.
Als Oswald gestorben ist, kehrt Hermann nach Deutschland zurück. Er ist in Übersee offensichtlich zu Wohlstand gekommen und besucht Maria, die nun allein in einem eigenen Haus lebt. Oswalds Testament wird eröffnet. Dabei erfährt Maria, dass der Industrielle und Hermann noch zu Zeiten von Hermanns Gefängnisaufenthalt heimlich einen Handel abgeschlossen hatten: Hermann sollte zu Lebzeiten Oswalds nicht zu seiner Frau zurückkehren, um die Beziehung zwischen Oswald und Maria zu beenden. Als Belohnung wurden Hermann und Maria als Oswalds Alleinerben eingesetzt. Maria, die, wissentlich oder aus Versehen, die Gaszufuhr des Küchenherds nicht abgestellt hatte, zündet sich eine Zigarette an. Dadurch verursacht sie eine Explosion, die das Haus völlig zerstört. Maria und Hermann sterben, während im Radio das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 übertragen wird.
Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte
Drehbuch und Vorproduktion
Die Idee zu Die Ehe der Maria Braun stammt aus dem Umkreis des von Fassbinder gemeinsam mit Alexander Kluge konzipierten Fernsehprojekts Die Ehen unserer Eltern. Fassbinder stellte ein erstes Exposé, an dem auch Klaus-Dieter Lang und Kurt Raab mitgearbeitet hatten, im Frühsommer 1977 seinem langjährigen Weggefährten Peter Märthesheimer vor, der zu dieser Zeit bei der Bavaria als Dramaturg arbeitete. Märthesheimer erhielt im August 1977 den Auftrag, zusammen mit seiner Freundin Pea Fröhlich, einer Professorin für Psychologie und Pädagogik, daraus ein Drehbuch zu erarbeiten. Obwohl es Märthesheimers und Fröhlichs erste Drehbucharbeit war, befähigte sie ihre Erfahrung mit Fassbinders Schaffen, das Buch seinem Sprachduktus und seinen Filmstrukturen anzupassen. Fassbinders Änderungen am Drehbuch beschränkten sich auf einige Dialoge und das Ende, die und das er umschrieb: Den von Märthesheimer und Fröhlich beschriebenen Suizid Marias durch einen willentlichen Autounfall gestaltete Fassbinder zu einer Gasexplosion, einem ambivalenteren, weniger eindeutigen Ende, um. Produzent des Films war Fassbinders langjähriger Weggenosse Michael Fengler mit seiner Produktionsfirma Albatros Film.
Fengler plante die Produktion von Die Ehe der Maria Braun für das erste Halbjahr 1978, da die Dreharbeiten für Fassbinders Großprojekt Berlin Alexanderplatz erst im Juni 1978 beginnen sollten. Fassbinder hatte jedoch den Kopf für den Film offenbar nicht frei. In der Bundesrepublik war die Debatte um sein kontroverses Stück Der Müll, die Stadt und der Tod in vollem Gange und hatte sich Fassbinder nach Paris zurückgezogen, um am umfangreichen Drehbuch für Berlin Alexanderplatz zu arbeiten. Auf Fenglers Drängen hin suchten die beiden Romy Schneider auf, um ihr die Hauptrolle anzutragen. Die Schauspielerin, die sich in einer schweren Lebenskrise befand, stellte jedoch überzogene Gagenforderungen und verhielt sich wankelmütig. Yves Montand zeigte Interesse am Film, wollte jedoch Marias Ehemann Hermann und nicht, wie von Fassbinder und Fengler vorgeschlagen, die Rolle des Industriellen Oswald spielen. Diese Rolle war bereits Klaus Löwitsch zugesagt worden, so dass sich Fenglers Traum von einem internationalen Star-Ensemble zerschlug. Hanna Schygulla erhielt die Rolle der Maria und arbeitete erstmals seit vier Jahren wieder mit Fassbinder zusammen.
Produktion
Die Ehe der Maria Braun war ein unterfinanzierter Film. Die Albatros steuerte nur 42.500 DM bei, der WDR war mit 566.000 DM beteiligt, 400.000 DM kamen von der Filmförderungsanstalt, und der Verleih gab eine Garantie von 150.000 DM. Fengler war gezwungen, einen weiteren Partner mit ins Boot zu holen. Ohne Wissen Fassbinders, dem Fengler einen Gewinnanteil am Film in Höhe von 50 % versprochen hatte, beteiligte der Produzent bereits im Dezember 1977 Hanns Eckelkamps Trio Film an Die Ehe der Maria Braun und musste Eckelkamp für dessen finanziellen Beitrag 85 % an den Filmrechten einräumen.
Die Dreharbeiten begannen im Januar 1978 in Coburg. Schlecht gelaunt und streitsüchtig nahm Fassbinder die Filmarbeit in Angriff, drehte tagsüber und schrieb nachts am Alexanderplatz-Drehbuch. Um diesen Arbeitsrhythmus durchzuhalten, konsumierte Fassbinder Kokain und forderte tägliche Bargeldauszahlungen.
Im Februar 1978 hatte das Budget bereits eine Höhe von 1,7 Millionen DM erreicht, ohne dass die beiden teuersten Szenen, die Explosionen am Anfang und am Ende des Films, abgedreht waren. Fassbinder erfuhr von Fenglers Deal mit Eckelkamp, fühlte sich getäuscht und betrogen und brach mit dem langjährigen Weggefährten. Vehement forderte Fassbinder für sich den Status eines Koproduzenten ein, um am Film finanziell partizipieren zu können, erwirkte schließlich eine einstweilige Verfügung gegen Fengler und Eckelkamp. Der Regisseur entließ einen großen Teil des Stabes, brach die Dreharbeiten in Coburg Ende Februar ab und zog zur Vollendung des Films nach Berlin um, wo im März 1978 die letzten Szenen gedreht wurden. Insgesamt beurteilt der Biograph Thomas Elsaesser die Dreharbeiten als „eine von Fassbinders unglücklichsten Erfahrungen“. Zugleich war Die Ehe der Maria Braun auch die letzte Zusammenarbeit Fassbinders mit dem Kameramann Michael Ballhaus, der sich enttäuscht anderen Projekten zuwandte.
Veröffentlichung
Eilig arbeitete Fassbinder mit Juliane Lorenz parallel zu den Vorbereitungen zu Berlin Alexanderplatz am Schnitt von Die Ehe der Maria Braun und an der weiteren Nachproduktion. Als im Mai 1978 Fassbinders Despair – Eine Reise ins Licht bei den Filmfestspielen von Cannes antrat und nicht erfolgreich war, ließ der Regisseur über Nacht eine Nullkopie von Die Ehe der Maria Braun ziehen und präsentierte den Film am 22. Mai 1978 in einer internen Voraufführung führenden deutschen Filmproduzenten. In Anwesenheit unter anderen von Horst Wendlandt, Sam Waynberg, Karl Spiehs, Günter Rohrbach und dem führenden Anteilseigner des Filmverlags der Autoren, Rudolf Augstein, wurde diese Aufführung ein großer Erfolg. Eckelkamp investierte sofort weitere 473.000 DM, um die Produktionsschulden zu tilgen, seine Trio Film wurde damit alleiniger Rechteinhaber am Film. Mit allen Befugnissen ausgestattet, handelte Eckelkamp mit der United Artists einen Vertriebsvertrag für den Film aus und bootete damit den Filmverlag der Autoren aus.
Als sich abzeichnete, dass Die Ehe der Maria Braun chancenreich an der Berlinale 1979 würde teilnehmen können, wurde ein Verleihstart im März 1979 festgelegt. Eckelkamp startete eine Marketingkampagne für den Film. Gerhard Zwerenz schrieb auf Eckelkamps Auftrag eine Romanadaption von Die Ehe der Maria Braun, die ab März 1979 für drei Monate als Fortsetzungsgeschichte im Stern abgedruckt wurde und den Film stark in das Interesse der Öffentlichkeit rückte. Die offizielle Premiere von Die Ehe der Maria Braun fand am 20. Februar 1979 anlässlich der Berlinale statt, der Kinostart erfolgte am 23. März 1979. Ausgezeichnet wurde der Film in Berlin mit dem Silbernen Bären für Hanna Schygulla als bester Darstellerin sowie mit dem Leserpreis der Berliner Morgenpost, was Fassbinder nicht befriedigte, denn er hatte sich den Goldenen Bären für den Film erwartet. Fernsehzuschauer konnten den Film erstmals am 10. August 1984 im Fernsehen der DDR sehen, die westdeutsche Erstausstrahlung war am 13. Januar 1985 um 21 Uhr in der ARD.
Zeitgenössische Kritik
Die deutschsprachige Filmkritik reagierte sehr positiv auf Die Ehe der Maria Braun und rühmte seinen künstlerischen Ausdruck und seine Publikumstauglichkeit. Hans C. Blumenberg stellte in der Zeit fest, man habe es mit „dem zugänglichsten (und damit auch kommerziellsten) und reifsten Werk“ Fassbinders zu tun. Karena Niehoff schrieb in der Süddeutschen Zeitung, Die Ehe der Maria Braun sei „ein richtig charmanter und sogar witziger Kinofilm und zugleich ungemein kunstvoll, künstlich und mit Falltüren noch und noch.“
Besonders Hanna Schygulla wurde für ihre Leistung sehr gelobt. Gottfried Knapp bescheinigte in der Süddeutschen Zeitung vom 23. März 1979, Fassbinder gebe ihr „prächtige Spielgelegenheiten“, die Figur habe mit ihren idealen Gefühlen, ihrem Charme und ihrer Energie eine „enorme Wirkung“. Auch in der ausländischen Presse wurde Schygulla begeistert rezipiert. Sie sei „eine fast unmögliche Kreuzung aus Dietrich und Harlow“, wie ihr David Denby im New York Magazine bestätigte.
François Truffaut stellte im Jahr 1980 in den Cahiers du cinéma fest, Fassbinder sei mit diesem Film „aus dem Elfenbeinturm der Cinephilen ausgebrochen“. Die Ehe der Maria Braun sei „ein originales Werk von episch-poetischer Qualität“, zeige Einflüsse von Godards Die Verachtung über Brecht und Wedekind bis hin zu Douglas Sirk. Besonders berührend sei seine Menschensicht, die Männer und Frauen in gleicher Weise liebevoll betrachte. Jean de Baroncelli stellte am 19. Januar 1980 in Le Monde auf die allegorischen Qualitäten des Films ab. Der Film präsentiere Maria Braun mit einer „leuchtenden Einfachheit“ als Allegorie für Deutschland, sie sei wie das Land „ein Wesen, das mit auffälligen teuren Kleidern angetan ist, das aber seine Seele verloren hat“.
Erfolg und Nachgeschichte
Die Ehe der Maria Braun wurde ein großer Erfolg an den Kinokassen. In der Bundesrepublik sahen bis Oktober 1979 400.000 Kinobesucher den Film, der teilweise bis zu 20 Wochen im Programm blieb. Allein auf dem heimischen Markt spielte der Film mehr als vier Millionen DM ein. Noch 1979 wurden für 25 Länder Verleihverträge für Die Ehe der Maria Braun abgeschlossen. Im August 1981 startete der Film als bisher einziges Werk Fassbinders in den DDR-Kinos. In den Vereinigten Staaten spielte er in den ersten sechs Wochen nach Verleihstart bereits 1,8 Millionen US-Dollar ein.
Für die Oscarverleihung 1979 wurde Die Ehe der Maria Braun nicht nominiert. Stattdessen wurde Hans W. Geißendörfers Die gläserne Zelle ins Rennen um den besten fremdsprachigen Film geschickt. Die Ehe der Maria Braun war jedoch ein knappes Jahr später für die Verleihung der Golden Globe Awards 1980 nominiert, stand aber in diesem Jahr im Schatten von Volker Schlöndorffs Oscarerfolg Die Blechtrommel. Fassbinder hatte für seine Folgeprojekte durch den kommerziellen Erfolg von Die Ehe der Maria Braun eine gute Verhandlungsposition, erhielt die Finanzierungszusage für sein Projekt der Verfilmung von Pitigrillis Roman Kokain. Auch für Berlin Alexanderplatz konnte er ein höheres Budget erzielen. Die großen Filmproduzenten der Bundesrepublik im Bereich der Unterhaltung suchten erstmals die Zusammenarbeit mit Fassbinder. Luggi Waldleitner produzierte im Jahr 1980 Lili Marleen, nachdem Hanna Schygulla auf Fassbinder als Regisseur für ein gemeinsames Filmprojekt bestanden hatte. Horst Wendlandt realisierte zusammen mit Fassbinder Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss.
Offen blieb die Frage, inwieweit Fassbinder am Erfolg des Films finanziell zu beteiligen war. Eckelkamp sah sich als alleinigen Rechteinhaber, schickte jedoch im Jahr 1982 einen Scheck in Höhe von 70.000 DM an Fassbinder, um seine Beteiligungsforderungen zu befriedigen. Als nach Fassbinders Tod seine Mutter und Erbin Liselotte Eder die Ansprüche an den Produkzenten Eckelkamp erneuerte, wies er diese zurück. Im Zuge einer gerichtlichen Auseinandersetzung wurde im Jahr 1986 Eckelkamp dazu verpflichtet, der neugegründeten Rainer Werner Fassbinder Foundation über die Einkünfte aus dem Film Rechnung zu legen. Eckelkamp wies Budgetkosten in Höhe von 2 Millionen DM und Marketingkosten in Höhe von einer Million DM aus, womit der Film habe einen Überschuss von einer Million DM erwirtschaftet habe. Als Eckelkamps Trio-Film dazu verurteilt wurde, an Fassbinders Erbengemeinschaft 290.000 DM zu zahlen, weigerte sich der Produzent. Seine Trio-Film ging 1988 auf Antrag der Foundation in Konkurs. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung bescheinigte das Oberlandesgericht Düsseldorf im Jahr 1990, Fassbinder sei nicht Koproduzent des Films gewesen. Dieses Urteil wurde später vom Bundesgerichtshof bestätigt, das gleichwohl feststellte, dass die Ansprüche der Erben Fassbinders berechtigt waren. Die Filmrechte liegen inzwischen komplett in der Hand der Foundation.
Inszenierung
Dramaturgie
Thomas Elsaesser stellt fest, Die Ehe der Maria Braun sei von allen Fassbinderfilmen „der am klassischsten konstruierte“. Wilhelm Roth konstatiert, das Werk sei „zielstrebiger, schnörkelloser erzählt als alle Filme seit Martha“. Ein linearer, klar die Chronologie zwischen 1943 und Juli 1954 erkennbar werden lassender Aufbau diene der Entwicklung der Geschichte einer Heldin, die im Zentrum des Dramas stehe und eine klassische Erzählung von Aufstieg und Fall durchlebe. Der Film sei „linear, transparent und realistisch“ und habe damit „die einfache Kraft einer Moritat“, so Elsaesser. Maria werde darin eine Identifikationsfigur für den Zuschauer, den Fassbinder jedoch erst am Schluss endgültig aufkläre, dass ihr Leben und ihre Liebe nur auf einer Illusion beruhen.
Für Fassbinder typisch sei, bei aller beabsichtigten Identifikation mit der Hauptfigur, eine ironische Distanz in der Inszenierung angelegt, die brechtsche Idee des Verfremdungseffekts aufnehmend. So destruiert der Regisseur den melodramatischen Kern der Erzählung etwa „durch irritierende Kamerabewegungen, die Erwartungen aufbauen und dann enttäuschen“, so Fassbinders Biograph Michael Töteberg. Die Charaktere blieben Kunstfiguren, auch in diesem Film gekennzeichnet durch, wie Guntram Vogt anmerkt, „die Sprachmelodie mit ihrer unkonventionellen Betonung zum Ausdruck widerspruchsvoller Gefühlslagen“. Somit zeige sich „ein Agieren gegen den Strich der Erwartungen“.
Innerhalb der Linearität des Films arbeitet Fassbinder mit Wiederholungen und Symmetrien, sichtbar etwa an den Explosionen zu Beginn und am Ende des Films, oder an seiner Umrahmung durch Politikerporträts: Einem Hitlerbild, das während des den Film eröffnenden Bombenangriffs von der Wand fällt, folgen am Ende des Films die Negativaufnahmen der Bundeskanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger und Schmidt, dessen Bild sich schließlich in ein Positiv verwandelt. Leitmotivisch funktioniert im Film das sich wiederholende Motiv der Zigarette. Zigaretten dienen, so Sang-Joon Bae, „als Symbol der (Sehn-)Sucht in der ‚schlechten Zeit für Gefühle‘“, sind Sinnbild für Marias Festhalten am Emotionalen und spielen auch bei der abschließenden Katastrophe eine Rolle.
Visueller Stil
Durch eine, so Herbert Spaich, „unauffällig[e] und wohlorganisiert[e]“ Bildgestaltung vermeidet Fassbinder einerseits eine starke visuelle Stilisierung, andererseits aber auch eine überscharfe Realitätstreue. Es herrschen Innenaufnahmen vor, deren eingeschränkter, oft durch Objekte versperrter Handlungsraum maximal in der Halbtotalen gezeigt wird. Dunkle und im Halbschatten liegende Bildbereiche sorgen für eine Atmosphäre der Beengung: „Halbdunkle Räume schließen die Menschen […] ein“, merkt Vogt an. Es gibt keine deutliche visuelle Unterscheidung der Handlungsorte: „Die atmosphärische Trennlinie zwischen Gefängnis und Stadtwohnungen ist […] unscharf, fast nicht erkennbar“, überall herrsche „der gleiche kalt-blaue Schimmer“.
Ein durchgehendes visuelles Motiv ist die Gittersymbolik, deren vereinzelnde, trennende Wirkung „die Kluft zwischen den privaten Gefühlen und dem öffentlichen Zeitgeist […] illustriert“, wie Sang-Joon Bae anmerkt. Auch in weiteren szenischen Gestaltungen finden Stilisierungen dieser Art statt, werden jedoch nur sparsam eingesetzt. So sieht man zum Beispiel Maria gegen Ende des Films rauchend zwischen einem weißen Telefon und dem Rosenstrauß ihres Mannes. Sie stehe, so Sang-Joon Bae, „zwischen Karrierebewusstsein und dem Liebessymbol, wobei sie […] eine Zigarette, das Sehn-Sucht-Symbol, in der Hand hält“.
Ton und Musik
Ein Großteil seiner distanzierenden, ironisch brechenden Wirkung erzielt der Film durch den Einsatz des Tons. Zum Teil kontrapunktisch wird die Spielhandlung ergänzt durch Radioreportagen, Schlager der Zeit und Hintergrundgeräusche, am Anfang Bombenexplosionen und Maschinengewehrfeuer, am Schluss die Presslufthämmer des Wiederaufbaus. Bis zu vier Tonebenen (nicht-diegetische Musik, Dialog, Geräusche und der Radioton) liegen übereinander, so dass es manchmal schwierig wird, den Gesprächen zu folgen.
Ebenfalls weniger zur Zeitverankerung dienend als vielmehr mit einer Kommentarfunktion versehen, ist auch Peer Rabens Filmmusik, die gerade in emotionalen Szenen der Distanzierung und der Objektivierung dient. Raben schaffe es, „Musikpassagen so anzulegen, dass eine subjektive emotionale Perspektive mit einem objektiven musikalischen Kommentar kontrastiert wird“, merkt Elsaesser an. So erklingt etwa in einer Szene, in der Maria sehnsüchtig an ihren Mann zurückdenkt, die Melodie des an Marschmusik gemahnenden Westerwaldlieds, gespielt auf einem Xylophon.
Ähnlich wie die Filmmusik werden auch Schlager wie Caterina Valentes Ganz Paris träumt von der Liebe und Rudi Schurickes Capri-Fischer eingesetzt, nicht als emotionalisierendes, nostalgisches Zeitprodukt, sondern aus der ironischen Distanz der 1970er Jahre heraus und mit der Erkenntnis, dass die in den Schlagern transportierten Heile-Welt-Träume gescheitert sind. Dieser den Realismusgrad des Films schwächende Einsatz von Ton und Musik, die gemäß Sang-Joon Bae „tonale Stilisierung der Historiographie“, dient der Synchronisierung privater und öffentlicher Geschichte und der kritischen Distanzierung vom Zeitgeschehen.
Themen und Motive
Intertextualität
Fassbinder bestätigt, dass er in Die Ehe der Maria Braun neben der einfachen Liebesgeschichte auch weitere Bedeutungsebenen angelegt hat: „Bei Maria Braun hat das Publikum die Möglichkeit, bei einer recht simplen Geschichte einzusteigen, wobei ich aber gleichzeitig auch komplexere Dinge einfließen lasse.“ So kann der Film als klassisches Melodram, als desillusioniert-pessimistische Rückschau auf die Nachkriegszeit oder die Figur der Maria gar als Allegorie der jungen Bundesrepublik gelesen werden.
Fassbinder erreicht für den Film diese Vieldeutigkeit, indem er an die verschiedensten Rezeptionsgewohnheiten des Publikums anknüpft und sich dessen Bildergedächtnis und seine Erfahrungen mit Stil- und Genrekonventionen zunutze macht. Elsaesser zählt als in Die Ehe der Maria Braun visuell oder motivisch zitierte Texte auf: Werke des Film noir wie Solange ein Herz schlägt (Mildred Pierce, Michael Curtiz, 1945) und Im Netz der Leidenschaften (The Postman Always Rings Twice, Tay Garnett, 1946), Detlef Siercks Zarah-Leander-Filme, die Schnulzen und Heimatfilme der Nachkriegszeit, Trümmerfilme wie Zwischen gestern und morgen (Harald Braun, 1947), die Skandalfilme der Adenauer-Ära wie Das Mädchen Rosemarie (Rolf Thiele, 1958), aber auch Kriegsheimkehrer-Dramen wie Borcherts Draußen vor der Tür, Ernst Tollers Hinkemann und dokumentarisches Material wie Wochenschauen.
An all diese Seherlebnisse der Zuschauer knüpft Fassbinder an und verwebt die teils widersprüchlichen Subtexte des Ausgangsmaterials, wobei er durch Distanzierung und Ironie die Vorbildtexte variiert: „Fassbinder übernimmt alle Klischees, aber verfremdet sie durch Häufung, Übertreibung und Akzentuierung“, kommentiert Anton Kaes. Elsaesser sieht daher in Die Ehe der Maria Braun „einen ausgesprochen intertextuellen Film“, gar einen „postmodernen Film“.
Melodramatik
Vordergründig ist Die Ehe der Maria Braun ein Melodram in der Tradition von Douglas Sirks amerikanischen Filmdramen wie etwa Zeit zu leben und Zeit zu sterben (A Time to Love and a Time to Die, 1958), eine in der Anlage tragische Geschichte einer Frau, die zwischen zwei Männern steht und deren wahre Liebe letztendlich durch schicksalhafte Umstände unerfüllt bleibt: Anton Kaes merkt an, der Film handle wie so oft bei Fassbinder „von den unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsüchten privater Individuen, von der Ausbeutung und Ausbeutbarkeit ihrer Gefühle und ihrem Scheitern an sich selbst und an der Gesellschaft“.
Kennzeichnend ist Marias Ausspruch im Film „Es ist eine schlechte Zeit für Gefühle“; der praktische Erfolg ihres Alltagslebens zwingt sie, ihre Emotionen ständig aufzuschieben. Elsaesser sieht darin „die Selbstdisziplin einer erbarmungslosen Doppelexistenz von Leib und Seele“. Maria geht für ihre Liebe fremd, tötet gar für ihre Liebe und wird letztendlich bitter enttäuscht, als sie erkennt, dass sie nur das Objekt eines Handels war, ein Opfer auch der Zeitumstände: „Verrat […] ist die Basis des Geschäftsbetriebs Wirtschaftswunder. Gefühle haben ihren ökonomischen Stellenwert“, so Wolfgang Limmer. Maria ist ihren Gefühlen treu geblieben, hat jedoch ihre Kraft damit vergeudet. Ihre Tüchtigkeit führt sie zwar zu wirtschaftlichem Erfolg, aber auch zur persönlichen Niederlage. Als sie dies erkennt, führt sie willentlich ein Ende herbei, zumindest in der Drehbuchversion in eindeutiger Weise. Peter Märthesheimer notierte im Presseheft zum Film: „Sie verweigert es, leicht zu leben.“
Historizität
Fassbinder bezieht sich am Beispiel der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik auf die gesamte geschichtliche Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert, die trotz aller Brüche und Umschwünge eine Vielzahl von Kontinuitäten aufweist: die Mentalität der Kleinbürger, die Obrigkeitshörigkeit und das Spießertum. Diese „Dialektik von Kontinuität und Bruch“ spiegle der Film, merkt Elsaesser an.
Die Zeitbeurteilung als verpasste Chance der Geschichte auf einen echten Neuanfang nimmt Fassbinder deutlich aus der Sicht der 1970er Jahre vor, gibt somit auch einen Kommentar zur Entstehungszeit des Films ab. Es gehe ihm, so Kaes, „um die Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart, um den Moment der Erkenntnis, in dem sich Vergangenes und Gegenwärtiges gegenseitig blitzartig erhellen“. Fassbinder will aufzeigen, dass die Verdrängungsmechanismen der 1950er zur gesellschaftlichen Explosion in den 1960er Jahren führten, die wiederum zur Entstehungszeit des Films einer resignierten Ernüchterung gewichen war. Kaes zieht eine Parallele zwischen dem Ende von Die Ehe der Maria Braun und dem von Antonionis Zabriskie Point, wo ebenfalls ein Haus explodiert. Dieses Motiv zeige die Enttäuschung der beiden Regisseure über das Scheitern der Gesellschaftsutopien, ihre „hilflose Aggressivität gegenüber dem ‚System‘ als ganzem“.
Diese Rückbetrachtung, das Scheitern von Marias privater Utopie, einhergehend mit dem Scheitern der gesellschaftlichen Utopien der 1960er Jahre, gestaltet Fassbinder „offen als Konstrukt einer späteren Epoche“, wie Kaes kommentiert. So dient der Ton im Film nicht zur Zeitverankerung, sondern als Kontrapunkt, die Radiotonausschnitte etwa als kommentierender Chor, die Hintergrundgeräusche als Zeichen einer ununterbrochenen Kontinuitätskette zwischen Krieg und Wiederaufbau. Es „setzen sich die Kriegsgeräusche des Dritten Reiches im Wiederaufbau der Bundesrepublik fort“, so Sabine Pott. So wirkt die Geschichtssicht stilisiert, weniger auf eine realistische Darstellung ausgelegt als auf das Setzen von Kommentaren anhand von prominent dargestellten ikonographischen Bildmotiven wie der US-Flagge, Hershey-Schokolade oder Camel-Zigaretten. Eine Großaufnahme einer Camel-Zigarettenschachtel zeigt etwa deutlich die (anachronistische) Herkunftsbezeichnung Bundesrepublik Deutschland, ein offensichtlicher Bruch Fassbinders mit der Geschichtsfiktion.
Allegorik
„Fassbinders Geschichtsschreibung ist eine private“, stellt Pott fest. Indem er Geschichte am persönlichen Schicksal einer Frau festmacht, synchronisiert er deren Schicksal mit dem ihrer Umwelt. Figuren wie Maria werden in Fassbinders Werk somit zu „Inkarnationen ihrer Epoche, parabolisch spiegeln sie in ihrem politisch unbewussten Privatleben die kollektive Mentalität der Zeit“. Maria Braun kann mit ihrem erstaunlichen wirtschaftlichen Aufstieg, der jedoch nur um den Preis des Verlustes von emotionalen Bedürfnissen geschieht, als Allegorie des jungen Westdeutschlands mit seinem Wirtschaftswunder gesehen werden. Anton Kaes deutet, Deutschland sei durch Adenauers Strategie der kühlen Vertragspolitik und der Wiederbewaffnung genau so verraten worden wie Maria von ihrem Mann und ihrem Liebhaber.
Maria nutzt zunächst ihren Status als „Trümmerfrau“, aufgrund der kriegsbedingten Abwesenheit der Männer aktiv patriarchalische Strukturen aufzubrechen und zu wirtschaftlichem Wohlstand zu gelangen. Doch diese Epoche ist nur von kurzer Dauer. Mit dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit und den ersten Anzeichen wiedergewonnenen nationalen Selbstbewusstseins endet auch die Herrschaft dieser aktiven Frauen. Deutlich macht Fassbinder dies an den den Film umklammernden Porträts der Regierungschefs, den dem Hitlerporträt am Beginn des Films folgenden Bildern der Nachkriegskanzler an seinem Ende. Roth kommentiert: „Die Männer haben wieder alle Trümpfe in der Hand“. Das fehlende Porträt Brandts erklärt Fassbinder damit, dass dieser eine Ausnahmestellung in der Kontinuität der deutschen Kanzler innehabe: „Trotz seines Scheiterns […] unterscheidet er sich doch noch von den anderen Kanzlern.“
Die Synchronisierung von öffentlicher und privater Ebene geschieht wiederum durch die Kommentarfunktion der Radioübertragungen. Einer Rede Adenauers gegen die Wiederbewaffnung zu Beginn des Films folgt gegen Ende eine, in der er sich Adenauer für die Aufrüstung ausspricht. Maria strauchelt während dieser zweiten Rede und erbricht sich, eine extreme private Reaktion auf eine gesellschaftlich-politische Entwicklung. Die letzten sieben Filmminuten, die finale Konfrontation mit der Wahrheit und die darauf folgende Explosion, werden von Herbert Zimmermanns ungekürzter Originalreportage der letzten Minuten des Endspiels Deutschland gegen Ungarn begleitet, die nicht nur als Zeiteinbettung der Szene gelesen werden kann, sondern auch als Kommentar zu Marias Leben, zum Kampf um ihre Ehe, die ihr Ende in der Explosion findet, dann gipfelnd mit Zimmermanns „Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus!“
Einordnung und Nachwirkung
Die Ehe der Maria Braun war der Auftakt zu Fassbinders sogenannter BRD-Trilogie; es folgten Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982), die ebenfalls anhand von Frauenschicksalen Aspekte der Nachkriegsgeschichte beleuchteten. Diese Filme setzten den Ton und ebneten den Weg für weitere deutsche Spielfilme, die auf ähnliche Weise die private Entwicklung einer weiblichen Hauptfigur und die öffentliche Geschichte verwebten, etwa Deutschland, bleiche Mutter (Helma Sanders-Brahms, 1980) oder Edgar Reitz’ Heimat-Serie.
Der Film festigte Hanna Schygullas Ruf als ideale Fassbinder-Schauspielerin, sie wurde, so Elsaesser, endgültig „zur Ikone, zum Emblem“ Fassbinderschen Schaffens, obwohl sie die Zusammenarbeit mit ihm eigentlich schon beendet hatte. Die Rolle rückte Schygulla auch international in das Interesse der Öffentlichkeit. Ihre Darstellung einer aktiven Frau, die sich Freiheit und Selbstbestimmung erkämpft, machte sie für den feministischen Zeitgeist der späten 1970er Jahre attraktiv. Der mit Die Ehe der Maria Braun erzielte Publikumserfolg erleichterte Fassbinder die Finanzierung seiner Folgeprojekte. Sein Traum, internationale Großprojekte zu verwirklichen, gar in Amerika arbeiten zu können, rückte in greifbare Nähe.
Durch die internationale Bekanntheit etablierte sich Die Ehe der Maria Braun neben Volker Schlöndorffs oscargekrönter Blechtrommel (1980) als Markenzeichen des Neuen Deutschen Films außerhalb Europas. Fassbinders Film wurde anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschen Filmpreisverleihung 1989 mit einem Sonderpreis geehrt. 2003 nahm die Expertenkommission der Bundeszentrale für politische Bildung Die Ehe der Maria Braun in den Filmkanon auf. Thomas Ostermeier adaptierte im Jahr 2007 das Drehbuch von Märthesheimer und Fröhlich für das Theater, der das Stück mit Brigitte Hobmeier als Maria auf die Bühne der Münchner Kammerspiele brachte. Mit seiner Inszenierung wurde Ostermeier zum Berliner Theatertreffen 2008 eingeladen.
Literatur
Drehbuch
Peter Märthesheimer/Pea Fröhlich/Michael Töteberg (Hrsg.): Die Ehe der Maria Braun. Ein Drehbuch für Rainer Werner Fassbinder. Belleville Verlag, München 1997. ISBN 3-923646-58-5
Literarische Nacherzählung
Gerhard Zwerenz: Die Ehe der Maria Braun. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1979. ISBN 3-442-03841-3
Sekundärliteratur
Sang-Joon Bae: Rainer Werner Fassbinder und seine filmästhetische Stilisierung. Gardez! Verlag, Remscheid 2005. ISBN 3-89796-163-6, S. 316–327.
Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder. Bertz Verlag, Berlin 2001. ISBN 3-929470-79-9, S. 153–174.
Robert Fischer/Joe Hembus: Der Neue Deutsche Film 1960 –1980. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1981. ISBN 3-442-10211-1. S. 162–164.
Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hrsg.): Rainer Werner Fassbinder. 3. ergänzte Auflage. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1979. ISBN 3-446-12946-4, S. 182–188.
Anton Kaes: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film. Edition text + kritik, München 1987. ISBN 3-88377-260-7, S. 75–105.
Sigrid Lange: Einführung in die Filmwissenschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007. ISBN 978-3-534-18488-0. Darin eine Filmanalyse zu Die Ehe der Maria Braun: S. 66–84.
Yann Lardeau: Le mariage de Maria Braun (Rezension), in Cahiers du cinema, N° 308, Fevrier 1980, S. 48–50
Sabine Pott: Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder. Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2001. 2. Durchgesehene Auflage 2004. ISBN 3-631-51836-6, S. 19–99.
Herbert Spaich: Rainer Werner Fassbinder – Leben und Werk Beltz, Weinheim 1992. ISBN 3-407-85104-9. S. 300–308.
Christian Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk eines maßlosen Genies. Rogner & Bernhard, Hamburg 1993. ISBN 3-8077-0275-X, S. 353–359.
Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2002. ISBN 3-499-50458-8. S. 116–121.
Weblinks
, Film- und Hintergrundinformationen, Rainer Werner Fassbinder Foundation, Berlin
Einzelnachweise und Anmerkungen
Filmtitel 1979
Deutscher Film
Filmdrama
Rainer Werner Fassbinder |
490101 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mainz | Mainz | Mainz () () ist die Landeshauptstadt des Landes Rheinland-Pfalz und mit Einwohnern zugleich dessen größte Stadt. Mainz ist kreisfrei, eines der fünf rheinland-pfälzischen Oberzentren und Teil des Rhein-Main-Gebiets. Mit der angrenzenden hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden bildet sie ein länderübergreifendes Doppelzentrum mit rund 500.000 Einwohnern auf 301,67 Quadratkilometern. Mainz und Wiesbaden sind neben Berlin und Potsdam die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze. Im Verbund mit den jüdischen Gemeinden der oberrheinischen Städte Speyer und Worms wurden die Monumente dieser SchUM-Städte am 27. Juli 2021 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
Die zu römischer Zeit gegründete Stadt ist Sitz der Johannes Gutenberg-Universität, des römisch-katholischen Bistums Mainz sowie mehrerer Fernseh- und Rundfunkanstalten, wie des Südwestrundfunks (SWR) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Mainz ist eine Hochburg der rheinischen Fastnacht.
Name der Stadt
Entwicklung des Stadtnamens
Im Laufe der Geschichte veränderte sich der Name der Stadt mehrmals, von einer verbindlichen Schreibweise kann erst seit dem 18. Jahrhundert gesprochen werden. Der römische Name „Mogontiacum“ lässt sich von der keltischen Gottheit Mogon ableiten (Mogont-i-acum = „Mogons Land“). Mogontiacum wurde in der Historiographie erstmals von dem römischen Historiker Tacitus in seinem Anfang des 2. Jahrhunderts entstandenen Werk Historien im Zusammenhang mit dem Bataveraufstand schriftlich erwähnt. Auch abweichende Schreibweisen und Abkürzungen waren zu Zeiten der römischen Herrschaft bereits geläufig: „Moguntiacum“ oder verkürzt als „Moguntiaco“ in der Tabula Peutingeriana.
Im Mittellateinischen wurde der Name ab dem 6. Jahrhundert verkürzt und fortan „Moguntia“ bzw. „Magantia“ geschrieben und ausgesprochen. Im 7. Jahrhundert änderte sich der Stadtname zu „Mogancia“, „Magancia urbis“ bzw. „Maguntia“, im 8. Jahrhundert zu „Magontia“. Im 11. Jahrhundert war der Name wieder bei „Moguntiacum“ bzw. „Moguntie“ angekommen. Überhaupt wurde der Stadtname häufig nicht von wirklicher Sprachentwicklung, sondern von der jeweils herrschenden „Mode“ der Aussprache beeinflusst. Das 12. Jahrhundert bezeichnete die Stadt als „Magonta“, „Maguntia“, „Magontie“, und „Maguntiam“. Eine arabische Weltkarte aus gleicher Zeit nennt sie „maiansa“. Von 13./14. bis zum 15. Jahrhundert wandelte sich der Name von „Meginze“ zu „Menze“, wobei das die Namensentwicklung in lateinischen Quellen ist. Deutschsprachige Quellen sprechen 1315 von „Meynce“, 1320 von „Meintz“, 1322 von „Maentze“, 1342 von „Meintze“, 1357 wieder von „Meintz“ und 1365 von „Mayntz“. Der damals entstandene Familienname „Mayntz“ ist heute noch in dieser Schreibweise gebräuchlich. Später nannte man sich auch Mainzer. In der jüdischen Literatur des Mittelalters taucht auch die Bezeichnung Magenza auf. Bis heute lautet der Name im Italienischen „Magonza“.
Im 15. Jahrhundert taucht zum ersten Mal die Schreibweise „Maintz“ auf. Geläufiger sind zu dieser Zeit aber noch die Schreibweisen „Menze“, „Mentz(e)“, „Meintz“ oder „Meyntz“. Die Namensformen mit ai oder ay setzten sich seit dem 16. Jahrhundert und endgültig in der Barockzeit durch. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es dann auch kaum noch Änderungen des Stadtnamens. Eine Ausnahme bildet die französische Namensform Mayence während der französischen Besetzung 1792/93 und während der Zugehörigkeit zu Frankreich von 1798 bis 1814.
Im Mainzer Dialekt gibt es zwei Varianten des Stadtnamens, Meenz und Määnz, über deren Korrektheit in der Bevölkerung unterschiedliche Ansichten bestehen. Untersuchungen haben herausgefunden, dass die Schreib- und Ausspracheform Meenz (mit geschlossenem e-Laut ausgesprochen) in der Altstadt bevorzugt, die andere Variante Määnz (mit offenem e-Laut) eher in der Neustadt, den Vororten und dem rheinhessischen Umland verwendet wird.
Geographie
Überblick
Mainz befindet sich auf einer Höhe von 82 am Rhein bis im Ortsbezirk Ebersheim. Die Stadt liegt am westlichen (linken) Ufer des Rheins, der die östliche Stadtgrenze bildet, mit Rheinkilometer 500 ungefähr auf halbem Wege zwischen Bodensee und Nordsee. Im Süden und Westen wird die Stadt im Mainzer Becken vom Rande der rheinhessischen Hochfläche begrenzt und im Norden dehnt sich ein vom Rhein zurückgewichenes Ufervorland aus. Durch Mainz hindurch läuft der 50. Breitengrad nördlicher Breite.
Lage
Die Stadt Mainz liegt gegenüber der Mündung des Mains am Rhein. Im näheren Umkreis liegen – außer dem unmittelbar benachbarten Wiesbaden – die Großstädte Frankfurt am Main, Darmstadt, Ludwigshafen am Rhein und Mannheim.
Eine politische Besonderheit bilden die sechs ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteile Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim („AKK“) sowie Mainz-Bischofsheim, Mainz-Ginsheim und Mainz-Gustavsburg („BGG“). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aufgrund der Grenzziehung zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone die AKK-Stadtteile der treuhänderischen Verwaltung der Stadt Wiesbaden übergeben bzw. wurden als Bischofsheim und Ginsheim-Gustavsburg selbständige Kommunen im hessischen Landkreis Groß-Gerau. Die AKK-Stadtteile gehören bis heute nach dem Lebensgefühl vieler Einwohner noch immer zu Mainz, was sich unter anderem in der auf Mainz ausgerichteten Infrastruktur äußert. Die Stadt Mainz bezeichnet sie als „de facto zu Mainz“ gehörig. Aufgrund der rechtlich nie ganz abgeschlossenen Gebietsübertragung nach Wiesbaden tragen sie in ihrem amtlichen Namen noch immer das Präfix „Mainz-“ (siehe auch AKK-Konflikt und rechtsrheinische Stadtteile von Mainz).
Nachbargemeinden
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an die Stadt Mainz. Sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Norden genannt:
rechtsrheinisch (Hessen):Landeshauptstadt Wiesbaden (kreisfreie Stadt, einschließlich Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim) sowie Ginsheim-Gustavsburg (Landkreis Groß-Gerau).
linksrheinisch die zum Landkreis Mainz-Bingen gehörigen Gemeinden:Bodenheim, Gau-Bischofsheim und Harxheim (alle Verbandsgemeinde Bodenheim),Zornheim, Nieder-Olm, Ober-Olm, Klein-Winternheim und Essenheim (alle Verbandsgemeinde Nieder-Olm),Ingelheim am Rhein mit den Stadtteilen Wackernheim und Heidesheim am Rheinsowie Budenheim (verbandsfreie Gemeinde).
Stadtgliederung
Prinzipien
Das Stadtgebiet von Mainz ist in 15 Ortsbezirke aufgeteilt.
Jeder Ortsbezirk hat einen aus jeweils 13 direkt gewählten Mitgliedern bestehenden Ortsbeirat und einen ebenfalls direkt gewählten Ortsvorsteher, der Vorsitzender des Ortsbeirats ist.
Der Ortsbeirat ist zu allen wichtigen Fragen, die den Ortsbezirk betreffen, zu hören. Die endgültige Entscheidung über eine Maßnahme obliegt dann jedoch dem Gemeinderat der Stadt Mainz. Zudem bestehen sieben Planungsbereiche, 65 Stadtbezirke sowie 183 statistische Bezirke, die gleichzeitig den Stimmbezirken entsprechen.
Die Ortsbezirke Altstadt, Hartenberg-Münchfeld, Neustadt und Oberstadt entsprechen (ohne das vorher zu Gonsenheim gehörende Münchfeld) dem ehemaligen Ortsbezirk Mainz-Innenstadt, der 1989 aufgelöst worden war.
Ortsbezirke
Anmerkung: Die Kennzahlen beziehen sich auf die Einwohner mit Hauptwohnsitz im jeweiligen Gebietsteil.
Eingemeindungen
Die Tabelle unter diesem Abschnitt listet ehemals selbständige Gemeinden und Gemarkungen auf, die im Rahmen der Eingemeindungen in die Stadt Mainz eingegliedert wurden. Die Abtrennung der rechtsrheinischen Stadtteile nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch weitere Eingemeindungen von 1969 wieder ausgeglichen. Ab 1962 entstand mit dem Lerchenberg sogar ein völlig neuer Stadtteil.
Klima
Überblick
Der Jahresniederschlag beträgt 613 mm und liegt damit im unteren Viertel der in Deutschland erfassten Werte. Der trockenste Monat ist der Februar, am meisten Regen fällt im Juni. In diesem Monat ist der Niederschlag im Schnitt 1,7-mal höher als im Februar. Die Niederschläge variieren kaum und sind gleichmäßig übers Jahr verteilt.
Die mittlere jährliche Durchschnittstemperatur lag in der Periode 1961 bis 1990 bei 10,1 °C und damit deutlich über dem deutschen Durchschnitt.
Klimadiagramm für die Stadt
Klimanotstand
In seiner Sitzung am 25. September 2019 hat der Mainzer Stadtrat den Klimanotstand ausgerufen. Ein gemeinsamer Ergänzungsantrag von Stadtratsmitgliedern mehrerer Parteien stimmte mit großer Mehrheit und einzig mit Gegenstimmen von der AfD dem entsprechenden Antrag zu. Laut Antrag sollen alle künftigen Entscheidungen, Projekte und Prozesse der Verwaltung unter einen Klimaschutzvorbehalt gestellt werden, um damit die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu erreichen.
Geschichte
Territoriale Zugehörigkeit von Mainz
bis 1244: Erzbischöfliche Stadt
1244 – 1462: Freie Stadt
1462 – 1792: Kurfürstentum Mainz
ab Oktober 1792 unter französischer Besatzung
März – Juli 1793: Mainzer Republik
Juli 1793 – Dezember 1797: Kurfürstentum Mainz
Dezember 1797–1804: Erste Französische Republik (ab 1798 Département Donnersberg)
1804 – Mai 1814: Französisches Kaiserreich (Département Donnersberg)
Mai – Juni 1814: Generalgouvernement Mittelrhein
Juni 1814–1816: provisorische österreichisch-preußische Administration
1816–1918: Großherzogtum Hessen
1919–1945: Volksstaat Hessen
seit 1946: Rheinland-Pfalz
Vorgeschichte und römische Zeit
Das Stadtgebiet des heutigen Mainz war schon zur letzten Eiszeit vor 20.000 bis 25.000 Jahren eine Raststätte für Jäger, wovon bei Ausgrabungen im Jahr 1921 entdeckte Relikte zeugen.
Erste dauerhafte Ansiedelungen im Mainzer Stadtgebiet sind jedoch keltischen Ursprungs. Die Kelten waren in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. die dominierende Kraft am Rhein. Aus diesen keltischen Siedlungen und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden keltischen Gottheit Mogon (in etwa vergleichbar dem griechisch-römischen Apollon) leiteten die nach dem Gallischen Krieg (52 v. Chr.) am Rhein eintreffenden Römer die Bezeichnung „Mogontiacum“ für ihr neues Legionslager ab. Lange Zeit wurde angenommen, dass dieses Lager um 38 v. Chr. gegründet wurde. Neuere Forschungen haben jedoch ergeben, dass die Gründung des Lagers (und damit letztlich der Stadt Mainz) erst später, nämlich um 13/12 v. Chr. durch Drusus, erfolgte.
Nachdem das Doppellegionslager Mogontiacum gegründet worden war, wurde das Lager, das im Bereich des heutigen Kästrichs liegt, sehr schnell von einzelnen Ansiedelungen (lat. cannabae) umgeben. Die beiden Legionen brauchten Handwerker und Gewerbetreibende zur Aufrechterhaltung ihrer Einsatzfähigkeit. Diese Ansiedlungen sind der Ausgangspunkt der urbanen Entwicklung von Mainz. Die Stadt gehörte anschließend etwa 500 Jahre lang zum Imperium Romanum und war ab ca. 89 n. Chr. Hauptstadt der Provinz Germania superior und, ab dem 4. Jahrhundert, Germania prima. Im Unterschied zu Köln, der Hauptstadt der zweiten germanischen Provinz, scheint Mogontiacum dabei allerdings nicht zur colonia erhoben worden zu sein. Vor allem die große Rheinbrücke machte den Ort dabei wirtschaftlich und strategisch bedeutend. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts entstand die erste Stadtmauer. Spätestens ab der Mitte des 4. Jahrhunderts bestand in der Stadt eine christliche Gemeinde unter Leitung eines Bischofs. Bereits seit etwa 350 scheint keine Legion mehr in Mainz stationiert gewesen zu sein.
Mittelalterliche Bischofsstadt
Um 406 wurde Mainz von Vandalen, Alanen und Sueben erobert und geplündert. Nach der Zeit der so genannten Völkerwanderung, in der Westrom zerfiel, begann allmählich der Aufstieg der Stadt, die spätestens um 480 endgültig unter fränkische Herrschaft gelangte. Die Funktion als Umschlagplatz für Handelsgüter aller Art (später vor allem Messewaren, die für Frankfurt bestimmt waren) beschleunigte die Stadtentwicklung. Besiedelt blieb vor allem der Raum zwischen dem alten Römerlager und dem Rhein.
Am Ende dieser Entwicklung stand eine herausragende Bedeutung auf kultureller, religiöser und politischer Ebene. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts wurde von Mainz aus durch Erzbischof Bonifatius aktiv die Christianisierung des Ostens, vor allem der Sachsen, betrieben. 782 ist Mainz zum Erzbistum erhoben worden. Die Kirchenprovinz entwickelte sich in der Folge zur größten jenseits der Alpen. Im 9. und 10. Jahrhundert erwarb sich Mainz den Titel Aurea Moguntia. Der Einfluss der Mainzer Erzbischöfe ließ diese zu Reichserzkanzlern, Landesherren des kurmainzischen Territoriums und Königswählern (Kurfürsten) aufsteigen. Erzbischof Willigis (975–1011) ließ den Mainzer Dom als Zeichen seiner Macht errichten und war zeitweise als Reichsverweser der bestimmende Mann im Reich. Im Zuge dieses Aufstieges der geistlichen Macht in weltlichen Angelegenheiten war die Stadt Mainz selber unter die Kontrolle ihres Erzbischofs gefallen.
Das Hochmittelalter brachte für die Bürger erstmals besondere Privilegien, die ihnen von Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken (1110–1137) verliehen wurden. Sie beinhalteten vor allem Steuerfreiheiten und das Recht, sich nur innerhalb der Stadt vor Gericht verantworten zu müssen. Nach der Ermordung des Erzbischofs Arnold von Selenhofen im Jahr 1160 wurden diese Privilegien jedoch wieder rückgängig gemacht. Zudem wurden die Stadtmauern auf Befehl Kaiser Friedrich Barbarossas geschleift. Obgleich derart gezeichnet, war Mainz schon bald wieder Zentrum der Reichspolitik. Friedrich Barbarossa lud schon 1184 die Elite des Reiches zu einem Hoftag anlässlich der Schwertleite seiner Söhne nach Mainz, der einigen Chronisten als größtes Fest des Mittelalters gilt. Schon 1188 kam er erneut nach Mainz, um dort auf dem „Hoftag Jesu Christi“ zum Dritten Kreuzzug aufzubrechen. Neben Speyer und Worms galt Mainz als eine der SchUM-Städte und als Geburtsstätte der aschkenasischen Kultur.
1212 krönte Siegfried II. von Eppstein den Stauferkaiser Friedrich II. im Mainzer Dom zum König. Friedrich II. kehrte 1235 nach Mainz zurück, um dort einen Reichstag abzuhalten. Auf diesem wurde am 15. August der „Mainzer Landfriede“ erlassen.
Freie Stadt
In den Auseinandersetzungen, die zwischen den Staufern und ihren Gegnern in den 1240er-Jahren immer heftiger wurden, ließen sich die Mainzer Bürger von beiden Seiten umwerben. Die Folge dieser Politik war, dass die Bürger als Preis für ihre Unterstützung 1244 von Erzbischof Siegfried III. von Eppstein ein umfassendes Stadtprivileg erhielten. Der Erzbischof war danach nur noch formal Oberhaupt der Stadt, die Selbstverwaltung, Gerichtsbarkeit und die Entscheidungsgewalt über neue Steuern ging auf die Bürgerschaft bzw. den 24-köpfigen Stadtrat über. Außerdem entband das Privileg die Bürger von ihrem Gefolgszwang in allen kriegerischen Auseinandersetzungen, die nicht die Stadtverteidigung betrafen. Von diesem Zeitpunkt an war Mainz eine „Freie Stadt“.
Die Zeit als Freie Stadt (bis 1462) gilt als Höhepunkt der Stadtgeschichte. Der politische Einfluss der Bürgerschaft erreichte während dieser Zeit die höchste kommunale und überregionale Bedeutung, wovon die Gründung des Rheinischen Städtebundes 1254 ein deutliches Zeugnis ablegt. Handel und Gewerbe konnten in dieser Zeit nicht zuletzt unter dem Schutz des Städtebunds und der Garantie des Mainzer Landfriedens von 1235 florieren. Mainz stieg zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort auf.
Ab 1328 begann durch Konflikte mit dem Erzbischof der Niedergang des freien Bürgertums und seiner Privilegien. In der Mainzer Stiftsfehde schlugen sich die Bürger auf die Seite des Erzbischofs Diether von Isenburg, der sich sowohl Kaiser als auch Papst zum Gegner gemacht hatte. Die Stadt wurde 1462 durch Adolf II., den Konkurrenten Diethers um das Erzbischofsamt, eingenommen. Adolf II. ließ sich von den Mainzer Bürgern daraufhin alle Privilegien aushändigen und beendete die Zeit der Freien Stadt. Mainz wurde kurfürstliche Residenzstadt und entwickelte sich in der Folge zur Adelsmetropole ohne eigene politische Bedeutung.
Kurfürstliche Residenzstadt
Als seinen Nachfolger empfahl Adolf II. dem immer mächtiger werdenden Mainzer Domkapitel ausgerechnet wieder Diether von Isenburg. Dieser gründete 1477 die schon von Adolf II. geplante Universität.
Die 1517 begonnene Reformation hatte zunächst gute Aussichten in Mainz. Der dort um 1450 von Johannes Gutenberg erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglichte eine rasche Ausbreitung der reformatorischen Schriften und der Mainzer Erzbischof und Kardinal Albrecht von Brandenburg stand ihren Ideen zunächst aufgeschlossen gegenüber. Letztendlich konnte sie sich aber in Mainz nicht durchsetzen. Zweimal wählte das Domkapitel mit knapper Mehrheit katholische Erzbischöfe. Mit Ausnahme von Garnisonsgemeinden durfte sich bis 1802 keine evangelische Gemeinde in der Stadt bilden.
Die mittelalterliche Stadtbefestigung war ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einer moderneren Festungsanlage gewichen, die schließlich die ganze Stadt umfasste. Außerhalb dieser Festung durften keine Steinbauten entstehen, um anrückenden Truppen keinen Schutz bieten zu können. Deshalb konnte sich die Stadt nur in den innerhalb der Mauern verbliebenen Freiflächen entwickeln, was das Wachstum der Stadt bis in das 20. Jahrhundert hinein stark begrenzte.
Trotz dieser Festung wurde Mainz im Dreißigjährigen Krieg von der schwedischen Armee kampflos eingenommen. Maßgeblich zur Beendigung des Krieges trug Johann Philipp von Schönborn bei, der 1647 Erzbischof von Mainz wurde und unter dessen Pontifikat die Stadt sich schnell wieder von den Verheerungen des Krieges erholen konnte. Nach diesem Krieg wurde die Gerichtsbarkeit im Kurfürstentum Mainz neu geordnet und ab 1682 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die sonst bereits seit 1649 bestand.
In der nun aufkommenden Barockzeit entstanden glanzvolle Bauten in der Stadt, die auch heute noch zum Stadtbild gehören. Mit der Amtszeit des Kurfürsten Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim (1763–1774) erhielt die Aufklärung auch auf politischer Ebene Einzug in die „Stadt des Adels“.
Ende der alten Ordnung
Die Ideen der Aufklärung führten in Frankreich schließlich zur Revolution. 1790 war es zum sogenannten Mainzer Knotenaufstand gekommen. Nachdem Frankreich in den Koalitionskriegen 1792 das linke Rheinufer einschließlich Mainz erobert hatte, musste Fürstbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal aus der Stadt fliehen. Die Besatzungsmacht veranlasste im März 1793 die Gründung der „Mainzer Republik“ und ließ erste freie Wahlen abhalten, doch diese endete bereits im Juli desselben Jahres nach der preußischen Belagerung und Beschießung der Stadt und dem Abzug der Franzosen. Eine französische Belagerung 1795 war nicht erfolgreich, doch der Abzug der österreichischen Festungsbesatzung nach dem Frieden von Campo Formio führte Ende 1797 zur nächsten französischen Besetzung der Stadt. Der Adel verschwand aus Mainz und ließ die Stadt bürgerlich werden. Wie alle linksrheinischen Gebiete wurde auch Mainz von Frankreich annektiert und als Mayence Hauptstadt des französischen Département du Mont-Tonnerre (benannt nach dem Donnersberg) unter Verwaltung des französischen Präfekten Jeanbon St. André.
Im Großherzogtum Hessen
Durch den Verlust ihrer Residenzfunktion provinzialisierte die seit 1816 zum Großherzogtum Hessen gehörende Stadt im 19. Jahrhundert sehr stark. Bedeutende überregionale Ereignisse sind in der Stadtgeschichte zu dieser Zeit daher kaum zu finden. Allerdings war Mainz zu dieser Zeit Sitz der Mainzer Zentraluntersuchungskommission im Rahmen der Demagogenverfolgung infolge der Karlsbader Beschlüsse. Von nachwirkender Bedeutung ist die sich ab 1837 entwickelnde Mainzer Fastnacht.
Die Festungsfunktion (nun Bundesfestung des Deutschen Bundes) behinderte außerdem die Ausdehnung der Stadt und die Entwicklung der Einwohnerzahlen. Bis zum Ende der Festung hatte die Stadt fast nie mehr als 30.000 Einwohner. Bei Mainz lagen um 1856 siebzehn Rheinmühlen zusammengekettet und an den Pfeilerresten einer Römerbrücke verankert. Als ab den 1850er-Jahren die letzten freien Räume innerhalb der Festung, wie beispielsweise der Kästrich, bebaut und das Rheinufer in den 1880er-Jahren nach Nordosten verschoben wurde, konnte die Einwohnerzahl innerhalb der Altstadt nennenswert ansteigen. Jedoch konnte die Stadt aufgrund der Festungsfunktion lange nicht so wachsen wie beispielsweise Wiesbaden.
Die bedeutendste Entwicklung der Stadt geschah jedoch durch die Einverleibung des „Gartenfelds“ bzw. der Neustadt. Diese neu errichtete Stadtmauererweiterung löste ab 1872 einen Bauboom und Bevölkerungszuwachs in der Gründerzeit aus, der allerdings durch den Börsenkrach 1873 vorerst ausgebremst wurde. Möglich gemacht wurde diese Erweiterung nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust der Festung (von da an diente die Festung Metz als Bollwerk des Deutschen Reiches gegenüber Frankreich) nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Ab 1886 setzte sich dann zunehmend die Bautätigkeit in der Neustadt (und mit Verlegung des Hauptbahnhofs weg vom Rheinufer auch in dieser Zeit im Lauterenviertel) fort.
Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden die alten Festungsstrukturen endgültig abgerissen, sodass die Stadt nun auch außerhalb der bisherigen Mauern expandieren konnte. Die dadurch und durch die umfangreichen Eingemeindungen ausgelöste Expansion der Stadt führte zu weiterem Bevölkerungswachstum.
1852 wurde auf einem Acker bei Mainz ein 1,7 Kilogramm schwerer Steinmeteorit des Typs L6 gefunden. Der Fundort ist heute bebaut und liegt in der Nähe der Pariser Straße.
Nachdem Mainz bereits im Jahr 1860 den 4. Deutschen Feuerwehrtag ausrichtete, fand vom 3. bis 6. September 1904 in Mainz der 16. Deutsche Feuerwehrtag statt. Er war der erste nach der Jahrhundertwende.
Modernes Mainz
Der Erste Weltkrieg beendete den nach Schleifen der Stadtmauern begonnenen kurzen Aufschwung. Nach dem Krieg gingen die Goldenen Zwanziger am erneut, bis zum Juni 1930 von den Franzosen besetzten Mainz fast vollständig vorbei. Nach dem Ende der Besatzungszeit kam es erneut zu umfangreichen Eingemeindungen (siehe Tabelle oben), die das Stadtgebiet verdoppelten. Am 1. November 1938 wurde Mainz wie auch Offenbach am Main, Gießen, Darmstadt und Worms kreisfrei.
Der Nationalsozialismus konnte in Mainz zunächst nicht Fuß fassen. Noch zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 demonstrierten mehr Menschen gegen das neue System als dafür. Dennoch wurde die 3000 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde von Mainz fast vollständig deportiert. Die Stadt blieb vom Zweiten Weltkrieg bis 1942 verschont. Die ersten schwereren Bombenangriffe steigerten sich zum schlimmsten Angriff am 27. Februar 1945, als Mainz durch britische Bomber fast völlig zerstört wurde und ca. 1200 Menschen getötet wurden. Durch Brandbomben war ein Feuersturm entfacht worden. Am Ende des Krieges war die Stadt zu 80 % zerstört. Am 21. März 1945 wurde Mainz schließlich von US-Truppen im Rahmen der Operation Undertone besetzt. Der andernorts in Deutschland noch fortgesetzte Krieg endete am 8. Mai mit der Bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.
Nach dem Krieg wurde Mainz erneut von den Franzosen besetzt. Die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone bildete auf der Höhe von Mainz der Rhein, weswegen die rechtsrheinischen Stadtteile abgetrennt wurden. Einem Vorschlag aus dem Wiesbadener Regierungspräsidium folgend wurden die Stadtteile nördlich der Mainmündung, Amöneburg, Kastel und Kostheim, nach Wiesbaden eingemeindet, was ein Grund für die heutige Rivalität zwischen beiden Städten ist. Die rechtsrheinischen Stadtteile südlich des Mains, Bischofsheim, Ginsheim und Gustavsburg, wurden wieder selbstständige Gemeinden im Landkreis Groß-Gerau. Die Neubildung der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz zementierte diese Teilung. Schon 1946 wurde die 1798 aufgehobene Universität wieder errichtet. Mainz wurde 1946 durch die Verordnung Nr. 57 der französischen Besatzungsverwaltung zur Hauptstadt des neu gebildeten Landes Rheinland-Pfalz bestimmt und nahm diese Funktion 1950 anstelle des bisherigen provisorischen Regierungssitzes Koblenz auf. So konnte Mainz den fast 150-jährigen Prozess der Provinzialisierung beenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Einwohnerzahl auf etwa 76.000 gefallen. Erst Mitte der 1960er-Jahre erreichte sie wieder den Vorkriegswert.
1962 beging die Stadt ihre 2000-Jahr-Feier, die auf der damaligen (unbelegten) Auffassung beruhte, dass die Römer unter Agrippa bereits 38 v. Chr. ein Militärlager am Zusammenfluss von Rhein und Main gegründet hatten. Die Entstehung von Mainz-Lerchenberg als neuem Stadtteil nach 1962 sowie großflächige Eingemeindungen rund um Mainz 1969 beendeten die durch den Zweiten Weltkrieg entstandene Stagnation in der Stadtentwicklung und boten umfassende Ausbau- und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit der Ansiedlung des ZDF auf dem Lerchenberg begann ab 1976 der Ausbau zur Medienstadt, später folgte die Ansiedlung eines Studios des SWR und zeitweise des Sendezentrums von Sat.1. Diese Entwicklung wurde durch das mit zahlreichen Aktivitäten gefeierte Gutenbergjahr 2000 verstärkt. Neben anderen städtebaulichen Programmen wie beispielsweise der Altstadtsanierung ist Mainz seit dem vorgenannten Jahr auch am Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ beteiligt. Von 1969 bis Ende 1995 war das kreisfreie Mainz zudem Sitz der Kreisverwaltung Mainz-Bingen, ehe dieser nach Ingelheim verlegt wurde.
Am 25. März 2010 verlieh der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft der Stadt Mainz den Titel „Stadt der Wissenschaft“ des Jahres 2011. Von der Stadt wurden deshalb in Zusammenarbeit mit den Mainzer Hochschulen, den Vereinen und Bildungseinrichtungen zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Vorträge durchgeführt.
Am 23. Dezember 2010 ereignete sich gegen 02:36 Uhr ein Erdbeben der Stärke 3,5 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag im Stadtteil Lerchenberg. Größere Schäden richtete das Erdbeben nicht an. Ein Nachbeben (2,8 auf der Richterskala) um 06:52 Uhr folgte. Im benachbarten Wiesbaden wurde ein Wert von 3,2 auf der Richterskala erreicht.
Im September 2010 wurde in der Mainzer Neustadt feierlich und unter Beisein des Bundespräsidenten die Neue Synagoge eröffnet. Mitte 2011 öffnete nach zweijähriger Bauzeit die Coface-Arena in den Feldern bei Bretzenheim als neue Spielstätte des 1. FSV Mainz 05 (heute MEWA Arena). Im Dezember 2016 wurde nach 2,5-jähriger Bauzeit und mit Kosten in Höhe von 90 Millionen Euro im Rahmen des bundesweit größten Straßenbahnprojektes die „Mainzelbahn“ in Betrieb genommen. Seitdem verbinden die Linien 51 und 53 den Hauptbahnhof über Bretzenheim und Marienborn mit dem Lerchenberg. Am 15. April 2018 fand erstmals ein Bürgerentscheid in Mainz statt. Etwas mehr als 40 % der etwa 161.000 abstimmungsberechtigten Einwohner nahmen daran teil und stimmten mit 77 % gegen ein vom Stadtrat mehrheitlich beschlossenes Bauprojekt, den „Bibelturm“, als neu zu bauendem Teil des Gutenbergmuseums.
Einwohnerentwicklung
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Mainz zwischen 20.000 und 30.000 Einwohnern. Durch die Industrialisierung und die Erweiterung des Stadtgebiets in die heutige Neustadt wuchs diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten und hatte sich zwischen 1850 und 1900 mehr als verdoppelt. Im Jahr 1908 erreichte die Stadt erstmals die Grenze von 100.000 Einwohnern, wodurch sie zur Großstadt wurde. Seit 1952 hat Mainz dauerhaft mehr als 100.000 Einwohner, diese Zahl stieg in den folgenden Jahrzehnten auch durch mehrere Eingemeindungen an. 2011 wurde auch die Grenze von 200.000 Einwohnern überschritten. Ende 2017 hatten 215.058 Einwohner ihren Hauptwohnsitz in Mainz. Im Sommer 2019 überschritt die Einwohnerzahl (Haupt- und Nebenwohnsitz) laut Angaben der Stadt die Schwelle von 220.000 Einwohnern. Zum 31. Dezember 2022 hatten laut Statistischem Landesamt Rheinland-Pfalz 220.552 Einwohner ihren Hauptwohnsitz in Mainz.
Politik
Hoheitssymbole
Die Stadt Mainz führt ein Dienstsiegel, ein Wappen sowie eine Hiss- und eine Bannerflagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo.
Entwicklung des Stadtwappens
Das Wappen der Stadt Mainz zeigt zwei durch ein silbernes Kreuz verbundene, schräg gestellte, sechsspeichige, silberne Räder auf rotem Untergrund. Die Stadtfarben sind rot-weiß.
Ursprünglich zeigte das Wappen den Patron der Stadt, den Heiligen Martin. Das Ratssiegel der Stadt von 1300 zeigte diesen erstmals in Verbindung mit dem Rad (zur genauen Entstehungsgeschichte siehe den Hauptartikel). Der Erzbischof von Mainz, der zugleich auch Fürst des Kurstaates war, übernahm das Rad auch in das Territorialwappen. Zur Unterscheidung dazu führte die Stadt nun allein das Doppelrad als Wappen, wobei ab dem 16. Jahrhundert das Rad schräg gestellt wurde. Während der Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zu Frankreich wurden zunächst alle Wappen in den besetzten Gebieten verboten. Das Siegel der neugeschaffenen Mairie – des französischen Bürgermeisteramts – zeigte die Freiheitsgöttin mit der Jakobinermütze. Nach der Kaiserkrönung Napoleons I. 1804 enthielt das Stadtsiegel den französischen Kaiseradler. Am 13. Juni 1811 wurde das Mainzer Rad wieder zugelassen. Dem Wappen wurden oben in einem Balken die drei Bienen des Hauses Bonaparte hinzugefügt. Die Farben allerdings waren vertauscht. Zwischen 1835 und 1915 trug das Wappen noch ein besonderes Schildhaupt. Damit sollte Mainz als Bundesfestung abgebildet werden. Im Laufe der Geschichte der Stadt änderte sich auch die Gestalt des Rades mehrmals. Es kamen Speichen hinzu, Zusätze wurden angefügt oder auch wieder entfernt. Seit dem 12. Juni 1915 hat das Wappen seine heutige Form, die ab 1992 geringfügig modifiziert wurde und somit auch ohne Probleme als Stadtlogo verwendet werden konnte. Im Mai 2008 wurde diese mit einem leichten Bogen am oberen Wappenschild sowie mit einem etwas kürzeren Kreuz versehen.
Organisation
Die Stadt Mainz ist eine kreisfreie Stadt gemäß der Kommunalordnung des Landes Rheinland-Pfalz. Der Oberbürgermeister wird direkt gewählt; seine Amtszeit beträgt acht Jahre.
Die Stadt gehört zum Bundestagswahlkreis Mainz, dem neben Mainz auch Teile des Landkreises Mainz-Bingen angehören. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Daniel Baldy (SPD) hier das Direktmandat vor Ursula Groden-Kranich (CDU), die den Wahlkreis damit nach zwei Legislaturen (2013 und 2017) verlor. Aus dem Bundestagswahlkreis Mainz gehören neben Baldy die über die Landeslisten gewählten Tabea Rößner (Grüne) und Sebastian Münzenmaier (AfD) dem Deutschen Bundestag an.
Auf Landesebene ist Mainz derzeit in drei (bis 2021 zwei) Landtagswahlkreise unterteilt. Der Wahlkreis Mainz I umfasst seit einer Neuzuschneidung zur Landtagswahl 2021 die innerstädtischen Stadtteile. Hier gewann Katharina Binz (Grüne) 2021 das Direktmandat von Johannes Klomann (SPD). Bretzenheim, Gonsenheim, Hechtsheim, Mombach und Weisenau gehören zum Wahlkreis Mainz II; direkte Abgeordnete ist Doris Ahnen (SPD). Der neue Wahlkreis Mainz III umfasst die Stadtteile Drais, Ebersheim, Finthen, Laubenheim, Lerchenberg und Marienborn sowie im Landkreis Mainz-Bingen die Verbandsgemeinde Bodenheim. Als erster Wahlkreisabgeordneter des neuen Wahlkreises wurde Patric Müller (SPD) gewählt.
Stadtrat
Der Stadtrat von Mainz besteht aus 60 ehrenamtlichen Ratsmitgliedern, die zuletzt bei der Kommunalwahl am 26. Mai 2019 in einer personalisierten Verhältniswahl gewählt wurden, und dem hauptamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzendem. Seit den Wahlen 2019 sind die Grünen stärkste Fraktion im Stadtrat und lösten damit die CDU nach 25 Jahren in dieser Rolle ab (Details siehe Tabelle). Im Dezember 2009 wurde erstmals in Mainz eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen gebildet. Sie wurde sowohl nach den Kommunalwahlen 2014 als auch nach den Wahlen 2019 fortgeführt.
Die Sitzverteilung im Mainzer Stadtrat:
FW = Wählergemeinschaft – Freie Wähler Mainz e. V.
Pro MZ = Pro Mainz.
Oberbürgermeister
Bei der Stichwahl am 25. März 2012 wurde Michael Ebling (SPD) mit 58,2 % zum Oberbürgermeister gegen Günter Beck (Grüne) mit 41,8 % gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 34,3 %. Er folgte damit dem zuvor von 1997 bis Ende 2011 amtierenden Jens Beutel (SPD) im Amt des Oberbürgermeisters. Bei der Stichwahl zwischen Amtsinhaber Ebling und dem von CDU, ÖDP und Freien Wählern nominierten Herausforderer Nino Haase am 10. November 2019 wurde Ebling mit 55,2 % der Stimmen wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung lag in der Stichwahl bei 40,2 %.
Am 13. Oktober 2022 wurde Michael Ebling mit sofortiger Wirkung zum neuen rheinland-pfälzischen Innenminister ernannt, nachdem Roger Lewentz am Vortag von diesem Amt zurückgetreten war. Die erforderliche Neuwahl für das Amt des Oberbürgermeisters fand am 12. Februar 2023 statt. Da keine der sieben Bewerbungen die erforderliche Mehrheit erreichte, kam es am 5. März 2023 zu einer Stichwahl zwischen Nino Haase (parteilos; 40,2 % der Stimmen im 1. Wahlgang) und Christian Viering (Bündnis 90/Die Grünen; 21,5 %). Nino Haase wurde mit 63,6 % zum Oberbürgermeister gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,1 %. Haase wurde am 22. März 2023 in sein Amt eingeführt.
Amtsinhaber seit 1945
Folgende Personen waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs Oberbürgermeister von Mainz:
Rudolph Walther (parteilos), 1945
Emil Kraus (parteilos), 1945–1949
Franz Stein (SPD), 1949–1965
Jockel Fuchs (SPD), 1965–1987
Herman-Hartmut Weyel (SPD), 1987–1997
Jens Beutel (SPD), 1997–2011
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2012 (kommissarisch)
Michael Ebling (SPD), 2012–2022
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2022/23 (kommissarisch)
Nino Haase, parteilos, seit 2023
Für eine vollständige Übersicht siehe Liste der Stadtoberhäupter von Mainz.
Stadtvorstand
Der Stadtvorstand besteht aus dem Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos), dem das Dezernat I unterstellt ist, und den hauptamtlichen Leitern der anderen städtischen Dezernate. Die amtierenden Dezernatsleiter sind der Bürgermeister Günter Beck (Grüne, Dezernat II – Finanzen, Beteiligungen und Sport) sowie die Beigeordneten Manuela Matz (CDU, Dezernat III – Wirtschaft, Stadtentwicklung, Liegenschaften und Ordnungswesen), Eckart Lensch (SPD, Dezernat IV – Soziales, Kinder, Jugend, Schule und Gesundheit), Janina Steinkrüger (Grüne, Dezernat V – Umwelt, Grün, Energie und Verkehr) und Marianne Grosse (SPD, Dezernat VI – Bauen, Denkmalpflege und Kultur). Die Juristin Manuela Matz wurde am 21. November 2018 mit Wirkung zum 8. Dezember überraschend zur neuen Wirtschaftsdezernentin gewählt, da der bisherige Amtsinhaber Christopher Sitte (FDP) seine Kandidatur kurzfristig zurückgezogen hatte und die Ampelkoalition in dieser Zeit keinen neuen Kandidaten aufstellen konnte.
2020 wurde ein neues Dezernat für kommunales Fördermittelmanagement geschaffen, um die FDP nach dem Rückzug Christopher Sittes wieder im Stadtvorstand zu haben. Am 18. Dezember 2020 wählte der Stadtrat Volker Hans (FDP) zum ehrenamtlichen Dezernenten. Der Wahl waren monatelange politische Auseinandersetzungen um die Schaffung dieses Dezernats vorausgegangen.
Religionen
Statistik
Nach den Ergebnissen des Zensus 2011 gehörten 37,0 % Einwohner der katholischen Kirche an, 23,6 % Einwohner waren evangelisch und 39,4 % hatten keine oder eine sonstige Konfessionszugehörigkeit. Ende Mai 2023 hatten 27,5 % der Einwohner die katholische Konfession und 17,6 % die evangelische. 54,9 % gehörten entweder einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. In Mainz stellt die Gruppe derjenigen die Mehrheit, die einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft angehört.
(Auflistung seit 1800)
Christentum
Evangelisch-lutherische Kirche
Jahrhundertelang war die Stadt als Sitz eines der höchsten (katholischen) Reichsfürsten immer katholisch geprägt. Mainz verfügt über den einzigen „Heiligen Stuhl“ (sancta sedes Moguntia) außerhalb von Rom. Eine frühchristliche Gemeinde bestand vielleicht schon seit der Spätantike, vielleicht auch bischöflich verfasst. 780/782 wurde Mainz zum Erzbistum erhoben. Erster Erzbischof von Mainz wurde Lullus, der bereits im Jahr 754 Nachfolger von Bonifatius (der als Missionsbischof nur den persönlichen Titel Erzbischof führte) geworden war. Mainz wurde in der Folge Hauptort des größten Metropolitanverbandes jenseits der Alpen (siehe Bistum Mainz). In dem sich im 13. Jahrhundert endgültig konstituierenden Kollegium der sieben Kurfürsten (Königswähler) nahm der Erzbischof von Mainz die führende Stellung ein (siehe auch: Geschichte des Bistums Mainz).
Der 1514 von Papst Leo X. ausgegebene Ablass für den Bau des neuen Petersdoms in Rom wurde Albrecht von Brandenburg (Erzbischof von Mainz) zur Veröffentlichung in Sachsen und Brandenburg anvertraut. Albrecht wies Johann Tetzel an, den Ablass zu predigen. Martin Luther schrieb später einen Protestbrief an Albrecht über das Verhalten von Tetzel.
Zu ersten Berührungen mit dem Protestantismus kam es so erst mit dem Schmalkaldischen Krieg und dessen Auswirkungen auf die Stadt 1552 und im Dreißigjährigen Krieg mit der Besetzung durch schwedische Truppen. Durchsetzen konnte sich die neue Konfession damals aber nicht. Nach dem Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft noch während des Dreißigjährigen Krieges gewann wieder der Katholizismus die Oberhand. Einwohnern mit evangelischem Bekenntnis wurden die Bürgerrechte verweigert.
Seit 1715 gab es in Mainz eine kleine lutherische Garnisonsgemeinde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden vermehrt die inzwischen in die Stadt zugezogenen Protestanten nicht nur geduldet. Der vom Geist der Aufklärung erfasste Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim sowie der Großhofmeister Anton Heinrich Friedrich von Stadion beschäftigten sogar protestantische Offiziere und Kammerherren am Hof. Unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal erhielten sie auch Einfluss auf das Bildungswesen. Eigene Kirchen erhielten sie jedoch zunächst nicht. Erst 1802 nach dem faktischen Zusammenbruch des Kurstaates wurde die erste evangelische Kirchengemeinde als „unierte“ gegründet, das heißt, sie hatte sowohl lutherische als auch reformierte Gemeindemitglieder. Sie galt als Vorbild für die 1822 durchgeführte Union beider Konfessionen in Rheinhessen. Als fördernd erwies sich, dass die Bundesfestung Mainz eine teilweise preußische (und damit überwiegend protestantische) Besatzung hatte.
Römisch-katholische Kirche
Das katholische Bistum, 1803 aufgelöst und unter Napoleon neu umschrieben, wurde 1821 in seinen heutigen Grenzen festgeschrieben und umfasst im Wesentlichen die Grenzen des Großherzogtums Hessen, zu dem Mainz damals gehörte.
1832 wurde Rheinhessen auch kirchlich Bestandteil der evangelischen Kirche im Großherzogtum Hessen, wo Rheinhessen eine eigene Superintendentur bildete. Nach vorübergehender Verlegung des Sitzes der Superintendentur nach Darmstadt 1882 wurde Mainz 1925 erneut Sitz derselben. 1934 wurde aus der Superintendentur die Propstei Rheinhessen, in der nunmehr mit Nassau vereinigten Kirche. Die Kirchengemeinden der Stadt gehören seither – sofern sie nicht einer Freikirche angehören – zum Dekanat Mainz (Propstei Rheinhessen) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Seit 1. Oktober 2017 wurde die Propstei um das Dekanat Nassauer Land erweitert.
1875 wurde das Heinrich-Egli-Haus für Obdachlose gegründet. Dieses steht heute unter Trägerschaft der evangelischen Mission Leben gGmbH.
Mit der Industrialisierung wuchs die Mainzer Gemeinde rasch. Gab es 1849 27.633 Katholiken und 5.037 Protestanten, waren es 1901 49.408 Katholiken und 31.151 Protestanten. 1930 gab es in der Stadt 78.500 Katholiken und 48.500 Protestanten. Im Jahr 1997 lebten in Mainz 87.367 Katholiken, 53.254 Protestanten und 203 Juden. Im Jahr 2021 lebten in Mainz 65.434 Mitglieder der katholische Kirche (30,2 % der Gesamtbevölkerung) und 41.555 (19,2 % der Gesamtbevölkerung) Mitglieder der evangelische Kirche.
Freikirchen und Sondergemeinschaften
Seit 1847 besteht die Freireligiöse Gemeinde Mainz. Sie hat ihr Gemeindezentrum in der Gartenfeldstraße in der Mainzer Neustadt. Das alte Gemeindezentrum in der Großen Bleiche 53 wurde beim Bombenangriff am 27. Februar 1945 total zerstört.
Auch andere christliche Religionsgemeinschaften sind in Mainz vertreten (in zeitlicher Reihenfolge, soweit ein Datum bekannt ist): Die Baptisten (im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, seit 1862), die Altkatholische Kirche (seit 1876), die Neuapostolische Kirche (seit etwa 1895), die Evangelisch-methodistische Kirche (seit 1906), die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (seit 1907), Die Christengemeinschaft (seit Ende der 1920er), die Bibelgemeinde Mainz (seit 1978), das pfingstlich-charismatische „Christliche Zentrum DER FELS“ (im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP)) (seit 1981), die Freie evangelische Gemeinde (seit 1982), die Orthodoxe Kirche (seit 1992) mit einer überwiegend deutschsprachigen Gemeinde, die EnChristo Mainz (gehört Foursquare Deutschland, Freikirchlichen Evangelischen Gemeindewerk e. V. (fegw)) an (seit 1995), das Christliche Familienzentrum Freikirchliche Gemeinde (seit 1998), die Kirche des Nazareners (seit 2008), die Pfingstgemeinde „Die BASIS – Gemeinde für diese Generation“, Freie Baptisten-Gemeinde Mombach sowie die Zeugen Jehovas.
Mitglieder verschiedener christlicher Konfessionen haben sich zur Evangelischen Allianz zusammengeschlossen. Der Großteil der christlichen Kirchen und Gemeinden arbeitet seit 1997 in der örtlichen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen zusammen.
Seit 2015 nutzt die Mazedonisch-Orthodoxe Kirche die Kirche Heiliger Nikolaus (Mainz-Hechtsheim).
Judentum
Die Ursprünge der Jüdischen Gemeinde Magenza sind nicht restlos geklärt. Für die These, die Juden seien mit den Römern nach Mainz gekommen, spricht sehr viel, ein Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen. Die erste sichere Aufzeichnung stammt aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und ist eine hebräische Überlieferung rabbinischer Rechtsgutachten, die sich mit einer bereits blühenden jüdischen Gemeinde befassen. Im Mittelalter gehörte die jüdische Gemeinde Mainz bis zu den Pestpogromen um das Jahr 1350 zusammen mit Spira und Worms zu den SchUM-Städten, die für das aschkenasische Judentum europaweite Bedeutung erlangten. Die angesehene Familie Kalonymos lebte hier. Bedeutend war auch das Wirken Gerschom ben Jehudas, einer der wichtigsten Gelehrten jener Zeit überhaupt. Auf dem Judensand, dem jüdischen Friedhof von Mainz, finden sich Grabsteine aus dem 11. Jahrhundert. Seit dem 27. Juli 2021 gehört der Friedhof als Teil der Stätten, die von der jüdischen Kultur in den SchUM-Städten zeugen, zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Gemeinde wurde mehrmals (siehe Geschichte der Stadt Mainz) durch Pogrome während der Zeit der Kreuzzüge und der Pestepidemien dezimiert. Am jüdischen Neujahrsfest wird in jeder Synagoge das Unetaneh tokef gesprochen, das an die erschlagenen Mainzer Juden von 1096 erinnert. 1435 wurden die Juden für Jahrhunderte aus Mainz vertrieben.
Vor 1933 hatte die Gemeinde bis zu 3000 Mitglieder, 1946 gerade noch 59. 1997 gab es 203 Mitglieder, was etwa 0,1 % der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Mainzer Synagoge in der Neustadt wurde während der Zeit des Nationalsozialismus vollständig abgebrannt und zerstört. An der ursprünglichen Stelle wurden einige Säulen als Mahnmal wieder errichtet. 1999 wurde ein Wettbewerb für den Neubau einer Synagoge und eines Jüdischen Gemeindezentrums an dem Ort der alten Mainzer Synagoge durchgeführt, der von dem Architekten Manuel Herz gewonnen wurde. Die von ihm entworfene neue Synagoge Mainz ist seit dem 3. September 2010 der Nachfolgebau früherer Synagogen in Mainz. Die Synagoge in Weisenau überstand den Krieg unbeschadet. Sie wurde Ende der 1990er-Jahre restauriert und am 27. Mai 1996 der jüdischen Gemeinde durch Rabbiner Leo Trepp wieder als Gotteshaus übergeben.
Islam
Vor allem durch Einwanderung und Einbürgerung hinzugekommen sind muslimische Gemeinschaften. Im Jahr 2002 wurde die Zahl der Muslime auf ca. 15.000 beziffert, gleichzeitig gab es 15 Moscheevereine. Nach einer Berechnung aus den Zahlen des Zensus für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Mainz am 9. Mai 2011 bei 8,9 Prozent (rund 17.800 Personen).
Stadtbild
Überblick
Die Stadt Mainz ist in ihrem weiteren Innenstadtbereich sowie in einzelnen Vororten (vor allem Mombach und Weisenau) zunehmend großstädtisch geprägt. In anderen Vororten (z. B. Drais, Finthen oder Marienborn) blieb der dörfliche Charakter weitgehend bestehen, auch wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten das Ortsbild in den Stadtteilen teilweise veränderte (z. B. in Finthen mit den Neubaugebieten Katzenberg und Römerquelle). In der Innenstadt selbst sind jedoch auch viele andere Elemente des Städtebaus erhalten geblieben. Noch klar an das mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtbild erinnert die heutige „Altstadt“ mit ihren verwinkelten Straßen und Gassen rund um die Augustinerstraße. Dort finden sich auch bis heute noch Fachwerkhäuser. Große Teile der historischen Altstadt, vor allem nördlich der Ludwigsstraße, wurden durch die britischen Luftangriffe auf Mainz im Zweiten Weltkrieg beschädigt, später abgerissen und modern überbaut.
Die von Stadtbaumeister Eduard Kreyßig entworfene Neustadt war eines der größten Stadterweiterungsprojekte seiner Zeit, in dem sich die Stadtfläche fast verdoppelte. Die Neustadt entstand in der Gründerzeit um 1900, in der sich Mainz von der provinziell geprägten Festungsstadt zur Großstadt entwickelte.
Das Panorama der Stadt von der Rheinseite wird heute vor allem von Bauten zweier unterschiedlicher Bauepochen geprägt: Dem Rathauskomplex (von Arne Jacobsen und Otto Weitling) mit Hilton-Hotel und Rheingoldhalle aus der Moderne und dem Barock- bzw. Renaissance-Ensemble bestehend aus dem Neuen Zeughaus (heute Staatskanzlei), dem Deutschhaus (heute Landtag) und dem Kurfürstlichen Schloss.
Nachdem die Umsetzung einer ambitionierten Neuplanung der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Innenstadt durch Marcel Lods gescheitert war, wurden nur die wichtigsten Gebäude wiedererrichtet. Dazu gehören die vielen barocken Adelspaläste, die sich vor allem am Schillerplatz befinden. Ansonsten wurden in Mainz zunächst überwiegend neue Wohnhäuser, beispielsweise die Siedlung Am Fort Elisabeth in der Oberstadt, gebaut. Bedingt durch den erst späten Aufschwung zu Beginn der 1960er Jahre sind diese Gebäude vor allem in dem Stil jener Dekade gehalten, was damals wie heute von Städtebauern kritisiert wurde. Auch viele Wohnsiedlungen im Umkreis der Stadt sind im Stil der 1960er Jahre entstanden.
Zu den bedeutendsten heute noch bestehenden Bauten des 19. Jahrhunderts in Mainz zählen die evangelische Christuskirche, der Hauptbahnhof, die Rheinbrücke, Teile des von Georg Moller errichteten Staatstheaters und die Festungsanlagen bzw. deren Reste. Die noch heute häufig im Stadtbild deutlich sichtbaren sonstigen Bau-Zeugnisse jener Zeit sind fast ausschließlich Wohnhäuser mit oder ohne Geschäftszeile. Von den bedeutenderen Bau-Epochen in Mainz, Romanik, Gotik, Renaissance (in Ansätzen) und vor allem Barock sind jedoch noch mannigfaltigere Beispiele erhalten geblieben.
Romanik und Gotik in Mainz
Auch heute sind in der Stadt Mainz viele Zeugnisse historischer Baukultur der Romanik und Gotik erhalten, die das Stadtbild prägen.
Bedeutendstes Bauwerk der Romanik in Mainz ist der Mainzer Dom, den Erzbischof Willigis zwischen 975 und 1009 errichten ließ. Da er bereits am Tag seiner Weihe weitgehend abbrannte, wurde er in den Folgejahren immer größer aufgebaut, denn auch 1081 und 1137 brannte der Dom. Er wurde von Erzbischof Bardo, Kaiser Heinrich IV., Erzbischof Konrad I. von Wittelsbach und Erzbischof Siegfried III. von Eppstein durch alle Bauepochen der Romanik weitergeführt. Zu Beginn der Epoche der Gotik wurden auch am Dom gotische Elemente verwirklicht. Unter anderem wirkte der als Naumburger Meister bekannt gewordene Künstler am Dom.
Westlich des Doms liegt die St.-Johannis-Kirche, die vermutlich über dem ersten Dom errichtet wurde und wohl selbst auch einmal Domkirche des Bistums war. Sie wurde 910 von Erzbischof Hatto geweiht und in spätkarolingischen Formen errichtet. Durch Umbauten und nach Zerstörungen vor allem im Zweiten Weltkrieg ist sie jedoch mehrfach überformt worden. Zusammen mit dem Dom und der 1793 zerstörten, dem Dom östlich vorgelagerten Liebfrauenkirche bildete die Johanniskirche einst eine zusammenhängende Einheit und mit den umliegenden Plätzen („Höfchen“) die erzbischöfliche Pfalz.
Nicht erhalten ist das historische Stift St. Alban vor Mainz, im 8. und 9. Jahrhundert wichtigstes geistiges Zentrum des Bistums. Die Kirche verfiel schon im Hochmittelalter. Die Reste wurden im Markgräflerkrieg zerstört.
Ebenfalls von Willigis gegründet ist die Stiftskirche St. Stephan, die jedoch bald durch einen gotischen Bau ersetzt wurde. Sie ist heute die größte gotische Kirche in Mainz und besitzt Fenster, die Marc Chagall Ende des 20. Jahrhunderts gestaltete. Aus der Stilepoche der Gotik stammen auch die Pfarrkirchen St. Emmeran (mit romanischem Turm vom Ende des 12. Jahrhunderts) und St. Quintin (gleichzeitig Pfarrkirche der ältesten Pfarrei von Mainz, Vorgängerbau schon im 8. Jahrhundert) und die Antoniterkapelle. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte gotische Kirche St. Christoph ist heute das Kriegsmahnmal der Stadt.
Als Profanbauten sind ein spätgotischer Wohnturm am Älteren Dalberger Hof erhalten, ferner aus dem 16. Jahrhundert das spätgotische Haus Zum Korb (Am Brand 6). Der Hof zum Homberg (14. bis 16. Jahrhundert) wurde rekonstruiert.
Renaissance
Bedeutendstes Bauwerk der Renaissance in Mainz ist das Kurfürstliche Schloss. Stilistisch gehört es zur Deutschen Renaissance, deren spätestes Zeugnis dieser Bau ist. Ebenfalls aus der Stilepoche der Renaissance stammt das Haus Zum Römischen Kaiser, das heute das Gutenberg-Museum beherbergt sowie der Ältere Dalberger Hof. Der Leininger Hof ist teils spätgotisch, teils barock. Der Knebelsche Hof (1588–98) wurde 1953–55 unter Wiederverwendung alter Teile rekonstruiert, ähnlich in den 1970er Jahren der Algesheimer Hof.
Der von Erzbischof Albrecht gestiftete Marktbrunnen gehört zu den prächtigsten Renaissancebrunnen Deutschlands. Das Alte Zeughaus entstand 1604/05. Als weiteres Zeugnis, freilich schon am Übergang zum Barock stehend, kann die ab 1615 in der Nähe des heutigen Gutenbergplatzes errichtete Domus Universitatis angesehen werden, welche für Jahrhunderte höchster Profanbau der Stadt war.
Barock und Rokoko
Die Barockzeit ließ die Stadt vor allem während des Episkopats Lothar Franz’ von Schönborn (1695–1729) einen beispiellosen Bauboom erleben, dessen Ergebnisse noch heute im Stadtbild zu sehen sind und dieses zum Teil sogar prägen. Am Schillerplatz, an der Großen Bleiche, in der Klarastraße sowie am Rhein finden sich heute etliche Adelshöfe des Mainzer Stiftsadels, beginnend mit der Errichtung des Schönborner Hofes ab 1668 am Schillerplatz, der einen frühen Barockbau darstellt, dessen Dekor noch Renaissanceelemente aufweist. Es folgten der Jüngere Dalberger Hof (bis 1718), der Stadioner Hof (1728–33), der Erthaler Hof (1734–39), der Eltzer Hof (ab 1742), der Osteiner Hof (1747–1752), der Bassenheimer Hof (1750), ferner das Deutschhaus (ab 1730, heute Landtag), das benachbarte Neue Zeughaus (1738–40, heute Staatskanzlei), die Johanniterkommende Zum Heiligen Grab (1740–48, heute Sitz des Bischöflichen Ordinariats) und die Golden-Ross-Kaserne (1766, heute Landesmuseum). Auch diese Gebäude sind oft teilweise oder ganz rekonstruiert.
Auch einige Kirchen finden sich noch, obwohl viele aus dieser Zeit in den Wirren der Geschichte wieder zerstört wurden. Bedeutende Kirchen sind die Augustinerkirche in der gleichnamigen Altstadtstraße und die in den Formen des Rokoko errichtete Peterskirche an der Großen Bleiche. Die ebenfalls zu jener Zeit errichtete Ignazkirche (ab 1763) wie auch der Erthaler Hof (ab 1743) sind jedoch schon frühe Beispiele des Klassizismus.
Festungsbauten
Aus der Festungszeit der Stadt sind etliche Relikte vorhanden, die aus verschiedenen Epochen stammen. Exponiertes Beispiel des Barocks ist dabei das Palais des Festungskommandanten, welches mit der Zitadelle über der Stadt thront. Doch auch frühere Teile der alten römischen und mittelalterlichen Stadtbefestigung sind noch vorhanden und zumindest in ihrem Mauerwerk noch original. Am Rhein erheben sich der Holzturm und der Eisenturm, die ihre Torfunktion jedoch durch die Aufschüttung des Rheinufers im 19. Jahrhundert und die dadurch bedingte Erhöhung des Straßenniveaus verloren haben. Im Holzturm war der Kerker des Räuberhauptmanns Schinderhannes.
Spätere Zeugen des Festungsbaus als Bundesfestung sind das Fort Malakoff im Süden der Stadt sowie das große, im Krieg nicht zerstörte, Proviant-Magazin in der Schillerstraße gegenüber dem Erthaler Hof.
Seit 1945
Die Stadt zeichnet sich heute durch eine Durchmischung verschiedener Bauepochen aus. Die französische Militäradministration berief in den späten 1940er Jahren den berühmten französischen Städteplaner Marcel Lods, einen neuen Stadtplan auszuarbeiten. Dieser wurde damals als Mainz, modernste Stadt der Welt sehr bekannt. Der radikale Plan ist nie umgesetzt worden, die Akzeptanz war gering, aber auch das Geld ist nicht vorhanden gewesen. Es blieb bei einer evolutionären und behutsamen Änderung des alten Plans. Allgemein wurden die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges von den Kommunalpolitikern der 1960er Jahre auch als Chance begriffen, alte Fehler bei Bauten und der Generalanlage (Straßennetz, übrige Infrastruktur) der Stadt zu beheben. Im sakralen Bereich wurden neue Kirchen gebaut, deren künstlerische Ausstattung von Peter Paul Etz als beispielhaft gilt, die mit seinen Schülern Alois Plum und Gustel Stein und deren Projekten in ganz Deutschland bis heute wirkt.
Die der militärischen Entspannung folgende Konversion bot Gelegenheit Krongarten und Gonsbachterrassen zu entwickeln, was im Gegenteil zum Layenhof auch gelang. Das bedeutendste städtebauliche Projekt jüngster Zeit ist die Entwicklung des 22 Hektar großen Geländes des ehemaligen Zoll und Binnenhafens (bis 2011) zu einem Mischgebiet aus Wohnungen, Büros, Gewerbe- und Kultureinrichtungen. 2007 wurde ein entsprechender städtebaulicher Rahmenplan verabschiedet, der Gebäudenutzflächen bis zu 355.000 Quadratmetern vorsieht. Als nächstes größeres Objekt wird die Entwicklung des Heilig-Kreuz-Areals in Weisenau, auf dem ehemaligen IBM-Gelände unter anderen mit innovativen Bau- und Wohnformen in privat organisierter, generationenübergreifender Struktur realisiert. Auf der 30 Hektar großen Fläche sollen 3.000 neue Wohnungen, davon 900 sozial gefördert, für bis zu 4.500 Personen entstehen. Auf dem 8,7 Hektar großen Gelände der Generalfeldzeugmeister-Kaserne in der Oberstadt, zwischen Marienhaus Klinikum und Pariser Straße, sollten ab 2019 circa 500 Wohnungen gebaut werden. Ein im Stadtteil Mainz-Hechtsheim am östlichen Rand des Wohngebiets „Großberghöhe“ gelegenes Areal soll als „Wohnquartier Hechtsheimer Höhe“ erschlossen werden. Dort sollen auf einer Fläche von rund 17 Hektar Ein- und Zweifamilienhäuser mit rund 400 Wohnungen gebaut werden.
Sehenswürdigkeiten (Auswahl)
Brunnen, Büsten und Denkmäler
Kunst im öffentlichen Raum
Mainz kann mit einer Reihe von bedeutenden modernen Kunstwerken im öffentlichen Raum aufwarten.
Siehe auch
Liste der Kulturdenkmäler in Mainz
Wirtschaft und Infrastruktur
Allgemeine Informationen
Wirtschaft und Infrastruktur sind in Mainz von der Zugehörigkeit zum Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main geprägt. Bei Rankings, die sich an der Wirtschaftsleistung der Städte orientieren, belegte die Stadt seit den 2000er Jahren vordere Plätze. So erreichte Mainz in einer Studie der Wirtschaftswoche von 2005 im Vergleich von 50 deutschen Städten den vierten Rang, bei der Wiederholung 2006 den fünften Rang. Geprüft wurden innerhalb der Studie ökonomische und strukturelle Indikatoren wie Produktivität, Bruttoeinkommen und Investitionen. Im 2010er Städteranking von insm und wiwo.de liegt Mainz auf Platz 48 von 100 bewerteten Städten, hinter Speyer (31), Neustadt/Weinstraße (35) und Frankenthal (46), jedoch vor Worms (62) und Ludwigshafen (68). Mit einer Kaufkraft von 25.035 Euro pro Einwohner (2018) liegt die Stadt um 7,3 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das Einkommensteueraufkommen betrug in Mainz 2016 89 Mio. Euro das Gewerbesteueraufkommen bei 112,8 Mio. Euro. Bei den Gewerbeanmeldungen im Verhältnis zu den Gewerbeabmeldungen belegte Mainz in der Studie, die am 30. Juni 2006 veröffentlicht wurde, den dritten Platz. Im Jahre 2016 erbrachte Mainz, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11,577 Milliarden EUR und belegte damit Platz 33 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung und den zweiten Platz in Rheinland-Pfalz. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 54.696 EUR (Rheinland-Pfalz: 34.118 EUR, Deutschland 38.180 EUR) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Das BIP je Erwerbsperson beträgt 74.345 EUR und liegt damit recht hoch. In der Stadt sind 2017 ca. 155.700 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,2 % und damit über dem Durchschnitt von Rheinland-Pfalz von 4,1 % (im benachbarten Landkreis Mainz-Bingen betrug sie 3,2 %).
Im Zukunftsatlas 2019 belegte die kreisfreie Stadt Mainz Platz 45 von 401 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“.
Verschuldung der Stadt Mainz
Binnen 23 Jahren stieg die Verschuldung der Stadt Mainz von 25 Millionen Euro (1994) auf über 1.200 Millionen Euro (2017).
In der Pro-Kopf-Verschuldung war Mainz 2014 hinter Darmstadt und Kaiserslautern die am dritthöchsten verschuldete kreisfreie Stadt in Deutschland. 2012 war die Stadt per Stadtratsbeschluss vom 14. Dezember 2011 dem Kommunalen Entschuldungsfonds Rheinland-Pfalz (KEF-RP) beigetreten. Die Stadt musste im Jahr 2011 rund 25 Millionen Euro Zinsen zahlen, bis 2014 stieg die Zinslast auf 54 Millionen Euro. Durch günstige Umschuldungen betrug die Zinslast 2017 25,9 Millionen Euro.
Die Stadt Mainz plant, Ende 2022 schuldenfrei zu sein, da sie mit hohen Gewerbesteuereinnahmen des Unternehmens Biontech rechnet. Durch die rund eine Milliarde Euro betragenden Steuerzahlungen von Biontech sowie weitere Haushaltsüberschüsse im Jahr 2021 können voraussichtlich sämtliche Schulden getilgt werden.
Verkehrsinfrastruktur
Fernstraßenverkehr
Ein Autobahnhalbring, auf dem sich zwei Autobahnbrücken über den Rhein nach Hessen befinden, trennt die äußeren (Finthen, Drais, Lerchenberg, Marienborn, Hechtsheim, Ebersheim und Laubenheim) von den inneren Stadtteilen und dem Stadtkern. Dabei durchquert in West-Ost-Richtung die A 60 vom Dreieck Nahetal zum Rüsselsheimer Dreieck. Nach Wiesbaden zweigt die A 643 ab. Richtung Süden führt die A 63 über Alzey nach Kaiserslautern. Ferner führen die Bundesstraßen 9 und 40 durch das Stadtgebiet.
In den 1960er-Jahren bestanden in Mainz Pläne zur Errichtung zweier Stadtautobahnen. Dabei waren einerseits eine Nord-Süd-Strecke geplant, welche von der Anschlussstelle Mainz-Mombach auf der Schiersteiner Brücke durch das Industriegebiet Mombach vorbei am Hauptbahnhof, durch einen Tunnel unter der Oberstadt hindurch und über eine Hochstraße vorbei an Weisenau bis zur Anschlussstelle Mainz-Laubenheim an der A 60 führen sollte und andererseits ein Abzweig von besagter Nord-Süd-Strecke nordwestlich vom Hauptbahnhof, um an die nur zwei Kilometer westlich gelegene Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim an der A 643 anschließen zu können. Über eine mögliche Weiterführung dieser kurzen Ost-West-Strecke, möglicherweise über den Rhein, gibt es heute keine gesicherten Erkenntnisse mehr. Von beiden Planungen wurden nur kleine Einzelbestandteile umgesetzt, welche niemals als Autobahn genutzt wurden. Dazu zählen die Führung der Mombacher Straße als Hochstraße im Bereich des Hauptbahnhofs (mit autobahngerecht ausgebauten Zufahrtsrampen, die 1998 teilweise abgerissen wurden); die etwa 1,5 Kilometer lange Hochstraße in Mombach, die die Mombacher Straße in Hartenberg-Münchfeld mit der Rheinallee in Mombach verband und bis heute vorbereitete Abfahrtsstümpfe für die Ost-West-Anbindung aufweist (wurde 2021 gesperrt und zum Abriss freigegeben) sowie ein 270 Meter langes, voll ausgebautes Autobahnstück am Ende der Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim, welches nie in Betrieb ging.
In Mainz und Wiesbaden werden die europaweit geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe regelmäßig überschritten. Um dem entgegenzuwirken, wurde zum 1. Februar 2013 zusammen mit der Nachbarstadt Wiesbaden eine Umweltzone eingerichtet. Es ist damit die erste Umweltzone in Rheinland-Pfalz, und gleichzeitig die erste länderübergreifende Umweltzone. Damit sollen die vom motorisierten Straßenverkehr ausgehenden ökologischen und gesundheitlichen Belastungen verringert werden. Aufgrund einer Klage der Deutsche Umwelthilfe (DUH) musste sich Mainz auf ein Dieselfahrverbot vorbereiten. Die Stadt Mainz war zuversichtlich, bis Ende 2019 den NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft an der am meisten belasteten Messstelle Parcusstraße nahe dem Hauptbahnhof einhalten zu können, um dieses Verbot zu vermeiden.
Straßenschilder in Mainz
Eine Besonderheit des Mainzer Stadtbilds sind seit 1853 die Straßenschilder: Straßen mit roten Schildern verlaufen vorwiegend senkrecht zum Rhein (in den südlichen Stadtteilen und in der Innenstadt ist das die West-Ost-Richtung, in Mombach aufgrund des nach Westen biegenden Flussverlaufs dann schon eher Süd-Nord), während Straßen parallel zum Rhein mit blauen Straßenschildern versehen werden. Dabei steigen die Hausnummern in den Straßen mit roten Schildern in Richtung Rhein, in den Straßen mit blauen Schildern mit der Flussrichtung des Rheins, jeweils ungerade Zahlen links und gerade rechts. Die Anregung dazu gab bereits 1849 Josef Anschel durch einen Antrag auf „Umänderung der Häusernummern“, bei der er ebenfalls den einheitlichen Verlauf der Hausnummern vorschlug. Kleinere Straßen, insbesondere in den vom Rhein weiter entfernt liegenden Ortsteilen, und Straßen, deren Verlauf nicht eindeutig ist, sind mit weißen Schildern versehen.
Nach den letzten umfangreichen Eingemeindungen in den 1960er Jahren stand die Stadt Mainz vor dem Problem, dass es nunmehr zahlreiche namensgleiche Straßen im Stadtgebiet gab, was nicht nur bei der Postzustellung zu Verunsicherung und Verwechslungen führte. Daher entschloss man sich in den 1970er Jahren, alle Straßennamen nur noch einmalig zu vergeben, was zu zahlreichen Umbenennungen, nicht nur in den neu eingemeindeten Stadtteilen führte. So wurde zum Beispiel aus der Hollagasse die Holdergasse, aus der Mainzer Straße die Alte Mainzer Straße, aus der Adlergasse die Ölgasse und viele andere Umbenennungen mehr. Darüber hinaus achtete man damals sogar darauf, keine Straßennamen neu zu vergeben, die sich in den ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteilen von Mainz befinden, um bei einer eventuellen Rückgliederung dieser Stadtteile nicht noch einmal vor dem gleichen Problem zu stehen. Das erklärt, dass es in Mainz bislang keine Wiesbadener Straße, Darmstädter Straße oder Frankfurter Straße gibt. Jedoch wurden keine in Mainz und seinen ehemaligen Stadtteilen doppelt vorkommende Namen extra umbenannt. So gibt es zum Beispiel nach wie vor die Eleonorenstraße, die Friedrichstraße u.v.m. in Mainz ebenso wie in AKK. Dieser Grundsatz wurde später aufgeweicht, und auch in AKK vorkommende Straßennamen werden wieder im Mainzer Stadtgebiet verwendet. Als Beispiele seien genannt in Bretzenheim und Kastel die Marie-Juchacz-Straße, in Ebersheim und Kastel die Römerstraße und in Drais und Kostheim Am Mainzer Weg.
Schienenpersonenfernverkehr
Am Mainzer Hauptbahnhof halten täglich 104 Fernverkehrszüge. Dabei wird er täglich von 60.000 Personen genutzt.
Mainz ist an das Intercity-Express-, Intercity- und Eurocity-Netz der Deutschen Bahn angebunden. Fernzüge erreichen die Stadt dabei aus Nordwest über die linksrheinische Strecke aus Richtung Köln über Koblenz und zwei Züge am Tag über den Wiesbadener Abzweig der Hochgeschwindigkeits-Neubaustrecke Köln–Frankfurt. Nach Süden fahren die Fernzüge über Mannheim bis Basel und Interlaken und über Frankfurt Flughafen nach Frankfurt Hauptbahnhof.
Seit Dezember 2005 existiert eine zweistündliche ICE-Anbindung von Wiesbaden über Mainz, Frankfurt Flughafen, Fulda, Erfurt und Leipzig nach Dresden.
Nachdem zwischen Mainz Hauptbahnhof und dem Bahnhof Mainz Römisches Theater ein zweiter Tunnel gebaut und der alte Tunnel aufgeweitet wurde, wurden im westlichen Gleisvorfeld des Hauptbahnhofes die Gleisanlagen umgebaut, um eine kreuzungsfreie Einfädelung des Wiesbadener Abzweigs zu ermöglichen.
Öffentlicher Personennahverkehr
Rückgrat des Öffentlichen Personennahverkehrs sind fünf Mainzer Straßenbahnlinien, mit einer Liniennetzlänge von 29,7 km, und 31 Buslinien der Mainzer Verkehrsgesellschaft (MVG), Verkehrsbetriebe der Stadtwerke Mainz, sowie anderer Verkehrsunternehmen, wie ESWE Verkehrsgesellschaft und Kommunalverkehr Rhein-Nahe. Die MVG verfügt über 41 Straßenbahn-Linienfahrzeuge und 150 Omnibusse, wobei sie mit ihrem Wiesbadener Kooperationspartner, der ESWE, ein gemeinsames Netz mit fortlaufenden Liniennummern bildet. Wiesbadener Buslinien beschränken sich auf den Bereich bis einschließlich 49, Mainzer Bus- und Straßenbahnlinien werden mit Zahlen ab 50 nummeriert. Mit den Buslinien sind von Mainz aus auch benachbarte kleinere Städte wie Ingelheim am Rhein und Nieder-Olm erreichbar. Um die Kooperation beider Verkehrsbetriebe besser zu organisieren, wurde der Verkehrsverbund Mainz-Wiesbaden gegründet. Mit den Bussen und Bahnen der MVG werden täglich etwa 180.000 Fahrgäste (Stand 2019) befördert.
Alle Linien im Mainzer und Wiesbadener Stadtgebiet innerhalb des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV) sind zu einheitlichen Preisen benutzbar, wobei die Stadt Mainz dem RMV angeschlossen ist und mit Wiesbaden eine Tarifzone bildet. Der Landkreis Mainz-Bingen gehört zum Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbund (RNN). Für Verbindungen aus dem und in das Gebiet des Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbunds (RNN) wird der RNN-Tarif auch bis Mainz und Wiesbaden angewendet.
Zwischen beiden Verbünden gibt es Übergangstarife, die in allen Bussen und Straßenbahnen der MVG, in allen Bussen der ESWE Verkehrsgesellschaft und der KRN und in allen Nahverkehrszügen (Regional-Express, Regionalbahn, S-Bahn) von allen Eisenbahnverkehrsunternehmen, beispielsweise Süwex, Vlexx, Hessische Landesbahn oder trans regio, gelten. Im Stadtverkehr der Stadt Mainz und der Stadt Wiesbaden, bei Fahrten zwischen Mainz und Wiesbaden (bzw. umgekehrt) sowie bei Fahrten in das übrige RMV-Gebiet gilt ausschließlich der Tarif des RMV.
Der Mainzer Hauptbahnhof wird täglich von 311 Nahverkehrszügen angefahren. Regionale Züge fahren nach Alzey, Frankfurt, Wiesbaden, Koblenz über Bingen, Saarbrücken (entlang der Nahe über Bad Kreuznach), Mannheim über Worms, Aschaffenburg (über Groß-Gerau und Darmstadt).
Ferner ist die Stadt an das Netz der S-Bahn Rhein-Main angeschlossen, die neben dem Hauptbahnhof die Bahnhöfe Mainz Nord und Mainz Römisches Theater bedient. Diese Bahnhöfe werden von der S-Bahn-Linie S8 aus Richtung Hanau, über Offenbach, Frankfurt Hbf und Frankfurt Flughafen sowie Wiesbaden in einem 30-Minuten-Takt, bedient. Weitere Bahnhöfe im Mainzer Stadtgebiet sind Mainz-Mombach, Mainz-Waggonfabrik, Mainz-Gonsenheim, Mainz-Marienborn und Mainz-Laubenheim. Das Mainzer Rheinufer in der Innenstadt ist über die Theodor-Heuss-Brücke vom S- und Regionalbahnhof Mainz-Kastel aus am schnellsten erreichbar. Die Strecke Mainz–Ludwigshafen wurde im Zuge der neuen Linie S 6 am 10. Juni 2018 in das S-Bahn-System RheinNeckar integriert. Die Züge der Linie S6 verkehren von Bensheim über Weinheim, Mannheim, Ludwigshafen am Rhein und Worms zum Mainzer Hauptbahnhof.
Fernbusverkehr
Seit der 2013 erfolgten Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland wird Mainz von verschiedenen Fernbus-Unternehmen angefahren. Die Fernbushaltestellen befinden sich unweit des Hauptgebäudes des Mainzer Hauptbahnhofes am Kaiser-Wilhelm-Ring. Eine Verlegung der Haltestellen aus der Innenstadt heraus ist in der Diskussion, da es durch die Fernbusse zu starken Verkehrsbehinderungen kam.
Binnenschiffsverkehr
Mainz war von 1886 bis 1936 Endpunkt der Kettenschifffahrt auf dem Main. Mit Einsetzen der Rheinromantik wurde Mainz auch zum Ziel romantischer Flussreisen auf Flusskreuzfahrtschiffen. Die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft als Vorläuferin der Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschiffahrt unternahm am 1. Mai 1827 eine Jungfernfahrt auf dem Rhein von Mainz nach Köln. Zahlreiche Schiffsanlegestellen befinden sich noch heute am Rheinufer zwischen Schloss und Winterhafen.
Der alte Mainzer Zoll- und Binnenhafen hat eine Fläche von 30 ha, er wurde und wird in ein zentrumsnahes Baugebiet konvertiert. Der Bebauungsplan „Neues Stadtquartier Zoll- und Binnenhafen (N 84)“ ist seit Juni 2015 rechtskräftig. Die bei der Umwidmung des Gebietes weggefallenen Liegeplätze für Binnenschiffe wurden nicht ersetzt. Auch weitere Liegeplätze außerhalb des Zollhafens wurden entfernt. Mit einem Güterumschlag von 1,3 Millionen Tonnen wurde der alte Hafen jährlich von 2.200 Schiffen angefahren (2003). Die neue Containerentladestelle liegt an Rheinkilometer 501 flussabwärts der Kaiserbrücke. Die Frankenbach Container Terminals GmbH betreibt das Container-Terminal an der die Stadtwerke eine Minderheitsbeteiligung von 25,2 % halten. Eine günstige Autobahnanbindung besteht aufgrund des Neubaus der Schiersteiner Brücke und der Sprengung der Salzbachtalbrücke derzeit (2022) nicht.
Flugverkehr
Mainz verfügt im Stadtteil Finthen über einen ganzjährig geöffneten Verkehrslandeplatz mit 1000 m Asphaltbahn (ICAO-Code EDFZ), das ehemalige US Airfield Finthen.
Zum 25 km entfernten Flughafen Frankfurt fahren mehrmals in der Stunde Züge des Fern- und Nahverkehrs.
Der Flughafen Hahn, der etwas über 80 km von Mainz entfernt liegt, wird mit einer direkten Busverbindung angefahren.
Rheinbrücken
Im Mainzer Raum überqueren fünf Brücken den Rhein: zwei Autobahnbrücken (Weisenauer Brücke A 60 und Schiersteiner Brücke A 643), zwei Eisenbahnbrücken (die Südbrücke Richtung Frankfurt Flughafen und die Kaiserbrücke Richtung Wiesbaden) sowie als Straßenbrücke die Theodor-Heuss-Brücke (zwischen der Mainzer Innenstadt und Mainz-Kastel), in deren unmittelbarer Nähe auch die alte Römerbrücke gestanden hatte. Die nächste Rheinbrücke im Unterlauf ist die Koblenzer Südbrücke und im Oberlauf die Nibelungenbrücke Worms. An die den Rhein überspannende Schiersteiner Brücke schließt sich die 950 m lange Hochstraße Lenneberg an, ein Brückenbauwerk aus Spannbeton mit 31 Feldern, das das Mombacher Oberfeld seit 1964 überspannt und die Rheinbrücke mit der Hochterrasse am Lenneberg verbindet. Trotz langjähriger Sanierungsarbeiten und Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h mit Radarkontrolle musste die Autobahnbrücke wegen Verschleiß abgerissen werden. Seit dem 20. November 2017 rollt der Verkehr in beide Richtungen über eine neue Brückenhälfte.
Industrie
In Mainz gab es 2003 74 Betriebe des verarbeitenden Gewerbes mit mindestens 20 Angestellten. Insgesamt sind in den Betrieben über 11.000 Menschen beschäftigt, die einen Gesamtumsatz von über 2,2 Milliarden Euro erwirtschaften. Dazu gab es 2002 79 kleinere Betriebe mit weniger als 20 Angestellten. Industrielle Ansiedelungen finden sich vor allem zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Mombach. Größere dort angesiedelte Unternehmen sind das Mainzer Traditionsunternehmen Werner & Mertz („Erdal“), die Schott AG sowie die DWK Life Sciences. Die Wepa Papierfabrik hat 2006 das hier gelegene einstige Hakle-Werk von dem amerikanischen Hersteller Kimberly-Clark Corporation übernommen und fertigt am Standort Mainz Hygienepapiere.
Die Schott AG (früher Schott Glaswerke) hat ihren Hauptsitz in Mainz seit der Umsiedlung von Jena nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Mainzer Neustadt steht seit den 1950er-Jahren das Hauptwerk. 1988 wurde in Mainz-Marienborn das Schott-Forschungs- und Laborzentrum in Betrieb genommen. 2002 wurde in der Nähe des Hauptwerks in Mainz-Mombach auf dem Gelände der ehemaligen Rheinwerft ein weiterer Zweigbetrieb mit Schwerpunkt Ceran fertiggestellt. Derzeit arbeiten 2.400 der 15.500 Schott-Angestellten weltweit am Standort Mainz.
Im Jahr 1965 begann IBM, in Mainz-Hechtsheim ein Werk für Speichersysteme zu errichten. Später wurden hier vor allem Festplatten hergestellt. 2002 wurde mit dem Verkauf des Festplattengeschäfts an Hitachi das Mainzer Werk geschlossen. An dem IBM-Standort arbeiteten aber weiterhin etwa 1700 Mitarbeiter im Bereich der Unternehmensberatung und Softwareentwicklung, deren Zahl bis auf 750 im Jahr 2015 sank. Der Mietvertrag für das Mainzer Areal endete im September 2016; die Verlagerung der bestehenden Arbeitsplätze an die Frankfurter IBM-Standorte Kelsterbach und Sossenheim ist abgeschlossen. Das nun als „Heilig-Kreuz-Areal“ bezeichnete Gelände wird als Baugebiet vermarktet.
Als weiteres Unternehmen im Bereich der Hochtechnologie ist das Pharmaunternehmen Novo Nordisk seit 1958 in der Stadt ansässig. Anfang 2008 arbeiteten dort ca. 450 Menschen. In der Oberstadt konnte 2008 mit Biontech eine expansive Biotechfirma auf dem Gelände der GFZ-Kaserne angesiedelt werden. Auf ältere Wurzeln kann die Niederlassung von Siemens zurückblicken. Sie entstand schon nach der Übernahme des ersten in Mainz errichteten Elektrizitätswerks (erbaut 1898) im Jahr 1903. Ebenfalls im Jahr 1903 wurde die Gewürzmühle Moguntia gegründet, die bis 2001 bestand.
In Mombach gab es die Waggonfabrik Gebrüder Gastell, in der später Straßenbahnen von Westwaggon und Omnibusse von Magirus-Deutz und Iveco gebaut wurden. In Weisenau befindet sich neben der Autobahnbrücke über den Rhein ein mittlerweile stillgelegter Steinbruch der HeidelbergCement, die Produktion wird im Zementwerk Weisenau mit Schiffstransporten weiterversorgt. Daneben befindet sich eine Anlage der ADM Mainz GmbH (früher ADM Soya Mainz) mit Biodiesel-Herstellung.
Im Jahr 1919 wurde in Mainz die Brezelbäckerei Ditsch gegründet, die im September 2012 an die Schweizer Valora-Gruppe veräußert wurde.
Mit dem Zukunftsprojekt „BioTechHub“ will die Stadtspitze Mainz zum bedeutenden Biotechnologie-Standort machen. 30 Hektar Fläche sollen für neue Unternehmen im Stadtbereich bereitgestellt werden. Weitere Flächen von 50 Hektar werden seit April 2022 beplant.
Weinhauptstadt Mainz/Rheinhessen
Seit Mai 2008 sind Mainz und Rheinhessen Mitglied des 1999 gegründeten Great Wine Capitals Global Network (GWC) – einem Zusammenschluss bekannter Weinbaustädte weltweit. Neben Mainz befinden sich in diesem Verbund Städte und Regionen wie Bilbao: Rioja, Bordeaux: Bordeaux (Weinbaugebiet), Florenz: Toskana, Lausanne, Mendoza: Mendoza, Christchurch: South Island von Neuseeland, Porto: Dourotal sowie San Francisco: Napa Valley. Jedes Jahr präsentiert sich einer dieser Partner beim Mainzer Weinmarkt mit Weinen aus der jeweiligen Region und kulinarischen Spezialitäten.
Energieversorgung
In Mainz wird Strom von den Kraftwerken Mainz-Wiesbaden (KMW), die ein GuD-Kraftwerk Und Kraft-Wärmekopplungs Kraftwerk auf der Ingelheimer Aue betreiben. Das Unternehmen plante dort ab Mitte der 2000er Jahre den Bau eines neuen Kohleheizkraftwerks (KHKW) mit einer elektrischen Bruttoleistung von 820 Megawatt (MW). Obwohl der Bau des Kraftwerks anfangs von den Mainzer und Wiesbadener Stadtparlamenten mehrheitlich befürwortet wurde, scheiterte das Projekt aber an der Akzeptanz in der Bevölkerung. Nach einem Baustopp kurz nach Baubeginn 2009 wurde es im Juni 2012 offiziell beendet.
Die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden betreiben gemeinsam mit Remondis und der Stadt Mainz auch eine thermische Abfallverwertungsanlage neben dem GuD-Kraftwerk. Diese Entsorgungsgesellschaft ließ im Zeitraum von Juni 2001 bis November 2003 eine Anlage zur Müllverbrennung errichten, welche 2008 um einen dritten Ofen ergänzt wurde. Als weitere „Investition in die Zukunft“ wurde von 2017 bis 2021 eine Klärschlammverbrennungsanlage in Mainz-Mombach errichtet. Die Betreibergesellschaft der Anlage, die Thermische Verwertung Mainz (TVM) GmbH, setzt sich zusammen seit dem Beginn des Planungsprozesses 2011 aus den beteiligen Gebietskörperschaften, deren Klärschlamm zentral in Mainz verwertet wird, Mainz, Kaiserslautern und der Zweckverband Unterer Selz aus Ingelheim. Inzwischen hat sich auch die benachbarte Landeshauptstadt Wiesbaden entschieden, Klärschlamm in Mainz verbrennen zu lassen. Dieses Projekt rief ebenso wie die Müllverbrennungsanlage Widerstand in der Mombacher Bevölkerung hervor.
Bei den erneuerbaren Energien ist Mainz mit verschiedenen Technologien vertreten. Neben einigen Windenergieanlagen rund um die Stadtteile Ebersheim und Hechtsheim werden immer mehr Photovoltaikanlagen errichtet. Beispiele sind das Staatstheater, das Abgeordnetenhaus, das Bruchwegstadion oder Aussiedlerhöfe bei Bretzenheim. Zukünftig will sich die Stadt, die auf Platz 15 unter den Großstädten in der Solarbundesliga liegt (Stand April 2010) bzw. Platz 21 (Stand Januar 2018), noch stärker als bisher als Solarstadt profilieren.
Der Bau eines großen Blockheizkraftwerks in Kombination mit einem Fernwärmespeicher auf dem KMW-Gelände sollte bis Frühjahr 2019 fertiggestellt werden. Die Inbetriebnahme fand tatsächlich am 12. Februar 2021 statt.
Im Energiepark in Mainz-Hechtsheim wurde 2015 eine Anlage zur Wasserelektrolyse in Betrieb genommen. Als erstes Power-to-Gas-Projekt dieser Größenordnung in Deutschland wird hier mittels überschüssigem Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Seit 2017 befindet es sich im kommerziellen Testbetrieb. Seine Energie bezieht es von den nahe gelegenen Windkraftanlagen zwischen Hechtsheim und Klein-Winternheim. Im Energiepark kann den Strom von bis zu drei 2-MW-Windrädern unter Volllast umgewandelt werden.
Medien
Die Stadt Mainz ist Sitz des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), des Landesfunkhauses Rheinland-Pfalz des Südwestrundfunks (SWR), des Sendezentrums des Fernsehsenders 3sat, des privaten Radio Rockland Pfalz GmbH & Co. KG (seit Mai 2008) sowie des Studios Rhein-Main der privaten Rheinland-Pfälzischen Rundfunk GmbH & Co KG RPR. Seit Oktober 2011 sendet Antenne Mainz als erster privater Stadtradiosender für Mainz. An regionalen Fernsehangeboten gibt es neben einem Offenen Kanal auch den Sender gutenberg.tv, der sich als „Kultur- und Wissenschaftssender für und in Rheinland-Pfalz“ vorstellt; er wird auf den Kabelkanälen des ehemaligen Mainzer Senders K3 Kulturkanal verbreitet, dessen Sendelizenz im Jahr 2010 auslief. Seit März 2012 sendet gutenberg.tv aus finanziellen Schwierigkeiten nicht mehr.
Weitere Medienunternehmen sind die BFE Studio und Medien Systeme GmbH, die komplette Studioeinrichtungen und Einrichtungen für Übertragungswagen produziert, und die VRM, die mit 21 täglich erscheinenden Druckerzeugnissen jeden Tag eine halbe Million Leser in Rheinland-Pfalz und Hessen erreicht.
Als Tageszeitung erscheint die Allgemeine Zeitung Mainz. Ende 2013 wurde der Ableger der Koblenzer Rhein-Zeitung, die Mainzer Rhein-Zeitung, eingestellt, da der Verleger Walterpeter Twer die Ausgabe für nicht mehr profitabel genug hielt. Weitere Printmedien sind die Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte sowie verschiedene Stadtmagazine wie z. B. die STUZ, der Sensor oder Der Mainzer.
Mainz war bis Ende 2010 Sitz des traditionsreichen Verlages Philipp von Zabern. 1802 in Mainz gegründet ist der Zabern-Verlag international auf den Gebieten der Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte führend und seit 2011 in Darmstadt ansässig.
Mainz ist ferner Sitz des Musikverlags Schott Music.
Seit 2001 findet in Mainz mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos das erste Langfilmfestival des Landes Rheinland-Pfalz statt.
Die Medienunternehmen gehören zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Allein das ZDF beschäftigte 2019 rund 3.500 feste Mitarbeiter, die Verlagsgruppe Rhein-Main 1.200 (2005).
Sonstige Dienstleistungsunternehmen (Auswahl)
In Mainz als Kongressstadt, die durch ihre Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen viele Besucher anlockt, sind zahlreiche Hotels ansässig. Im Transportsektor war die Stadt Sitz der Spedition G.L. Kayser, deren Gründung auf das Jahr 1787 zurückgeht. Das ehemalige Familienunternehmen ging in der Firma Kühne + Nagel auf, deren Mainzer Niederlassung in Mainz-Hechtsheim liegt. Ebenfalls in Mainz-Hechtsheim befindet sich der Sitz der J. F. Hillebrand Group. Der Logistikspezialist mit 48 Tochtergesellschaften ist Weltmarktführer für den Transport von Wein und Spirituosen.
Mainz verfügt als Weinstadt über bedeutende Selbsthilfeeinrichtungen der Weinwirtschaft und auch sonst spielt Wein als Wirtschaftsfaktor und Tourismusattraktion eine große Rolle in der Stadt.
Im Mainz befinden sich die Mainzer Volksbank als größte rheinland-pfälzische Volksbank sowie die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB). Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall hat ihre Hauptverwaltung in Mainz-Weisenau. Die Lederindustrie-Berufsgenossenschaft hatte ihre Hauptverwaltung ebenfalls in Mainz. Zum 1. Januar 2010 schloss sie sich mit fünf weiteren Berufsgenossenschaften zur Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie zusammen, die in Mainz mit ihrer Bezirksdirektion für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland vertreten ist. Darüber hinaus hat die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft eine Bezirksverwaltung im Gonsenheimer Gewerbegebiet Kisselberg.
Im Gewerbegebiet Kisselberg haben neben der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft Coface Deutschland und die Aareon AG ihren Sitz.
Organisationen (Auswahl)
Mainz ist Sitz des Landgerichts Mainz und des Amtsgerichts Mainz. Mainz gehörte seit 1803 zum Gerichtsbezirk des Friedensgerichts Mainz I. Dieses wurde 1879 durch das Amtsgericht Mainz abgelöst.
Mainz ist Sitz des Landesverbandes Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland (THW LV HERPSL) sowie des Ortsverbandes Mainz (THW OV MZ) des Technischen Hilfswerks (THW).
Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen hat einen Dienstsitz in Mainz.
Mainz verfügt über eine Berufsfeuerwehr mit zwei Wachen sowie mehreren Freiwillige Feuerwehren in den Stadtteilen.
Behörden und Einrichtungen (Auswahl)
Neben der Landesregierung von Rheinland-Pfalz befinden sich unter anderem folgende Behörden und Einrichtungen in Mainz:
Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz
Zollamt Mainz
IHK für Rheinhessen
Handwerkskammer Rheinhessen
Landesärztekammer Rheinland-Pfalz
Städtetag Rheinland-Pfalz
Landkreistag Rheinland-Pfalz
Bildung und Forschung
Mainz war schon in früher Zeit eine Stadt der Bildung. Erstes Zentrum war das Stift St. Alban vor Mainz, dessen Ruhm als Klosterschule auf den Alkuin-Schüler und Mainzer Erzbischof Rabanus Maurus († 856) zurückgeht. 1477 wurde Mainz Universitätsstadt. Nach Aufhebung Ende des 18. Jahrhunderts nahm die neue Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 15. Mai 1946 wieder ihren Lehrbetrieb auf. Für die Studienrichtung Medizin ist die Medizinische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität die einzige Studienmöglichkeit in Rheinland-Pfalz. Ihr steht das Universitätsklinikum Mainz zur Verfügung, das ebenfalls die einzige Einrichtung dieser Art in Rheinland-Pfalz ist. Einmalig in der bundesdeutschen Hochschullandschaft ist die Integration der Hochschule für Musik, der Akademie der Bildenden Künste und des Sports in die Universität. Die Johannes Gutenberg-Universität gehört mit knapp 11.000 Beschäftigten, davon alleine 7700 bei der Universitätsmedizin, zu den größten Arbeitgebern der Stadt.
In Kooperation mit der Universität stehen das Max-Planck-Institut für Chemie (Otto-Hahn Institut) und das Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Die Stadt Mainz ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft.
1971 wurde die Hochschule Mainz als Teil der Fachhochschule Rheinland-Pfalz gegründet, die sich über mehrere Standorte verteilt. Vorgängereinrichtungen der Hochschule Mainz waren unter anderem Bildungseinrichtungen für Bauingenieure, Kunsthandwerker und Künstler. 1996 wurde sie als eigenständige Fachhochschule mit drei Fachbereichen neu gegründet (Architektur, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Vermessung; Gestaltung; Wirtschaftswissenschaften).
Ein Jahr später wurde die Katholische Hochschule (KH Mainz) für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Praktische Theologie gegründet. Sie wird von den Bistümern Mainz, Limburg, Fulda, Speyer, Trier und Köln getragen.
Das Peter-Cornelius-Konservatorium bietet Musikstudium (Orchesterfach, Künstlerische Reife, Diplom, auch in Kooperation mit der Hochschule für Musik der Universität) sowie eine umfangreiche Musikschulabteilung.
Daneben gibt es in Mainz noch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die hier 1949 gegründet wurde, das von Land Rheinland-Pfalz und Bund getragene Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Mitglied der AHF) und die Volkshochschule Mainz, die auch eine Sternwarte betreibt.
Das Bildungswerk der Diözese Mainz wurde am 1. Mai 1963 gegründet. Es fördert „… die kirchliche Erwachsenenbildung im Bistum von der Gemeinde- bis zur Bistumsebene …“. Das Bildungswerk ist u. a. Mitglied der Katholischen Erwachsenenbildung Hessen – Landesarbeitsgemeinschaft.
Mit dem Thema Zeit Reise gehörte Mainz zu den zehn deutschen Städten zum Treffpunkt der Wissenschaft im Wissenschaftsjahr 2009. 2011 war Mainz Stadt der Wissenschaft.
Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung in Mainz übernehmen insgesamt sechs Krankenhäuser mit unterschiedlichen Verwaltungsträgern sowie 713 niedergelassene Ärzte und 62 Apotheken. (Stand: 30. Juni 2014). Das Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die größte Einrichtung zur medizinischen Versorgung in Mainz. Es teilt sich in 60 verschiedene Fachkliniken, Institute und Abteilungen auf. Mit einer Ausstattung von 1500 Betten werden pro Jahr circa 325.000 Personen behandelt, davon circa 65.000 ambulant. Zusätzlich dient das Klinikum der universitären Ausbildung der rund 3300 Studierenden der medizinischen Wissenschaft.
Das Marienhaus Klinikum Mainz (bis 2021 Katholisches Klinikum Mainz, kurz „kkm“) fasste 2017 das St. Hildegardis-Krankenhaus und das St. Vincenz- und Elisabeth-Hospital am Standort „An der Goldgrube“ zusammen. Als Träger fungiert die Marienhaus Gruppe,. In der Einrichtung gibt es spezielle Fachzentren für Brust-, Darm-, Lungen- und Schilddrüsenerkrankungen sowie weiteren 19 Fachabteilungen. Mit insgesamt 717 Betten ausgestattet, werden pro Jahr circa 45.000 Patienten ambulant und stationär behandelt. Für das Klinikum in der Mainzer-Oberstadt wurde das Programm „kkm 2025“ aufgesetzt, welches einen Zuwachs von ca. 4.500 auf mehr als 50.000 Patienten jährlich bedeutet.
Das DRK Schmerz-Zentrum Mainz steht unter der DRK Trägergesellschaft Südwest und ist eine Spezialklinik zur Abklärung und Behandlung akuter und chronischer Schmerzen. Mit 80 stationären Betten, 24 teilstationären Plätzen und einer Ambulanz mit 5.000 Patienten im Jahr gehört sie zu den größten Schmerzkliniken Europas. Die FONTANA-Klinik GmbH für Plastische Chirurgie in Mainz-Finthen sowie die Römerwallklinik GmbH als Klinik für HNO-Erkrankungen befinden sich beide in privater Trägerschaft.
Zu den genannten Einrichtungen kommt noch das überregional tätige Kinderneurologisches Zentrum Mainz, ein ambulantes Behandlungszentrum für Sozialpädiatrie mit Spezialambulanz für Spina bifida und Hydrocephalus. Es befindet sich in Trägerschaft des Landeskrankenhauses Rheinland-Pfalz.
Bundeswehr
Mainz ist seit 1956 Standort der Bundeswehr. Im Stadtgebiet befinden sich derzeit zwei Liegenschaften, in denen insgesamt rund 400 Soldaten und zivile Mitarbeiter beschäftigt sind.
Der größte Standort ist die Kurmainz-Kaserne (KMK) in Hechtsheim, gefolgt von der Generalfeldzeugmeister-Kaserne (GFZ) in der Oberstadt, deren Räumung bis 2021 noch nicht abgeschlossen war. In den Kasernen sind zahlreiche Dienststellen untergebracht, unter anderem die 8./ Feldjägerregiment 2, das Karrierecenter der Bundeswehr Mainz, das Landeskommando Rheinland-Pfalz sowie eine Sanitätsstaffel. Mainz ist außerdem Standort einer Sportfördergruppe sowie einer Außenstelle der MAD-Stelle 4.
Im ehemaligen Neuen Proviantamt an der Rheinallee, auch „Militärbrotbäckerei“ genannt, befand sich bis zu dessen Auflösung das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum Mainz; durch die Wohnbau Mainz wir hier Wohnen und Kultur realisiert. In der Kapellenstraße in Gonsenheim hatte zudem das Kreiswehrersatzamt Mainz bis 2006 seinen Sitz.
Der prominenteste Standort in Mainz war der Osteiner Hof, von dessen Balkon alljährlich die Fastnacht ausgerufen wird. In dem historischen Gebäude am Schillerplatz befand sich der Dienstsitz des Befehlshabers des Wehrbereichskommandos II sowie das Offizierskasino. Der Osteiner Hof diente bis 31. März 2014 auch als Standortkommandantur der Bundeswehr. Die Standorte Osteiner Hof, Rheinallee und Kapellenstraße wurden mittlerweile durch die Bundeswehr aufgegeben und an private Investoren veräußert.
Aus Kosten- und Effizienzgründen gibt es Pläne, den Standort Mainz weiter umzustrukturieren. Alle Truppenteile aus der Generalfeldzeugmeister-Kaserne sollen zukünftig in die erweiterte und modernisierte Kurmainz-Kaserne umziehen.
Die Verbundenheit der Stadt zur Bundeswehr sollte auch durch ein öffentliches Feierliches Gelöbnis am 27. Mai 2008 gezeigt werden. Obwohl in Mainz selbst keine Grundausbildung durchgeführt wird, legten 130 Rekruten des Feldjägerbataillons 251 am 176. Jahrestag des Hambacher Fests vor dem Deutschhaus, dem Sitz des Rheinland-Pfälzischen Landtags, ihr Gelöbnis ab. Bereits 2000 fand in Mainz ein öffentliches Gelöbnis statt.
In Mainz gibt es zudem vier Reservistenkameradschaften (RK), die RK Mainz, die RK Kurmainz, RK Fürst Blücher sowie RK Finthen mit zusammen rund 400 Mitgliedern. Mainz ist auch Sitz der Landesgeschäftsstelle RLP + Kreisgeschäftsstelle Mainz des Vereins Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V.
Die Reservistenkameradschaften sind der Kreisgruppe Rheinhessen angegliedert.
Kultur
Überblick
Als Stadt in der Großregion nahm Mainz am Programm des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2007 teil.
Film
Mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos wurde im Jahr 2001 das erste Langfilmfestival in Rheinland-Pfalz gegründet. Das Festival gibt einen Überblick über die aktuellen deutschsprachigen Produktionen und die Bandbreite der jungen Filmentwicklung. Anfang Dezember jeden Jahres verleiht FILMZ Preise für Lang- und Kurzfilme. Die Regisseure, Schauspieler und weitere Teammitglieder der Filme sind als Gäste anwesend. Neben dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken, den Hofer Filmtagen und dem Festival des deutschen Films in Ludwigshafen ist das Mainzer FILMZ eines der wichtigsten Festivals, das die aktuelle Entwicklung des jungen deutschen Films verfolgt.
Theater
In Mainz gibt es mehrere Bühnen, auf denen Theateraufführungen und Konzerte stattfinden. Das größte und das Stadtbild am meisten prägende Theater ist das Staatstheater am Gutenbergplatz. Das Staatstheater ist unterteilt in das Große Haus (siehe Bild), das Kleine Haus, das Glashaus sowie die Studiobühne U17.
Der nicht nur als Theater fungierende „Frankfurter Hof“ existiert bereits seit 1800 und kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Ursprünglich handelte es sich um ein Gasthaus mit Festsaal. Ab 1842 fanden hier die ersten Fastnachtssitzungen der gerade entstehenden Fastnacht statt. Während der Revolution von 1848 trafen sich hier die Demokraten der Stadt und bereiteten die Wahlen zur Nationalversammlung vor. Danach wurde der Hof mehrmals Schauplatz kirchlicher Veranstaltungen wie z. B. der Katholikentage von 1851 und 1871. 1944 wurde in den Sälen ein Kino eingerichtet. 1972 kaufte die Stadt das mittlerweile weitgehend ungenutzte und verfallene Gebäude. Nach einer Initiative zur Rettung des Hofes wurde er 1991 als „Kulturelles Zentrum“ renoviert und seiner heutigen Bestimmung zugeführt.
Neben diesen größeren Häusern gibt es mehrere kleinere Häuser wie die Mainzer Kammerspiele, das Mainzer Forumtheater unterhaus (mit dem „unterhaus im unterhaus“) oder das Theater im Loft des Tournéetheaters Teatro d’Arte Scarello sowie die 2005 gegründete Showbühne Mainz. In ihnen findet auch Kabarett, Comedy und Boulevardtheater statt. Auch wird hier jungen und unbekannten Künstlern eine Bühne geboten. Außerdem bietet das im Kulturzentrum M8-Bühne (im Haus der Jugend Mainz) beheimatete freie Jugendtheater Junge Bühne Mainz ein vielseitiges Programm für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Theaterinteressierte aller Altersstufen.
Orchester
Das Philharmonische Staatsorchester Mainz, gegründet 1876, hat seinen festen Sitz im Theatergebäude. Hauptaufgabe des Orchesters ist die musikalische Begleitung von Musiktheaterstücken wie Opern und Operetten am Theater. Daneben bildet die Aufführung von Sinfoniekonzerten einen weiteren wichtigen Bereich.
UniOrchester der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Mainzer Kammerorchester
Bläser-Ensemble Mainz – Das Ensemble wurde 1967 von Klaus Rainer Schöll gegründet und widmet sich der Musik von Gabrieli bis zur Moderne.
Akkordeon-Orchester Mainz
Sinfonisches Blasorchester des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1991 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Bläserensemble des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1981 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Sinfonietta Mainz
Rheinische Orchesterakademie Mainz e. V. (ROAM)
Landespolizeiorchester Rheinland-Pfalz
Chöre
Der Mainzer Domchor geht auf eine Gründung des Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler im Jahr 1866 zurück. Er bildet sich aus Knaben- und Männerstimmen und umfasst über 160 Mitglieder. Hauptaufgabe des Chores ist die Begleitung der Stifts- und Pontifikalämter im Mainzer Dom.
UniChor der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Domkantorei St. Martin ist ein 1987 gegründeter gemischter Chor. Neben der Begleitung der Domgottesdienste tritt er auch zu regulären Konzerten auf.
Der Mädchenchor am Dom und St. Quintin, Mainz wurde 1994 gegründet. Hauptaufgabe des Chores ist die musikalische Gestaltung der Gottesdienste im Hohen Dom zu Mainz und in der Pfarrkirche St. Quintin.
Bachchor Mainz
Der Mainzer Figuralchor wurde 1979 von Stefan Weiler gegründet und bis zu seiner Auflösung im Jahr 2014 geleitet. Er führte geistliche und weltliche A-cappella-Werke aller Stil-Epochen sowie oratorische Kompositionen auf. Ein besonderer Akzent lag auf den Werken Johann Sebastian Bachs und zeitgenössischer Komponisten.
Johanniskantorei Mainz
Das Ensemble Chordial wurde 2008 von Mainzer Studenten gegründet und probt in der Evangelischen Studierenden-Gemeinde. Das Repertoire des Chores reicht von Werken des Barocks über romantische und impressionistische Stücke bis hin zur Moderne.
Mainzer Singakademie
Colours of Gospel sind ein 1998 gegründeter und von Collins Nyandeje geleiteter Gospelchor
Die Uferlosen wurden 1997 als gemischter lesbischwuler Chor gegründet.
Das Ensemble Vocale Mainz wurde 1984 von Wolfgang Sieber als kleines Vokalensemble gegründet und hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einem Kammerchor entwickelt, der sich vor allem A-cappella-Literatur widmet und mit der Pfarreikirche St. Bonifaz kooperiert.
convivium musicum mainz (Junger Chor am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Capella Moguntina ist ein im Jahr 2006 gegründetes junges Ensemble für Kirchenmusik an St. Quintin. Der Chor besteht derzeit aus 20 Mitgliedern, die sich dem Studium und der Aufführung geistlicher Vokalmusik der Renaissance und des Barocks zur Aufgabe gemacht haben. Das Repertoire ist sowohl in die Liturgie an der Pfarrkirche St. Quintin als auch in verschiedene Konzerte eingebettet und umfasst Werke bis in die Moderne.
Die Kinder- und Jugendkantorei St. Alban, welche 1971 von ihrem Chorleiter Heinz Lamby gegründet wurde, zählt heute rund 40 Mitglieder.
Die 1988 gegründete Chorabteilung des Peter Cornelius Konservatoriums umfasst einen Kinder- und einen Jugendchor sowie den Peter-Cornelius-Chor.
Der 1978 gegründete Mainzer Madrigalchor ist ein gemischter Kammerchor und auf vokale Arrangements aus Renaissance und Barock spezialisiert.
Museen
Die Mainzer Museenlandschaft ist von historischen Museen geprägt. Das bereits 1852 gegründete Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) war im Kurfürstlichen Schloss untergebracht und wird als Leibniz-Zentrum für Archäologie in einem Neubau in der südlichen Mainzer Altstadt in direkter Nachbarschaft zum Museum für antike Schifffahrt Ende 2024 neu eröffnet werden. Neben Sammlungen zur Vor- und Frühgeschichte, zur römischen Geschichte und zum frühen Mittelalter besitzt das Museum umfangreiche Restaurierungswerkstätten. Diese gehören zu den weltweit größten Einrichtungen ihrer Art und genießen internationalen Ruf. Sie werden mit der Konservierung und Restaurierung weltweit bedeutender archäologischer Funde wie z. B. des Gletschermanns aus Südtirol oder des Goldschatzes von Sipán (Grabbeigaben eines vorinkazeitlichen Fürsten aus Peru) beauftragt.
Eine breiter angelegte Sammlung von der Steinzeit bis in die Moderne bietet das Landesmuseum Mainz. Das Landesmuseum Mainz wurde 1803 gegründet und ist somit eines der ältesten Museen in Deutschland. Es ist im Zentrum von Mainz in der Großen Bleiche im ehemaligen kurfürstlichen Marstall, der „Golden-Ross-Kaserne“, beheimatet und beherbergt die bedeutendste Kunstsammlung des Landes Rheinland-Pfalz. Aus der Zeit des römischen Mogontiacum wird eine Vielzahl von Exponaten ausgestellt. Beeindruckend sind vor allem die zum Teil monumentalen Steindenkmäler in der sogenannten Steinhalle, unter anderem auch die Originalfunde der Große Mainzer Jupitersäule und des Dativius-Victor-Bogens. Ebenfalls bedeutend sind der „Mainzer Römerkopf“, das qualitativ hochwertige Porträt eines Angehörigen des Julisch-Claudischen Kaiserhauses und der Bronzekopf einer Frau, möglicherweise der Kopf der keltischen Göttin Rosmerta. Die umfangreiche Gemäldesammlung des Museums geht auf eine Schenkung von 36 Bildern durch Napoleon zurück, die auch Anlass der Gründung des Museums war.
Einen weiteren tiefen Einblick in die Geschichte des römischen Mainz ermöglicht das Museum für Antike Schifffahrt, in dem die Römerschiffe ausgestellt sind, die 1980/81 bei den Bauarbeiten für einen Hotelkomplex am Rheinufer gefunden wurden, sowie das Heiligtum der Isis und Mater Magna, das ebenfalls bei Bauarbeiten entdeckt wurde und im Untergeschoss der heutigen Römerpassage zu besichtigen ist. Die im Heiligen Bereich gemachten Funde werden dort zusammen mit den baulichen Überresten seit 2003 in einer nach modernsten museumspädagogischen Aspekten multimedial inszenierten Ausstellung gezeigt.
Im weltweit einmaligen Museum für Druckkunst, dem Gutenberg-Museum, erhält man einen Einblick in die von Johannes Gutenberg in Mainz erfundene Drucktechnik. Das Museum verfügt zudem über zwei der 49 erhaltenen Gutenbergbibeln. Umfangreiche Exponate zur Geschichte der Drucktechnik, der Typographie und des mechanischen Drucks ergänzen die Sammlungen des Museums.
Das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum im Kreuzgang des Mainzer Doms informiert über die Geschichte der romanischen Bischofskirche und des Bistums Mainz. Der närrischen Historie der Stadt ist das Mainzer Fastnachtsmuseum gewidmet. Daneben gibt es für einen allgemeinen Überblick auch noch das Stadthistorische Museum auf dem Gelände der Zitadelle Mainz. Das Naturhistorische Museum ist das größte seiner Art in Rheinland-Pfalz. Schwerpunkte der Museumsarbeit liegen in den Bio- und Geowissenschaften. Das Mainzer Garnisonsmuseum ist stilgerecht auf der Zitadelle in drei Kasematten zwischen dem Kommandantenbau und der Bastion Germanicus untergebracht und zeigt die über 2000-jährige Geschichte der Festungsstadt Mainz. Zeitgenössische Kunst zeigt die Kunsthalle Mainz im Mainzer Zollhafen.
Bibliotheken
Mainz kann als Geburtsstadt der Druckkunst auf eine lange Tradition von Bibliotheken und Büchersammlungen zurückblicken. Den Anfang machte die Bibliotheca Universitatis Moguntinae der 1477, also im Spätmittelalter, gegründeten Kurfürstlichen Universität. Diese bildete 1805 den Grundstock für die auf direkte Anordnung des französischen Innenministers Champagny gegründete Mainzer Stadtbibliothek. Weitere bis heute erhaltene Altbestände an Büchern der nunmehr städtischen Bibliothek resultieren aus den Büchersammlungen der Ende des 18. Jahrhunderts aufgelösten Klöster wie z. B. Kartause, Reichklara und Altmünster sowie der 1773 nach Aufhebung des Jesuitenordens aufgelösten Niederlassung des Ordens in Mainz.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand die Mainzer Stadtbibliothek ihre dauerhafte Bleibe in einem neu errichteten Jugendstilgebäude an der Mainzer Rheinallee in direkter Nachbarschaft zum Kurfürstlichen Schloss. Die Mainzer Stadtbibliothek gliedert sich heute in die Wissenschaftliche Stadtbibliothek und in die Öffentliche Bücherei mit breitem Angebot, das sich an alle Mainzer Bürger richtet. Diese fand Anfang der 1980er-Jahre als „Öffentliche Bücherei Anna Seghers“ ihren dauerhaften Platz in einem der beiden Hochhaustürme am Bonifaziusplatz in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs. Teile der Öffentlichen Bücherei sind in Form von fünf Stadtteilbüchereien ausgelagert.
Der Aufbau der heutigen Universitätsbibliothek Mainz begann 1946 im Zuge der Wiedereröffnung der Mainzer Universität. Am Anfang der Nachkriegsgeschichte in Mainz stand der Aufbau von dezentralen Bibliotheken. Erst danach wurde die Universitätsbibliothek/Zentralbibliothek gegründet, die 1964 ein eigenes neues Gebäude bezog. Ihr Bestand umfasst in der Hauptsache Werke der letzten hundert Jahre. Das letzte Jahrzehnt stand im Zeichen des Aufbaus von fachübergreifenden Bereichsbibliotheken als Bestandteilen der Universitätsbibliothek und der Bereitstellung eines breiten elektronischen Angebots.
Die Martinus-Bibliothek im Arnsburger Hof in der Mainzer Altstadt ist die wissenschaftliche Diözesanbibliothek des Bistums Mainz. Sie ist mit etwa 300.000 Bänden und 200 dauernd gehaltenen Zeitschriften ausgestattet. Dazu kommen 900 Inkunabeln und 120 Handschriften, die bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Sie ist eine der größten öffentlichen Spezialbibliotheken für Philosophie und Theologie.
Literatur
Durch die besondere Verbindung der Stadt Mainz mit dem Wirken Gutenbergs widmet sich die Stadt im kulturellen Bereich intensiv der Literatur und der dazugehörenden Druckkunst. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene Mainzer Johannisnacht (drittes Wochenende im Juni) widmet sich im kulturellen Programmbereich mit zahlreichen Aktivitäten der Literatur und dem Andenken Gutenbergs.
Der Mainzer Stadtschreiber ist ein 1984 gestifteter Literaturpreis der Fernsehsender ZDF und 3sat sowie der Stadt Mainz. Namhafte Autorinnen bzw. Autoren werden für ein Jahr zur Mainzer Stadtschreiberin bzw. zum Mainzer Stadtschreiber mit Wohnsitz im Stadtschreiberdomizil des Gutenberg-Museums in Mainz ernannt. Unter den Mainzer Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber finden sich bekannte Autoren wie z. B. Sarah Kirsch (1988), Horst Bienek (1989), Peter Härtling (1995), Hanns-Josef Ortheil (2000), Urs Widmer (2003) oder Monika Maron (2009).
Zusätzlich vergibt die Stadt Mainz den Literaturförderpreis der Stadt Mainz. Dieser Preis wird alle zwei Jahre vergeben. Preisträger sind junge Mainzer Autoren. Die Organisation obliegt dem LiteraturBüro Mainz.
Die Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) ist die größte Buchmesse der Kleinverlage und künstlerischen Handpressen in Europa. Sie findet seit 1970 alle zwei Jahre in Mainz statt, bis 2011 in Großzelten am Mainzer Rheinufer, seit 2013 in der Mainzer Rheingoldhalle. Im Rahmen dieser Messe vergibt die Stadt Mainz seit 1979 zu Ehren von Victor Otto Stomps den V.O. Stomps-Preis für „herausragende kleinverlegerische Leistungen“.
Im November findet das Literaturjahr in Mainz mit der Mainzer Büchermesse im Rathaus seinen Ausklang. Diese Buchmesse wird seit 2001 in der heutigen Form von der Arbeitsgemeinschaft Mainzer Verlage organisiert, die dort ihre Werke vorstellen. Die Buchmesse steht jedes Jahr unter einem anderen Thema, welches in Form von Vorträgen, Lesungen, Workshops usw. dem interessierten Publikum dargeboten wird.
Clubs und Diskotheken
Die Clubs werden insbesondere von den zahlreichen Studierenden der Stadt besucht. Mittwochs ist der Eintritt in den Clubs vielerorts frei oder günstiger.
Regelmäßige Veranstaltungen
Januar/Februar/März: Mainzer Fastnacht mit zahlreichen Prunksitzungen (darunter Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht), Mainzer Rosenmontagszug und Fastnachtsbällen (z. B. der Prinzengardenball)
Februar: Verleihung des deutschen Kleinkunstpreises im unterhaus
März: Rheinland-Pfalz Ausstellung bis 2004 im Volkspark, ab 2005 im Gewerbepark Hechtsheim-Süd
März: Mainzer-Tanztage (9 Tage Programm zu Bewegung, Rhythmus und Tanz in Mainz und Umgebung bzw. Rheinhessen)
Mai: Mainzer Minipressen-Messe; Gutenberg-Marathon
Mai/Juni: Open-Ohr-Festival in der Zitadelle
Mai bis September: Kulturprogramm „Mainz lebt auf seinen Plätzen“
Juni: Johannisnacht (Volksfest)
Juni: Run for children – Benefiz-Veranstaltung für Kinderhilfsprojekte
Juli: Mainzer Bierbörse
Juli: Mainzer Sommerlichter
Letzter Samstag im Juli: Sommerschwüle – lesbisch-schwules Fest mit überregionalem Publikum (jährlich seit 1993; bis 2003 in der Alten Ziegelei, ab 2004 im KUZ)
Juli/August: Skate Nights
August/September: Mainzer Weinmarkt
September: Interkulturelle Woche; Mainzer Museumsnacht
Oktober: Mainzer Oktoberfest
Oktober: Mantelsonntag
Oktober: Stijlmarkt
November/Dezember: FILMZ – Festival des deutschen Kinos, Mainzer Büchermesse; Weihnachtsmarkt; ein- bis zweijährlich Akut-Festival für Jazz
Kulinarische Spezialitäten
Mainz ist sowohl aufgrund der Historie wie auch der geografischen Lage eng mit dem Weinanbau verbunden. Im Stadtgebiet von Mainz gibt es verschiedene Weinlagen, aus denen hochprämierter Mainzer Wein gewonnen wird. Der Wein wird dabei noch oft in der Mainzer Stange als „Schoppen“ serviert. Wer den Wein lediglich probieren will, trinkt aus einem Piffche. Aus der Weinkultur stammen auch einige der traditionellen Gerichte, die im Mainzer Raum seit langem nachzuweisen sind: Spundekäs, Handkäs mit Musik und der Mainzer Käse sind Gerichte, die in Weinstuben zum Wein gereicht werden. Auch die Kombination von Pellkartoffeln (im Dialekt Quellmänner), Butter, Leberwurst und Salz hat als früheres Mainzer Gericht für arme Bevölkerungsschichten noch überlebt. Auch Nierenspieße oder Nierenragout sind in der Mainzer Küche zu finden. Ebenfalls als typisches Mainzer Gericht gilt in dieser Kombination auch Weck, Worscht un Woi. Die Nähe zu Rheinhessen sorgt dafür, dass auch die kulinarischen Spezialitäten des Umlandes gerne gegessen werden und eine echte Abgrenzung nicht existiert. Durch die lange Tradition der Mainzer jüdischen Gemeinde haben sich auch Spezialitäten aschkenasischer Juden (miminhagei jehudei ashkenas) erhalten, die erstmals von Jakob ben Moses haLevi Molin beschrieben wurden. Dazu zählt beispielsweise die Grüne Sauce.
Zu den bekanntesten Sektkellereien gehört die Kupferberg-Sektkellerei. Aber auch Bier wurde früher in Mainz gebraut. Bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Gasthaus- und Großbrauereien. Zu den bekanntesten, heute nicht mehr existierenden Brauereien zählten die Mainzer Aktien-Bierbrauerei und die früh auf die Frankfurter Binding-Brauerei übergegangene Schöfferhof-Brauerei. Heute gibt es neben der Gasthausbrauerei Eisgrub auch die zwei Brauereien KuehnKunzRosen und Eulchen Brauerei, die für den lokalen und überregionalen Markt Bier herstellen.
Das Dom-Café wurde 1792 als erstes Kaffeehaus in Mainz und eines der ältesten überhaupt im heutigen Deutschland eröffnet. Franz-Anton Aliski erhielt vom Mainzer Domkapitel im Frühjahr 1792 die Konzession, in einem der gerade von Franz Neumann geschaffenen Domhäuser am Marktportal des Domes ein Kaffeehaus mit handwerklich produzierten Torten, Kuchen, Pralinés, Petits Fours, Speiseeis und Pâtisserie nach Wiener Art einzurichten. Mainz war zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum der Konterrevolutionäre und beherbergte viele heimatlose Adelige. Die spätere österreichische Garnison nahm dieses heimatliche Angebot gerne an. Seitdem besteht in Mainz eine florierende Kaffeehausszene. Aus dieser Tradition heraus stammt auch noch die Beliebtheit von Brezeln und Salz-/Kümmelstangen.
Der Mainzer Schinken war eine Spezialität der Mainzer Metzger, die vor allem in Frankreich sehr populär war. Bis zum Ersten Weltkrieg exportierte Mainz die Delikatesse in die Markthallen von Paris. Von François Rabelais wird diese Spezialität in seinem mehrbändigen humoristischen Romanzyklus um die beiden Riesen Gargantua und Pantagruel mit dem Bayonner Schinken qualitativ gleichgestellt. In Frankreich wird der Jambon de Mayence nach wie vor in einem Kinderlied besungen und im heutigen Mainz als alte Mainzer Spezialität gerade wiederentdeckt und hergestellt.
Sport
Sportveranstaltungen und Wettkämpfe (Auswahl)
Seit dem Jahr 2000 findet in Mainz alljährlich der Gutenberg-Marathon statt.
Von 2001 bis 2010 fand in Mainz die zuvor in Frankfurt durchgeführte Veranstaltung Chess Classic statt, bei der in der Rheingoldhalle der inoffizielle Titel des Schnellschachweltmeisters vergeben wurde.
Seit 2002 richtet der TriathlonClub EisheiligenChaos Triathlonwettkämpfe in Mainz aus, seit 2003 unter dem Namen Mainzer City-Triathlon. Seit dem Jahr 2004 werden außerdem Kinder- und Schülerwettkämpfe organisiert.
Mannschaftssport (Auswahl)
Mainz weist im sportlichen Bereich vor allem in den Stadtteilen und Vororten eine Vielfalt von Vereinen auf, so auch im Fußball. Der erfolgreichste Fußballverein der Stadt Mainz ist der 1. FSV Mainz 05. Die erste Mannschaft spielte seit ihrer Gründung nie tiefer als in der dritthöchsten Liga. Von 2004 bis 2007 gehörte sie der ersten Bundesliga an, in die sie 2009 wieder aufstieg. 2005 konnte sie sich zwar sportlich nicht für einen europäischen Wettbewerb qualifizieren, nahm aber über die Fairplay-Wertung und ein Losverfahren am UEFA-Cup teil. In der Saison 2010/2011 erreichte der 1. FSV Mainz 05 zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte die sportliche Qualifikation zu einem europäischen Wettbewerb, in der sie jedoch am rumänischen Verein Gaz Metan Mediaș scheiterte. Die Mannschaft trägt ihre Heimspiele in der im Jahr 2011 eingeweihten MEWA-Arena aus. Die zweite Mannschaft spielt derzeit in der Fußball-Regionalliga Südwest. In den Saisons 2004/05 und 2014/15 spielten alle Mannschaften der 05er in der höchstmöglichen Spielklasse. Zum Abschluss der Saison 2015/2016 der Ersten Bundesliga belegten die Mannschaft den 6. Tabellenplatz und konnte sich damit direkt für die Gruppenphase der UEFA Europa League qualifizieren, der zurzeit beste sportliche Erfolg der 05er.
Die erste Damenmannschaft des Basketballvereins ASC Theresianum Mainz spielte schon ein Jahr nach ihrer Gründung in der ersten Bundesliga, nun wieder in der zweiten Bundesliga, während die erste Herrenmannschaft in der neu formierten ersten Regionalliga spielt. Die unteren Mannschaften spielen unter anderem in der Regionalliga, Oberliga (Damen) und Landes- und Bezirksliga (Herren). Auch im Jugendbereich ist der ASC einer der erfolgreichsten Vereine in Rheinland-Pfalz.
Die Mainz Athletics zählen zu den süddeutschen Spitzenmannschaften des Baseballs. Seit 1994 sind sie jedes Jahr in der Play-off-Runde um die deutsche Meisterschaft vertreten. 2007 und 2016 wurden sie Deutscher Meister. Im Juni 2011 zog der Verein ins neue Stadion im Gonsbachtal um.
Der TSV Schott ist der größte Mainzer Breitensportverein, er hat ca. 3700 Mitglieder und bietet 25 verschiedene Sportarten an. Die American Footballer des TSV Schott, die „Mainz Golden Eagles“, wurden 2007 Meister in der Oberliga und spielten zwei Jahre in der Regionalliga Mitte. Zurzeit spielt die Mannschaft wieder in der Oberliga. Die zur Saison 2009 erstmals angetretene Damenmannschaft gewann direkt in der Debütsaison die Meisterschaft der 2. Bundesliga. Gleichzeitig stellten sie für die Saison 2010 sechs Mitglieder der aktuellen deutschen Damen-Football-Nationalmannschaft. Auch die Jugendmannschaften der Golden Eagles errangen einige Erfolge, unter anderem die Qualifikation zu den deutschen Meisterschaften im Hallen-Flag-Football.
Der Rugby Club Mainz wurde 1999 als eigenständiger Verein gegründet. Seit dem Beginn der Saison 2012/2013 spielt die Herrenmannschaft in der 1. Bundesliga. Zuvor war der RCM in der 2. Bundesliga Süd vertreten. Die Reservemannschaft tritt in der rheinland-pfälzischen Regionalliga an. Größter Erfolg der bisherigen Vereinsgeschichte sind der Gewinn der deutschen Hochschulmeisterschaft 2009 in Zusammenarbeit mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der vorzeitige Erstliga-Klassenerhalt in der Saison 2012/2013. Die Damenabteilung des RC Mainz nimmt in mehreren Spielgemeinschaften am Ligabetrieb teil: In der SG Rhein-Main wird gemeinsam mit Eintracht Frankfurt Bundesliga-Rugby gespielt, die SG Mainz-Aachen tritt in der 7er-Regionalliga West an.
Das SPORT-Netz Mainz e. V., Abteilung Lacrosse (Mainz Musketeers), ist seit 2007 in der Westdeutschen Lacrosse-Liga WDLL, jetzt 1. Bundesliga West, vertreten.
Die 1. Herrenmannschaft der Hockeyabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Bundesliga, Gruppe Süd.
Floorball Mainz spielt in der Regionalliga West, setzt intensiv auf Nachwuchsarbeit und blickt auf eine erfolgreiche Deutschland-Pokal und Zweitliga-Vergangenheit zurück.
Sonstige Sportarten (Auswahl)
Der USC Mainz stellte bereits mehrere Teilnehmer an Olympischen Spielen, darunter Ingrid Mickler-Becker, Olympiasiegerin mit der 4 × 100-m-Staffel 1972, Lars Riedel, Diskus-Olympiasieger 1996, Marion Wagner, Niklas Kaul, Dekathlon-Weltmeister 2019, und Florence Ekpo-Umoh.
Der Mainzer Turnverein von 1817 ist der zweitälteste noch existierende Sportverein Deutschlands. Der MTV besteht aus den Sparten Turnen-Gymnastik, Badminton, Basketball, Fechten, Fußball, Handball, Kegeln, Modern Sports Karate, Ski, Tennis und Volleyball.
Die 1. Herrenmannschaft der Schachabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Schachbundesliga, Gruppe West. Der 1. Damenmannschaft gelang in der Saison 2006/2007 der Aufstieg in die 1. Bundesliga, die 2. Damenmannschaft stieg in die 2. Bundesliga auf.
Der ASV Mainz 1888 errang in den Jahren 1973, 1977 und 2012 den Titel „Deutscher Mannschaftsmeister“, 1975 war er Vizemeister und 1969 Pokalsieger. Durch das Erreichen der Meisterschaft in der 2. Ringer-Bundesliga West 2006/07 tritt der Verein seit der Saison 2007 wieder in der 1. Ringer-Bundesliga an.
Der Mainzer Ruder-Verein (MRV) von 1878 ist seit 1912 im internationalen Spitzensport vertreten und ist einer der erfolgreichsten deutschen Rudervereine. Der erste internationale Titel konnte 1913 bei der Europameisterschaft in Gent errudert werden. Nach der Anzahl der Mitglieder (ca. 600) gehört er seit Jahren zu den größten deutschen Rudervereinen. Seit 2003 ist das Bootshaus des MRV am Winterhafen Sitz eines Landesleistungszentrums des Landesruderverbandes Rheinland-Pfalz, außerdem Olympiastützpunkt Rheinland-Pfalz/Saarland und seit 2013 Bundesstützpunkt Nachwuchs Mainz/Frankfurt. Im Jahr 2020 qualifizierte sich Jason Osborne in seiner Bootsklasse für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio.
Die SG EWR Rheinhessen-Mainz ist ein Zusammenschluss aus insgesamt sechs Schwimmvereinen.
Die 1. Herrenmannschaft schwimmt seit der Saison 2006/07 in der 1. Bundesliga, die Damenauswahl in der 2. Bundesliga Süd. Darüber hinaus starten regelmäßig Sportler der Startgemeinschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen. Bekannte Sportler der Trainingsgruppe von Nikolai Evseev sind Christian Hein, Angela Maurer und Johanna Manz.
Zu den leistungsstärksten und erfolgreichsten deutschen Hallenradsportvereinen gehören der Radsportverein 1925 Ebersheim, der Radfahrerverein 1905 Finthen und der Radfahrerverein 1910 Hechtsheim. Als Leistungssport, der seine nationalen und internationalen Erfolge einer guten Jugendarbeit verdankt, pflegen diese Vereine das Kunstradfahren (Einer-, Zweier-, Vierer- und Sechser-Kunstfahren) sowie den Radball. Bei den Weltmeisterschaften im Zweier-Radball knüpften Thomas Abel und Christian Hess 2006 und 2007 an die Titelgewinne Hechtsheimer Radsportler seit den frühen 1950er Jahren an; Katrin Schultheis und Sandra Sprinkmeier (RV Ebersheim) errangen seit 2004 drei Weltmeister-Titel und vier Vizeweltmeisterschaften und sind Inhaberinnen des aktuellen Weltrekordes. Julia und Nadja Thürmer (RV Finthen) gehören als Junioreneuropameisterinnen 2007 und Vizeweltmeisterinnen 2009 zur nationalen und internationalen Spitze im Zweier-Kunstfahren.
Der Tanz-Club Rot-Weiss Casino Mainz wurde im Jahr 1949 gegründet. Er gehört zu den zehn größten Tanzsportclubs in Deutschland und ist der zweitgrößte Tanzsportverein in Rheinland-Pfalz nach dem Tanzclub Rot-Weiss Kaiserslautern. Aushängeschilder des Clubs sind das Ehepaar Kiefer, amtierender Weltmeister der Senioren II Standard Klasse, und die Standardformationen, von denen das A-Team seit sechs Jahren in der ersten Bundesliga tanzt. Als einziger Verein in Deutschland hatte der Club in der Saison 2006/2007 drei Standardmannschaften am Start.
Der MGC Mainz, ein Minigolfverein, spielt in der ersten Bundesliga und ist mit vielen Nationalspielern besetzt.
Die 1. Herrenmannschaft des TriathlonClub EisheiligenChaos (TCEC) startete im Jahr 2013 in der Regionalliga.
Weitere Sportvereine (Auswahl)
TSV Schott Mainz (u. a. Fußball, Hockey, Leichtathletik, Kegeln, Schach, American Football, Tennis, Eishockey)
Mombacher Turnverein 1861, der drittgrößte Mainzer Verein
DLRG Mainz e. V.
Sektion Mainz des Deutschen Alpenvereins – Bergsteigen, Klettern, Wandern, Hochtouren, Expeditionen, Skisport
Luftfahrtverein Mainz e. V.
Budo-Sportclub Mainz 92 e. V.
Polizei-Sportverein Mainz e. V.
Postsportverein Mainz e. V.
Rugby Club Mainz 1997 e. V.
Schachfreunde Mainz 1928 e. V.
Segelclub Mainspitze e. V.
SVW Mainz e. V.
TriathlonClub EisheiligenChaos 1988 e. V. (abgekürzt: TCEC)
TC Manta Mainz e. V. – Tauchclub
YCM Yacht-Club Mainz e. V.
SC Moguntia 1896 e. V.
Taekwon-Do Armare Mainz e. V.
Weißer Kranich, Freunde des Taijiquan und Wushu e. V.
KSV Mainz 08 e. V.
Hinweis: Sportvereine, die sich einem Stadtteil zuordnen lassen, befinden sich in den jeweiligen Stadtteilartikeln.
Namenspatenschaften
Die Stadt Mainz war in der Geschichte schon mehrfach Namenspate:
Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert gründeten in den Vereinigten Staaten die Städte Mentz (New York) und Mentz (Texas).
Die SMS Mainz war ein Kleiner Kreuzer der deutschen Kaiserlichen Marine, der im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam.
Die Mainz war ein Raddampfer der 1928/29 für die Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschifffahrt gebaut wurde.
Die Mainz ist ein Bereisungsschiff, das 1943 gebaut wurde und heute vorrangig für Veranstaltungen der Bundesregierung genutzt wird, darunter Staatsbesuche und internationale Konferenzen.
Der Mainzer Schinken war eine Bezeichnung der Metzger in und um Mainz für einen nach einem bestimmten Rezept hergestellten Schinken.
Als Mainzer Modell bezeichnet man eine Form des Lohnkostenzuschusses.
Die Lufthansa hat einen Airbus A340-600 (Kennung D-AIHK) nach der Stadt benannt.
Die Deutsche Bahn hat seit Herbst 2006 einen ICE T der Baureihe 411 (Tz 1182) mit Zulassung für die Schweiz nach der Stadt benannt. Zuvor gab es seit dem 17. Januar 2003 ebenfalls einen ICE T, allerdings aus der Baureihe 415 (Tz 1582), der den Namen der Stadt trug.
Der hochalpine Mainzer Höhenweg in den Ötztaler Alpen wird von der DAV Sektion Mainz betreut. Um die Stadt Mainz herum befindet sich der Kleine Mainzer Höhenweg.
Der Name des Asteroiden (766) Moguntia ist abgeleitet von der lateinischen Bezeichnung der Stadt Mainz, Mogontiacum.
Partnerstädte
(Vereinigtes Königreich), seit 1956
(Frankreich), seit 1958
(Kroatien), seit 1967
(Spanien), seit 1978
(Israel), seit 30. März 1987
(Thüringen, Deutschland), seit 20. Februar 1988
(Kentucky, Vereinigte Staaten), seit Mai 1994
Partnerstädte Mainzer Stadtteile:
(Frankreich), seit 1966 mit Mainz-Laubenheim
(Südtirol, Italien), seit 1977 mit Mainz-Finthen
Freundschaftliche Beziehungen:
(Ruanda), seit 1982
(Aserbaidschan), seit 1984
Persönlichkeiten
Zu Personen, die in Mainz geboren sind oder in dieser Stadt gewirkt haben, siehe:
Liste Mainzer Persönlichkeiten
Liste von Söhnen und Töchtern der Stadt Mainz
Liste der Ehrenbürger von Mainz
Liste der Bischöfe von Mainz
Liste der Mainzer Weihbischöfe
Liste der Stadtoberhäupter von Mainz
Liste der Gouverneure der Festung Mainz
Liste der Klassischen Philologen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Liste der Künstler am Mainzer Dom
Literatur
Allgemeine Schriften
(nach Erscheinungsjahr geordnet)
Karl Anton Schaab: Geschichte der Stadt Mainz. vier Bände, Mainz 1841–1851. Davon direkt zu Mainz Band 1 (1841) und Band 2 (1844).
Johann Heinrich Hennes: Bilder aus der Mainzer Geschichte, Verlag Franz Kirchheim Mainz 1857.
Städtebuch Rheinland-Pfalz und Saarland. Bd. 4,3. Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Teilband. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages, hrsg. von Erich Keyser. Kohlhammer, Stuttgart 1964.
Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte. Hrsg. v. d. Stadt Mainz. Krach, Mainz 1981ff.
Franz Dumont (Hrsg.), Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz: Mainz – Die Geschichte der Stadt. Zabern, Mainz 1999 (2. Aufl.), ISBN 3-8053-2000-0.
Wilhelm Huber: Das Mainz-Lexikon. Hermann Schmidt, Mainz 2002, ISBN 3-87439-600-2.
Michael Matheus, Walter G. Rödel (Hrsg.): Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte. Mainzer Kolloquium 2000 (Geschichtliche Landeskunde 55). Franz Steiner, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-08176-3.
Peter C. Hartmann: Kleine Mainzer Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2005, ISBN 978-3-7917-1970-2.
Wolfgang Dobras, Frank Teske: Kleine Geschichte der Stadt Mainz. Braun Verlag, Karlsruhe 2010, ISBN 3-7650-8555-3.
Mechthild Dreyer/Jörg Rogge (Hrsg.): Mainz im Mittelalter. von Zabern, Mainz 2009, ISBN 978-3-8053-3786-1.
Jörg Koch: Mainz. 55 Meilensteine der Geschichte. Menschen, Orte und Ereignisse, die unsere Stadt bis heute prägen. Sutton, Erfurt 2022, ISBN 978-3-96303-373-5.
Einzelthemen
Personen
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Wolfgang Balzer: Mainz, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Kügler, Ingelheim 1985–1993.
Bd. 1: Mainzer Ehrenbürger, Mainzer Kirchenfürsten, militärische Persönlichkeiten, Mainzer Bürgermeister. ISBN 3-924124-01-9.
Bd. 2: Personen des religiösen Lebens, Personen des politischen Lebens, Personen des allgemein kulturellen Lebens, Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Musiker. ISBN 3-924124-03-5.
Bd. 3: Geschäftsleute, epochale Wegbereiter, Baumeister, Fastnachter, Sonderlinge, Originale. ISBN 3-924124-05-1.
Hans Berkessel, Hedwig Brüchert, Wolfgang Dobras, Ralph Erbar, Frank Teske (Hrsg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen, Mainz 2016, ISBN 978-3-945751-69-5.
Architektur
Denkmaltopographien
nach Erscheinen geordnet
Angela Schumacher, Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.1 = Stadt Mainz. Stadterweiterungen des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts:
1. Auflage: 1986. ISBN 978-3-590-31032-2
2. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-138-7
Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.2 = Stadt Mainz. Altstadt.
1. Auflage: Schwann, 1988. ISBN 978-3-491-31036-0
2. Auflage: Schwann, 1990. ISBN 3-491-31036-9
3. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-139-4
Dieter Krienke: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.3 = Stadt Mainz. Vororte mit Nachträgen zu Band 2.1 und Band 2.2. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-140-0
Weitere Literatur
nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet
Hedwig Brüchert (Hrsg.): Die Neustadt gestern und heute. Festschrift 125 Jahre Mainzer Stadterweiterung. Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter. Veröffentlichungen des Vereins für Sozialgeschichte, Mainz 1997.
Heinz Duchhardt: „Römer“ in Mainz. Ein Doppelporträt aus der Frühgeschichte der „neuen“ Mainzer Universität. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Band 94, 2015, S. 292–310 (Digitalisat).
Günther Gillessen (Hrsg.): Wenn Steine reden könnten – Mainzer Gebäude und ihre Geschichten. Philipp von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1206-7.
Ernst Stephan: Das Bürgerhaus in Mainz. Das deutsche Bürgerhaus. Bd. 18. Wasmuth, Tübingen 1974, 1982, ISBN 3-8030-0020-3.
Petra Tücks: Zur urbanistischen und architektonischen Gestaltung der Stadt Mainz während der napoleonischen Herrschaft. Die Entwürfe von Jean Fare Eustache St. Far. In: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 1 (2/2009), S. 7–26.
Claus Wolf: Die Mainzer Stadtteile. Emons, Köln 2004, ISBN 3-89705-361-6.
Weitere Themen
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Friedhelm Jürgensmeier: Das Bistum Mainz. Knecht, Frankfurt/Main 1988, ISBN 3-7820-0570-8.
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein – Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz. Casimir Katz, Gernsbach 2005, ISBN 3-925825-89-4.
Siehe auch
Weblinks
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Mainz
Alte Stadtansichten von Mainz aus J. F. Dielmann, A. Fay, J. Becker (Zeichner): F. C. Vogels Panorama des Rheins, Bilder des rechten und linken Rheinufers, Lithographische Anstalt F. C. Vogel, Frankfurt 1833
Die Inschriften der Stadt Mainz. Teil 1: Die Inschriften des Domes und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350 via Deutsche Inschriften Online
F. K. Luft: Das neue Stadtkassen- und Verwaltungsgebäude der Stadt Mainz in: Deutsche Bauzeitung, 1926.
Einzelnachweise
Ort in Rheinland-Pfalz
Kreisfreie Stadt in Rheinland-Pfalz
Gemeinde in Rheinland-Pfalz
Deutsche Landeshauptstadt
Masterplan-Kommune
Ort mit Binnenhafen
Ort in Rheinhessen
Weinort in Rheinland-Pfalz
Deutsche Universitätsstadt
Ort am Oberrhein
Ehemalige Kreisstadt in Rheinland-Pfalz
Ortsname keltischer Herkunft |
553097 | https://de.wikipedia.org/wiki/Wahnsinn | Wahnsinn | Als Wahnsinn wurden bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Verhaltens- oder Denkmuster bezeichnet, die nicht der akzeptierten sozialen Norm entsprachen. Unterstellt wurde dabei stets ein dieser Norm konformes Ziel. Meist bestimmten gesellschaftliche Konventionen, was unter „Wahnsinn“ verstanden wurde: Der Begriff konnte z. B. wie das Wort Verrücktheit für bloße Abweichungen von den Konventionen (vgl. lateinisch delirare aus de lira ire, ursprünglich landwirtschaftlich „von der geraden Furche abweichen, aus der Spur geraten“) stehen. Er konnte aber auch für psychische Störungen verwendet werden, bei denen ein Mensch bei vergleichsweise normaler Verstandesfunktion an krankhaften Einbildungen litt, bis hin zur Kennzeichnung völlig bizarrer und (selbst-)zerstörerischer Handlungen. Auch Krankheitssymptome wurden zeitweilig als Wahnsinn bezeichnet (etwa jene der Epilepsie oder eines Schädel-Hirn-Traumas).
Der Begriff des „Wahnsinns“ wurde historisch einerseits in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungen verwendet und andererseits rückblickend auf verschiedene Phänomene angewendet. Daher ist er ein medizin- und kulturgeschichtlich nur schwer eingrenzbares, kaum zu definierendes und zum Teil widersprüchliches Phänomen. Welche Normabweichungen noch als „Verschrobenheit“ akzeptiert wurden und welche bereits als „verrückt“ galten, konnte sich abhängig von Region, Zeit und sozialen Gegebenheiten erheblich unterscheiden. Daher lassen sich moderne Krankheitskriterien und -bezeichnungen in der Regel nicht auf die historischen Ausprägungen von Wahnsinn anwenden. Am ehesten würde heute die Diagnose Schizophrenie dem Wahnsinn entsprechen.
Wortgeschichte
Das Wort „Wahnsinn“ ist eine Rückbildung des 18. Jahrhunderts aus dem Adjektiv „wahnsinnig“, das schon im 15. Jahrhundert nachweisbar ist. Vorbild war das Wort „wahnwitzig“, welches auf das althochdeutsche wanwizzi zurückgeht. Dabei bedeutet das althochdeutsche wan (ie. *(e)uə-no „leer“) ursprünglich „leer, mangelhaft“ (vgl. lat. vanus, engl. waning). „Wahnwitz“ bzw. „Wahnsinn“ bedeuteten also in etwa „ohne Sinn und Verstand“. Dadurch, dass wan und Wahn (ahd. wân „Hoffnung, Glaube, Erwartung“) sprachgeschichtlich zusammenfielen, haben sich die Bedeutungen gegenseitig beeinflusst: „Wahn“ wurde zur falschen, also eingebildeten Hoffnung, der alte Wortbestandteil wan wird heute als das etymologisch nicht verwandte „Wahn“ wahrgenommen.
Das Althochdeutsche kennt drei Substantive, die markante Zustände der Verstandestrübung und des Wahnsinns beschreiben: sinnelōsĭ, tobunga und unsinnigī. Diesen Begriffen ist eventuell noch das pathologische uuotnissa zur Seite zu stellen, es übersetzt das lateinische dementia. Die Bedeutung von „Wahnsinn durch Besessenheit“ hat unuuizzi. All diese Begriffe tragen ihren Ursprung im Lateinischen (dementia, alienatio und insipientia) und sind nur sehr schwer voneinander abzugrenzen.
Im Mittelhochdeutschen gibt es eine ganze Reihe anderer Begriffe, um Wahnsinn(ige) zu bezeichnen; zuerst einmal tôr und narre, aber auch ein großes Wortfeld mit Komposita der Stammsilbe sin(n), wie zum Beispiel unsin, unsinheit, unsinne, unsinnec, unsinnecheit, unsinneclîchen und unsinnen. Dazu kommen noch die bereits erwähnten Komposita der Stammsilbe wan wie wanwiz, wanwizze und wanwitzic und Komposita der Stammsilbe toben wie tobesuht, tobesite, toben, tobesühtig und tobic oder auch töbic. Bei Hartmann von Aue finden sich noch hirnsühte und hirnwüetecheit.
Synonym gebrauchte Begriffe sind „Verrücktheit“ und „Irrsinn“ („Irre-Sein“). Historisch wurde der Begriff auch in der Fachsprache der Psychopathologie verwendet, bis er im 19. Jahrhundert durch den Terminus „Geisteskrankheit“ abgelöst wurde. Als Krankheitsbezeichnung wird er in den Wissenschaften heute jedoch nicht mehr gebraucht.
Heute werden die Wörter „Wahnsinn“ und „wahnsinnig“ im allgemeinen Sprachgebrauch neben ihrer alten Bedeutung auch im übertragenen Sinn sowohl in positiver als auch in negativer Weise zur Bezeichnung außergewöhnlicher, extremer Zustände benutzt.
Zeichen oder „Symptome“ des Wahnsinns
Da die Formen des Phänomens „Wahnsinn“ sehr vielfältig sind, können die Interpretationen dessen, was als Symptom dieses Zustands anzusehen ist, sehr unterschiedlich ausfallen. In jedem Fall bewegen sich die Verhaltensweisen und Ausdrucksformen der Wahnsinnigen in bestimmter Weise außerhalb der Norm. Die Betroffenen sind damit aus der Mitte ihrer sozialen Umwelt – im buchstäblichen Sinne – „ver-rückt“.
Häufig äußert sich Wahnsinn durch einen Kontrollverlust über die Affekte, so dass Gefühle ungehemmt gezeigt und ausgelebt werden. Das Verhalten bewegt sich außerhalb der Vernunft, die Folgen des eigenen Tuns für sich und andere werden nicht mehr bedacht. Handlungen können objektiv sinn- und zwecklos sein oder aber rein triebgesteuert. Hinzu kann der Ausfall einzelner kognitiver Fertigkeiten treten. Der Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit wird mitunter nicht mehr erkannt. Die Wahrnehmung der Realität ist gestört. Beispiele für die daraus resultierenden katastrophalen Folgen finden sich bereits in der antiken Mythologie: Herkules tötet im Wahnsinn seine Kinder, Ajax metzelt die Schafherde des Odysseus nieder und stürzt sich ins eigene Schwert, der edonische König Lykurg trennt sich selbst die Beine ab, Medea erdolcht ihre Söhne und Melampus kastriert sich mit tödlichem Ausgang selbst.
Die von Außenstehenden wahrnehmbaren konkreten Ausprägungen des Wahnsinns bewegen sich in einem breiten Spannungsfeld zwischen höchst gesteigerter Aktivität und katatonem Stupor. Bei ersterem Extrem können manisches und agitiertes Handeln bestimmend sein, im anderen Extrem nach ICD-10 (F32.3) depressives oder teilnahmsloses Dahindämmern. Als oftmals kennzeichnend für die gestörte Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen gilt die Verkümmerung der sprachlichen Äußerungen (Echolalie: repetitive Wiederholung von Satzteilen, Lautmalerei, Reduplikation, Kinderreime oder -lieder).
Bildliche Darstellungen
Darstellungen des Wahnsinns in Kunst und Literatur können einen Eindruck davon vermitteln, welche symptomatischen Ausprägungen in früheren Zeiten unter „Wahnsinn“ verstanden wurden. Natürlich handelt es sich dabei um Quellen, die mit besonderer Vorsicht verwendet werden müssen. Zwar kann eine Ikonographie des Wahnsinns nur auf Grundlage eines Fundus der bereits vorhandenen Vorstellungen seiner Erscheinungsformen entstehen. Die konkreten künstlerischen Darstellungen wirken dann allerdings auch wieder auf die Erwartungen des Publikums zurück, das heißt, es ist grundsätzlich eine gegenseitige Bedingtheit stereotyper Modelle zu erwarten. Sowohl das ästhetische als auch das medizinisch-diagnostische Krankheitsbild sind oftmals Projektionen, die die Realität verzerrt wiedergeben oder aber sogar formen können.
In den bildlichen Darstellungen manifestiert sich der Wahnsinn fallweise durch verzerrte Mimik, unnatürlich verdrehte Körperhaltung, widersprüchliche oder sinnlose Gestik, durch absurde Handlungen, Darstellung von Halluzinationen oder einfach nur unter Zuhilfenahme der Physiognomie.
Das Gesicht ist die bevorzugte Körperregion, die zur Kenntlichmachung des Wahnsinns herangezogen wird. In erster Linie deuten unharmonische, asymmetrische oder verzerrte Gesichtszüge bis hin zu Grimassen und weit aufgerissenen oder verdrehten Augen auf geistige Zustände jenseits der Normalität hin. Der Situation unangemessene Mimik, etwa das Lachen in einer Trauersituation, ist ein besonders starker Hinweis auf vorliegenden Wahnsinn.
Die Gestik der Wahnsinnigen ist häufig widersprüchlich oder undeutbar. Theatralische Verrenkungen und widerstrebende Bewegungsrichtungen verschiedener Körperteile gehören hier ebenso dazu wie ungewöhnliches Ent- oder Angespanntsein der Muskulatur. Als Extreme sind völlig verkrampfte Haltungen oder erschlafftes Zusammengesunkensein möglich. Bei der Darstellung von Frauen kann eine erotisch-unschamhafte Komponente hinzutreten.
Die medizinischen Illustrationen dürfen aus den bereits genannten Gründen in ihrem Quellenwert nicht weniger kritisch eingeschätzt werden als die künstlerischen Gestaltungen.
Siehe auch den untenstehenden Abschnitt Beispiele aus der bildenden Kunst.
Literarische Beschreibungen
Eine eindringliche Beschreibung des Wahnsinns findet sich bereits in einem Abschnitt des Iwein von Hartmann von Aue. Der Löwenritter Iwein versäumt eine von seiner Frau gestellte Frist und verliert damit ihre Gunst. Daraufhin flieht er vom Hof, wird tobsüchtig und fristet als unbekleideter Wahnsinniger sein Leben im Wald:
dô wart sîn riuwe alsô grôz
daz im in daz hirne schôz
ein zorn unde ein tobesuht,
er brach sîne site und sîne zuht
und zarte abe sîn gewant,
daz er wart blôz sam ein hant.
sus lief er über gevilde
nacket nâch der wilde.
(Frei übersetzt: Da wurde sein Leid so groß, dass ihn Wahnsinn und Raserei irre machten. Er verlor Anstand und Erziehung, riss sich seine Kleider vom Leib, bis er vollkommen nackt war. In dieser Aufmachung lief er über die Felder in unbewohnte Gegenden.)
Später wird er durch eine Zaubersalbe geheilt, die die Fee Feimorgan selbst einmal vor langer Zeit hergestellt hat, und bewältigt seine Identitätskrise, indem er sein bisheriges Leben als Traum einschätzt und sich fortan für einen Bauern hält. Dann wird er bekleidet und zur Burg der Gräfin von Narison geführt, wo er vollständig gesund wird. Schon früh ist hierin die Beschreibung der Ätiopathogenese als auch der Symptomatik und der Heilung von Wahnsinn gesehen worden.
In Georg Heyms Erzählung Der Irre wird der ganze Schrecken des vollkommenen, sinnlosen Wahnsinns geschildert. Der aus einer Irrenanstalt entlassene Patient beginnt einen unheilvollen Zug durch die umliegende Gegend, wo er auch auf zwei Kinder trifft:
Eine der eindrücklichsten Schilderungen des Wahnsinn dürfte die Groteske Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen von Nikolai Wassiljewitsch Gogol sein. Die detaillierte Darstellung der beständigen Realitätsverneinung und Flucht in eine Traumwelt bei gleichzeitigem körperlichem Verfall stellt eine sehr eindrucks- und reizvolle künstlerische Gestaltung der Mania dar. Sie beschreibt in der Ich-Perspektive die Geschichte des Amtsschreibers Poprischtschin, der eines Tages auf zwei sprechende Hunde trifft, die von sich behaupten, in Korrespondenz miteinander zu stehen. Poprischtschin ist unglücklich in die Tochter seines Chefs verliebt, die für ihn unerreichbar ist, und gibt sich seinen Depressionen hin. Bald kann er die Briefe der Hunde beschlagnahmen und lesen, später erfährt er aus der Zeitung, dass der spanische Thron verwaist ist. Er erkennt sich selbst als den legitimen König von Spanien. In solch hohe Position gehoben, tritt er vor die geliebte Sophie und prophezeit ihr, dass sie zusammenfinden werden. Poprischtschin wird in die Irrenanstalt eingewiesen, glaubt aber, er sei in Madrid, der Oberarzt aber der spanische Inquisitor.
Siehe auch den unten stehenden Abschnitt Beispiele aus der Literatur.
Formen
Im Lauf der Geschichte sind unzählige Formen des Wahnsinns unterschieden und eine ganze Reihe von Klassifikationssystemen vorgeschlagen worden. Zur historischen Differentialdiagnose gehörten unter anderem dementia, dementia praecox, amentia, insania, melancholia, amor, mania, furor, ebrietas, lykanthropia, ekstase, phrenitis (daher „frenetisch“), somnium, lethargus, delirium, coma, cataphora, noctambulismus, ignorantia, epilepsia, apoplexia, paralysis, hypochondriasis und somnambulismus. Hier sollen im Weiteren nur einige der wichtigsten Formenkreise vorgestellt werden.
„Nützlicher Wahnsinn“
In der Antike konnten dichterische Inspiration und Sehertum „positive“ Formen des Wahnsinns darstellen. Im Altgriechischen ist μανία, manía „die Raserei“ verwandt mit dem sehr ähnlichen griechischen μαντις, mantis, das ist „der Seher“, „der Prophet“. Auch die Ekstase galt als Wahnsinn, insbesondere die dionysische Raserei.
Platon unterscheidet vier Formen des produktiven Wahnsinns: den mantischen, mystischen, poetischen und erotischen Wahnsinn. „Göttlicher Wahnsinn“ kann zu wahrem Wissen führen und ist somit positiv konnotiert.
Ähnlich der antiken Auffassung gab es auch im Mittelalter sanktionierten Wahnsinn. Dieser äußerte sich etwa in geistlicher Ekstase, Verzückungen oder Visionen. Zudem konnten Heilige in einen „guten“ Wahnsinn geraten.
Unvernunft
Die in der Neuzeit bestimmende Charakterisierung von Wahnsinn nimmt Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) vor. Diese wegweisende Einteilung basiert auf der Dichotomie von Vernunft und Unvernunft. Denjenigen, die er als „Verrückte“ kategorisiert, teilt er die Krankheitsformen „Wahnsinn“, „Wahnwitz“ und „Aberwitz“ zu. Seine Einschätzung des Wahnsinns als „methodische Verrückung“, die sich durch „selbstgemachte Vorstellungen einer falsch dichtenden Einbildungskraft“ auszeichnet, wird zur klassischen Definition des Wahnsinns im 18. und 19. Jahrhundert. „Wahnwitz“ ist für Kant hingegen eine systematische, wenngleich nur teilweise Störung der Vernunft, die sich als „positive Unvernunft“ äußert, da die Betroffenen andere Vernunftregeln gebrauchen als die Gesunden. Gemein ist allen Formen des Wahnsinns nur der Verlust des Gemeinsinns (sensus communis), der durch einen logischen Eigensinn (sensus privatus) ersetzt wird.
„Ganz normale Verrücktheit“
Aus dem Jiddischen stammt der Begriff mishegas, der die (milde) Verrücktheit bezeichnet, die sich auch bei jedem ganz normalen Menschen findet. Ein meshuganer dagegen ist jemand, den man wirklich für verrückt hält.
Melancholie
Eine andere Form des „Wahnsinns“ wird zwar schon in der Antike beschrieben, erlangt aber vor allem bei den Gebildeten seit dem Renaissance-Humanismus als „Modekrankheit“ Popularität: die Krankheit der Melancholie. Zwar galt der Konstitutionstyp des Melancholikers im Mittelalter als der am wenigsten erstrebenswerte, da dieser mit dürftigem Körperbau, unattraktivem Erscheinungsbild und unerfreulichen charakterlichen und geistigen Eigenschaften veranlagt war. Doch lag in der Melancholie als Krankheit eine bereits bei Aristoteles und Cicero angedeutete Möglichkeit der Selbstgenialisierung verborgen, die im Humanismus nun in einem „Melancholie-Kult“ gepflegt wurde. Torquato Tasso, der nach dem Abschluss seines monumentalen Epos La Gerusalemme Liberata an Wahnvorstellungen zu leiden begann, ist dafür ein beredtes Beispiel. Noch Schelling griff die alte Lehre auf, dass nur Menschen, die ein wenig wahnsinnig sind, kreativ sein könnten (nullum magnum ingenium sine quadam dementia). Im späteren 19. Jahrhundert wurde diese Form der Selbststilisierung allmählich unpopulär.
Manie und Hysterie
Im Gegensatz zur Melancholie stand immer die Mania (Raserei). Diese war als Delirium sine febre cum furore et audacia definiert. In der Abgrenzung zur Melancholie wird hier die größere Wildheit, Aufgeregtheit und Hitzigkeit der Mania betont. Joannes Fernelius schrieb:
Ursprünglich den Frauen vorbehalten war die Hysterie (pnix hysterike), von der man annahm, dass diese durch die weiblichen reproduktiven Anlagen verursacht sei. So sollten etwa durch Lageveränderung der Gebärmutter im Körper der Frau Erstickungsgefühle hervorgerufen werden können, die zu den Ursachen dieser Wahnsinnsart gerechnet wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Frauen oftmals aus diesem Grund von Ärzten verstümmelt (s. u.).
Sonstige Formen
Zum Wahnsinn wurden bisweilen auch nicht-psychische Krankheiten und Defekte gezählt, wie Epilepsie oder Tollwut (Rabies), selbst fiktive Phänomene wie die Lykanthropie oder Tanzwut (die allerdings im Veitstanz ihr reales Pendant findet). Auch substanzinduzierte Bewusstseinsstörungen wie Rausch- und Vergiftungszustände (Alkoholkonsum, Halluzinogene, Pflanzengifte) konnten unter Wahnsinn subsumiert werden.
Besondere Formen stellen die auf rein organische Ursachen zurückgehenden Dauerzustände wie die „angeborene Blödsinnigkeit“ (amentia congenita) bzw. massive Intelligenzminderung (Stumpf- und Starrsinn: Koma, Lethargie, Katoché, Altersdemenz) dar.
Die Liebeskrankheit (amor hereos, morbus amatoris) ist ein Wahnsinn, der sich bei unerfüllter oder unglücklicher Liebe einstellt. Ein Beispiel führt das anonyme Märe Der Bussard aus dem 14. Jahrhundert vor, in der ein Königssohn seine Braut verliert und sich in krankhaften Liebeskummer hineinsteigert. Seine Verzweiflung wächst mit Weinen und Haareraufen. Dann bricht der Wahnsinn über ihn herein und der Königssohn wird zum Tier. Bis zum Happy End vegetiert er als Waldmensch dahin.
In jenem medizinisch-naturwissenschaftlich bestimmten Denken, welches vom Beginn der Aufklärung an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Geschichte Europas wesentlich mitgeprägt hat, war Gesundheit für breite Bevölkerungsschichten der Maßstab des Konzeptes von Normalität und umgekehrt. In der Folge wurde in der bürgerlichen Gesellschaft leicht alles, was nicht „normal“ war, als „krankhaft“ betrachtet. Dazu konnte alles gehören, was nicht den kulturellen, gesellschaftlichen, moralischen oder juristischen Vorstellungen der Zeit von akzeptablem Verhalten oder Existenzformen entsprach (z. B. Homosexualität). Diejenigen, die sich nicht konform verhielten oder randständig waren, sollten möglichst „geheilt“ und „reintegriert“ werden. Ein stereotypes Ideal eines „Gesunden“, d. h. eine Vorstellung davon, was als „gesund“ und „normal“ zu gelten hat, ist dabei aus Gründen der notwendigen Abgrenzung untergründig immer präsent gewesen. Zugleich konnte dieses Ideal aber auch bewusst zur gezielten Ausgrenzung missbraucht werden (wie in späterer Zeit z. B. durch die Psychiatrisierung der Dissidenten in der Sowjetunion geschehen).
Ursachenzuschreibungen
Der Erste, der den Komplex des Wahnsinnsbegriffs behandelte, war Platon. In seinem Dialog Phaidros unterscheidet er zwischen zwei Hauptformen: jenem Wahnsinn, der durch menschliche Krankheit und jenem, der durch göttliche Gabe verursacht ist. Daran anschließend wird hier nach natürlichen und übernatürlichen Erklärungsversuchen für den Wahnsinn unterschieden.
Übernatürliche Erklärungsmodelle
Magisch-heidnische Vorstellungen
Bei den Babyloniern (etwa 19. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) und Sumerern (etwa 2800 bis 2400 v. Chr.) galt Wahnsinn als durch Besessenheit, Zauberei, dämonische Bosheit, den Bösen Blick oder durch das Brechen eines Tabus verursacht. Er war Richtspruch und Strafe zugleich.
Auch im antiken Griechenland ging die volkstümliche Auffassung zumeist von einer „Besessenheit durch böse Geister“ aus. Daneben gab es die Vorstellung, dass Wahnsinn von einer göttlichen Macht geschickt würde. Während die somatisch bedingte Krankheit „Wahnsinn“ für die Seele, wie Platon im Timaios ausführt, von Übel ist, führte diesem Konzept nach der göttliche Wahnsinn zu wahrem Wissen und war somit durchaus positiv besetzt. In den antiken Mythen führte er allerdings fast immer zu Selbstzerstörung und zur Tötung Unschuldiger – meist von Familienmitgliedern –, wenn die Götter den Wahnsinn schickten. Wahnsinn galt dort in der Regel als durch Hybris, Stolz oder Ehrgeiz selbst verschuldet.
Im Mittelalter wurde der „gewöhnliche“ Wahnsinn in der Vorstellung der meisten Menschen vom Teufel verursacht oder durch Hexen gebracht. Insbesondere unkontrolliertes Handeln und Sprachensprechen (Glossolalie) wurden als teuflisch (lat. maleficum) angesehen.
Christlich-religiöse Vorstellungen
Bereits im Alten Testament ist der Wahnsinn eine Strafe, die auf göttliches Eingreifen zurückzuführen ist. So heißt es etwa in Dtn 28,28: „Der Herr schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Irresein“. Eine solche Strafe trifft die Figur des Nebukadnezar aus dem Bericht in Dan 4,1–34. Nebukadnezar ist ein überheblicher Tyrann, der die Juden verfolgt. Durch eine himmlische Stimme wird ihm tiefste Erniedrigung angekündigt. Er verfällt dem Wahnsinn und muss sieben Jahre lang wie ein Tier leben und Gras fressen. Diese Gestalt des Nebukadnezar ist die Vorlage für die mittelalterliche Sichtweise der Ursachen für den Wahnsinn schlechthin. Da er wegen der Erzsünde des Hochmuts erniedrigt wurde, lagen Bezüge zwischen Sünde und Wahnsinn nah: Hugo von St. Viktor betonte etwa den pädagogischen Aspekt von Nebukadnezars Wahnsinn. In der Folge wurde im Mittelalter der Wahnsinn häufig auf das Einwirken Gottes zurückgeführt.
Wahnsinn wird in der Regel als Besessenheit interpretiert. Der offenkundigste alttestamentliche Fall findet sich bei König Saul (1 Sam 9,2–31,13). Saul zieht den Zorn Gottes auf sich, weil er die Amalekiter nicht vollständig ausrottet, und wird von einem bösen Geist besessen, der ihn mit Wahnsinn und Raserei quält: „Am folgenden Tag kam über Saul wieder ein böser Gottesgeist, so dass er in seinem Haus in Raserei geriet.“ (1 Sam 18,10).
Diese Geschichte wurde im Mittelalter immer wieder dahingehend verwendet, die Theorie von Besessenheit durch Dämonen und Teufel – vor allem während der Inquisition – zu stützen. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts beginnen niederländische Calvinisten, diese Bibelstelle im Sinne der Beschreibung einer Geisteskrankheit auszulegen.
Auch im Neuen Testament finden sich Fälle von Wahnsinn. Das prominenteste Beispiel ist die Heilung des Besessenen von Gerasa durch Jesus (Mt 8,28–34; Mk 5,1–20, Lk 8,26–40). Bei Matthäus heißt es:
Aber auch die Apostel waren fähig, Wahnsinn zu heilen (zum Beispiel in Apg 5,16).
In der Inquisition verdichtete sich die Auffassung von Wahnsinn als Form der Besessenheit von Dämonen, Teufeln und bösen Geistern.
Bedeutung erlangte im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit auch die Vorstellung des Kampfes um die Seele (siehe auch Prudentius, Psychomachia). Diese beinhaltete, dass die Mächte Gottes und des Teufels um die Seele des Menschen kämpften. Als eine mögliche Folge wurde das Eintreten geistiger Verwirrtheit vermutet.
Natürliche Erklärungsmodelle
Geistig-moralische Defekte
Im homerischen Epos bedeutete das griech. μαινεσθαι (mainesthai) „rasen“, „toben“ oder „von Sinnen sein“. Dieses Verhalten außerhalb der Normen war in der Regel durch den Verlust der Affektkontrolle bedingt. Unter „gewöhnlichem“ Wahnsinn verstanden die alten Griechen also die Beeinträchtigung oder Ausschaltung des nüchternen Verstandes, zum Beispiel durch Schmerz, Wut, Hass oder Rachegelüste. Auch in der Attischen Tragödie, die existentielle und elementare Konflikte behandelt, wurde der Wahnsinn als Verlust des Selbst gesehen, der katastrophale Folgen für den Betroffenen und die Gemeinschaft haben konnte.
Nach Ende des Mittelalters, das vor allem dem Erklärungsmodell der Besessenheit verhaftet war, veröffentlichte Johann Weyer (1515–1588) im Jahre 1563 die Streitschrift De praestigiis daemonum gegen den Hexenhammer und die Inquisition. Er sah Wahnsinn als eine Krankheit des Geistes und setzte den religiösen Irrungen ein rationales medizinisches Paradigma entgegen. Er blieb jedoch ein Einzelkämpfer, der sich gegen Aberglauben und Klerus nicht durchzusetzen vermochte. Dennoch konnte er sich auf Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) (1493–1541) und Felix Platter (1536–1614) stützen, die wie er Vorkämpfer der medizinischen Psychiatrie waren. Platter behauptete, dass nicht jede Form von Wahnsinn automatisch durch Dämonen verursacht sei. Besonders im „gemeinen Volk“ fänden sich oft „einfache Irre“, nicht jeder Geistesgestörte sei automatisch verflucht.
Seit dem 13. Jahrhundert – so Michel Foucault – begann sich das Verständnis von Wahnsinn allmählich zu wandeln. Er reihte sich allmählich in die Liste der Laster ein, die von Unmoral und Unvernunft des Betroffenen kündeten. Im 15. Jahrhundert stand Wahnsinn dann nicht mehr unbedingt in einem dämonischen Kontext. Stattdessen wurde nun oftmals die individuelle „menschliche Schwäche“ der Betroffenen ins Zentrum gerückt: Torheit und Narrheit liegen in der Verantwortung des Einzelnen, der seine Zucht- und Maßlosigkeit nicht zu zügeln vermag. Das falsche Verhalten hat den Wahnsinn zur Konsequenz. Dieser gilt als Gebrechen und Fehlerhaftigkeit seines Trägers und wird in der Folge zum Stigma. Entsprechend wird der Narr, als jemand, der sich an den Grenzen oder außerhalb der Normen bewegt, der Lächerlichkeit preisgegeben.
Das „Zeitalter der Aufklärung“ bildete die Bedeutung des Wahnsinns als Fehlfunktion einer ursprünglich gesund angelegten Vernunft aus. Wahnsinn wird als der defekte Modus einer natürlichen Vernünftigkeit begriffen. Dieses aufklärerische Herausarbeiten der Vernunft bringt den Wahnsinn – als Unvernunft – als notwendigen Gegenpart hervor, um den Vernunftbegriff überhaupt sinnvoll konstituieren zu können. In diesem Konzept begrenzt und bedingt sich das komplementäre Begriffspaar gegenseitig. Michel Foucault hält diese Entwicklung zugleich auch für verantwortlich für den parallel stattfindenden Beginn der Ausgrenzung des Wahnsinns und der Wahnsinnigen aus der Gesellschaft. Arthur Schopenhauer weist auf die gegenseitige Bedingtheit von Vernunft und Wahnsinn hin, wenn er postuliert, dass Tiere des Wahnsinns nicht fähig sind.
Körperliche Ursachen
Die griechische Medizin erklärte den Wahnsinn durch einen Überfluss an „schwarzer Galle“ (griech. μέλαινα χολή, mélaina cholé). Diese humoralpathologische Auffassung war bereits frei von religiös-magischen Vorstellungen. In Humanismus und Renaissance wurde diese Theorie der „schwarzen Galle“ (lat. bilis atra) wieder populär. Deren dunkle Säfte und rußigen Dämpfe – so glaubte man – schlügen sich auf das Gehirn nieder, das schon als Sitz des Verstandes erkannt war, zermürbten es und machten es spröde. Die „gelbe Galle“ (lat. bilis pallida bzw. bilis flava) hingegen konnte nach Daniel Sennert hitzige Raserei verursachen und damit Grund für den cholerischen Wahnsinn sein. Ebenso wie für die Mania galt die „gelbe Galle“ auch als Ursache der Epilepsie, die zwar eher im Grenzbereich des Wahnsinnsbegriffes liegt, historisch diesem dennoch oftmals hinzugerechnet wurde.
Die Melancholie wurde als Krankheit des Herzens eingestuft, welches im Gegensatz zum Hirn als Sitz von Gemüt und Gefühl angesehen wurde. Diese Lokalisation war jedoch nicht unumstritten. Girolamo Mercuriale etwa beschrieb die Melancholie als Störung der Imaginatio im vorderen Teil des Gehirns. Große Einigkeit bestand darin, dass die Phrenitis – eine Entzündung der Gehirnhäute – ein möglicher Grund für Wahnsinn ist, deren Ursache wiederum „grimmige, bitter gewordene Galle sei, die die Fasern des Gehirns reizt“ (Joannes Fantonus, 1738). Eine besondere Rolle kam auch der Milz zu, die als das Reservoir der von der Leber erzeugten schwarzen Gallensäfte galt. Wenn die „schwarze Galle“ von der Milz nicht richtig angezogen würde und sich dem Blut beimische, so gelange sie ins Hirn und richte dort großen Schaden an (Ioannes Marinellus, 1615).
Der Melancholie nicht unähnlich ist der Komplex der Liebeskrankheit, amor hereos oder auch Morbus amatorius. Die Verbindung ist hier augenfällig, wenngleich Wahnsinn als eine durch unerfüllte Liebe verursachte körperliche Krankheit schon in der Antike um 600 v. Chr. von der Dichterin Sappho geschildert wird und auch im Corpus Hippocraticum wieder auftaucht.
Früh wurden schon Verbindungen zwischen Verletzungen des Gehirns und Wahnsinn gezogen. So beschrieb Wilhelm von Conches (um 1080–1154) bereits Ursachen für den Wahnsinn durch Verletzungen des Gehirns: Der Betroffene verliere eine Fähigkeit, behalte aber die übrigen entsprechend der unbeschädigten Gehirnbereiche. Auch Mondino di Liuzzi (ca. 1275–1326) schuf eine Ventrikellehre der Pathologie: „Ausfälle der mentalen Vermögen sind mit Läsionen der entsprechenden Gehirnteile gleichgesetzt“ (Lit.: Kutzer, S. 68f.).
Die positivistische Psychiatrie erhob den Anspruch, dass alle Erscheinungen des Wahnsinns nicht nur auf eine nachvollziehbar-kausale, körperliche Ursache zurückzuführen, sondern auch zu beheben sein werden. Der Geist, die Seele galt nunmehr als bloße Marionette des Hirnorgans. Diese naturwissenschaftlich-anatomisch fundierte Psychiatrie setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Das psychiatrische Paradigma lautete: Krankheiten des Geistes sind Krankheiten des Gehirns. In der Folge wurde der Begriff „Wahnsinn“ als nosologischer Fachterminus obsolet und durch die Bezeichnung „Geisteskrankheit“ abgelöst.
Am Ende des 19. Jahrhunderts rückte der Zusammenhang zwischen Wahnsinn und Sexualität in den Mittelpunkt des Interesses. Basierend auf dem Gegensatzpaar Natur – Kultur spielte die Geschlechtszugehörigkeit nun eine wichtige Rolle. Wilde, Angehörige der Unterschicht und Frauen gehörten dem Bereich des Triebhaften an, Männer der bürgerlichen Zivilisation. Frauen galten aufgrund der „Pathogenität des weiblichen Unterleibs“ und der „Minderwertigkeit der weiblichen Nerven“ als besonders vulnerabel: Pubertät, Menstruation, Geburt und Menopause galten als gefährlich. Die Lokalisation des „Krankheitsherdes“ führte zum spezifischen Begriff der Hysterie (von griech. ὑστέρα, hystera „Gebärmutter“). In dieser Zeit wurde den Frauen geistige Gesundheit zum Teil nur noch als kurze Unterbrechung ihrer geschlechtsbedingten Krankheit zugestanden.
Die moderne Psychiatrie und Neurologie erforschen die neurobiologischen Grundlagen psychischer Störungen. Beispielsweise lassen sich bei der Schizophrenie Veränderungen des Stoffwechsels von Nervenzellen im Gehirn feststellen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse bemüht sich die Psychiatrie um die Entwicklung neuer Therapien psychischer Störungen.
Seelische Störungen
Nachdem der Begriff „Wahnsinn“ im 19. Jahrhundert durch den Begriff der Geisteskrankheit ersetzt wurde, der sich von der Vorstellung ableitete, dass dem Menschen ein Geist, beziehungsweise eine Seele innewohnt und diese erkrankt sein könne (siehe Psychoanalyse), wandelte sich der Begriff im 20. Jahrhundert erneut.
Diagnostik
Die auf empirischer Beobachtung basierende Diagnostik des Wahnsinns begann im Jahr 1793, als der Mediziner und Philanthrop Philippe Pinel (1745–1826) Leiter der Pariser Kranken-, Irren- und Besserungsanstalten zuerst in Bicêtre, dann in Salpêtrière wird. Er führte humanere Behandlungsmethoden ein und klassifizierte die Insassen nach ihren individuellen Problemlagen. Wenn es möglich war, überwies er sie, soweit dies sinnvoll war, an andere Institutionen. Die zurückbleibenden Wahnsinnigen brachte er abhängig von ihrer Symptomatik in jeweils eigenen, abgetrennten Bereichen unter. Der somit gleichsam „isolierte“ Wahnsinn konnte in seinen Eigenarten nun mit empirisch-naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Die äußerlich sichtbar werdenden Krankheitszeichen, die Pinel akribisch beobachtete und mit der individuellen Biographie des Kranken verknüpfte, wurden durch seine Monographie Nosographie philosophique ou méthode de l'analyse appliquée à la médecine (Paris 1798) maßgeblich für die zukünftige Klassifikation des Wahnsinns.
Für den Arzt Franz Joseph Gall (1758–1828) zählte das Irresein zu den Krankheiten, die grundsätzlich materielle Ursachen hatten. In seiner Wiener Praxis begann er nach 1785 die Anatomie des Gehirns und neurologische Grundfragen zwischen Organstruktur und -funktion zu untersuchen. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Gehirn aus vielen einzelnen Einheiten besteht, deren individuelles Versagen zu spezifischen Formen des Wahnsinns führen konnte. Damit begründete er die Phrenologie (griech. phren „Zwerchfell“, als Sitz der Seele in der griechischen Antike), deren Verbindung mit der Kraniologie (griech. kranion „Schädel“) versprach, durch einfaches Abmessen der Schädelform die Bestimmung von Intelligenz, Charakter und moralischer Verfasstheit eines Menschen zu ermöglichen.
Heute werden psychische Störungen und Erkrankungen nicht mehr unter einem allgemeinen Begriff wie „Wahnsinn“ zusammengefasst, sondern anhand verschiedener Diagnosesysteme, wie dem DSM 4 der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Vereinigung) oder der ICD-10 der WHO, fein differenziert; einen guten Überblick über das große diagnostische Spektrum dieser Störungen bietet die Liste psychischer Störungen.
Therapien
Magische Therapie
Eine Heilung des Wahnsinns wurde oft durch magische Mittel versucht, wobei die Gefahr besteht, 'den Teufel durch den Beelzebub (also einen anderen Teufel) auszutreiben'. Der Besessenheit durch böse Geister begegnete man aus christlicher Sicht dann richtig, wenn mit einem Exorzismus der Heilige Geist in den Kranken einzieht oder zumindest den Dämon vertreibt. Geistliche Heilungsmethoden standen den katholischen Gläubigen immer zur Verfügung. Darüber hinaus konnten diese auch Pilgerreisen zu besonderen Wallfahrtsstätten unternehmen oder Messen lesen lassen. Bei den evangelischen Kirchen wurde in späterer Zeit das Gebet, die geistliche Beratung und das Lesen der Bibel bevorzugt.
Chirurgische Therapie
Bohrungen (Trepanationen) an steinzeitlichen Schädeln könnten als erste historisch fassbare Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit dem, was in späterer Zeit als Wahnsinn bezeichnet wurde, gedeutet werden. Paläopathologen vermuten, dass es sich hierbei möglicherweise um Versuche einer chirurgischen Behandlung von Geisteskranken gehandelt haben könnte, bei denen „bösen Geistern“ eine Möglichkeit zum Entweichen aus dem Schädel des Patienten geschaffen werden sollte. Ähnliche Behandlungsmethoden sind auch aus späterer Zeit bekannt (s. Abb.).
Die Schattenseiten der psychiatrischen Medizin zeigten sich in den höchst zweifelhaften chirurgischen Therapieversuchen des 19. und 20. Jahrhunderts wie etwa der Hysterektomie, Klitoridektomie oder der Lobotomie. Die gegen Mitte des 20. Jahrhunderts noch ohne Narkose eingesetzte Elektrokrampftherapie hat in der Öffentlichkeit angsteinflößende Vorstellungen von peinigenden „Elektroschocks“ zur Therapie Geisteskranker hinterlassen.
Verwahrung und Zucht
Im Zeitalter des Absolutismus und Merkantilismus wurde der Wahnsinnige zusammen mit anderen Randgruppen, die nicht den geltenden Verhaltensnormen entsprachen oder sich nicht an die Regeln hielten, aus dem öffentlichen Bewusstsein entfernt und in Internierungsstätten (England: workhouses, Frankreich: hôpitaux généraux, Deutschland: „Zucht-, Arbeits- und Tollhäuser“) eingeschlossen und damit „unschädlich“ gemacht. Durch Zucht und Arbeit (häufig auch durch körperliche Züchtigung) sollte ihrer „Unvernunft“ entgegengewirkt werden. In einigen Asylen konnten die angeketteten Kranken als „Monstrositäten“ zur Abschreckung und Befriedigung der Schaulust gegen Eintritt durch vergitterte Fenster betrachtet werden.
Am Ende des 18. Jahrhunderts befreite die Aufklärung die „Irren“ zumindest aus ihren physischen Ketten. Die Betroffenen wurden prinzipiell als heilungsbedürftige Kranke anerkannt, wenngleich der Arzt vornehmlich damit beauftragt war, den Wahnsinnigen „zu seinem eigenen Wohle“ weiterhin zu isolieren und jegliche Disziplinierungstechnik, allen voran die „moralische Behandlung“, therapeutisch zu rechtfertigen.
Keine Therapie
Im Mittelalter wurde der Wahnsinn in der Regel auf das Einwirken Gottes bzw. des Teufels zurückgeführt. Eine Möglichkeit der Hilfe für die Betroffenen, die man als „natürliche Narren“ bezeichnete, stand während der gesamten Epoche nicht zur Verfügung.
Die Betreuung der Wahnsinnigen war im Mittelalter sehr unterschiedlich. Die Haltung zu Krankheit und die Behandlung der Kranken hing stark von ihrem jeweiligen sozialen Milieu ab. Je höher der soziale bzw. materielle Status ihrer Familie, desto größer war die Chance der Betroffenen, gepflegt und umsorgt zu werden und ihren Zustand womöglich ausheilen zu lassen. Wahnsinnige aus reichen Familien wurden eher integriert, die aus armen Familien oftmals vertrieben.
Solange man sie nicht für gefährlich hielt, wurden Betroffene häufig sich selbst überlassen. Manche erhielten ein Narrenkleid, das sie selbst schützen und andere warnen sollte. Die Familien der Wahnsinnigen waren versorgungs- und regresspflichtig: „Over rechten doren unde over sinnelosen man ne sal man ok nicht richten; sweme sie aver scaden, ire vormünde sal it gelden.“ (Sachsenspiegel III 3). Waren Betroffene eine öffentliche Gefahr, schloss man sie in Stadttürmen oder zuhause ein, bisweilen auch in Narrenkisten oder Narrenkäfigen außerhalb der Stadtmauern. Fremde wurden aus den eigenen Gebieten verjagt.
Psychotherapie und Psychopharmakatherapie
Seit den 1950er Jahren werden psychische Störungen und Erkrankungen, die früher dem Wahnsinn zugerechnet wurden, in aller Regel durch eine Kombination aus medikamentösen Maßnahmen (Psychopharmaka) und psychotherapeutischen Methoden behandelt, wobei der jeweilige Anteil dieser beiden Therapieformen je nach psychiatrischem Krankheitsbild und therapeutischem Ansatz unterschiedlich ist. Gesetzlich gefördert wird in Deutschland hauptsächlich die Verhaltenstherapie. Die Elektrokrampftherapie war in den letzten Jahrzehnten in die Kritik geraten, wird aber bei bipolaren Störungsbildern in ihrer modernen Form (unter Narkose) weiterhin von der Psychiatrie verwendet und zeigt bei sehr starken Depressionen auch zumindest temporäre Erfolge, die eine Verhaltenstherapie unter Umständen erst ermöglichen. Über die organischen Ursachen psychischer Erkrankungen, an denen eine Therapie direkt ansetzen könnte, ist allerdings wenig bekannt.
Bisweilen ist es nach Ansicht fast aller Ärzte notwendig, psychisch kranke Patienten zeitweilig per Psychisch-Kranken-Gesetz aus der Gesellschaft zu entfernen und stationär zu behandeln. Insbesondere psychisch kranke Straftäter werden in Sicherungsverwahrung untergebracht, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Mit den Irrenhäusern des 19. Jahrhunderts haben die modernen psychiatrischen Kliniken zwar wenig gemein, dennoch sind diese als soziologischer Begriff weiterhin negativ besetzt.
Wahnsinn in Kunst und Literatur
Die Darstellung des Wahnsinns ist in der Geschichte der Künste immer auch von Voyeurismus geprägt gewesen. Das Sujet ermöglichte es, das Subjektive, Symbolische, Phantastische und Irrationale zu gestalten. Träume, Ängste und vor allem das Hässliche waren hier bild- und textwürdig.
Beispiele aus der bildenden Kunst
In der bildenden Kunst ist das Thema „Wahnsinn“ nicht übermäßig häufig dargestellt worden. Beliebte Sujets sind der Wahnsinn als Strafe oder Rache Gottes bzw. der Götter, die Heilung Besessener durch Jesus von Nazaret, die Apostel oder die Heiligen (siehe oben); ab dem 16. Jahrhundert auch Repräsentationen von Wahnsinnigen und Porträts, seit dem 18. Jahrhundert auch Darstellungen aus Irrenanstalten. Im Folgenden einige bekannte Beispiele:
Typisierungen finden sich etwa in der Zeichnung Das Narrenhaus von Wilhelm von Kaulbach, der Fiktion einer realistischen Szene im Hof eines Irrenhauses, in der jede Person der dargestellten Gruppe einen eigenen Typus einer Geisteskrankheit repräsentiert. Die moralisierende Darstellung spiegelt eine biedermeierliche Pathognomik, die die individuellen Gesichtszüge als Symptomattribute des Wahnsinns interpretiert. Dargestellte Typen sind u. a. der eingebildete Philosoph, Feldherr und König; der Narr, der Melancholiker, die sexuell ausschweifende und die liebeskranke Frau, mehrere religiöse Wahnsinnige usw.
Berühmte Innenansichten aus Irrenasylen finden sich etwa bei William Hogarth oder Francisco de Goya. Hogarths achtes Bild der Serie „A Rake’s Progress“ zeigt eine Szene aus dem Bedlam, in der die wahnsinnigen Insassen sehr klischeehaft – etwa als eingebildeter Kaiser oder Papst mit den passenden, wenngleich karikierten Attributen – dargestellt sind. Die schaulustigen Besucherinnen spiegeln den Voyeurismus der Gesellschaft und des Betrachters. Besonders auffällig ist die Gruppe in der linken unteren Ecke des Bildes, die einer Pietà nachempfunden ist. Eine realistisch anmutende Szene bietet Goyas „Casa de Locos“, welches neben den üblichen Stereotypen auch die Verwahrlosung und das trostlose Dahindämmern der Alleingelassenen in der Dunkelheit der Verwahranstalt anzudeuten scheint.
Die ersten Portraits von Geisteskranken werden Théodore Géricault zugeschrieben, der in der Salpêtrière zwischen 1821 und 1824 von zehn Patienten zu wissenschaftlichen Zwecken Bilder anfertigte, wenngleich nicht mehr bekannt ist, welche Formen des Wahnsinns die Bilder darstellen sollten. Da sich die Krankheit in den Gesichtszügen widerspiegeln sollte, hebt die Lichtregie besonders die Physiognomie hervor. Géricault stellt nicht mehr das unmäßig Verzerrte oder Groteske in den Mittelpunkt, sondern seine subtilen Darstellungen lassen offen, wo die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn liegt.
Darstellungen von Narren gehören nur teilweise und am Rande zum Themenkreis des Wahnsinns. Überschneidungen ergeben sich bisweilen bei den Attributen, an denen sich zum Teil auch Wahnsinnige erkennen lassen. Diese werden oftmals nicht nur in zerrissener oder schmutziger Kleidung dargestellt, sondern manchmal auch – um einen besonderen Kontrasteffekt zu erzielen – ähnlich den Narren mit Herrschaftszeichen ausgestattet, etwa Krone und Szepter, die auch deutlich als Attrappen kenntlich gemacht sein können. Das Motiv der „Welt als Narrenhaus“ ist eine weitere bildlich ausgestaltete Variante.
Siehe auch den Abschnitt Bildliche Darstellungen im Abschnitt über Symptome.
Beispiele aus der Literatur
In der Literatur stellt der Wahnsinn ein wichtiges Motiv dar, auch als Motivfügung der „Welt als Tollhaus“. Das Handlungsschema von Schuld und Sühne wird oftmals mit Hilfe des Wahnsinns maßgeblich gestaltet. Er ermöglicht den Aufbau der pathologischen Entwicklung, eine plausible Darstellung der ungezügelten Leidenschaften und ungehemmten Auftritte und den psychologisch begründeten Zusammenbruch einer Figur. Zugleich kann die Reaktion unterschiedlicher Personen auf die Konfrontation mit dem Wahnsinn gezeigt werden. Dieses Motiv kann den Leser bzw. Zuschauer gleichzeitig weitgehend in die Handlung verwickeln und trotzdem eine gewisse innere Distanz wahren lassen. Im Allgemeinen werden nur selten schwerste Geistesstörungen – die wenig Entwicklungsmöglichkeiten zulassen – dargestellt, sondern vielmehr Sinnestäuschungen, „Hysterie“, Rauschdelirien oder pathologische Langeweile.
Die Zuschreibungen für die Ursachen des Wahnsinns in den literarischen Darstellungen folgen in der Regel den jeweiligen historischen Auffassungen. In konservativer Sicht bleibt der Wahnsinn bis ins 19. Jahrhundert die Strafe für Verfehlungen, seit der Aufklärung ist er auch Konsequenz ungezügelter Leidenschaften, mit der Frühromantik tritt die außer Kontrolle geratene künstlerische Genialität als mögliche Ursache hinzu. Ab dem 19. Jahrhundert finden sich erste „realistische“ Studien des Krankheitsbildes bei Émile Zola, August Strindberg und Gerhart Hauptmann. Im absurden Theater ist der Wahnsinn schließlich die Verfassung der Welt selbst, die ohne jede vernünftige Sinndeutung zu sein scheint (z. B. Jean Genets Der Balkon). Für die Protagonisten kann dies auch bedeuten, den Un-Sinn einer Sinn-Gebung ihres Daseins zu erkennen.
Aus den zahllosen Werken der Literatur kann hier nur eine kleine Auswahl genannt werden. Zu den ältesten Darstellungen des Wahnsinns zählt der bereits erwähnte Iwein des Hartmann von Aue. William Shakespeare verwendet den Wahnsinn als Gestaltungsmittel mehrfach, am eindrücklichsten ist die monomane Besessenheit im Macbeth. Im satirischen Narrenschiff des Sebastian Brant werden die Menschen gleichsam vom kollektiven Wahnsinn der Gesellschaft angesteckt; in ähnlicher Weise werden in Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit gesellschaftliche Zustände gegeißelt. Typische Vertreter der Romantik sind zum Beispiel E. T. A. Hoffmann mit der Darstellung des Medardus in den Elixieren des Teufels, des Nathanael im Sandmann oder des René Cardillac im Fräulein von Scuderi, sowie Bonaventura mit der Problematik einer bösartigen Weltverfassung bzw. eines wahnsinnigen Weltschöpfers in den Nachtwachen. Die Lebensläufe einzelner Handlungsträger in einer als absurd empfundenen Welt in den Wahnsinn hinein finden sich bei Georg Büchners Lenz, Dostojewskis Der Doppelgänger und in einigen Erzählungen Kafkas (je nach Interpretationsansatz u. a. Das Urteil, Ein Landarzt, Die Verwandlung). Eher gesellschaftskritisch sind die Schilderungen der Zustände in den Pflegeanstalten wie etwa am Beginn von Georg Heyms Der Irre.
Die wichtigste Funktion erfüllt der Wahnsinn als literarisches Motiv aber als Kennzeichnung des Endzustands einer Figur nach deren geistigen Zusammenbruch aufgrund unerträglicher psychischer Belastungen. In Miguel de Cervantes’ Roman Don Quijote gibt es für den Helden keine Lösungsmöglichkeit zwischen Wirklichkeit und Illusion, Shakespeares König Lear zerbricht an seiner ausweglosen Situation, Othello ist durch seine Eifersucht verblendet. Die Problematik des Künstlers zerreibt Goethes Torquato Tasso ebenso wie den Protagonisten Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig bzw. den Protagonisten in Doktor Faustus. Schuldgefühle treiben Hauptmanns Bahnwärter Thiel in die geistige Umnachtung ebenso wie Gretchen im Faust; aber auch Armut und Hunger können die Menschen um den Verstand bringen (z. B. in John Steinbecks Früchte des Zorns, zur gesellschaftlichen Problematik siehe auch Allen Ginsbergs Howl).
Vergleiche auch den Abschnitt Literarische Beschreibungen im Abschnitt über Symptome.
Quellenangaben
Literatur
Kulturgeschichte
E. D. Baumann: Die pseudohippokratische Schrift 'PERI MANIES'. In: Janus. Band 42, 1938, S. 129–141.
Henri Hubert Beek: Waanzin in de middeleeuwen. Beeld van de gestoorde en bemoeienis met de zieke. Nijerk-Haarlem 1969; Neudruck Hoofddorp 1974.
Burkhart Brückner: Delirium und Wahn. Selbstzeugnisse, Geschichte und Theorien von der Antike bis 1900. Band 1: Vom Altertum bis zur Aufklärung. Band 2: Das 19. Jahrhundert – Deutschland. Guido Pressler Verlag, Hürtgenwald 2007, ISBN 978-3-87646-099-4 (Umfangreiches Werk mit Schwerpunkt auf autobiographischen Zeugnissen und der Geschichte der Psychosen).
Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Dörlemann, Zürich 2005, ISBN 3-908777-06-2 (Ein leicht lesbarer kulturgeschichtlicher Streifzug, verfasst von einem ausgewiesenen Experten; manchmal etwas oberflächlich)
Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973; 20. Auflage ebenda 2013, ISBN 978-3-518-27639-6. (Der „Klassiker“, große Erkenntnistiefe, aber auch subjektiv-suggestiv und mit kritischem Abstand zu würdigen)
Michael Kutzer: Anatomie des Wahnsinns. Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie. Pressler, Hürtgenwald 1998, ISBN 3-87646-082-4 (Wissenschaftsgeschichtliche, quellenorientierte Untersuchung der Theorien zwischen etwa 1550 und 1750)
Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. 3. Auflage. Europäische Verlags-Anstalt, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-434-46227-9 (Solide Darstellung der Verhältnisse in der „bürgerlichen Zeit“, ca. 1700–1850)
Robert Castel: Die psychiatrische Ordnung. Das Goldene Zeitalter des Irrenwesens. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979 u. ö., ISBN 3-518-28051-1 (Systematische, psychiatrie- und gesellschaftskritische Untersuchung der Strukturen zwischen 1784 und 1838)
Werner Leibbrand, Annemarie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Alber, Freiburg im Breisgau und München 1961 (= Orbis Academicus, II, 12). (Umfängliche medizingeschichtliche Gesamtschau, etwas veraltet)
H. Hühn: Wahnsinn. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12, S. 36–42. (Die philosophische Perspektive; sehr dicht, schwierig)
Rudolf Hiestand: Kranker König – kranker Bauer. In: Peter Wunderli (Hrsg.): Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance. Droste, Düsseldorf 1986, ISBN 3-7700-0805-7, S. 61–77.
In der Literatur
Josef Mattes: Der Wahnsinn im griechischen Mythos und in der Dichtung bis zum Drama des fünften Jahrhunderts (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, N.F., Reihe 2; Band 36), Winter, Heidelberg 1970, ISBN 3-533-02116-5 / ISBN 3-533-02117-3 (Dissertation Universität Mainz, Philosophische Fakultät 1968, 116 Seiten).
Lillian Feder: Madness in Literature. Princeton (New York) 1980.
Allen Thiher: Revels in madness. Insanity in medicine and literature. University of Michigan Press, Ann Arbor, MI 1999, ISBN 0-472-11035-7 (Chronologisch aufgebaute Abhandlung über die Verbindung von Wahnsinn und Literatur von den alten Griechen bis zur Gegenwart)
Wahnsinn. In: Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Auflage. Francke, Tübingen u. a. 1995, ISBN 3-8252-8034-9, ISBN 3-7720-1734-7, S. 333–336 (Kurze, aber sehr erhellende Darstellung der Rolle des Wahnsinnsmotivs in der europäischen Literatur)
Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-28813-X.
Oliver Kohns: Die Verrücktheit des Sinns: Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle (= Literalität und Liminalität), Band 5. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-738-7 (Dissertation Universität Frankfurt am Main 2006, 361 Seiten).
Susanne Rohr, Lars Schmeink (Hrsg.): Wahnsinn in der Kunst. Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. WVT Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2010, ISBN 978-3-86821-284-6.
Gerold Sedlmayr: The discourse of madness in Britain, 1790–1815: medicine, politics, literature (= Studien zur englischen Romantik, N.F., Band 10), Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2011, ISBN 978-3-86821-311-9.
Anke Bennholdt-Thomsen, Alfredo Guzzoni: Aspekte empirischer Psychologie im 18. Jahrhundert und ihre literarische Resonanz. Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-5010-7.
Nicola Gess: Primitives Denken : Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne: (Müller, Musil, Benn, Benjamin). Wilhelm Fink Verlag, München 2013, ISBN 978-3-7705-5469-0.
Bozena Anna Badura: Normalisierter Wahnsinn? Aspekte des Wahnsinns im Roman des frühen 19. Jahrhunderts. Psychosozial-Verlag, Gießen 2015, ISBN 978-3-8379-2440-4 (Dissertation Universität Mannheim 2013, 259 Seiten).
In der bildenden Kunst
Fritz Laupichler: Madness. In: Helene E. Roberts (Hrsg.): The encyclopedia of comparative iconography. Themes depicted in works of art. Bd. 2. Dearborn, Chicago 1998, ISBN 1-57958-009-2, S. 537–544 (Übersicht über die Ikonographie des Wahnsinns, mit einer umfänglichen Liste von Kunstwerken)
Franciscus Joseph Maria Schmidt, Axel Hinrich Murken: Die Darstellung des Geisteskranken in der bildenden Kunst. Ausgewählte Beispiele aus der europäischen Kunst mit besonderer Berücksichtigung der Niederlande. Murken-Altrogge, Herzogenrath 1991, ISBN 3-921801-58-3 (Problemorientierte Einzelbesprechungen ausgewählter Kunstwerke mit Einordnung in die historischen Kontexte)
Miriam Waldvogel: Wilhelm Kaulbachs Narrenhaus (um 1830). Zum Bild des Wahnsinns in der Biedermeierzeit (= LMU-Publikationen / Geschichts- und Kunstwissenschaften, Nr. 18). Ludwig-Maximilians-Universität, München 2007 (Volltext)
Birgit Zilch-Purucker: Die Darstellung der geisteskranken Frau in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Melancholie und Hysterie. Murken-Altrogge, Herzogenrath 2001, ISBN 3-935791-01-1 (Aufschlussreiche Untersuchung des Problemfeldes Wahnsinn und Weiblichkeit)
Weblinks
Irren-Geschichte – Zum Wandel des Wahnsinns (Diplomarbeit von Gertraud Egger)
Zur Geschichte der psychiatrischen Behandlungsverfahren von Prof. H. J. Luderer
Ist der Irre krank? – Geschichtliche Entwicklung von Frank Wilde
(englisch)
Psychische Störung
Geschichte der Psychiatrie |
584475 | https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A4belschn%C3%A4bler | Säbelschnäbler | Der Säbelschnäbler (Recurvirostra avosetta) ist eine Vogelart aus der Familie der Säbelschnäbler (Recurvirostridae). Mit seinem schwarzweißen Gefieder zählt er zu den auffallendsten Limikolen. Im Wattenmeer der Nordsee ist er ein häufig zu beobachtender Vogel.
Trotz des sehr großen und disjunkten Verbreitungsgebietes werden keine Unterarten des Säbelschnäblers unterschieden.
Erscheinungsbild
Ein ausgewachsener Säbelschnäbler wird ohne Beine 42 bis 46 Zentimeter lang und wiegt 290 bis 400 Gramm. Die Flügelspannweite beträgt bis zu 80 Zentimeter. Säbelschnäbler sind auf Grund ihrer Gefiederfärbung und der besonderen, nach oben gebogenen Schnabelform unverwechselbar. Im Flug könnten sie allerdings mit Reiherläufern (Dromas ardeola) verwechselt werden. Im Federkleid des Vogels kontrastiert reines Weiß mit reinem Schwarz. Während der untere Kopfteil, Hals, Brust, Rücken und Bauch rein weiß gefärbt sind, sind Oberkopf, Scheitel und Nacken, die seitlichen Rückenteile sowie die Ober- und Unterseiten der Handschwingen im letzten Drittel schwarz. Die mittellangen Beine sind grau mit einem leicht bläulichen Schimmer. Auffallend und einzigartig ist der lange, dunkelgraue, zur Spitze hin deutlich nach oben gebogene Schnabel, der für den deutschen Gattungsnamen namensbestimmend wurde.
Im Fluge wirkt der Vogel von unten gesehen bis auf die schwarzen Flügelenden rein weiß, von oben gesehen wird die schwarz-weiße Flügelzeichnung besonders deutlich. Die Beine sind während des Fliegens gestreckt und überragen die Schwanzspitze beträchtlich, der Hals hingegen ist nicht zur Gänze durchgestreckt.
Der Geschlechtsdimorphismus ist sehr gering. Zuweilen zeigen Weibchen eine etwas hellere Befiederung der Schnabelbasis sowie einen weißen Augenring. Der Schnabel der Männchen ist etwas länger und weniger stark gebogen als bei den Weibchen. Im Jugendgefieder sind die bei den Altvögeln schwarz gefärbten Gefiederbereiche eher dunkelbraun, die weißen deutlich braun, beziehungsweise isabellfarben behaucht.
Stimme
Sein Ruf klingt in etwa wie plüüiit oder klüüiit. Der Ruf ist reintönend, melodisch und fließend. Werden die Vögel aufgeschreckt, ist auch ein schrilles und schnell gereihtes Quik quik quik zu hören. Auf Störungen am Nest reagieren Säbelschnäbler vor allem gegenüber zudringlichen Möwen mit hohen pii-jüli-Rufen.
Verbreitungsgebiet
Brutareale
Das disjunkte Brutareal des Säbelschnäblers erstreckt sich über mehrere Klimazonen von den gemäßigt-atlantischen Küsten Nordwesteuropas und den kontinentalen Steppen Zentralasiens über den Mittelmeerraum südwärts bis in die tropischen und subtropischen Klimate Ost- und Südafrikas.
In Europa ist der Säbelschnäbler ein Brutvogel an den Küsten Großbritanniens, Südschwedens, Estlands, Dänemarks, Deutschlands, Frankreich und Portugals. In Spanien brütet er sowohl an der Küste als auch im Binnenland. Säbelschnäbler sind außerdem auf Sardinien, in Italien, Griechenland, Rumänien und Ungarn heimisch. In Österreich sind sie besonders gut am Neusiedler See zu beobachten, wo 2004 über fünfhundert Altvögel gezählt wurden, deren Bruterfolg aber besorgniserregend gering war. Auch das Wolgadelta gehört zu den wichtigen europäischen Brutarealen des Säbelschnäblers.
Überwinterungsgebiete
Das Zugverhalten der Art unterscheidet sich in Abhängigkeit von der Lage der jeweiligen Brutgebiete. Zumindest im nördlichen Teil des Verbreitungsgebietes sind Säbelschnäbler Zugvögel. In milden Wintern bleiben viele Säbelschnäbler, die in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden brüten, in ihren Brutarealen und sind somit als Standvögel anzusehen. Auch in der Helgoländer Bucht und im niederländischen Rheindelta, wo sich große Schwärme schwedischer, dänischer, deutscher und holländischer Vögel ab Mitte Juli zur Mauser einfinden, bleibt ein kleiner Teil über den Winter.
Die Brutvögel der Küsten Nordwesteuropas, die nach dem Abschluss der Brutperiode und der im Juli und August anschließenden Mauser abziehen, folgen ab Oktober der Atlantikküste in südwestlicher Richtung. Wichtige Überwinterungsgebiete sind feinsedimentreiche Buchten und Flussmündungen der französischen, portugiesischen und spanischen Atlantikküste. Neben diesen trotz zahlreicher menschlicher Eingriffe relativ naturnahen Gebieten haben auch anthropogene Lebensräume wie Fischteiche und Salinen eine hohe Bedeutung als Überwinterungshabitat. Ein Teil der nordwesteuropäischen Säbelschnäbler überwintert noch weiter südlich an der afrikanischen Atlantikküste. Die Brutvögel des Mittelmeerraumes zeigen abgesehen von Dispersionsbewegungen und dem Aufsuchen geeigneter Überwinterungshabitate keine gerichtete Migration. Die Brutvögel Zentral- und Südosteuropas ziehen in südost- bzw. südwestlicher Richtung zur Überwinterung in die Schwarzmeerregion, den Mittelmeerraum sowie nach Nordafrika. Ein Teil dieser Population überquert möglicherweise die Sahara und überwintert in der östlichen Sahelzone des Sudan und Tschad. Über die Wanderungen der zentralasiatischen Population ist wenig bekannt, ihre Überwinterungsgebiete befinden sich am Persischen Golf, im Nordwesten des Indischen Subkontinents und in Südostchina. Die Brutvögel Afrikas verbringen die Trockenzeiten als Nichtbrüter in küstennahen Habitaten.
Lebensraum
Das wichtigste Lebensraumelement des Säbelschnäblers sind feinsedimentige, vegetationsarme Flachwasserzonen und Uferbereiche, wo er seiner spezialisierten Form der Nahrungssuche nachgehen kann. Er findet diese Voraussetzungen vor allem in seichten Meeresbuchten, Flussmündungen, Lagunen und flachen Seen. Die bevorzugt besiedelten Lebensräume weisen häufig brackigen bis salinen Charakter auf. Die Brutplätze befinden sich auf vegetationsarmen bis spärlich bewachsenen Bereichen der Uferzone oder auf Inseln, die Schutz vor landgebundenen Beutegreifern bieten. In Nordwesteuropa besiedelt der Säbelschnäbler in erster Linie die tidalen Wattflächen des Wattenmeeres sowie durch Eindeichungen entstandene Brack- und Süßwasserseen, den so genannten Köge. In Süd- und Südosteuropa gehören Salinen und andere anthropogene Gewässer zu den wichtigsten Lebensräumen. Typische Lebensräume in den zentralasiatischen und afrikanischen Brutgebieten sind nach Regenfällen kurzfristig entstehende Gewässer und saline Steppenseen.
Ernährung
Die Nahrung der Jung- und Altvögel ist stark von den lokalen Bedingungen des jeweiligen Lebensraumes abhängig. Sie besteht überwiegend aus Wirbellosen des feinschlickigen Sediments der Uferzone und des Flachwassers, es werden aber auch gelegentlich kleinere Fische erbeutet. Sie wird durch das arttypische Säbeln, eine mähende Seitwärtsbewegung des Schnabels im Sediment oder Flachwasser ertastet und verschluckt. Bei der Nahrungssuche im Sediment werden bei jeder Mähbewegung etwa 30 Quadratzentimeter Schlamm abgetastet. Der Schnabel liegt dabei etwa zwei bis drei Zentimeter tief im Sediment. Mitunter kann man auch beobachten, dass mehrere Vögel gemeinsam dicht nebeneinander auf die Jagd im Flachwasser gehen. Dabei sind die Mähbewegungen meistens schneller, weil hier der Schnabel nicht durch Schlick, sondern nur durch Wasser gezogen wird. Dabei wirbeln die nebeneinander laufenden Vögel Beutetiere auf, die sie dann im Wasser fassen können. In klarem Wasser und von der Bodenoberfläche picken Säbelschnäbler auch visuell geortete Beutetiere auf.
Tiefere Wasserschichten können durch eine gründelnde Form der Nahrungssuche unter der Wasseroberfläche genutzt werden. In weiten Teilen des Brutareals stellen sehr kleine (4–15 mm Länge) Arthropoden des Salz- und Brackwassers, vor allem aquatische Insekten und deren Larven (Coleoptera, Diptera) und kleine Krebstiere (Crustacea, z. B. Artemia spec., Daphnia spec.) die Hauptnahrung der Jung- und Altvögel. Ein wichtiges Beutetier im Bereich des Wattenmeeres ist der Seeringelwurm (Nereis spec.). Darüber hinaus werden andere Borstenwürmer (Polychaeta) sowie kleinere Mollusken wie Muscheln und Schnecken erbeutet.
Fortpflanzung
Paarbildung
Die Paarbildung beginnt gegen Ende des Winters. Viele Säbelschnäbler treffen bereits verpaart am Brutplatz ein. Kurz nach der Ankunft im Brutrevier beginnt die Balz, die meist eine sehr kurze Gruppenbalz ist. An seichten Stellen im Wasser versammeln sich etwa drei bis sechs, gelegentlich aber auch bis zu 18 Vögel. Mit nach innen gerichteten Köpfen stehen sie dabei meist in einer kreisförmigen Aufstellung. Zu den Balzritualen gehört häufig das Hochwerfen von trockenem Gras, Wasserpicken und heftiges Kopf- und Schnabelschütteln. Nicht selten zählen zu dieser Gruppenbalz auch Droh- und Aggressionsgebärden, die bis zu regelrechten Kämpfen führen können. Verpaarte Vögel bleiben dabei möglichst eng an der Seite ihres Partners und drücken ihre Zugehörigkeit dadurch aus, dass sie sich möglichst aneinander pressen.
Die Kopulation findet gleichfalls im seichten Wasser statt. Der Paarung gehen ein ritualisiertes Wasserpicken und Gefiederputzen voraus, bis das Weibchen eine Aufforderungsstellung einnimmt. Der Kopf befindet sich dabei flach über dem Wasser und die Beine sind weit gespreizt. Bevor das Männchen das Weibchen bespringt, läuft er häufig mehrmals hinter ihrem Rücken von einer Seite zur anderen. Der Kopulation folgt häufig ein kurzer, gemeinsamer Spurt. Eng aneinander gepresst und mit gekreuzten Schnäbeln laufen die Paare durch das flache Wasser. Beim Männchen sind dabei häufig die Flügel leicht geöffnet.
Säbelschnäbler sind Koloniebrüter, auch wenn sie ihre engen Nahrungs- und Brutterritorien gegeneinander abgrenzen. Häufig brüten sie nicht nur mit Artgenossen gemeinsam, sondern auch mit Seeschwalben, kleineren Möwen und anderen Limikolenarten.
Verlauf der Brutperiode und Nest
Der zeitliche Verlauf der Brutperiode zeigt innerhalb Europas nur geringe geografische Unterschiede. Sie beginnt in den nordwesteuropäischen Brutgebieten mit der Besetzung der Brutkolonien Ende März bis Mitte April. Die Eiablage kann in den südeuropäischen Brutgebieten bereits ab Anfang April erfolgen, an der Wattenmeerküste Nordwesteuropas beginnt sie in der letzten Aprildekade. Säbelschnäbler führen eine monogame Saisonehe, beide Partner sind an der Bebrütung der Eier und der Jungenaufzucht beteiligt. Das Nest ist eine Bodenmulde am Strand, die mit Pflanzenteilen und Steinen belegt ist. Gelegentlich ist das Nest auch nur eine flache Auskratzung im nackten Boden. Das in der Regel aus vier Eiern bestehende Gelege wird durchschnittlich 23 Tage bebrütet. Die Eier sind blass cremefarben bis hell grünbräunlich. Sie sind sehr variabel mit kleinen schwarzen und grauen Tupfen und Linien gezeichnet. Kurz nach dem Schlupf verlassen die Brutpaare die Kolonien und führen die Jungen in bis zu mehrere Kilometer entfernte Aufzuchthabitate, wo sie heftig verteidigte Territorien etablieren.
Aufzucht der Jungen
Die Brutpflege für die selbständig nach Nahrung suchenden Jungvögel beschränkt sich auf die Verteidigung des Territoriums, die Abwehr von Raubfeinden und dem Wärmen der Jungvögel im Bauchgefieder, dem sogenannten Hudern. Die Länge der Wachstumsperiode bis zum Flüggewerden ist stark von Witterungs- und Ernährungsbedingungen abhängig. Sie schwankt zwischen 28 und etwa 40 Tagen und beträgt durchschnittlich 35 Tage. Die Küken haben im Gegensatz zu den adulten Vögeln beim Schlupf einen geraden Schnabel. Sie können außerdem recht gut schwimmen und folgen den Elternvögeln ins seichte Wasser.
Die Jungvögel brüten in der Regel das erste Mal im zweiten Lebensjahr.
Bestandssituation
Mit etwa 11.000 Brutpaaren beherbergt das am Nordrand der Brutverbreitung gelegene Wattenmeer mehr als die Hälfte der auf insgesamt etwa 19.000 Paare geschätzten nordwesteuropäischen Population.
Der Brutbestand des Säbelschnäblers in Nordwesteuropa hat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen und stagniert erst in jüngster Zeit auf hohem Niveau, wobei es zahlreiche Hinweise darauf gibt, dass diese Population als Quellpopulation nicht auf die Zuwanderung aus weiter südlich gelegenen Brutgebieten angewiesen ist. Diese Entwicklung wird auf die Einrichtung weiträumiger Seevogelschutzgebieten zurückgeführt. Der Säbelschnäbler gehört zu den wenigen Arten, die nicht mehr auf der Roten Liste geführt werden müssen. Bestandsbedrohungen gehen allerdings von umfassenden Eindeichungsplänen an verschiedenen Stellen der Nordseeküste aus. Ähnlich wie beim Austernfischer wird für den Säbelschnäbler prognostiziert, dass er infolge der Klimaerwärmung an mitteleuropäischen Küsten weitgehend verschwinden wird. Ein Forschungsteam, das im Auftrag der britischen Umweltbehörde und der RSPB die zukünftige Verbreitungsentwicklung von europäischen Brutvögeln auf Basis von Klimamodellen untersuchte, geht davon aus, dass es beim Säbelschnäbler bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu weiträumigen Arealverlusten kommen wird. Prognostiziert wird unter anderem, dass vom aktuellen Verbreitungsgebiet achtzig Prozent dieser Art keine geeigneten Lebensräume mehr bieten werden.
Sonstiges
In Großbritannien waren Säbelschnäbler Mitte des 19. Jahrhunderts ausgestorben. Nach 1940 kam es zu einer erfolgreichen Wiederansiedelung dieser Art. Ein stilisierter Säbelschnäbler ziert seitdem das Logo der Royal Society for the Protection of Birds.
Der Asteroid des inneren Hauptgürtels (8588) Avosetta ist nach dem Säbelschnäbler benannt (wissenschaftlicher Name: Recurvirostra avosetta). Zum Zeitpunkt der Benennung des Asteroiden am 2. Februar 1999 befand sich der Säbelschnäbler auf der niederländischen Roten Liste gefährdeter Arten.
Literatur
Peter Colston, Philip Burton: Limicolen. Alle europäischen Watvogel-Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung. BLV Verlagsgesellschaft, München 1988, ISBN 3-405-13647-4.
Einhard Bezzel: Vögel. BLV Verlagsgesellschaft, München 1996, ISBN 3-405-14736-0.
Weblinks
Der Säbelschnäbler Bilddokumentation vom Neusiedlersee
waarneming.nl auch Audio, Rechts oben können Sie die Sprache ändern.
Federn des Säbelschnäblers
Einzelnachweise
Regenpfeiferartige
Wikipedia:Artikel mit Video
Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden |
608950 | https://de.wikipedia.org/wiki/Klaviersonate | Klaviersonate | Eine Klaviersonate ist eine Solosonate für Klavier. Diese Form der Instrumentalkomposition bietet einen Rahmen für die Verarbeitung musikalischer, häufig gegensätzlicher Gedanken. Sie ist meist in mehrere, auch intern strukturierbare Sätze geteilt. Sie entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts aus anderen musikalischen Formen als Werkgattung für ein Tasteninstrument. Ihre erste verbindliche Form erhielt sie durch Joseph Haydn. Über 150 Jahre hinweg war sie dann in wechselnder innerer und äußerer Form eine der zentralen Formen der Klaviermusik. Einen Höhepunkt stellen die Klaviersonaten Beethovens dar. In der Romantik wandelte sie sich inhaltlich und formal stark und löste sich spätestens mit dem Aufkommen der Atonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends auf. Das theoretische Konzept der Sonate wurde nachträglich von der Musikwissenschaft aus einigen Werken abstrahiert und entspricht in seiner Vereinfachung häufig nicht der musikalischen Realität.
Der Begriff „Sonate“
Das Wort „Sonate“ (italienisch „sonata“) stammt vom italienischen Verb „sonare“ (klingen) und bedeutet so viel wie „Klingstück“. Als „Klaviersonate“ wurden im Verlauf der Musikgeschichte von 1650 bis in die Gegenwart musikalische Werke unterschiedlicher Art bezeichnet, so dass keine umfassende Definition möglich ist. Im engeren Sinn fallen unter den Begriff „Sonate“ aber nur Werke, welche die Definitionen der klassischen Sonate erfüllen und deren erster Satz der Sonatensatzform entspricht. Dies bedeutet:
Eine Großgliederung in mehrere, bei Joseph Haydn und speziell Mozart meist drei Sätze der Form schnell – langsam – schnell, mit der Charakterisierung dramatisch – lyrisch bzw. kantabel, häufig in Liedform – und oft tanzmäßig bzw. scherzend.
Im ersten Satz eine interne Gliederung in Themenvorstellung (Exposition) mit manchmal vorangestellter meist langsamer Einleitung, modulierende und variierende Themenverarbeitung (Durchführung), Wiederholung (Reprise – meist in der Tonika, Ausnahme z. B. in KV 545) und eventueller Coda.
Im ersten Satz häufig eine tonale Teilung (Tonika – Dominantbereich) der Exposition in Haupt- und Seitenthema.
Diese Form kann erst seit Haydn konstatiert werden und wurde schon seit dem späten Beethoven und spätestens mit der Romantik zunehmend obsolet. Ab 1900 blieb meist nur noch der reine Begriff oder Werktitel „Sonate“ übrig, der dem theoretisch definierten Begriff der Sonate kaum noch entsprach. Werke des 20. Jahrhunderts tragen auch dann den Werktitel „Klaviersonate“, wenn sie, wie etwa Pierre Boulez’ dritte Klaviersonate, jeglichen Bezug zur Sonatentradition explizit ablehnen.
Der Begriff „Sonatine“ bezeichnete im 17. Jahrhundert häufig die Einleitungssätze von Suiten, später kleine, leichter spielbare Sonaten, welche meist keine oder nur eine sehr kurze Durchführung besitzen.
Der Begriff „Klavier“
Bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts kann Klavier bzw. Clavier (Schreibweise z. B. bei Carl Philipp Emanuel Bach) prinzipiell jedes Tasteninstrument bezeichnen, also z. B. das Cembalo, das Klavichord und das Hammerklavier, aber auch die Orgel.
Stärker als bei anderen Gattungen ist die musikalische Entwicklung der Klaviersonate von der Entwicklung der Tasteninstrumente abhängig. So lässt das Cembalo keine Anschlags-, sondern lediglich eine Registrierungsdynamik (Terrassendynamik) zu; auf dem Klavichord dagegen ist eine stufenlose dynamische Gestaltung möglich. Es lässt zudem mit der Bebung eine Art Vibrato auf dem einmal angeschlagenen Ton zu, besitzt aber bei begrenztem Tonumfang ein eher kleines Tonvolumen.
Klaviermusik als heute gängiger Begriff ergibt sich rational erst im Zusammenhang mit den technischen Möglichkeiten und Klangvorstellungen des von Bartolomeo Cristofori ab 1698 konstruierten Hammerklaviers. Trotzdem werden heute auch Werke für Cembalo als Klaviermusik bzw. Klaviersonate bezeichnet.
Frühzeit
Nimmt man nicht das Klavier (Cembalo), sondern Tasteninstrumente allgemein als Ausgangspunkt, so kann der Beginn der Gattung auf das Jahr 1605 festgelegt werden, in dem der Italiener Adriano Banchieri seinen Orgelkompositionen den Titel Sonate bzw. Sonata gab.
Die ersten heute erhaltenen Werke, die Klaviersonaten genannt wurden, stammen von dem italienischen Komponisten Gian Pietro del Buono aus Palermo. Es handelt sich um Bearbeitungen des Ave Maris Stella aus dem Jahr 1645. Es folgten vereinzelte Werke für Tasteninstrument mit der Bezeichnung Sonate, z. B. von Gregorio Strozzi aus dem Jahr 1687.
Barock und Frühklassik
Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Klaviersonaten zu einer populären Gattung. Zahlreiche Komponisten schrieben Klavier- bzw. Cembalowerke, die sie Sonate nannten.
Barock
Eine frühe musiktheoretische Erwähnung findet sich im Musiklexikon von Sébastien de Brossard (1703). Dabei war der Begriff Sonate inhaltlich noch weitgehend undefiniert und wurde häufig austauschbar mit Bezeichnungen wie Toccata, Canzona, Phantasia, und anderen verwandt.
Die erste weithin bekannte Reihe von Klaviersonaten schrieb der Thomaskantor Johann Kuhnau. Es handelt sich um die Musicalischen Vorstellungen einiger biblischer Historien, in 6 Sonaten auff dem Claviere zu spielen, die 1700 in Leipzig erschienen. Diese Werke gelten als Beginn der deutschen Klaviersonate. Die illustrativen Stücke geben verschiedene Geschichten des Alten Testaments auf dem Tasteninstrument wieder. Kuhnau schrieb hierzu:
Dabei konnte es sich um zyklische Formen oder um Einzelsätze handeln. So schrieb Domenico Scarlatti am spanischen Hof etwa 555 einsätzige Stücke, in denen er barocke und klassische Formen, Einflüsse spanischer Folklore (), sowie Virtuosität und Empfindsamkeit miteinander verband. In ihnen wird teilweise schon der Satzzyklus und die Sonatensatzform vorweggenommen. Mit den Sonaten, von denen zu seinen Lebzeiten nur wenige gedruckt wurden, gilt Scarlatti als bedeutender Komponist dieser Gattung. Die neue musikalische Form verbreitete sich schnell. Weitere Sonatenkomponisten der iberischen Halbinsel waren z. B. Pater Antonio Soler oder Carlos Seixas.
Sowohl französische als auch italienische Komponisten vermieden die Bezeichnung Sonate weitgehend, wenn es sich um Kompositionen für Klavier alleine handelte. François Couperin verwendete beispielsweise für seine Klavierwerke, die in Wirklichkeit Suiten sind und aus mehreren aufeinanderfolgenden Tanzsätzen bestehen, den Begriff Ordre, und Jean Philippe Rameau gab seine Werke unter dem Titel Pièces de Clavecin heraus. Der Begriff Sonate wurde in diesen Regionen eher für Werke für Melodieinstrumente oder Melodieinstrumente und Basso continuo verwendet. Typisch dafür ist die Triosonate. Im umfangreichen Klavierwerk von Johann Sebastian Bach existieren mit BWV 963 und 964 (eine Bearbeitung der Violin-Solosonate in a-Moll) nur zwei Werke für Tasteninstrumente, welche den Titel Sonate tragen.
Frühklassik
Nördlich der Alpen begann ein regelmäßiges und systematisches Komponieren von Klaviersonaten erst mit der Generation von Johann Sebastian Bachs Söhnen. So schrieb Carl Philipp Emanuel Bach zahlreiche Klaviersonaten und unterschied auch zwischen dem aufkommenden Hammerklavier und dem Cembalo. Bachs Söhne lebten genau im Zeitalter der Ablösung des Cembalos durch das Klavier.
Die Entwicklung von Klavichord und Hammerklavier ermöglichte einen tiefgreifenden Umbruch in der Komposition. Erstmals nutzten die Komponisten in ihren Kompositionen für Klavier alleine die Möglichkeit kleinräumiger dynamischer Differenzierung als stilgebenden Parameter. Hiervon machten beispielsweise die Bachsöhne, insbesondere Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bach, regen Gebrauch. Es kam zur Ausprägung des galanten und empfindsamen Stils in der Klaviermusik.
Die Werke Carl Philipp Emanuel Bachs und des nahezu gleichzeitig lebenden Joseph Haydn erlangten für spätere Komponisten, insbesondere für Mozart und Beethoven, Vorbildcharakter. Obwohl weder Satzfolge oder Form festgeschrieben waren, wurde die Mehrsätzigkeit jedoch zur Regel. Immer häufiger setzte sich als grundlegende Form die Umklammerung eines langsamen Satzes durch zwei schnelle Sätze durch. Johann Christian Bach trieb in seinen Sonaten besonders die Periodisierung innerhalb der Themen in viertaktigen Vorder- und Nachsatz voran. Einem meist kantablen Hauptthema folgt meist freie Figuration, ohne dass sich daraus ein in der Klassik später obligates zweites Seitenthema klar herausbildet. In den circa 150 Sonaten des als typischer Vertreter der „neuen Empfindsamkeit“ geltenden Carl Philipp Emanuel Bach wird der Gegensatz unterschiedlicher musikalischer Themen dagegen schon schärfer und kontrastreicher herausgearbeitet. Diese werden dabei häufig in stark figurativen Fortspinnungen aus einem gemeinsamen thematischen Kern entwickelt. In seinen meist hochvirtuos gehaltenen, einfallsreichen und mitunter harmonisch zukunftsweisenden Sonaten ist eine klare Trennung zwischen rein thematischen, expressiven, und eher spielerischen Partien dennoch schwierig.
Giambattista Martini wendet sich mit seinen späteren Sonaten dem Stil Johann Christian Bachs und des frühen Mozart zu. Erwähnenswert sind ebenfalls die frühklassischen Sonaten von Pietro Domenico Paradisi und Baldassare Galuppi. Zukunftsweisend sind die Werke von Friedrich Wilhelm Rust. Georg Benda schrieb 16 Sonaten und 34 Sonatinen.
Am Hof des pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor wirkte eine Komponistengruppe, die entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Instrumentalstils in der Epoche der Klassik hatte. Zu dieser so genannten Mannheimer Schule gehörten u. a. Johann Stamitz, Ignaz Holzbauer und Christian Cannabich. Ihre bedeutendste Errungenschaft in Bezug auf die Klaviersonate ist die Einführung eines ausgeprägten Themendualismus. Hierbei steht dem Hauptthema des Satzes ein im besten Falle gleichberechtigtes Thema gegenüber. In der Durchführung wird entweder eines der Themen bevorzugt, oder es werden beide Themen gleichberechtigt behandelt. Diese neue Technik fand rasch auch bei sinfonischen Werken Anwendung. Eine ebenfalls wichtige Neuerung war die Mannheimer Rakete, deren Dynamik sich mit einem raschen Crescendo-Lauf von der barocken Terrassendynamik abwendete.
Klassik
Die Klaviersonate leitete sich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts – und dies bestimmte ihre jeweilige Gestalt – aus zwei Gattungen ab: aus dem klassischen Konzert oder aus der Sonata da camera, die in der Abfolge der Sätze etwa der barocken Suite entspricht. Eine geringere Rolle spielte im Zusammenhang mit der Klaviersonate die Sonata da chiesa als zweite wichtige barocke Form.
Das gesamte Sonaten-Œuvre für Klavier ist spätestens ab 1770 qualitativ und quantitativ nicht mehr leicht zu überblicken. Von gattungsgeschichtlicher Bedeutung sind in besonderem Maße die Sonaten von Johann Christian Bach, jedoch ebenso Sonaten von Muzio Clementi, Joseph Martin Kraus, Georg Christoph Wagenseil und zahlreichen anderen. Neben den zweihändigen Werken entstanden auch - wenngleich in viel geringerer Zahl - Klaviersonaten für vier Hände bzw. zwei Klaviere (beispielsweise von Mozart, Schubert, Brahms und Francis Poulenc). Die in Italien entwickelte Klaviersonate, hatte sich auch in anderen Ländern und Kulturzentren etabliert.
Wiener Klassik
Ihren ersten gattungsgeschichtlichen Höhepunkt erlebte die Klaviersonate ohne Zweifel in der Wiener Klassik. Joseph Haydn (52 Sonaten), Wolfgang Amadeus Mozart (18 Sonaten) und Ludwig van Beethoven (32 Sonaten) gelten als die bedeutendsten Verfasser von Klaviersonaten.
Wie verschieden die Satzfolge sein kann, lässt sich an drei Klaviersonaten W. A. Mozarts deutlich machen:
Die Sonate Es-Dur KV 282 (1774) beginnt mit einem langsamen Satz, es schließt sich ein Menuett mit Trio (von Mozart als Menuett II bezeichnet) an, die Sonate endet mit einem schnellen Satz. Hier liegt die Verwandtschaft zur „Sonata da Camera“ nahe.
Dagegen ist die Sonate D-Dur KV 576 (1789) ein sehr brillantes Werk, dessen Satztechnik bis hin zu erkennbaren Tutti-Solo-Wechseln stark vom Konzert beeinflusst ist.
Die Sonate A-Dur KV 331 (1778) beginnt mit einem sechsteiligen Variationssatz über ein bekanntes (später auch von Max Reger in dessen Mozartvariationen op. 132 verarbeitetes) liedhaftes Thema. Es schließt sich ein Menuett mit Trio an, gefolgt von dem berühmten, im 2/4-Takt stehenden Satz „Rondo alla turca“ in a-Moll, dessen schwungvolle Coda in Dur ausklingt.
Joseph Haydn
Im Werk Joseph Haydns spielen die 52 Klaviersonaten auch als innovatives Experimentierfeld von Modellen eine bedeutende Rolle, die später in orchestralen Formen verwirklicht wurden. Seine Sonaten werden eher durch harmonische Zusammenhänge als durch thematische Beziehungen und Gegensätze der klassischen Sonatendefinition zu einer Einheit. Kleingliedrige Taktgruppen werden meist locker assoziativ verbunden. Die ordnungsschaffende Funktion der Harmonik überwiegt die Themenbildung. So sind in den Anfangstakten des ersten Satzes der G-Dur-Sonate (Hob. XVI/8) eher locker aneinander gereihte Floskeln, Dreiklangsfiguren und Läufe, als wirklich abgrenzbare Themen zu beobachten. Diese Exposition wird primär vom allmählichen Übergang des Tonika- zum Dominantbereich zusammengehalten. Der später geforderte Gegensatz zwischen Haupt- und Nebenthema ist noch nicht immer genau abzugrenzen. Haydns Vorgehensweise entspricht hier eher den Vorstellungen von Heinrich Christoph Koch („Ein Nebengedanke muß immer so beschaffen seyn, daß er uns wieder zur Hauptvorstellung leitet.“)
Die früheren Haydn-Sonaten, wie zum Beispiel die c-Moll-Sonate Nr. 20, sind spürbar von der formalen Vorarbeit (weniger von der Expressivität) Philipp Emanuel Bachs beeinflusst. Dabei bleibt er teilweise noch dem barocken Divertimento-Stil mit einer einfachen Reihung der Sätze verhaftet.
Mit den Sonaten zwischen 1760 und 1767 schuf er Werke, welche – unter Ausnutzung bisher nicht genutzter „extremer“ Lagen des Instruments – abwechslungsreich zwischen Mehrstimmigkeit, akkordischem Satz und improvisatorischen Abschnitten wechseln. Auf Philipp Emanuel Bach verweisen dabei – neben den genannten Faktoren – die plötzlichen motivischen Kontraste, Steigerungen durch Motivwiederholungen mit Intervallvergrößerungen, und die abrupten Unterbrechungen durch Pausen und Fermaten.
In den vermehrt auf Themenbildung und Verarbeitung achtenden, formal ausgewogeneren häufig gespielten Sonaten ab 1773 wird im Allgemeinen meist der „klassische Haydn“ und ein „Frühmodell der Sonatenform“ erblickt. Die Themenbildung gewinnt hier zwar gegenüber der Gesamtharmonik deutlich an Bedeutung, ist aber dennoch als monothematisch zu bezeichnen.
Die Sonaten ab 1780 sind dann zunehmend von einer auf Beethoven verweisenden „Individualisierung des Ausdrucks“ und vom eher auf konsequente Themenverarbeitung und Form denn auf melodische Variation achtenden Einfluss Mozarts beeinflusst.
Manche Werke aus der Sonatengruppe ab 1790, wie die Es-Dur-Sonate von 1794 (Hob.XVI:52), zeichnen sich dann durch eine erweiterte harmonische Vielfältigkeit, sowie differenziertere Dynamik aus.
Obwohl Beethoven später viele Gestaltungsmittel der Haydnschen Sonate übernommen hat, wäre es falsch, Haydns eher der barocken Idee der monothematischen Affekteneinheit eines Satzes verbundenes musikalisches Denken, als „sonatentypisch“ zu konstatieren.
Wolfgang Amadeus Mozart
Mozart schrieb 18 von Klavierschülern wie Konzertpianisten gleichermaßen gerne gespielte Sonaten. Er komponiert im Gegensatz zu Haydn, zumindest in seinen frühen Sonaten, eher locker aneinander gereihte, an Johann Christian Bach angelehnte, kantabel-melodische Themengruppen. Diese sind meist nur assoziativ aneinander geknüpft, aus ihnen werden selbst in der Durchführung häufig außer dem Sequenzieren thematischer Elemente keine weitergehenden logischen Konsequenzen gezogen. Ein Beispiel hierfür ist die Sonate KV 332, in der in den ersten 93 Takten an die sechs thematische Gebilde ohne greifbare Zusammenhänge miteinander verbunden sind. Diese werden auch in der Durchführung, in der stattdessen neue Themen auftauchen, kaum aufgegriffen.
In den ersten Sonaten von KV 279 bis 284 kann noch eine relativ starke Bindung an standardisierte Begleitformen wie Alberti- oder Murkybässen und/oder formelhaftes Laufwerk, sowie eine im Vergleich zu späteren Werken weniger reichhaltige und plastische melodische Erfindungsgabe festgestellt werden. In den Werken seiner Mannheimer und Pariser Zeit ab KV 309 wird die Form jedoch freier, vielfältiger und ungezwungener. So entspricht in der Sonate A-Dur KV 331, die aus einem Variationensatz, Menuett und dem bekannten Rondo „Alla Turca“ besteht, ähnlich wie später in Beethovens Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26, kein Satz der Sonatenform. Die Werke bestechen nun durch einen fast unerschöpflichen melodischen Einfallsreichtum. Ein erster Einbruch fast Beethoven und Schubert vorausahnender unerbittlicher Härte und Tragik erfolgt in der a-Moll-Sonate KV 310.
In den späteren Sonaten ab KV 475 ist dann eine zunehmende Konzentration auf die Themenverarbeitung im Sinne von Haydn sowie der Einfluss barocker Schreibweisen und Formen wie Fuge oder Suite festzustellen, die wohl auf Mozarts intensiver Auseinandersetzung mit J.S. Bach und Händel beruhen. Dies ist z. B. an der linearen meist zweistimmigen Satzentwicklung von KV 494/533 zu beobachten. Die dramatischen c-Moll-Werke KV 475 und 457 dagegen stehen in Ausdruck und Gestaltung schon Beethovens Sonaten nahe. So weisen Paul Badura-Skoda und Richard Rosenberg detailliert auf frappierende Ähnlichkeiten zwischen KV 457 und Beethovens Pathétique op. 13 hin.
Ludwig van Beethoven
Beethovens 32 Klaviersonaten stellen einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der Klaviersonate dar. Sie haben seit Entstehung immer wieder Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler zu Analysen und mitunter gewagten lyrischen Analogien oder philosophischen Spekulationen angeregt. Beethoven lotet in ihnen die formalen, harmonischen und sonstigen Grenzen der Sonate und Klaviermusik fast bis an ihre Grenzen aus und überwindet sie in den späteren Sonaten zunehmend. Beethoven verbindet die Epochen der Klassik und der Romantik auch in seinen Klaviersonaten. Hans von Bülow fasste ihre Bedeutung in folgenden Worten zusammen:
Die beliebte – allerdings auch umstrittene – Dreiteilung des Werks unterscheidet frühen, mittleren und späten Beethoven (bei den Sonaten ungefähr op. 2 bis 22 – op. 26 bis 90 – op. 101 bis 111). In der ersten Phase werden die klassischen Ansprüche an Sonatensätze und Zyklusbildung ausformuliert, und mit überreichen Eingebungen verbunden. Die Sonatensatzform ist hier am deutlichsten zu erkennen. In der mittleren Periode wird zunehmend der Wille zur organischen Gestaltung des Gesamtwerkes aus einheitlichem Themenmaterial unter Einschluss musikalischer Experimente bestimmend. Ein individualistischer Ausdruckswille, der die formalen Anforderungen zunehmend ignoriert und sich an außermusikalischen „poetischen Vorwürfen“ orientiert, überwindet zunehmend die überlieferten Formen. Das häufig als philosophisch, spekulativ oder unverständlich bezeichnete Spätwerk ist durch unterschiedliche, teils widersprüchliche Tendenzen geprägt. Der radikalisierten Missachtung musikalischer Konventionen und den nochmals gesteigerten technischen Anforderungen stehen teilweise Reminiszenzen an das eigene Frühwerk, die Einbeziehung barocker Formen (Fuge) sowie ein reduzierter, ausgedünnter Klaviersatz gegenüber.
Frühe Phase
Beethovens erste Sonaten sind – trotz aller Eigenständigkeit – von dem Bemühen geprägt, die Anforderungen des traditionellen Regelkanons zu erfüllen. Konventionelle Periodisierungen in Zwei-, Vier- und Achttaktgruppen werden recht genau befolgt. Die Themenbildung besteht häufig aus musikalischem Grundmaterial wie gebrochenen Dreiklängen, Skalenbewegungen oder einfachen Vorhalten, welche mit zeittypischen Begleitfiguren gekoppelt werden. Eine stilistische Anlehnung an Haydn und Mozart ist nicht zu überhören. Beide prägten Beethoven in seiner Jugend. Dies macht ein Vergleich des Adagios aus Beethovens op. 2/1 mit Haydns Streichquartett op. 64, Nr. 5 deutlich. Dies ändert sich aber schon mit der individueller gestalteten und in den Ausmaßen angewachsenen Es-Dur-Sonate op. 7 und dem zum ersten Mal das „dialektische Themenprinzip“ konsequent aufgreifenden op. 10/1.
Hier verwendet Beethoven konsequent das später so genannte Prinzip der kontrastierenden Ableitung, bei der unterschiedliche, sogar gegensätzliche Themen aus einem gemeinsamen strukturellen Kern entwickelt werden, und damit den Unterschied zwischen Themenaufstellung und Verarbeitung überwinden. Wichtig hierbei ist der dennoch ausgeprägte Themendualismus, den Beethoven immer häufiger verwirklichte. Der Gegensatz der ersten acht Takte aus punktierten Dreiklangtönen im Forte und Vorhaltsauflösung im Piano erweist sich sowohl als Basis für die folgende Überleitung, das zweite Thema ab Takt 56, sowie die Schlussgruppe ab Takt 94. Das populärste Werk dieser Phase ist dann die im heroischen Duktus durchaus auf Außenwirkung bedachte Pathétique (op. 13). Mit diesem Werk stellte sich der junge Künstler der Öffentlichkeit erstmals als Pianist eigener Werke vor.
Mittlere Phase
Ab der Klaviersonate Nr. 12 (op. 26) wird die Sonatenform sowohl in ihrer äußeren wie auch inneren Gliederung vermehrt aufgebrochen. Dies zeigt bereits op. 26, welches mit dem ersten Satz, einem Andante mit Variationen, und dem Trauermarsch des dritten Satzes wenig mit der Gliederung einer Sonate gemein hat. Die Proportionen und Funktionen der einzelnen Sätze ändern sich. Der Schwerpunkt verschiebt sich, schon rein längenmäßig, zunehmend vom ersten Satz auf das Finale. Die früher nur angehängte kurze Coda wird zu einer Art „zweiter Durchführung“ ausgeweitet, und die Grenzen zwischen Exposition und Durchführung beginnen sich zu verflüchtigen.
Klassische Musikästhetik und Formen werden – wie z. B. in der populären Mondschein-Sonate (op. 27 Nr. 2), welche den Untertitel Sonata quasi una Fantasia trägt – zunehmend durch poetisch-phantastische, ungebundene und die Romantik vorahnende Vorstellungen verdrängt.
Nach einigen eher „klassisch entspannten Sonaten“ (beispielsweise die op. 49-Sonaten) wird dann mit der Waldsteinsonate (op. 53) und der Appassionata (op. 57) die Virtuosität und der individuelle Ausdruckswille auf ein bisher nicht gekanntes Niveau angehoben. Dass diese Tendenzen den herkömmlichen Rahmen des Sonatenbegriffs überstrapazieren, zeigen allein die bis heute widersprüchlichen Deutungsversuche der Musikwissenschaft in Bezug auf die Gliederung der Exposition der Appassionata nach herkömmlichen „Schulmustern“. Die Appassionata gehört zu den meistdiskutierten Werken der Musikgeschichte. Sie wird häufig als Beethovens bedeutendste Sonate angesehen.
Späte Phase
Die Sonaten ab op. 90 (Beethovens letzte sechs Klaviersonaten) sind formal und von den in ihnen vorherrschenden musikalischen Tendenzen vielfältig und widersprüchlich. Die erste und die letzte dieser Sonaten (op. 90 und op. 111) haben verminderte Satzzahl. Darüber hinaus ist in allen Sonaten einerseits die Tendenz zur Reduktion der pianistischen Mittel und andererseits zu formaler Übersteigerung und Überdehnung erkennbar. Dies betrifft z. B. die Vereinfachung zu schlichter kammermusikalisch wirkender Zweistimmigkeit im ersten Satz von op. 110 oder zum Verstummen in rezitativisch gestalteten Partien wie im dritten Satz desselben Werkes, kontrastiert mit einer nochmals gesteigerten Virtuosität und extremen Überdehnung in der Hammerklaviersonate op. 106. Der „Rückerinnerung“ an vergangene Zeiten im schlichten Stil der frühen an Haydn erinnernden Sonaten (op. 109) steht mitunter eine herbe und die Musik des 20. Jahrhunderts vorausnehmende, philosophische, mitunter durch Dissonanzen geprägte Harmonik gegenüber. Manches, wie das in op. 110 über mehrere Takte allein repetierte A, wirkt dabei in Verfolgung einer „individuellen, sich aller Konventionen und Rücksichten entledigenden Radikalisierung“ skurril und funktional unverständlich. Besonders wichtig werden dabei die Prinzipien der polyphonen Variation und damit verbunden der Rückgriff auf barocke Formen, speziell der Fuge. Während diese in op. 10/2 noch ohne konsequente Durchführung in Form eines Fugatos auftreten, stellen die mit „Fuga“ überschriebenen Sätze aus op. 106 und 110 vollgültige Fugen dar. Dabei gestatten sich die Fugen Beethovens durchaus formale und harmonische Freiheiten, welche im herkömmlichen Stil der Fuge als Verletzung der Regeln gelten würden. Diese Vermischung und Auflösung von Formkategorien veranlasste Thomas Mann, der fiktiven Gestalt Wendell Kretzschmar seines Romans Doktor Faustus folgende Worte in Bezug auf Beethovens letzte Klaviersonate in den Mund zu legen:
Veränderungen am Instrument
Um 1800 änderte sich die Bauweise der Klaviere. Sie erhielten erstmals Abstützungen im Rahmen zum Ausgleich der Saitenspannung. Dies führte zu einer Vergrößerung des Tonumfangs bis hin zum heute Üblichen. Diese Neuerung brachte eine nachhaltige Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten mit sich, insbesondere bei der gezielten Verwendung extremer Lagen. Eines der frühesten Werke, das diesen neuen Tonumfang bewusst ausschöpft, ist die sogenannte Waldstein-Sonate Ludwig van Beethovens. Die Entwicklung der Repetitionsmechanik durch Sébastien Érard im Jahr 1821 ermöglichte erst eine rasche Anschlagfolge und damit das virtuose Spiel der Romantik.
Virtuosentum und Hausmusik
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war eine große Anzahl von heute teilweise kaum noch bekannten Komponisten – gefördert durch das blühende musikalische Verlagswesen und das Aufkommen der Salonmusik ab 1830 – an der zunehmenden Sonatenproduktion beteiligt. In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte das technische Niveau der Berufspianisten – mitbedingt durch die rasch erfolgenden bautechnischen Verbesserungen des Instruments – eine bis dahin ungekannte Stufe. Viele heute fast vergessene Pianisten und Komponisten schufen die Grundlage für die Klaviertechnik der Romantik mit ihren weitgriffigen Passagen, Sprüngen, Oktav- und Doppelgriffen, sowie sonstigen „Hexenkunststücken“. In den Werken, die häufig den damaligen Modeströmungen verhaftet waren und deren „musikalischer Gehalt“ heute meist kritisch beurteilt wird, tritt die Virtuosität stark in den Vordergrund. Komponisten, die sich von der zeitbedingten „Massenware“ abheben, sind Johann Nepomuk Hummel mit seiner damals sehr populären und hochvirtuosen fis-Moll-Sonate op. 81 () und Carl Maria von Weber. Neben ihnen gab es viele berühmte Komponisten wie Jan Ladislav Dussek, Leopold Anton Kozeluch, Ignaz Moscheles, und Ferdinand Ries, die heute nur wenigen bekannt sind.
Im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert wurde es vor allem bei Töchtern aus dem
gehobenen europäischen Bürgertum zum unerlässlichen Bestandteil einer guten Erziehung, eine musikalische Ausbildung genossen zu haben. Meist beinhaltete dies Klavier- und Gesangsstunden. Neben Barockmusik und romantischen Charakterstücken gehörten hierzu auch als Übungsstücke konzipierte Sonatinen, z. B. von Clementi, Diabelli, und Kuhlau, sowie technisch einfachere Sonaten von Haydn (Hob. XVI, 1-15), Mozart (KV 279 bis 283, KV 545) und Beethoven (op. 10/1, 14, 49, 79). Dadurch entstand eine Nachfrage nach einfachen Sonaten oder Sonatinen, welche in Stilistik und technischen Anforderungen teilweise direkt auf den Markt der Hausmusik zugeschnitten waren. Manche dieser Werke integrierten dabei technische Aufgabenstellungen, welche den sonst eher „trockenen“ Etüden vorbehalten sind, und waren in der Setzweise teilweise darauf angelegt, auch dem technisch nicht so versierten Schüler Werke an die Hand zu geben, welche beim Vortrag trotzdem virtuose Wirkung entfalten konnten.
Beginn der Formdiskussion im 18. Jahrhundert
Es ist eine weit verbreitete Ansicht, die Sonate bzw. Klaviersonate folge seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einem bestimmten Schema in Bezug auf die Abfolge bzw. Form der Sätze, die Themenbildung und anderes. Dies lässt sich anhand der Gestalt der aus dem 18. Jahrhundert vorliegenden Werke nicht belegen. Sonaten können einen bis viele Sätze besitzen (in der Regel nicht mehr als vier), die in vielfältigen Formen und Satztechniken verfasst sein können. Die Anzahl der Themen – Monothematik, Themendualismus oder mehr als zwei Themen – und die Frage nach deren Verarbeitung versus einfacher Aneinanderreihung ist in der Realität ebenso wenig eindeutig zu beantworten wie die Realisierung bzw. Existenz der nachträglich formulierten, die Sonate konstituierenden Teile wie Exposition, Durchführung, Reprise, Coda et cetera. Auch die häufig kolportierte Theorie von einer geradzahligen, zwei- oder viertaktigen Periodisierung des Themas in Vorder- und Nachsatz entspricht häufig nicht der Realität. So wird z. B. in Haydns G-Dur-Sonate (Hob.XVI/1) das Modell des Viertakters durch die eingeschobenen Sechzehntel-Triolenfigur „gebrochen“.
Es lässt sich eher eine personal- oder allenfalls regionalstilistische formale Verwandtheit zwischen Werken erkennen. So sind die auf der iberischen Halbinsel verfassten Werke oft einsätzige, von zeitgenössischen Instrumentaltänzen beeinflusste Stücke. Dagegen scheint Italien eher die Verwandtschaft zum Konzert als Formvorlage zu bevorzugen.
Die klassisch-romantische Sonate ist ein nachträglich von Theoretikern des 19. und 20. Jahrhunderts vornehmlich an den Sonaten Beethovens definiertes Gebilde, das eine Regelhaftigkeit postuliert, die so nicht existiert hat. Es versucht dabei formale Kriterien und ideellen Gehalt unterschiedlichster Musikepochen trotz der fundamental unterschiedlichen dahinter stehenden musikalischen Denkweisen zusammenzufassen.
Es bieten sich statt der historisch fragwürdigen Sonatenform-Definition verschiedene Vorgehensweisen zur Eingrenzung der Gattung an, von denen hier drei genannt werden:
Zum einen kann untersucht werden, wie einzelne Satztypen in der Musik verwendet wurden. So kam z. B. das Menuett als Schlusssatz bis ca. 1775 nicht nur in der Klaviersonate bei verschiedenen Komponisten noch gelegentlich vor, wurde dann immer ausschließlicher als Binnensatz verwendet, um schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts fast ganz aus dem Satztableau der Klaviersonate zu verschwinden.
Außerdem ist ein Zugang über den musikalischen Gehalt möglich. Es sollte also stets ein Abgleich der Form- und Gehaltsaspekte mit der Terminologie erfolgen. Die Frage, was in einer bestimmten Epoche als Sonate bezeichnet wird, ist von entscheidender Bedeutung. Hier ist eine isolierte Betrachtung der Klaviersonate nicht zielführend.
Theoretische Werke
Der Begriff „Sonate“ taucht in zahlreichen Lexika, Enzyklopädien und musiktheoretischen Werken seit Beginn des 18. Jahrhunderts auf. Die möglicherweise früheste ausführliche Gattungsdefinition findet sich in Sébastien de Brossards „Dictionnaire de Musique“ von 1703 (2. Auflage 1705). Auch Johann Mattheson geht in seinem „Kern melodischer Wissenschaft“ von 1713 ausführlich auf die Gattung ein; er übernimmt diese Passage später unverändert in den „Vollkommenen Capellmeister“. Johann Gottfried Walthers „Musicalisches Lexikon“, erschienen 1732, gibt ebenfalls eine Definition der Gattung Sonate.
Allen diesen theoretischen Behandlungen ist gemeinsam, dass sie im Wesentlichen die Satzabfolge und den Gebrauch der Sonate im Bereich der Instrumentalmusik definieren bzw. eingrenzen. Brossard unterscheidet bereits 1703 zwischen der „Sonata da Chiesa“ und der „Sonata da Camera“, also zwischen der in der Regel viersätzigen Sonate und der Suite, die aus einer freien Abfolge verschiedener Sätze besteht.
Eine spätere, ausführliche Definition findet sich in Heinrich Christoph Kochs dreiteiligem Versuch einer Anleitung zur Komposition von 1782 bis 1793 und seinem Musikalischen Lexikon von 1802. Koch betont hier die zentrale Bedeutung einer konsequenten musikalischen Gestaltung in folgenden Worten:
Die viersätzige Form aus erstem Satz in Sonatenform, langsamem Satz im Schema a-b-a bzw. in Variationsform, Menuett oder Scherzo, sowie schnellem Finale (meist als Rondo) wurde für verbindlich erklärt. Auch die grundsätzlichen tonartlichen Verhältnisse zwischen den Sätzen wurden beschrieben. Der erste und vierte Satz hätten in der Haupttonart zu stehen. Der letzte Satz stehe bei einer Moll-Tonart des ersten Satzes nicht selten in der parallelen Dur-Tonart. Koch gliedert den ersten Satz, ebenso wie später Anton Reicha, noch in zwei Teile („Erster Satz, Mittelsatz und Repetition“).
Spätere Sonatendefinitionen gliedern die Sonatensatzform dann in drei Teile. Adolf Bernhard Marx betont 1847 die tonale Zweiteiligkeit der Exposition, die Forderung nach deren Themendualismus und die Bedeutung der thematischen Arbeit. Er verwendet als erster explizit den Begriff „Sonatenform“. und erwartet von der Sonate die Integration der einzelnen musikalischen Gedanken im Sinne einer Einheit des Ganzen in der Vielheit.
Dennoch wurde der Begriff der Sonate, wie folgendes Zitat von Gottfried Wilhelm Fink zeigt, in der Wissenschaft weiterhin kontrovers diskutiert.
Romantik und 19. Jahrhundert
Vor allem durch die späten Werke Beethovens ist die Sonate, ähnlich wie das Streichquartett, spätestens mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Gattung von „besonderem Anspruch“ festgelegt. Dies gilt natürlich auch für die Klaviersonate.
Die größeren Dimensionen der Einzelwerke, sowie der gegenüber dem klassischen Verständnis gesteigerte Anspruch nach „Originalität“ brachten naturgemäß eine quantitative Verringerung der Produktion mit sich. In Wechselwirkung mit der Symphonie als wichtigster Gattung der Orchestermusik und dem Streichquartett als herausragender Kammermusik-Gattung setzte sich mehrheitlich eine viersätzige Satzfolge durch. Das Menuett als Binnensatz wurde seltener; an seine Stelle trat (schon bei Beethoven) oft ein Scherzo.
Dabei unterlag die Klaviersonate aufgrund gänzlich anders gearteter Ästhetik und Ausdruckwillens der Romantik einem starken formalen und konzeptionellen Wandel. In der Spätromantik wurden im Spätwerk von Franz Liszt und Alexander Skrjabin dann erste Grundlagen für Musik und Klaviersonate des 20. Jahrhunderts angedacht.
Franz Schubert
Franz Schubert hatte zu Beginn seines Schaffens schwer am „Erbe“ Beethovens und der durch sein Werk festgelegten Sonatenform zu tragen. Das Beethovensche, auf dem Themendualismus und seiner Verarbeitung beruhende Sonatenmodell entspricht Schubert innerlich nicht. Seine musikalischen Gedanken drücken sich eher in Reihungsformen wie der Lied- und Variationenform aus. Schuberts melodische Gebilde sind in sich so gerundet und abgeschlossen, dass sie sich weniger zur sonatengemäßen Zerlegung, Rekombination, und Verarbeitung eignen. Schuberts Leistung auf dem Gebiet der Sonate zeigt sich, wie Alfred Brendel meint, in der Direktheit seiner Emotionen, die man nicht an Beethovens architektonischer Meisterschaft messen dürfe, um Schubert somit abzuwerten. Anders als Beethoven komponiere Schubert wie ein Schlafwandler.
Die Sonaten zwischen 1815 und 1817 blieben teilweise unvollendet. So bricht die E-Dur-Sonate nach der Durchführung ab, was die Vermutung nahelegt, dass Schubert den Rest ab der Reprise nur als Routinearbeit zur Erfüllung der Form ansah oder das Sonatenschema ihn mehr beherrschte als umgekehrt. So schreibt K. M. Komma über den ersten Satz der in manchem an Beethoven erinnernden a-Moll-Sonate D 537, bei der die einzelnen Abschnitte nicht organisch ineinander übergehen, sondern teilweise durch Generalpausen voneinander abgegrenzt sind:
In den Sonaten von 1817 bis 1819 gelingen Schubert erste Erfolge bei der Entwicklung eigener Formen, welche keine „verkümmerten Beethovenschen, sondern vollwertige Schubertsche“ sind. Durch das Singspiel Das Dreimäderlhaus und den gleichnamigen Film mit Karlheinz Böhm ist besonders die A-Dur-Sonate zur volkstümlichsten Sonate Schuberts avanciert. Bis 1825 folgt dann, abgesehen von der Wanderer-Fantasie – einem der bedeutendsten Klavierwerke Schuberts, welches Sonaten- und Fantasieform zu einer gelungenen Synthese bringt – eine Pause im Sonatenschaffen. In den danach entstandenen Werken streift Schubert alle beengenden Fesseln der Gattungstradition ab. Das Ansteuern und die Modulation in weit entfernte, teilweise mediantisch verwandte Tonarten lockern das harmonische Konzept der Sonate. So wird in der C-Dur-Sonate D 840 schon nach 12 Takten As-Dur erreicht und führt über B-Dur und As-Dur zum h-Moll des Seitensatzes. Die Reprise steht dann in H-Dur bzw. F-Dur. Schubert strukturiert teilweise ganze Sätze eher durch rhythmische Modelle als durch Thematik oder Harmonik. So beruht der erste Satz der a-Moll-Sonate DV 784 auf drei dem ersten und zweiten Thema sowie der Überleitung zugeordneten rhythmischen Formeln, welche auch miteinander kombiniert werden. Die Formeln des ersten und zweiten Themas werden dabei in zwei ähnlichen bzw. voneinander abgespaltenen Formen verwandt. Während D 840 anfänglich wegen der harmonischen und formalen Anlage als negativ und als Sackgasse gewertet wurde, wird sie heute als Schlüsselwerk für Schuberts Idee des Sonatenprinzips und seines musikalischen Denkens und als Vorläufer der großen Sonaten-Zyklen von 1825/26 gesehen.
Die Sonaten ab 1825 können als Höhepunkt seines Sonatenschaffens betrachtet werden. Schubert spannt hier harmonisch gewagte, weite Bögen. Sie sind als weiträumige musikalische „Erzählungen“ von lyrischem Grundcharakter konzipiert. So lobte Robert Schumann die „himmlischen Längen“ in diesen Werken Schuberts. Sie wirken mit ihren plötzlichen Ritardandi und Haltepunkten sehr improvisatorisch und romantisch.
Sonate und Fantasie
Die Bezeichnung Fantasie für ein freier gestaltetes, eher improvisatorisch-rhapsodisches Musikstück für Tasteninstrumente war bereits im Barock beliebt. Beispiele hier für sind J.S. Bachs Chromatische Fantasie und Fuge oder Carl Philipp Emanuel Bachs und Mozarts c-Moll-Phantasien. Ab 1810 erfreute sich diese der Kunsttheorie der Romantik entgegenkommende Form und Bezeichnung, auch aus Gründen der erhofften besseren Publikumsakzeptanz, zunehmender Beliebtheit. Dabei beeinflussten sich die Gattungen Fantasie und Sonate unter zunehmendem Verlust der sie voneinander abgrenzenden Kriterien. Einfluss hatten dabei auch Beethovens, Elemente beider Gattungen verbindende Sonaten op. 27 mit dem Untertitel Sonata quasi una Fantasia. Gottfried Wilhelm Fink beschrieb diese Modeströmung 1826 in einer Rezension von Schuberts Sonate a-Moll, op. 42 folgendermaßen:
In Schuberts Wanderer-Fantasie werden dann beide Gattungen zukunftsweisend miteinander verschmolzen. Das Werk kann auch als auf Franz Liszt vorausweisender Versuch interpretiert werden, die Formteile des Sonatenhauptsatzes auf die Satzfolge des Gesamtwerkes zu transferieren. Demnach würden Allegro, Adagio, Scherzo und Finale die Funktionen von Exposition, Durchführung, Reprise und Coda übernehmen. Weitere wichtige Fantasien sind Felix Mendelssohn Bartholdys ursprünglich als Schottische Sonate (Sonate écossaise) bezeichnete Fantasie in fis-Moll op. 28, welche hinter allen eingestreuten Läufen und Akkordbrechungen dennoch einen Sonatengrundriss aufweist, sowie Robert Schumanns Fantasie C-Dur op. 17, welche die Sonatenform angesichts vieler harmonischer und formaler Freiheiten nur noch erahnen lässt. Auch in Werktiteln wird bald die Konsequenz aus den Emanzipationsbemühungen von Beethovens op. 27 in Richtung einer „freieren Form“ gezogen: Franz Liszts einsätzige Dante-Sonate nennt der Komponist eine Fantasia Quasi Sonata. Ebenfalls beginnt man, den tonartlichen Zusammenhang in mehrsätzigen Werken neu zu definieren, sodass die Bindung an eine einzelne Haupttonart nicht mehr zwingend erscheint. Mit seiner Sonata quasi fantasia op. 6 verwirklichte Felix Draeseke als einer der Ersten ein solches Konzept: Die drei Sätze stehen in cis-Moll, Des-Dur und E-Dur.
Bewahrer der Klassik
Felix Mendelssohn Bartholdy und Johannes Brahms zeigen in ihrem Werk, obwohl natürlich in der Romantik stehend, sowohl formal als auch vom Ausdrucksgehalt gesehen durchaus klassische Züge. So führt Brahms beispielsweise die Beethovensche Expositionstradition fort.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Felix Mendelssohn Bartholdy wurde für seine schwächeren, manchmal glatten und sentimentalen Werke hin und wieder als Epigone eingestuft, der die Tradition als Klassizist bewahren wolle. Dies wird auch an einer Aussage Schumanns deutlich, der anlässlich einer Rezension von Mendelssohns Sonaten 1827 bei aller Bewunderung für die Werke meinte, man müsse sich hier den Komponisten vorstellen als:
Dass dieses Bild nicht gänzlich unbegründet ist, zeigen etliche Analogien – wie zwischen Mendelssohn B-Dur-Sonate und Beethovens Hammerklaviersonate – seines mitunter persönliche Züge vermissen lassenden bis zum zwanzigsten Lebensjahr vollendeten Sonatenschaffens. Die Sonaten Mendelssohns verbinden Virtuosität mit der Sphäre „häuslicher Idylle“ und einem manchmal gelehrt wirkenden kontrapunktischen Stil. Wesentlich überzeugender wirkt er dagegen in vielen seiner Liedern ohne Worte, der freieren fis-Moll-Fantasie von 1834 und den Variations sérieuses, die als Meisterwerk der Gattung eingestuft werden.
Johannes Brahms
Brahms wurde im Zuge der Kontroverse um die progressive Neudeutsche Schule um Franz Liszt von der Öffentlichkeit zu deren „Gegenpapst“ hochstilisiert und als „wahrer Erbe und Nachfolger“ von Beethoven bezeichnet. Trotz seiner lange übersehenen Fortschrittlichkeit hielt er prinzipiell an den überlieferten Formen und dem Sonatensatz fest. Die drei in seine frühe Schaffenszeit fallenden Klaviersonaten meiden Lisztsche und Chopinsche Virtuosität und beziehen ihre Inspiration eher aus dem Volkslied. So erinnert sich Albert Dietrich:
Der herkömmliche Themendualismus tritt zugunsten eines kontinuierlichen Ableitungsprozesses, der das Seitenthema organisch aus dem Hauptthema hervorgehen lässt, zurück. Ein Beispiel hierfür ist der erste Satz der f-Moll-Sonate, in welchem das Hauptthema stufenweise in das Seitenthema überführt wird. So wird das Kernmotiv von Takt 1 und 2 aus punktiertem As, G und F in Zweiunddreißigsteln, und dem Viertel-G, in Takt 8 und 9 rhythmisch verändert in Vierteln und Achteln eingesetzt, und in Takt 20 und 21 in den Intervallen melodisch geweitet (As – C – F – As, C – F – E – D) eingesetzt. Das in Takt 39 eintretende Seitenthema wirkt dann nicht als Kontrast, sondern als logische durch Variation vorbereitete Folge. Diese ist als Kern seiner musikalischen Technik zu verstehen. Arnold Schönberg sah dieses Vorgehen von Brahms später als zukunftsweisendes Modell für formale Gestaltung auf rein thematischer Basis abseits tonaler, formgebender Elemente. Während dies einerseits als „ideale Synthese der Variationsform und des Sonatensatzes“ interpretiert wird, wird andererseits die „Verknüpfung der Satzteile als Variantenreihung, deren Abschnitte zwar noch äußerlich-formal dem Aufbauschema eines tradierten Sonatenhauptsatzes entsprechen, deren innere musikalische Logik und Funktion im Satzganzen sich jedoch durch die Variantentechnik entschieden gewandelt hat.“ hervorgehoben.
Gegenüber der ersten eher klassisch gehaltenen Sonate in C-Dur zeigen die zweite und dritte Sonate in ihrer romantischen Haltung durchaus eine gewisse Nähe zur Neudeutschen Schule.
Typisch romantisch
Robert Schumann und Frédéric Chopin gelten bis heute als die typischen und exemplarischen Vertreter der Musik der Romantik. Dennoch weist ihr Werk wesentliche auf die Musik des 20. Jahrhunderts verweisende Ansätze auf. Ihr Klavierschaffen verwirklicht sich – auch epochenbedingt – mehr in kürzeren und kleingliedrigen, weniger theoretisch festgelegten Formen und Titeln wie Fantasie, Impromptu, Mazurka, Nocturne, Variation, Intermezzo, Romanze, oder außermusikalisch inspirierten Titeln wie Nacht-/Waldstück, Phantasiestück, Kinderszenen, Gesang, Arabeske, Carnaval, als in Form der Sonate.
Robert Schumann
Robert Schumanns drei Klaviersonaten ermangelt es, ebenso wie manchen Schubert-Sonaten, aufgrund ihres Zusammenbaus mittels meist liedhafter Elemente eines wirklich organischen Zusammenhangs. Die Werke sind eher von poetischen Vorwürfen und Konzepten (Florestan und Eusebius) und gedanklichen Beziehungen zu seiner Frau Clara, als durch auf thematische Konsequenz zielende Arbeit gekennzeichnet. Die anzutreffende damals bemängelte „allzu bunte Mischung der Tonarten“ wird heutzutage eher als historisch folgerichtiger harmonischer Fortschritt gewertet.
Die Formteile von Exposition, Durchführung und Reprise sind in seinen Sonaten schwer voneinander abzugrenzen. Auch Schumann selber überkamen relativ schnell Zweifel an der überlieferten Funktion, historischen Berechtigung, und gesellschaftlichen Stellung der Sonate. Dies zeigen seine Äußerungen als Musikkritiker, in denen die zunehmende Fragwürdigkeit der Gattung Sonate exemplarisch deutlich wird:
Frédéric Chopin
Frédéric Chopin wurde häufig vorgeworfen, die großen Formen wie Klavierkonzert und Sonate nicht zu beherrschen, weil sie seinen Intentionen zuwiderliefen. Dies zeigt ein zeitgenössisches Zitat von Franz Liszt:
Besonders seine Expositionen (speziell in der h-Moll Sonate) erschienen vielen zeitgenössischen Kritikern als verworren und thematisch „überladen“. Die Musikwissenschaft hat inzwischen gezeigt, dass dieses vereinfachende Urteil nicht gerechtfertigt ist.
Chopin schrieb drei Klaviersonaten, die neben der h-Moll-Sonate von Franz Liszt auch als „die pianistisch und formal vollendetsten nach Beethoven angesehen werden können“. Die frühe c-Moll-Sonate gilt als formal gut gelöstes, aber etwas „akademisches“ Werk der Studienzeit, das im Schatten der zwei folgenden reifen Sonaten steht.
Am populärsten wurde – nicht zuletzt wegen des auf Beerdigungen auch von Blaskapellen immer wieder gern intonierten Trauermarsches (Marche funebre) – seine zweite Sonate in b-Moll. Chopin beschreitet in diesen Werken den Weg in Richtung auf eine zyklische Einheit unter Verwendung des Prinzips der entwickelnden Variation. Sie bleiben trotz einer modernen, chromatisch erweiterten Harmonik, sowie der für seinen Stil typischen Ornamentik und verschlungenen polyphonen Stimmführung dennoch klar gegliedert. Die manchmal vom Ausdrucksgehalt sehr entgegengesetzten Seitenthemen werden stufenweise aus dem Hauptthema entwickelt.
Chopin verstößt dabei häufig gegen tonale oder formale Regeln des Sonatensatzes. Diese „Regelverstöße“ gegen die „konventionelle Sonatenform“ können allerdings auch auf eine „bewusst veränderte Konzeption des Sonatensatzes“ im Sinne der von Liszt und anderen später verfolgten Linien hinweisen.
Bei einigen Zeitgenossen stieß die ungewöhnliche zweite Sonate auf Befremden. So schrieb Robert Schumann, der Chopin der Fachwelt als Genie vorgestellt hatte: „Daß er es Sonate nannte, möchte man eher eine Caprice heißen, wenn nicht einen Übermut, daß er gerade seine tollsten Kinder zusammenkoppelte.“. Den Trauermarsch wollte er durch ein „Adagio, etwa in Des“ ersetzt wissen; das rasende Unisono-Finale, bei dem Anton Rubinstein den „Nachtwind über die Gräber fegen“ hörte, lehnte er gänzlich ab.
Im Gegensatz zur düsteren zweiten Sonate macht die dritte einen helleren Eindruck. Die schöne, klassisch durchgeführte Kantilene des zweiten Themas im Allegro maestoso, die luftigen Achtel-Figuren des Scherzos und das an ein Nocturne erinnernde Largo tragen dazu bei. Mit einem rauschhaften, in Rondoform stehenden Finale, das „Wagners Walkürenritt rhapsodisch vorwegnimmt“ und dessen brillante Coda dem Virtuosen vorbehalten ist, endet das Werk.
Außerhalb des deutschen Raumes
Der Schwerpunkt der Sonatenentwicklung lag im Zeitalter der Klassik und Romantik hauptsächlich in den durch deutsche Kultur und Sprache geprägten Ländern
Mitteleuropas (Deutsche Länder bzw. Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, und peripher Dänemark sowie Teilen des heutigen Polens und Tschechiens). In Ländern mit einer auch musikalisch hohen kulturellen Eigenständigkeit, wie Spanien, Italien und Frankreich spielte die Klaviersonate im Musikschaffen eine eher nebensächliche Rolle. Zu erwähnen sind in Letzterem lediglich isoliert stehende Beispiele, wie die programmatische Sonate op. 33 Die vier Lebensalter von Charles Valentin Alkan oder die es-Moll-Sonate von Paul Dukas, die – ebenso wie Maurice Ravels „klassische Gesetzmäßigkeiten“ befolgende Sonatine in fis-Moll – bereits in das 20. Jahrhundert überleitet. Der Musik des Impressionismus stand die Form der Sonate verständlicherweise fern. Im umfangreichen Klavierwerk von Claude Debussy taucht die Gattung der Sonate nicht auf. In den skandinavischen Ländern und Russland, welche die deutsche Musiktraditionen williger rezipierten, blühte sie dagegen auf.
Skandinavien
Im skandinavischen Raum sind Johann Peter Emilius Hartmann, Niels Wilhelm Gade, und Edvard Grieg hervorzuheben. Hartmanns damals hochgelobte Werke erfüllen beinahe „schulmäßig“ die Anforderungen der Sonatenform. In seiner zweiten Sonate sind auf nordeuropäische Volksmusik verweisende Bordun- und Orgelklänge zu hören. Die strenge Sonatenkonzeption wird im Werk von Gade zugunsten einer sich eher in liedhaften Formen ausdrückenden „poetischen Grundstimmung“ gebrochen. Gades spezifisch „nordischer Ton“ wurde dabei schon von Schumann hervorgehoben:
Die einzige Sonate des norwegischen Komponisten Edvard Grieg widerspricht dagegen – trotz einer fortschrittlichen, auf den Impressionismus verweisenden Harmonik – mit ihrer Aneinanderreihung von miniaturhaften, teilweise „typisch nordisch“ wirkenden in sich geschlossenen Gedanken sehr der „Entwicklungskonzeption“ der Sonate. ()
Russland
Die russische Musik des 19. Jahrhunderts wurde geprägt durch den Kampf zwischen „prowestlichen“, deutsche Musiktradition übernehmenden Musikern wie etwa Pjotr Iljitsch Tschaikowski, und Autodidakten, die eine auf autochthonen Einflüssen basierende „nationale Musik“ zu etablieren versuchten, wie es etwa der Gruppe der Fünf vorschwebte. Die Klaviersonate als formbewusste Gattung hatte demnach eher bei den „Traditionalisten“ eine Chance. Beliebt waren damals die virtuosen, allerdings musikalisch wenig innovativen Sonaten von Anton Grigorjewitsch Rubinstein. Weitere zu erwähnende Werke sind Tschaikowskis mit aufwühlender Rhythmik und romantischem Gestus konzipierte G-Dur-Sonate, Alexander Konstantinowitsch Glasunows zwei Sonaten, sowie Sergei Michailowitsch Ljapunows sich an Liszt orientierende einsätzige Sonate in f-Moll op. 27. Der einzige formal und harmonisch Neuland betretende Komponist sollte also Alexander Skrjabin bleiben.
Vordenker der Moderne
Obwohl Franz Liszt und der frühe Alexander Skrjabin der Spätromantik zuzuordnen sind, können sie wegen der harmonischen und formalen Freiheiten und Neuerungen in ihrem Spätwerk auch als Vorbereiter der Musik des 20. Jahrhunderts und einer modernisierten Form der Sonate gesehen werden.
Franz Liszt
Im Werk von Franz Liszt zeigen sich schon wesentliche, für die spätere „Auflösung“ der Klaviersonate im 20. Jahrhundert relevante Faktoren. Hierbei ist die formsprengende Tendenz zur Programmmusik zu nennen. So nimmt Liszt für sich in Anspruch, „die Formen durch den Inhalt bestimmen zu dürfen“, und schreibt:
Diese Schwerpunktverschiebung wird am Titel seiner Dante-Sonate deutlich, der er in Anlehnung an Beethovens op. 27 den Zusatz Fantasia quasi Sonata gibt. Ausgehend vom Beethovenschen Prinzip der „kontrastierenden Ableitung“ werden monothematische, dem dialektischen Sonatenprinzip widersprechende Kompositionsprinzipien bestimmend. Die Virtuosität wird dabei zu einem Mittel der Variation und formalen Integration experimentellen Materials. Die Progressivität von Liszt als frühem Wegbereiter der Atonalität ist erst spät erkannt worden. Fast zwanzig Jahre vor dem die musikalische Welt verändernden Tristan Wagners deuteten sich vor allem in den Klavierwerken Liszts revolutionäre harmonische Veränderungen an. Andere Komponisten gingen diesen Weg bis zur Sprengung der Sonatenform weiter.
Die h-Moll-Sonate () ist dafür ein gutes Beispiel, denn ihre Neuerungen haben Komponisten wie César Franck und Alexander Skrjabin sehr beeinflusst.
Mit seiner großen Sonate von 1853 versuchte Liszt, den ineinander übergehenden Sätzen die Großform eines Sonatenhauptsatzes mit breit ausgestalteter Coda zu verleihen. Die Wissenschaft hat dieser Sonate eine Fülle unterschiedlicher Formanalysen gewidmet.
Schon der Zeitgenosse Louis Köhler bescheinigte ihr „trotz der Abweichung von der bekannten Sonatenform“ einen „derartig geordneten Bau, daß ihr unterster Grundriß in den Hauptlinien doch Parallelen mit denen einer Sonate“ zeige. Die Verbindung von Ein- und Mehrsätzigkeit wird ebenso wie das Streben nach werkübergreifender zyklischer Einheit hervorgehoben. Häufig wird versucht, das Werk mit der Definition einer „Synthese von Sonatensatz und Sonatenzyklus“ zu beschreiben.
Liste bedeutender Komponisten von Klaviersonaten im 19. Jahrhundert
Ludwig van Beethoven (1770–1827; 32 Sonaten)
Johannes Brahms (1833–1897; 3 Sonaten)
Norbert Burgmüller (1810–1836; 1 Sonate)
Frédéric Chopin (1810–1849; 3 Sonaten)
Muzio Clementi (1752–1832; 72 Sonaten)
Felix Draeseke (1835–1913; 1 Sonate)
Friedrich Kalkbrenner (1785–1849; 15 Sonaten)
Henri Herz (1803–1888; 1 Sonate)
Johann Nepomuk Hummel (1778–1837; 4 Sonaten und 1 Sonatine)
Franz Liszt (1811–1886; 1 Sonate)
Sergei Michailowitsch Ljapunow (1859–1924, 1 Sonate und 1 Sonatine)
Julius Reubke (1834–1858; 1 Sonate)
Franz Schubert (1797–1828; 11 vollendete Sonaten)
Robert Schumann (1810–1856; 3 Sonaten, Fantasie C-Dur op. 17 kann auch zu den Sonaten gerechnet werden)
Sigismund Thalberg (1812–1871; 1 Sonate)
Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840–1893; 2 Sonaten)
Carl Maria von Weber (1786–1826; 4 Sonaten)
20. Jahrhundert
Die Klaviersonaten sind ebenso wie die Musik des 20. Jahrhunderts generell von drei Tendenzen geprägt:
Der Aufgabe der Tonalität zugunsten von freier Tonalität, Atonalität, sowie Zwölfton- und Reihentechnik.
Der Bewahrung von einer wie auch immer gestalteten Tonalität in Bitonalität, eigenen Tonalitätskonzepten, oder dem neoklassizistischen Rückgriff auf überlieferte Gestaltungsmittel.
Die Aufgabe oder bewusste Weiterführung bzw. Reaktivierung überlieferter gliedernder Prinzipien und Formen.
Alexander Skrjabin
In den (abgesehen von zwei Jugendwerken) zehn Klaviersonaten Skrjabins lässt sich die bei Liszt zu findende formale und harmonische Entwicklung von der Spätromantik bis zur Atonalität und die damit einhergehende Auflösung der Sonatenform besonders gut beobachten. Dieser Weg begann bei Werken, die noch sehr an Chopin und gelegentlich an Liszt erinnern und den Einfluss Richard Wagners spüren lassen. Er setzte sich fort über eine extreme Alterationsharmonik bis zu frei- und atonalen Werken und zeigt auch einen formalen Auflösungsprozess.
Schon in der ersten Sonate ist eine „alle Sätze miteinander verklammernde Substanzgemeinschaft durch ein charakteristisches Dreitonmotiv“ sowie eine „nachtristansche Alterationsharmonik“ vorhanden. In den ersten drei Sonaten herrscht trotz des improvisatorischen Charakters der Musik durch viele Ritardandi, Fermaten, Generalpausen, und tonal schwer zu bestimmende Klangimpressionen dennoch musikalische Logik aufgrund von Thementransformationen und deren Entwicklung/Verbindung, sowie eine rudimentäre funktionsharmonische Bindung. In der dritten Sonate haben trotz Viersätzigkeit in der formalen Großgliederung die einzelnen Abschnitte nicht mehr die dem Sonatenprinzip folgenden themendualistischen oder harmonischen Funktionen, sondern sind eher als Entwicklung der Themen aus einer „Urzelle“ zu verstehen, welche dabei auch kontrapunktisch, simultan auftreten können. Der zyklische Zusammenschluss der Sätze aufgrund spezieller Intervalle, wie des aufwärts gerichteten Quartsprungs in der 3. und 4. Sonate, beziehungsweise ganzer Quartenakkorde (promethischer/mystischer Akkord), wird zunehmend wichtiger als herkömmliche Themenbildung.
Die Sonatenform wird zusehends zur leeren Hülse, und ab der 5. Sonate ist dann die Einsätzigkeit erreicht. Fünf Themen bilden hier die Grundlage einer die Sonatenform erweiternden Entwicklung. Zum letzten Mal setzt Skrjabin hier – allerdings häufig wechselnde – Vorzeichen. Die Metrik, welche z. B. in den ersten 48 Takten von op. 53 zwischen 2/4, 5/8, und 6/8 wechselt und zusätzlich polymetrisch ist, kann auch nicht mehr formbildend wirken.
Die Sonaten 6 bis 10 bewirken dann allein durch die Konzentration auf gewisse „Klangzentren“ und rhythmische Formen Gestaltbildung, und vollziehen damit – in Vorbereitung der Reihentechnik – das endgültige Ende bzw. den Wandel der Sonatenform.
Atonalität
In der Atonalität bzw. Zwölftonmusik verliert die Sonate endgültig ihre formbildende Kraft, welche untrennbar mit der Tonalität und der funktionsharmonischen Bedeutung der Akkorde (speziell Tonika und Dominante) verbunden war. Dies brachte Theodor W. Adorno folgendermaßen zum Ausdruck:
Dennoch haben Arnold Schönberg und seine „Schüler“ sich intensiv mit dem Sonatenproblem auseinandergesetzt und Werke in dieser Gattung geschaffen. Atonal sind z. B. Ferruccio Busonis Sonatina Seconda,, Ernst Kreneks dritte Klaviersonate, welche trotz Zwölftontechnik traditionelle Satzbautechniken anwendet, oder Hanns Eislers Klaviersonate op. 1. In Eislers 3. Klaviersonate (siehe Abbildung) läuft in der Oberstimme der rechten Hand die Zwölftonreihe, zu der nach einem Takt die Umkehrung des Krebses (ohne die Töne 8 und 9) in der Unterstimme, und später die Originalgestalt in der linken Hand treten. Durch die Thematik als essentielles formbildendes Element scheint das Paradoxon einer Sonatenform ohne tonale Struktur möglich.
Der Amerikaner Charles Ives geht weniger akademisch an das Sonatenproblem und verbindet in der Three-Page-Sonata und seinen Klaviersonaten 1 und 2 synkretistisch klassische Formen, Standardkadenzen, Beethovenzitate aus der 5. Sinfonie und der Hammerklaviersonate, Ragtime, Choräle, Poly- und Atonalität, und Cluster. Man kann dies gleichermaßen als Hommage an und Persiflierung von „geheiligten Traditionen der europäischen Musiktradition“ auffassen. Ives selber schreibt zum Titel seiner zweiten Sonate:
Erweiterte Tonalität
Die Mehrsätzigkeit und eine gewisse formale Anlehnung an Werke des 19. Jahrhunderts findet sich vornehmlich bei noch tonal arbeitenden Komponisten mit einer – gemessen an der jeweiligen Zeit – eher konservativen Musikästhetik bzw. Tonsprache, wie Strawinsky, Hindemith, Prokofjew oder Béla Bartók. Dem antiromantischen Zeitempfinden der 20er Jahre folgend vermied man jedoch meist den „heroisch-monumentalen“ Begriff der Sonate und verlegte sich auf sachlichere und verkleinernde Bezeichnungen wie Sonatine, Kleine Sonate oder einfach Klavierstück.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei der – allerdings mit modernen Mitteln verfremdete – Zugriff auf überkommene Formen im Zuge des Neoklassizismus bzw. Neobarock. Beispiele hierfür sind Prokofjews Sonaten 3 und 5, die mit hartem und klarem Stil den Romantizismus vermeiden und sich an das klassische Vorbild anlehnen. Paul Hindemith berücksichtigt in seinen drei Sonaten ebenso seine eigene in der „Unterweisung zum Tonsatz“ geschaffene Tonalitätsauffassung, wie formale Kriterien der Sonate, und Béla Bartók versucht in seiner 1926 entstandenen Sonate die Anforderungen der Sonatenform über den Aufbau rhythmischer Elemente zu erfüllen. Von Sergei Rachmaninov stammen zwei monumentale, post-romantische Klaviersonaten (1907 und 1913). Komponisten wie Max Reger und seine Nachfolger, etwa Joseph Haas, Julius Weismann und Hermann Schroeder, erweisen sich in ihren Sonaten und Sonatinen als „Bewahrer“ von klassischer bzw. romantischer Form und musikalischem Gehalt.
Nach 1945
Mit der in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierenden seriellen Kompositionstechnik sank die Klaviersonate zu einer nahezu bedeutungsleeren Form herab. Es ist zweifelhaft, Werke wie Pierre Boulez’ drei atonale Sonaten angesichts seiner Äußerungen, dass „diese vorklassischen und klassischen Formen der größte Widersinn der zeitgenößischen Geschichte sind“, noch als Sonaten zu bezeichnen. Dasselbe gilt für das 16 Sonaten enthaltende Sonatas and Interludes für Präpariertes Klavier von John Cage. Hans Werner Henze konstruiert in seiner dreisätzigen Sonata per Pianoforte von 1959 satzübergreifende Zusammenhänge über die Verwandlung des motivischen Grundmaterials. So schreibt Henze:
In diesem Sinne ist die Klaviersonate (1987) von Friedrich Goldmann von Bedeutung, die explizit die Reibung zwischen dem tradierten Formmodell und ihm radikal zuwiderlaufendes Tonmaterial zur eigenständigen Erfahrungsebene macht. In der zeitgenössischen Musik sind Klaviersonaten weiterhin selten vertreten, dennoch schreiben einige Komponisten sogar ganze Zyklen von Klavierwerken, doch zumeist werden programmatische Titel verwendet (z. B. Moritz Eggert: Hämmerklavier) oder Komponisten entscheiden sich für die freiere Bezeichnung Klavierstück. Wichtige Vertreter dieses Genres sind Karlheinz Stockhausen und Wolfgang Rihm, nicht selten greifen diese wiederum auf klassische Sonatenvorbilder zurück und deuten diese Formen neu. Eine Verbindung von klassischer Form und Stilmerkmalen des Jazz schuf Eduard Pütz in seiner Jazz Sonata for Piano (1998).
Liste bedeutender Komponisten von Klaviersonaten im 20. Jahrhundert
Samuel Barber (1910–1981; 1 Sonate)
Béla Bartók (1881–1945; 1 Sonate)
Arnold Bax (1883–1953; 4 Sonaten)
Alban Berg (1885–1935; 1 Sonate)
Boris Blacher (1903–1975; 1 Sonate)
Emil Bohnke (1888–1928; 1 Sonate)
Pierre Boulez (1925–2016; 3 Sonaten)
Frank Bridge (1879–1941; 1 Sonate)
John Cage (1912–1992; Sonatas and Interludes)
Aram Chatschaturian (1903–1978; 1 Sonate und 1 Sonatine)
Aaron Copland (1900–1990; 1 Sonate)
Hanns Eisler (1898–1962; 3 Sonaten)
George Enescu (1881–1955; 2 Sonaten)
Gerhard Frommel (1906–1984; 7 Sonaten)
Alberto Ginastera (1916–1983; 3 Sonaten)
Friedrich Goldmann (1941–2009; 1 Sonate)
Joseph Haas (1879–1960; 3 Sonaten)
Hans Werner Henze (1926–2012; 1 Sonate)
Paul Hindemith (1895–1963; 3 Sonaten)
Charles Ives (1874–1954; 2 Sonaten)
Bohuslav Martinů (1890–1959; 1 Sonate)
André Jolivet (1905–1974; 1 Sonate)
Dmitri Kabalewski (1904–1987; 3 Sonaten)
Sigfrid Karg-Elert (1877–1933; 3 Sonaten)
Günter Kochan (1930–2009; 1 Sonate)
Ernst Krenek (1900–1991; 7 Sonaten)
Nikolai Medtner (1880–1951; 14 Sonaten)
Darius Milhaud (1892–1974; 2 Sonaten)
Leo Ornstein (1892–2002; 5 Sonaten)
Ernst Pepping (1901–1981; 4 Sonaten)
Sergei Prokofjew (1891–1953; 9 Sonaten)
Sergei Rachmaninow (1873–1943; 2 Sonaten)
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975; 2 Sonaten)
Hermann Schroeder (1904–1984; 3 Sonaten, 3 Sonatinen)
Alexander Skrjabin (1872–1915; 10 Sonaten)
Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892–1988; 6 Sonaten)
Igor Strawinski (1882–1971; 2 Sonaten)
Karol Szymanowski (1882–1937; 3 Sonaten)
Michael Tippett (1905–1998; 4 Sonaten)
Viktor Ullmann (1898–1944; 7 Sonaten)
Fartein Valen (1887–1952; 2 Sonaten)
Siehe auch
Liste der Sonaten
Literatur
Allgemein
Dietrich Kämper: Die Klaviersonate nach Beethoven – Von Schubert bis Skrjabin. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, ISBN 3-534-01794-3.
Thomas Schmidt-Beste: Die Sonate. Geschichte – Formen – Analysen. Bärenreiter, 2006, ISBN 3-7618-1155-1.
Stefan Schaub: Die Sonatenform bei Mozart und Beethoven (Audio-CD). Naxos, 2004, ISBN 3-89816-134-X.
Wolfgang Jacobi: Die Sonate. Buch & Media, 2003, ISBN 3-86520-018-4.
Karl G. Fellerer, Franz Giegling: Das Musikwerk, Band 15 (Ausgabe der 1970er Jahre), Band 21 (Ausgabe 2005) – Die Solosonate. Laaber-Verlag, 2005, ISBN 3-89007-624-6.
Klaus Wolters: Handbuch der Klavierliteratur zu zwei Händen Atlantis, 1977, ISBN 3-7611-0291-7.
Reinhard Wigand: Formanalyse von Klavier- und Kammermusikwerken aus Barockzeit, Klassik und Romantik. Verlag Dr. Kovac, 2000, ISBN 3-8300-0135-5.
Fred Ritzel: Die Entwicklung der Sonatenform im musiktheoretischen Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts. Breitkopf u. Härtel, 1968
Matthias Hermann: Sonatensatzform 1. Pfau-Verlag, 2002, ISBN 3-89727-174-5.
Barock und Frühklassik
Maria Bieler: Binärer Satz, Sonate, Konzert – Johann Christian Bachs Klaviersonaten op. V im Spiegel barocker Formprinzipien und ihrer Bearbeitung durch Mozart. Bärenreiter, Kassel, 2002, ISBN 3-7618-1562-X.
Wolfgang Horn: Carl Philipp Emanuel Bachs frühe Klaviersonaten – eine Studie zur Form der ersten Sätze nebst einer kritischen Untersuchung der Quellen. Verlag der Musikalienhandlung Wagner, Hamburg 1988, ISBN 3-88979-039-9.
Maria Biesold: Domenico Scarlatti – Die Geburtsstunde des modernen Klavierspiels. ISBN 3-9802019-2-9.
Brahms
Gero Ehlert: Architektonik der Leidenschaften – Eine Studie zu den Klaviersonaten von Johannes Brahms. Bärenreiter, Kassel 2005, ISBN 3-7618-1812-2.
Beethoven
Paul Badura-Skoda und Jörg Demus: Die Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. F.A. Brockhaus, Leipzig, 1970, ISBN 3-7653-0118-3.
Edwin Fischer: Ludwig van Beethovens Klaviersonaten – Ein Begleiter für Studierende und Liebhaber. Insel-Verlag, Wiesbaden 1956
Maximilian Hohenegger: Beethovens Sonate appassionata op. 57 im Lichte verschiedener Analysemethoden. Peter Lang, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-631-44234-3.
Joachim Kaiser: Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-23601-0.
Siegfried Mauser: Beethovens Klaviersonaten – Ein musikalischer Werkführer. C. H. Beck, 2001, ISBN 3-406-41873-2.
Richard Rosenberg: Die Klaviersonaten Ludwig van Beethovens – Studien über Form und Vortrag. Band 2. Urs Graf-Verlag, 1957
Jürgen Uhde: Beethovens Klaviersonaten 16–32. Reclam, Ditzingen 2000, ISBN 3-15-010151-4.
Udo Zilkens: Beethovens Finalsätze in den Klaviersonaten. Tonger Musikverlag, 1994, ISBN 3-920950-03-8.
Chopin
Ursula Dammeier-Kirpal: Der Sonatensatz bei Frédéric Chopin. Breitkopf & Härtel, 1986, ISBN 3-7651-0060-9.
Haydn
Bettina Wackernagel: Joseph Haydns frühe Klaviersonaten – Ihre Beziehungen zur Klaviermusik um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Schneider, Tutzing 1975, ISBN 3-7952-0160-8.
Federico Celestini: Die frühen Klaviersonaten von Joseph Haydn – Eine vergleichende Studie. Schneider, 2004, ISBN 3-7952-1168-9.
Uwe Höll: Studien zum Sonatensatz in den Klaviersonaten Joseph Haydns. Schneider, 1984, ISBN 3-7952-0425-9.
Franz Liszt
Michael Heinemann: Franz Liszt – Klaviersonate h-Moll. Fink, München 1993, ISBN 3-7705-2782-8.
Mozart
Richard Rosenberg: Die Klaviersonaten Mozarts – Gestalt- und Stilanalyse. Hofmeister, 1972, ISBN 3-87350-001-9.
Wolfgang Burde: Studien zu Mozarts Klaviersonaten – Formungsprinzipien und Formtypen. Tübingen, 1970
Schubert
Hans Költzsch: Franz Schubert in seinen Klaviersonaten. Olms, Hildesheim 2002, ISBN 3-487-05964-9.
Andreas Krause: Die Klaviersonaten Franz Schuberts – Form, Gattung, Ästhetik. Bärenreiter, Kassel 1992, ISBN 3-7618-1046-6.
Arthur Godel: Schuberts letzte drei Klaviersonaten (D 958 – 960) – Entstehungsgeschichte, Entwurf und Reinschrift, sowie Werkanalyse. Koerner, Baden-Baden 1985, ISBN 3-87320-569-6.
Schumann
Markus Waldura: Monomotivik, Sequenz und Sonatenform im Werk Robert Schumanns. SDV Saarländische Druckerei und Verlag, 1990, ISBN 3-925036-49-0.
Skrjabin
Martin Münch: Die Klaviersonaten und späten Préludes Alexander Skrjabins – Wechselbeziehungen zwischen Harmonik und Melodik. Kuhn, Berlin 2004, ISBN 3-928864-97-1.
Hanns Steger: Der Weg der Klaviersonate bei Alexander Skrjabin. Wollenweber, 1979, ISBN 3-922407-00-5.
20. Jahrhundert
Dieter Schulte-Bunert: Die deutsche Klaviersonate des zwanzigsten Jahrhunderts – Eine Formuntersuchung der deutschen Klaviersonaten der zwanziger Jahre. Köln 1963
Weblinks
Allgemein
Die Entwicklung der Sonate bis 1800
Zu einzelnen Komponisten oder Werken
Erik Reischl: Zu Beethovens Klaviersonaten
Schuberts Sonate D 840: Analyse und Interpretation (fragmentarisch)
Udo-Rainer Follert: Felix Draeseke, Piano Sonata in c#, Op. 6 (Sonata quasi Fantasia)
Herbert Henck: Charles Edward Ives (1874–1954) – Piano Sonata No. 2: Concord, Mass., 1840–1860
Thomas Phleps:
Einzelnachweise
Musikalische Gattung |
673476 | https://de.wikipedia.org/wiki/Sophienh%C3%B6hle | Sophienhöhle | Die Sophienhöhle ist eine natürliche Karsthöhle bei Kirchahorn, einem Ortsteil der oberfränkischen Gemeinde Ahorntal im Landkreis Bayreuth in Bayern.
Die Tropfsteinhöhle befindet sich am nordwestlichen Talrand des Ailsbachtals, unweit der Burg Rabenstein in der Fränkischen Schweiz.
Die Sophienhöhle gilt mit ihren drei großen Abteilungen und verschlungenen Gängen als eine der schönsten Schauhöhlen Deutschlands.
Lage
Die Sophienhöhle liegt am nordwestlichen Talhang des engen, gewundenen Ailsbachtals bei der Gemeinde Ahorntal im oberfränkischen Landkreis Bayreuth. Das Tal weist viele steile Felsbastionen und die größte Höhlendichte in der Fränkischen Schweiz auf. Der Eingang der Höhle liegt auf , das Tal und die darüber befindliche Klaussteinkapelle auf der Burgstelle der ehemaligen Burg Ahorn auf . Vom Parkplatz bei der Burg Rabenstein westlich der Höhle ist sie auf einem 650 Meter langen Fußweg zu erreichen, vom Parkplatz 30 Meter unterhalb der Höhle, direkt an der Staatsstraße 2185, führt ein steiler 120 Meter langer Weg hinauf.
Geologie
Die Sophienhöhle liegt in fossilen Schwammriffen im Frankendolomit des Malm im Jura. Das 18 Meter breite, sechs Meter hohe und bergwärts sich verjüngende Eingangsportal hat eine kuppelförmige Struktur. Die Höhle besitzt domartige Hallen, die teilweise durch enge, verschlungene Gänge verbunden sind. Dies ist für Höhlen im fränkischen Dolomit typisch. Die Höhle zieht sich im Wesentlichen an den horizontalen Fugen der Schwammriffe entlang. Diese Oberflächenformen lassen sich anhand von Fugen besonders gut in der dritten Abteilung verfolgen. Sie zählt mit einer Größe von 42 × 25 × 11 Metern zu den größten fränkischen Höhlenräumen. Hier haben sich große Verbruchquader entlang der Fugen von der Decke abgelöst und bedecken den Boden. Die beiden anderen Abteilungen weisen ebenfalls Versturzblöcke auf, die an manchen Stellen von Tropfsteinen überzogen sind. Das Raumbild der Höhle deutet auf ein hohes Alter hin.
Entstehung
Die Höhle ist im stehenden Grundwasser entlang der weitgehend horizontal verlaufenden Fugen entstanden. Kohlensäurehaltiges Wasser konnte durch feine Risse und Klüfte im Gestein eindringen. Obwohl Kohlensäure eine relativ schwache Säure ist, kann sie Kalk- und Dolomitgestein auflösen. Große Hohlräume entstanden durch Auslaugung entlang zahlreicher Risse und Klüfte. Durch eine Vertiefung des Ailsbachtales sank der Grundwasserspiegel ab und legte die Hohlräume frei. Später wurden die Räume und Gänge teilweise wieder mit Sedimenten verfüllt, wodurch die vorderen Abteilungen teilweise voneinander getrennt wurden.
Höhlenkomplex
Die Sophienhöhle besteht aus einem Komplex von insgesamt vier Höhlen: das schon immer bekannte Eingangsportal, das Ahornloch, die sich anschließende Klaussteinhöhle, die 1833 entdeckte eigentliche Sophienhöhle und die zunächst verfüllte Höschhöhle. Zusammen bilden die einzelnen Höhlen den Klaussteinhöhlen-Komplex oder die Sophienhöhle. Sie hat eine Länge von etwa 900 Metern, wobei die eigentliche Sophienhöhle mit ihren drei Abteilungen 500 Meter lang ist. Im Höhlenkataster Fränkische Alb, die über 3000 Höhlen auf einer Fläche von 6400 Quadratkilometern besitzt, ist die Sophienhöhle als B 27 und die mit ihr verbundene Höschhöhle als B 24 registriert. Die Höhle ist vom Bayerischen Landesamt für Umwelt als Geotop 472H009 ausgewiesen. Siehe hierzu auch die Liste der Geotope im Landkreis Bayreuth.
Tropfsteine
Die Sophienhöhle weist reichhaltige und vielgestaltige Tropfsteine auf. Es gibt Deckenformationen wie Stalaktiten und Sinterröhrchen, Bodenformationen wie Stalagmiten und Sinterbecken, und schöne Wandsinterpartien. Die Versinterungen treten überwiegend in den ersten beiden Abteilungen auf, fehlen aber auch in der dritten Abteilung nicht ganz. Die Räume vor der Sophienhöhle, wie das Ahornloch und die Klaussteinhöhle, haben nur sehr wenige Tropfsteine. In der Sophienhöhle gibt es Sinterfahnen und Sintervorhänge, die an schrägen Decken und überhängenden Wandabschnitten entstehen. Die Tropfsteine erscheinen in den verschiedensten Farben. Aus reinem Calcit bestehen die durchsichtigen Sinterröhrchen und rein weiße Stalagmiten. Durch Verunreinigung mit Eisenoxid treten Tropfsteine mit gelben und braunen Farbtönen auf. Durch Manganoxide wurden einige Tropfsteine schwarz gefärbt.
Fossile Knochen
Im Höhlenkomplex wurden zahlreiche Knochen eiszeitlicher Tiere gefunden, wobei Reste des Höhlenbären den größten Anteil bilden. Die Bären nutzten die Sophienhöhle während der Winterruhe, um dort die Jungen zur Welt zu bringen. Dabei sind vereinzelt immer wieder Tiere an Altersschwäche oder Krankheiten verendet. Über einen langen Zeitraum häufte sich so eine große Knochenansammlung an.
Das Alter der Knochen in der Fränkischen Alb wird auf 28.500 bis 60.000 Jahre angesetzt. Dies ergaben mehrere Radiokohlenstoffdatierungen aus fränkischen Höhlen. Die Bärenknochen in der Sophienhöhle stammen damit überwiegend aus der Würmeiszeit. Über die Sophienhöhle selbst gibt es keine Altersdatierungen. In der ersten Abteilung der Sophienhöhle fand man neben Knochen des Höhlenbären auch vereinzelt Überreste von Mammut, Wollnashorn und Rentier. Nach alten Höhlenberichten muss die Sophienhöhle hinsichtlich ihrer zahlreichen Rentierreste in der Frankenalb als herausragend angesehen werden. Die meisten der in der Sophienhöhle gefundenen Fossilien sind allerdings verschollen. Viele davon waren in der nahe gelegenen Burg Rabenstein untergebracht. Einige befinden sich im Besitz der Paläontologischen Staatssammlung in München, wie beispielsweise ein Unterkieferfragment eines Löwen aus dem Pleistozän.
Geschichte
Frühgeschichte
Der Vorraum der Sophienhöhle, das Ahornloch, wurde bereits von prähistorischen Menschen benutzt. Der Name der Höhle stammt vom adligen Geschlecht der von und zu Ahorn, die als die ersten Herrscher des Ahorntales gelten und direkt über dem Ahornloch in der Burg Klausstein lebten. Die jahrtausendelang zugänglichen Höhlenteile, das Ahornloch und die Klaussteinhöhle, wurden durch Ablagerungen im Laufe der Zeit teilweise verfüllt. Die Verfüllung bestand aus meterdicken Schichten von Höhlenbärenknochen, Fledermauskot und Überbleibseln menschlicher Besiedlungen aus der Stein- und Bronzezeit. Hinzu kamen Frostabbrüche von der Decke und Sinterablagerungen. Mit diesem Material wurden die niedrigen Verbindungsgänge zwischen den Hallen vollständig aufgefüllt. Dadurch gerieten die hinter den abgeschlossenen Teilen liegenden Höhlenbereiche in Vergessenheit.
Die Klaussteinhöhle hat ihren Namen von der darüberliegenden Klaussteinkapelle. Dort stand eine Burg, die abgerissen wurde. Jungsteinzeit stammen die ältesten Funde, als der Mensch erstmals sesshaft wurde und Ackerbau und Viehzucht betrieb. Die meisten Funde stammen jedoch aus der Hallstatt- und La-Tène-Zeit. Überwiegend wurden Keramikscherben gefunden, auch von Bronzeschmuck wurde berichtet. Ob die Funde auf einer Nutzung der Höhle als menschliche Behausung beruhen oder ob dort kultische Handlungen durchgeführt wurden, konnte bisher nicht geklärt werden.
Erste Grabungen
Den im Mittelalter in der Höhle gefundenen Knochen und Ablagerungen schrieb man teilweise magische Eigenschaften zu, weswegen fossile Tierknochen und Zähne zermahlen und an Apotheken als heilkräftige Pülverchen verkauft wurden. Aus Höhlenlehm und Dolomitasche versuchte man Gold zu machen. 1490 wollte der Bamberger Hans Breu im Ahornloch aus phosphathaltigen Höhlensedimenten Salpeter gewinnen, der zur Herstellung von Schwarzpulver gebraucht wurde. In einer diesbezüglichen Urkunde wurde die Höhle das erste Mal erwähnt. Das Unternehmen scheiterte allerdings, da aus den Bodensedimenten kein Salpeter gewonnen werden konnte.
Nach dieser Suche nach nutzbaren Ablagerungen wurde es bis etwa zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um die Höhle wieder ruhiger. Der Pfarrer Johann Friedrich Esper, der als Begründer der wissenschaftlichen Höhlenforschung in Franken gilt, besuchte das Ahornloch in den Jahren 1774 und 1778 und verfasste eine ausführliche Beschreibung des Ahornlochs:
Bei Grabungen 1788 im hinteren Teil des Ahornlochs wurde die Klaussteinhöhle wiederentdeckt. In den folgenden Jahren wurde die Trennwand zum Ahornloch beseitigt, um so einen bequemeren Eingang zu schaffen. Man hoffte auch, etwas Kostbares zu finden. Auf archäologische Funde, wie Knochen von Höhlenbären, wurde dabei nicht geachtet. Das herausgegrabene Material wurde in den Schacht der Klaussteinhöhle geworfen.
Georg August Goldfuß beschreibt 1810 in einem seiner Berichte das Ahornloch:
Entdeckung der Sophienhöhle
Im Jahre 1833 führte der Kunstgärtner Michael Koch im Auftrag seines Arbeitgebers, Reichsrat Graf Franz Erwein von Schönborn-Wiesentheid, dem die Höhle gehörte, Erweiterungsarbeiten durch. Er wollte im Südosten der Höhle einen neuen Ausgang anlegen. Er durchstieß eine Sinterdecke und entdeckte fossile Knochen. Daraufhin kroch er in einen kleinen Raum, der im Gegensatz zu den bisher bekannten Höhlenteilen mit Sinterformen ausgestattet war. Dabei verspürte er am 16. Februar 1833 im hinteren, verengten Teil einen kräftigen Luftzug, der ihm aus einer engen Felsspalte entgegenwehte. Daraufhin entfernte er mit Gutsarbeitern Gesteinsschutt und Lehm und erweiterte die Felsspalte. Am 18. Februar 1833 unternahm er mit dem gräflichen Patrimonialrichter Schmelzing aus Weiher und dem Müller Hösch von der nahen Neumühle eine erste Begehung dieser erweiterten Felsspalte. Sie entdeckten dabei neue, reichlich mit Tropfsteinen geschmückte Hohlräume, die jetzige Sophienhöhle. Mit dem Abbaumaterial wurde der Schacht der Klaussteinhöhle verfüllt. Die von der Klaussteinhöhle durch den Abraum abgetrennten Räume haben eine Gesamtlänge von etwa 200 Metern und werden heute Höschhöhle nach dem langjährigen Besitzer der Neumühle genannt.
Koch berichtete gleich nach der Entdeckung der neuen Höhlenräume seinem Grafen ausführlich davon. Zum Schutz der Höhle ordnete der Graf die sofortige Schließung an. Dadurch konnte sie weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten werden und wurde nicht, wie viele andere Tropfsteinhöhlen, ihres Tropfsteinschmucks beraubt. Die Entdeckung der Höhle, die zum damaligen Zeitpunkt zu den schönsten in Mitteleuropa zählte, wurde schnell in den Zeitungen verbreitet.
Im neu entdeckten Höhlenbereich wurden etwa 40 zum Teil angesinterte Höhlenbärenschädel, Wirbel, Schulterblätter, Extremitätenknochen und viele Einzelzähne gefunden. Es fanden sich auch Schädel der Höhlenhyäne. Die am besten erhaltenen Knochen kamen auf Veranlassung des Grafen in das Museum der danebenliegenden Burg Rabenstein. In das Geologische und Mineralogische Institut der Universität Erlangen kamen ebenfalls vereinzelte Relikte. Die damals in der Burg untergebrachten Fundstücke sind allerdings verschollen.
Der Graf besuchte am 21. Juni 1833 mit seinem ältesten Sohn Erwin und dessen Gemahlin Sophie (geborene Gräfin zu Eltz) die Höhle. Daraufhin benannte er die Höhle zu Ehren seiner Schwiegertochter Sophienhöhle. Er ließ die Höhle mit Treppen- und Wegeanlagen behutsam für Besucher herrichten. Bei den Erschließungsmaßnahmen wurden das Ahornloch und die Klaussteinhöhle völlig eingeebnet.
Nach der Entdeckung der Höhle kamen zahlreiche Gelehrte, um diese näher zu untersuchen.
Johann Wilhelm Holle schilderte 1833 in Die neu entdeckte Kochshöhle oder die Höhlenkönigin im königl. Landgerichte Hollfeld-Waischfelddie die neu entdeckte Höhle recht euphorisch. Er berichtete unter anderem, dass er „die berühmtesten Höhlen in Europa gesehen hat, mit diesen in Hinsicht ihrer Schönheit und Größe über allen Vergleich steht.“ Über die Höhle schrieb er: „Hier scheint die Natur ein ganzes Füllhorn von Schönheit ausgegossen zu haben. Die Wände sind blendend weiß, wie vom feinsten Alabaster überzogen; in der Mitte von der Decke herab haben sich Vorhänge von Tropfsteinen gebildet, von welchen die Rände gesäumt zu seyn scheinen. Wasserfälle von 30 bis 36 Fuß entladen sich auf der rechten Seite; auf dem Boden liegen unzählbare, kegelförmige, schwarzgraue Tropfsteine und ganz versteinerte Thiere […].“
Im Jahr 1834 wurde die Sophienhöhle als Schauhöhle eröffnet. Bei Führungen entzündete man zunächst vor den schönsten Tropfsteinformationen Magnesiumlicht. Zur Beleuchtung der Höhle dienten sogenannte Davy-Lampen, die von Humphry Davy erfunden worden waren. Später wurden Karbidlampen verwendet.
Knochenfunde
Professor Rudolph Wagner schilderte kurze Zeit nach der Entdeckung der Sophienhöhle im Jahre 1833 die Knochenfunde:
Im Jahre 1835 schrieb der Paläobotaniker Kaspar Sternberg über die Knochenlager in der Sophienhöhle:
Erste Vermessungen und weitere Grabungen
Die Höhlenteile, die sich hinter dem Ahornloch anschließen, hatten die Namen Klaussteinhöhle, Sophienhöhle und Kochshöhle, nach dem Entdecker. Die Bezeichnung Kochshöhle verschwand etwa 1840, der Name Klaussteinhöhle hielt sich neben Sophienhöhle bis etwa 1900. Theodor Rothbart veröffentlichte 1856 eine Mappe mit drei Lithografien, die die drei Hauptabteilungen der Sophienhöhle darstellen. 1902 wurde die Höhle von Major Adalbert Neischl mit einer Gesamtganglänge von 284 Metern erstmals vermessen. Dabei wurden einige, teilweise erst später zugänglich gemachte Seitengänge noch nicht berücksichtigt.
Bei erneuten Grabungen 1905 und 1906 wurde wiederum eine Vielzahl von Überresten von Höhlenbären, Höhlenlöwen und Hyänen gefunden. Die Gesamtlänge der Höhle einschließlich der Vorhöhle wurde 1966 durch die Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg mit 465 Metern neu ermittelt. 1971 wurden die bis dahin bei Führungen verwendeten Karbidlampen durch eine elektrische Beleuchtung ersetzt. In den 1970er Jahren wurde die bei den Erschließungsmaßnahmen 1833 verschlossene und abgeschnittene Höschhöhle wiederentdeckt. Im Jahre 1997 musste die gesamte Höhle erneut neu vermessen werden, da im Rahmen neuerer Forschungsarbeiten durch Bayreuther und Nürnberger Höhlenforscher weitere Entdeckungen gelangen. Die Neuvermessung ergab zusammen mit der Höschhöhle eine Länge von etwa 900 Metern. Im Spätsommer des Jahres 2000 wurde der Schauhöhlenbetrieb mit zuletzt 34.000 Besuchern im Jahr aufgrund von Sicherheitsmängeln eingestellt.
Gegenwart
Derzeitige Besitzer sind die Nürnberger Reiner Haas und Wolfgang Deß, die die Höhle im Dezember 2000 zusammen mit der Burg Rabenstein kauften. Im Rahmen einer Renovierung wurde 2002 das bis dahin öffentlich zugängliche Ahornloch vergittert.
2011 wurden in einer Nebenhöhle bei Siebaktionen über 8.000 Knochen gesichert, aus denen das Skelett eines Höhlenbären zusammengestellt und in der zweiten Vorhöhle in einer Vitrine aufgestellt wurde. Das fast vollständige Höhlenbärenskelett, dem die Höhlenbetreiber den Namen Benno gaben, gilt als das vollständigste weltweit.
2012 wurde die Beleuchtungsanlage der Höhle komplett mit LEDs erneuert.
Da LED-Lampen weniger UV-Licht erzeugen als herkömmliche Leuchtmittel, wird das Pflanzenwachstum in der Höhle reduziert. Die durch die alten Lampen entstandenen Moose und Farne wurden bis auf wenige Belegstellen entfernt. Beim Umbau wurde auch ein modernes Sicherheitssystem gegen Einbruch und Vandalismus eingebaut.
Beschreibung
Der Weg führt durch einen etwa drei Meter langen, sehr engen Gang auf eine Plattform im oberen Teil der ersten Abteilung der Höhle. Direkt vor dem Weg, der dort nach links führt, befindet sich das „Elefantenohr“, eine freihängende Sinterfahne von mehr als einem Meter Länge. Als Gegenstück hat sich am Boden ein Stalagmit gebildet, der „Bienenkorb“. Der Weg führt dann an der „Orientalischen Stadt“ vorbei und biegt in einem Halbkreis nach rechts ab. Die „Orientalische Stadt“ befindet sich links in halber Höhe in einer kleinen Höhlung und besteht aus zahlreichen Kerzenstalagmiten. Anschließend führt eine Treppenanlage mehr als zehn Meter nach unten, wo sich ein aus Knochen zusammengestellter Höhlenbär der kleinen Höhlenbaerenrasse Ursus spelaeus eremus befindet. Die Versinterungen an der rechten Wand erinnern an einen Wasserfall und gaben Anlass, der Formation ebendiesen Namen beizulegen. An der Decke befinden sich Sinterfahnen, vereinzelt auch Sinterröhrchen. Am Boden liegen mit Sintermasse überzogene ur- und frühgeschichtliche Knochen, besonders Rentiergeweihabwurfstangen und ein Mammutbecken die vom Cromagnon-Menschen des Gravettian wahrscheinlich im schamanischen Kontext in der Höhle an einer Stelle deponiert wurden. An mehreren Stellen haben sich auch Stalagmiten mit Tropftrichtern gebildet.
Ein Gitterrost führt in die zweite Abteilung. Links und rechts sind mehrere unterschiedlich große Sinterbecken zu sehen. Mehrere Sinterschalen mit Durchmessern von wenigen Millimetern befinden sich daneben. Diese Formationen bilden sich durch langsam abrinnendes Wasser auf den geneigten Sinterflächen. Links folgt der „Millionär“, der größte Tropfstein der Höhle. An der Basis hat dieser Stalagmit mehr als zwei Meter Durchmesser; er ist etwa 2,4 Meter hoch. Der Name leitet sich vom früher angenommenen Alter her. Dieses wurde aber viel zu hoch angesetzt. Gespeist wird der Tropfstein von einer großen Sinterfahne, dem Kronenleuchter. Im rechten hinteren Teil befindet sich ein weiterer Bodentropfstein, der allerdings etwas kleiner als der Millionär ist und „Eisberg“ oder „Kleiner Millionär“ genannt wird. An der Decke haben sich weitere, teilweise über einen Meter lange Sinterfahnen gebildet. Eine besonders auffällige wird „Adler“ genannt.
Der Weg geht am „Millionär“ vorbei stetig bergauf. Durch einen sehr engen Gang kommt man in die dritte Abteilung, den größten Hohlraum des Höhlenkomplexes. Hier fehlen Versinterungen fast völlig. Nur an einzelnen Stellen haben sich Tropfsteine gebildet, darunter ein großer kegelförmiger Stalagmit. An einer Wand hat herabfließendes Wasser eine große Sinterformation, „Kanzel mit Madonna“ genannt, geschaffen. In diesem Raum liegen fünf große Felsbrocken am Boden, die sich von der Decke gelöst haben und teilweise bereits übersintert sind. An der Decke ist ein Bereich mit großen eisernen Ankerstangen gesichert, damit es nicht zu weiteren Felsabbrüchen kommt. An der Decke verlaufen mehrere parallele Klüfte, die mit Sinter zugewachsen sind. Der Weg beschreibt in dieser Abteilung einen großen Kreis und führt zum Ausgang.
Einzelne Seitengänge sind nicht erschlossen. Auch werden Teile des alten Führungsweges nicht mehr begangen. Dort befinden sich ebenfalls Tropfsteinformationen, beispielsweise Blumenkohlsinter und das eingesinterte Beckenfragment eines Höhlenbären. Das Ahornloch und die Klaussteinhöhle wurden bei den verschiedenen Ausgrabungen verändert. Der Boden wurde bei den Sucharbeiten durchwühlt und später eingeebnet, Trennwände wurden beseitigt oder aufgeweitet, Schächte mit Abbaumaterial verfüllt und Tropfsteine entfernt. Die Höschhöhle ist verschlossen. Sie kann nur von geübten Höhlenkletterern begangen werden. Von der ersten Abteilung führen zwei Öffnungen zu einer kleinen Seitenhöhle, die zwar eingesehen, aber nicht begangen werden kann. Wegen der zahlreichen Knochenfunde des Ursus spelaeus (Höhlenbär) wird sie als Bärenhöhle bezeichnet. Unklar ist, wie die Höhlenbären dort hineinkamen, da der heutige Eingang erst im 19. Jahrhundert freigelegt wurde und die Zuordnung von Felsspalten zu einem damals für Bären passierbaren Zugang nicht möglich erscheint.
Das Areal ist vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (BLfD) als Bodendenkmal (D-4-6134-0059) ausgewiesen.
Flora und Fauna
Fauna
Die Sophienhöhle beherbergt trotz der widrigen Lebensbedingungen, ganzjährig neun Grad Celsius und Dunkelheit bis auf die Beleuchtung bei den Führungen, eine vielgestaltige Fauna. 35 verschiedene Tierarten konnten bisher nachgewiesen werden. Die Sophienhöhle zählt damit zu den faunenreichsten Höhlen der Fränkischen Alb. Es handelt sich um verschiedene Spinnen- und Insektenarten. Jedoch nicht alle Tiere, die man in der Höhle antrifft, sind echte Höhlentiere. Sogenannte Trogloxene, höhlenfremde Tiere, geraten zufällig in die Höhle und gehen bald darauf zugrunde.
In der Höhle sind subtroglophile Tiere, die sich nur in bestimmten Entwicklungsphasen oder Jahreszeiten in der Höhle aufhalten, mit einer gewissen Regelmäßigkeit anzutreffen. Zu dieser Gruppe gehört der Wegdornspanner Triphosa dubitata. Bereits im Spätsommer sucht dieser Nachtfalter die Sophienhöhle auf, um dort im eingangsnahen Bereich oft in großer Zahl zu überwintern. Einzelne Exemplare verbringen bis zu zehn Monate in der Höhle. Im Frühjahr verlassen die überlebenden Falter die Höhle, um ihre Eier abzulegen.
Zu den Eutroglophilen, den Höhlenfreunden, zählen die meisten der in der Sophienhöhle vorkommenden Tiere. Sie verbringen ihr gesamtes Leben in der Höhle. Sie können aber auch durchaus in der Außenwelt existieren. Zu dieser Gruppe gehören vor allem die zahlreichen Springschwänze. Diese ein bis zwei Millimeter langen Tierchen zählen zu den Urinsekten und leben vorwiegend auf der Oberfläche der zahlreichen Wasser- und Sinterbecken. Sie können mit ihrem gabelförmigen Sprungapparat Entfernungen zurücklegen, die ihre eigene Größe um mehr als das Zehnfache überschreiten. Eine weitere Tierart ist die Höhlenspinne Meta menardi. Diese lebt häufig an geschützten Orten der Höhlendecke. Dort schlüpfen oft aus zentimetergroßen kugelförmigen Eikokons mehr als hundert Jungspinnen. Ein Teil dieser Jungtiere verbleibt in der Höhle und wächst dort bis zur Geschlechtsreife heran, andere verlassen die Sophienhöhle, um in der Umgebung des Höhleneingangs neue Lebensräume zu finden. In der Sophienhöhle sind auch die Larven der Pilzmücke Speolepta leptogaster anzutreffen. Sie sind ausschließlich aus Höhlen bekannt und haben rückgebildete Augen, die bei den erwachsenen Insekten voll entwickelt sind. Die nur wenige Millimeter großen Larven leben auf einem zarten Gespinst aus Fäden, die mit Schleimtröpfchen perlenartig besetzt sind.
Die Sophienhöhle beherbergt als eine der wenigen Höhlen Frankens auch echte Höhlentiere. Diese werden Troglobionten bezeichnet und haben im Laufe der Evolution Eigenschaften entwickelt, die ihnen ein dauerhaftes Leben in der Höhle ermöglichen. In den fränkischen Höhlen konnten bisher zwölf dieser Tierarten nachgewiesen werden, zwei davon leben in der Sophienhöhle. Der Nahrungsbedarf dieser Tiere ist stark minimiert; sie verwerten fast alles, was auch nur einen sehr geringen Nährstoffgehalt hat. Die eine Art ist ein mikroskopisch kleiner Krebs der Gattung Bathynella. Bei der zweiten Art handelt es sich um den pigmentlosen Strudelwurm Phagocatta vitta. In den Höhlen der Fränkischen Alb konnte dieser bisher ausschließlich in der Sophienhöhle nachgewiesen werden.
Flora
In der Sophienhöhle hat sich seit der ersten Installierung von elektrischem Licht im Jahre 1971 eine sehr auffällige und vielgestaltige Pflanzengemeinschaft gebildet, die sogenannte Lampenflora. Diese ist in der Nähe der Beleuchtungsquellen am stärksten vertreten. Bei den relativ schwachen Lichtverhältnissen können vor allem Algen und Moose gedeihen. Wesentlich anspruchsvollere Blütenpflanzen haben bei diesen Lichtverhältnissen kaum eine Überlebenschance und treten nur selten in Form von blassen, kurzlebigen Keimlingen auf. Die Pflanzen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von ihren Artgenossen auf der Erdoberfläche, da sie am Rande des Existenzminimums leben. Bei den Moosen sind die Stängel meistens verlängert, locker beblättert und die Blattenden mit überlangen Spitzen versehen.
Die Lampenflora unterliegt in der Sophienhöhle gewissen Gesetzmäßigkeiten in ihrer Entwicklung. Lichtgenügsame Algen erweisen sich als Pionierpflanzen, die sich auch in größerer Entfernung von einer Lichtquelle ansiedeln. Zu diesen gesellen sich später verschiedene Moosarten. In der Sophienhöhle kommt vor allem das lichtgenügsame Eibenblättrige Spaltzahnmoos vor. Es bildet ausgedehnte Moosrasen.
Die heute anzutreffenden Pflanzen traten alle erst nach der Installation von elektrischem Licht auf. Um den Pflanzenbewuchs auf den Tropfsteinen so gering wie möglich zu halten, wird die Beleuchtung außerhalb der Führungen auf ein Minimum reduziert. Während der Renovierungsphase von 2000 bis 2002 wurde der Pflanzenbewuchs teilweise entfernt. Zuvor gab es schon Pilze, die mit ihrer lichtunabhängigen Lebensweise weit in den Tiefenbereich der Sophienhöhle vorgedrungen waren. Diese Pilze befanden sich vor allem auf dem früheren Holzgeländer des Führungsweges und anderen organischen Resten. In Höhlen können Pilze aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit aus ihrem organischen Nährboden herauswachsen und mit sogenannten Rhizomorphen auf die umliegenden anorganischen Oberflächen übergreifen. Diese zum Teil sehr großflächigen Rhizomorphe sind in der Sophienhöhle sogar auf Sinterfahnen im Deckenbereich der zweiten Abteilung zu finden. Das spezielle Höhlenklima führt zu verschiedenen Wuchsformen der Pilze, so dass ihr Erscheinungsbild sehr unterschiedlich ist. Die Pilze spielen als Nahrungsgrundlage für viele Höhlentiere eine wichtige Rolle.
Tourismus
Die Führungen in der Sophienhöhle gehen über gut begehbare Wege und Treppen, die alle ab dem Jahr 2000 erneuert wurden, in die einzelnen Abteilungen und an den Tropfsteinformationen vorbei. Der Führungsweg wird im Ahornloch, in der Klaussteinhöhle und in den ersten beiden Abteilungen der Sophienhöhle als Hin- und Rückweg benutzt. In der dritten Abteilung ist er als Rundweg angelegt. Eine Führung dauert etwa 40 Minuten. Dabei werden rund 220 Meter zurückgelegt. Führungen finden das ganze Jahr über statt. In den Sommermonaten finden in der Klaussteinhöhle Konzerte statt.
Seit der Wiedereröffnung 2002 wird in der Höhle eine Multimediashow (Sophie at night) angeboten. Sie findet samstags im Anschluss an die Führung am Abend statt. Dabei wird auch der Bereich vor der Höhle mit einem Lagerfeuer einbezogen. Im Ahornloch werden Naturfilme vorgeführt. Bei der Multimediashow kann sich jeder Besucher frei in der Höhle bewegen, um sich die verschiedenfarbig angestrahlten Tropfsteinformationen, deren Beleuchtung ständig wechselt, anzuschauen. Dazu läuft eine Tonshow.
In den Jahren 2008 bis 2012 lag die durchschnittliche Besucherzahl bei 29.002. Mit diesem Wert liegt die Schauhöhle im mittleren Bereich der Schauhöhlen in Deutschland. 2008 besuchten 31.649 Personen die Höhle (Höchstwert seit der Wiedereröffnung 2002). Im Jahr 2012 waren es 26.681 Besucher.
Literatur
Cajus Diedrich: Sophie’s Cave (Germany) - a Late Pleistocene Cave Bear Den. In: Famous Planet Earth Caves, Vol. 1. 2015. DOI:10.2174/97816810800001150101, https://benthambooks.com/book/9781681080000/
Cajus Diedrich: Ice Age geomorphological Ahorn Valley and Ailsbach River terrace evolution and its importance for the cave use possibilities by cave bears, top predators (hyenas, wolves and lions) and humans (Late Magdalénians) in the Frankonia Karst – case studies in the Sophie’s Cave near Kirchahorn, Bavaria. Quaternary Science Journal, 2013, 62 (2), 162–174. Open access: http://issuu.com/geozon/docs/e-38-g-quaternary-science-journal-vol-62-no-2
Hans Binder, Anke Luz, Hans Martin Luz: Schauhöhlen in Deutschland. Aegis Verlag, Ulm 1993, ISBN 3-87005-040-3, S. 74–75.
Friedrich Herrmann: Höhlen der Fränkischen und Hersbrucker Schweiz. 2., verb. Aufl. Verlag Hans Carl, Nürnberg 1991, ISBN 3-418-00356-7, S. 80–83.
Brigitte Kaulich: Die Sophienhöhle bei Rabenstein. In: Vom Land im Gebirg zur Fränkischen Schweiz. Eine Landschaft wird entdeckt. Verlag Palm und Enke, Erlangen 1992, ISBN 3-7896-0511-5, S. 255–263.
Stephan Kempe: Höhlen. Welt voller Geheimnisse. HB Verlags- und Vertriebs-Gesellschaft, Hamburg 1997, ISBN 3-616-06739-1, S. 100–101 (=Reihe: HB Bildatlas. Sonderausgabe).
Stephan Lang: Höhlen in Franken. Ein Wanderführer in die Unterwelt der Fränkischen Schweiz. Überarb. und erw. Aufl. Verlag Hans Carl, Nürnberg 2006, ISBN 978-3-418-00385-6, S. 61–64.
Hardy Schabdach: Die Sophienhöhle im Ailsbachtal. Wunderwelt unter Tage. (Hauptquelle für Flora und Fauna) Verlag Reinhold Lippert, Ebermannstadt 1998, ISBN 3-930125-02-1.
Hardy Schabdach: Unterirdische Welten. Höhlen der Fränkischen und Hersbrucker Schweiz. Verlag Reinhold Lippert, Ebermannstadt 2000, ISBN 3-930125-05-6, S. 47–49.
Helmut Seitz: Schaubergwerke, Höhlen und Kavernen in Bayern. Ein Ausflugsführer in die Unterwelt. Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim 1993, ISBN 3-475-52750-2, S. 47–49.
Siehe auch
Liste der Schauhöhlen in Deutschland
Weblinks
Weitere Informationen zur Höhle
Sophienhöhle bei Höhlen der Fränkischen Schweiz
Einzelnachweise und Anmerkungen
Höhle in Bayern
Schauhöhle
Fränkische Schweiz
Höhle in Europa
Bodendenkmal in Ahorntal
Höhle der Fränkischen Alb
Geotop im Landkreis Bayreuth
Geographie (Ahorntal)
Karsthöhle in Deutschland |
674892 | https://de.wikipedia.org/wiki/Jagdschloss%20Stern | Jagdschloss Stern | Das Jagdschloss Stern in Potsdam wurde von 1730 bis 1732 unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. im Stil eines schlichten holländischen Bürgerhauses errichtet. Den Auftrag zur Bauausführung bekam vermutlich der aus Holland stammende Grenadier und Zimmermeister Cornelius van den Bosch, die Bauaufsicht führte der Hauptmann beim Ingenieurcorps und Hofbaumeister Pierre de Gayette.
Das nur für Jagdaufenthalte konzipierte Gebäude stand bei seiner Erbauung im Mittelpunkt eines weitläufigen Geländes, das seit 1726 mit der Anlage eines sternförmigen Schneisensystems für Parforcejagden erschlossen wurde. Das für diese Hetzjagd umgestaltete Gebiet erhielt den Namen Parforceheide. Heute steht es zwischen der Autobahn 115 im Osten und einem von 1970 bis 1980 in die Parforceheide hineingebauten Neubauviertel im Westen, am Rand des Potsdamer Ortsteils Stern. Durch die Zerstörung des Stadtschlosses ist das Jagdschloss Stern heute das älteste erhaltene Schlossgebäude in Potsdam. Es wird mit ehrenamtlicher Unterstützung des Fördervereins Jagdschloss Stern-Parforceheide e.V. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg verwaltet und instand gehalten.
Geschichte
Entstehung von Jagdschlössern in der Mark Brandenburg
In der Mark Brandenburg begann Kurfürst Joachim II. Hector im 16. Jahrhundert mit der Errichtung der ersten Jagdschlösser in Grimnitz, Bötzow (heute Oranienburg), Grunewald und Köpenick rund um seine Residenzen Berlin und Cölln. In der Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm entstanden in dem wald- und wildreichen Gebiet um Berlin und Potsdam mit Groß Schönebeck und Glienicke weitere Schlösser für den Jagdaufenthalt.
Wie seine Vorgänger war auch der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ein passionierter Jäger, der schon in dem südöstlich von Berlin gelegenen Königs Wusterhausen dieser Leidenschaft nachging. Die Herrschaft und Burg Wusterhausen, die er bereits als Zehnjähriger im Jahr 1698 von seinem Vater Kurfürst Friedrich III. (ab 1701 König Friedrich I. in Preußen) geschenkt bekam, wurde nach seiner Thronbesteigung zum Jagdschloss ausgebaut.
Nach seinem Regierungsantritt im Februar 1713 bestimmte er Potsdam zu seiner Residenz. Für seine ausgiebigen Jagden ließ er in den Jahren 1725 bis 1729 eine „Bauernheide“ südöstlich vor den Toren der Stadt für die Ausrichtung von Parforcejagden erschließen – der seither so genannten Parforceheide. Für diese Hetzjagd zu Pferde, die Ende des 17. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend an den deutschen Höfen eine beliebte Form des Jagens war, eignete sich das weitläufige, ebene Gelände mit lichtem Wald und wenig Unterholz hervorragend. Neben schnellen Hunden und Pferden war für diese Jagdart ein übersichtliches Gelände erforderlich, um das Wild über längere Strecken verfolgen zu können, bis es erschöpft zusammenbrach. Zur besseren Orientierung der weit auseinanderreitenden Jagdgesellschaft wurde das Areal durch sechzehn sternförmig angelegte Schneisen (Gestelle) in Segmente aufgegliedert. Von den jeweiligen Abschnitten des circa einhundert Quadratkilometer großen Reviers fanden die Jäger über die gradlinig verlaufenden Schneisen, die zum Zentrum des Sterns führten, an ihren Sammelpunkt zurück.
Bau eines Gebäudeensembles und Nutzung
Etwas versetzt vom Mittelpunkt des Sterns, zwischen zwei Strahlen, ließ der Soldatenkönig von 1730 bis 1732 ein Jagdschloss im Stil eines schlichten holländischen Bürgerhauses errichten, das er nach dem Standort benannte. Vom folgenden Jahr an ließ er in Potsdam das Holländische Viertel aus einer Vielzahl gleichartiger Häuser errichten. Neben dem Ausbau seines Jagdschlosses in Königs Wusterhausen war das kleine Jagdschloss Stern der einzige Neubau, den der auf Sparsamkeit bedachte Soldatenkönig für sich errichten ließ. Wahrscheinlich zeitgleich mit dem Jagdschloss entstand das wenige Meter südwestlich gelegene Fachwerkhaus, in dem der Kastellan untergebracht war, der zudem Schankrechte erhielt. Noch bis 1992 wurde das Kastellanhaus gastronomisch genutzt. Zu den Wirtschaftsgebäuden gehörte ein 1733 vollendetes Stallgebäude im Nordosten, in dem mindestens 18 Pferde untergestellt werden konnten. Seit einem um 1930 durchgeführten Umbau dient es Wohnzwecken. Eine Scheune mit einem kleinen Stall, ein Waschhaus mit Abtritt und ein Brunnen im Zentrum des Sterns sind nicht mehr erhalten. Die baulichen Reste eines gemauerten Backofens konnten zwischen 2006 und 2009 freigelegt und 2011/2012 denkmalgerecht wieder aufgebaut werden.
Mit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen im Jahr 1740 fanden um Potsdam keine Parforcejagden mehr statt. In der Schrift „Antimachiavell“, in der Friedrich seine Gedanken über die Aufgaben und Ziele fürstlicher Machtausübung niederschrieb, lehnt er die Jagd als fürstlichen Zeitvertreib ab und bezeichnet das Weidwerk als eines jener sinnlichen Genüsse, die dem Leibe stark zu schaffen machen, dem Geiste aber nichts geben. Seine Nachfolger, Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III., hatten ebenfalls kein Interesse. 1791 gab es am Stern lediglich einige Treibjagden und während der napoleonischen Besetzung Preußens diente das Jagdschloss französischen Soldaten als Unterkunft. Erst unter Friedrich Wilhelm IV., der 1847 mit dem Jagdhaus Hubertusstock am Rand der Schorfheide nördlich von Berlin das letzte Jagdhaus der Hohenzollern in der Mark Brandenburg errichten ließ, fanden wieder Jagdveranstaltungen statt. Bereits ab 1828 kam es zu einer Neubelebung der Parforcejagd durch Prinz Carl, einem jüngeren Bruder des Königs, die bis in die 1890er Jahre ausgeübt wurde.
Nutzungsänderungen nach dem Ende der Monarchie
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie war das Gebäude zeitweise an Künstler vermietet. Wie die meisten Hohenzollernschlösser kam auch das Jagdschloss Stern 1927 in die Obhut der am 1. April desselben Jahres gegründeten preußischen „Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten“, seit 1995 „Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg“. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente es der militärischen Schutzeinheit für die britische Delegation während der Potsdamer Konferenz als Unterkunft und die gesamte Anlage von 1949 bis in die 1970er Jahre als Ferienlager für Schulkinder. Zur musealen Nutzung wurde das Jagdschloss nach umfangreichen Sanierungsarbeiten in den 1980er Jahren mit Einrichtungsgegenständen aus dem Schloss Königs Wusterhausen ausgestattet, die heute jedoch nicht mehr zum Bestand gehören. Wegen zu hoher Schadstoffbelastung durch Holzschutzmittel war das Gebäude seit 1996 über Jahre geschlossen und konnte nur mit Voranmeldung besichtigt werden. Nach den darauf erfolgten Sanierungsarbeiten ist es für die Öffentlichkeit seit 2007 wieder zugänglich.
Die Parforceheide verlor im Laufe der Zeit an Fläche. Von dem sechzehnstrahligen Schneisensystem sind heute nur noch acht Wege erhalten. Im Norden führten die Bauten der ersten preußischen Eisenbahnlinie Berlin-Potsdam und des Teltowkanals zu großen Gebietsverlusten. Im Westen der Bau der Wetzlarer Bahn und der AVUS mit ihrem späteren Ausbau zur Autobahn 115, die nahe am Jagdschloss vorbeiführt und im Süden durch die Nuthe-Schnellstraße. Ferner erfolgte die Errichtung der Potsdamer Wohngebiete Stern, Drewitz und Kirchsteigfeld auf ehemaligem Waldgebiet.
Jagdschloss Stern
Abneigung gegen den Prunk des Barocks
Die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts gilt kulturgeschichtlich als prunkvollste Epoche in der Jagdgeschichte an den europäischen Höfen. Sie war in der höfischen Gesellschaft Vergnügen und Zeitvertreib, aber auch Statussymbol und Selbstdarstellung. Zudem diente sie der Pflege dynastischer und diplomatischer Beziehungen und wurde mit der Ausbreitung des Absolutismus zur Prestigefrage der prunkliebenden Landesherrn. Selbst für den niederen Adel war das Recht zur Ausübung der Jagd – in einer nach Ständen gegliederten Gesellschaft – eine sichtbare Aufwertung, mit der er sich von den wohlhabenden, nichtadligen Schichten deutlicher abheben konnte. Neben der Jagdveranstaltung fanden oft glanzvolle Feste statt, sodass eigens für die Unterbringung der Gäste, beginnend schon im 16. Jahrhundert, Jagdschlösser gebaut oder vorhandene, günstig gelegene Gebäude nur für diese Zwecke ausgestattet wurden.
Friedrich Wilhelm I. empfand eine starke Abneigung gegen den luxuriösen Lebensstil der Fürstenhäuser. Ebenso lehnte er in der Architektur die überschwänglichen Schmuckformen des Barocks ab und bevorzugte die Klarheit, Übersichtlichkeit und Sauberkeit der Fassaden. Unter seiner Herrschaft dominierte in Brandenburg-Preußen vor allem der auf das Praktische ausgerichtete Baustil. So spiegelt das Jagdschloss Stern in seiner Einfachheit die sparsame und spartanische Lebensweise des Soldatenkönigs wider. Besonders im Vergleich mit der zur gleichen Zeit zu einem barocken Jagdschloss ausgebauten Moritzburg bei Dresden, von 1723 bis 1733, des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen Friedrich August I./II., wird klar, dass der preußische Monarch die Architektur nicht zur Repräsentation einsetzte, wie es an den europäischen Höfen allgemein üblich war.
Warum ein Jagdhaus im holländischen Stil?
In der Mark bestand bereits seit dem beginnenden Landesausbau durch Albrecht den Bären im 12. Jahrhundert eine starke Bindung nach Holland, die im 17. und 18. Jahrhundert zu neuer Blüte kam. Die Vermählung des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit Luise Henriette von Oranien-Nassau im Jahre 1646 förderte die Ansiedlung holländischer oder in Holland geschulter Fachleute für Landwirtschaft, Landschaftsgestaltung, Kanal- und Deichbau. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg vermerkt Theodor Fontane: „Kolonisten wurden ins Land gezogen, Häuser gebaut, Vorwerke angelegt und alle zur Landwirtschaft gehörigen Einzelheiten alsbald mit Emsigkeit betrieben“ und die Holländer seien „[…] die eigentlichen landwirtschaftlichen Lehrmeister für die Mark, speziell für das Havelland“ gewesen. Mit Nachdruck verfolgte auch Friedrich Wilhelm I. den schon unter seinem Großvater, dem Großen Kurfürsten betriebenen wirtschaftlichen Aufbau des Landes mit der Ansiedlung ausländischer Handwerker und dem gleichzeitigen Aufbau einer starken Armee. Beides resultierte aus den Folgen und Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, unter dem die Mark Brandenburg besonders stark gelitten hatte.
Nach einem ersten Ausbau der Residenz Potsdam zu einer Garnisonstadt unter dem Soldatenkönig, der so genannten „ersten barocken Stadterweiterung“ von 1722 bis 1725, erfolgte durch die Zunahme von Zivil- und Militärpersonen 1732 bis 1742 die „zweite barocke Stadterweiterung“. In diese Zeit, zwischen 1734 und 1742, fiel auch der Bau eines Holländischen Viertels. Diese Häuser wurden für Handwerker errichtet, die der Soldatenkönig 1732 auf seiner letzten Reise nach Holland für den Ausbau Potsdams angeworben hatte. Durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zum niederländischen Fürstenhaus und seinen Studienreisen in den Jahren 1700, 1704 und 1732 lernte Friedrich Wilhelm I. die ingenieurtechnischen Leistungen der Holländer kennen, die es verstanden, sumpfiges Gelände trockenzulegen. Die gleichen, für eine Bebauung schwierigen Bodenverhältnisse bestanden auch in Potsdam. Ebenso beeindruckte ihn die kostengünstige, schnelle Bauweise holländischer Ziegelhäuser.
Architektur
Überblick
Vorbildfunktion für die Potsdamer Holländerhäuser hatten wahrscheinlich die Ziegelhäuser des Amsterdamer Weberviertels Noortse Bosch aus dem 17. Jahrhundert und die schlichten Zaandamer Glockengiebel, oder auch die einfacheren Bürgerhäuser in Leiden und Haarlem. Da das Jagdschloss Stern in gleicher Architektur kurz vor Baubeginn der ersten Häuser des Holländischen Viertels fertiggestellt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass es dem stets ökonomisch denkenden Soldatenkönig als Musterhaus diente, um Bauzeit und Kosten für das größere Projekt besser einschätzen zu können. Der Name des Architekten ist nicht gesichert; möglicherweise wurde nach einem direkt aus Holland bezogenen Plan gebaut. Den Auftrag zur Bauausführung bekam wahrscheinlich der aus Schipluiden bei Delft, andere Quellen nennen Schipley bei Grafenhaag (Den Haag), stammende Grenadier und Zimmermeister Cornelius van den Bosch (1679–1741), der um 1720 nach Potsdam kam. Eine erste Erwähnung des Holländers findet sich mit der Datierung 1726 in einer Rangierrolle (Namensliste) als „Langer Kerl“ im Königlichen Regiment zu Fuß. Wie die Soldaten jener Zeit ging auch er nach dem täglichen Militärdienst einem zivilen Beruf nach und wird in den Bauakten zum Jagdschloss im Zusammenhang mit der Bestellung von Bauholz erwähnt. Die Bauaufsicht führte der französischstämmige Hauptmann beim Ingenieurcorps und Hofbaumeister Pierre de Gayette, wie seine Unterschrift unter Ziegelsteinlieferungen im August/September 1730 belegt.
Äußere Gestaltung
Das im Stil schlichten holländischen Bürgerhäusern nachempfundene Jagdschloss Stern ist ein eingeschossiges Gebäude mit Glockengiebel und Satteldach. Die auf einem rechteckigen Grundriss ruhenden Außenmauern sind aus rotem, unverputztem Backsteinmauerwerk. Auf Anordnung Friedrich Wilhelms I. wurden Ziegel mit einer einheitlichen Größe von circa 27 × 13 × 8 Zentimetern verwendet. Die quadratischen Viertelsteine an den Ecken der Giebel und die Mauerung in einer speziellen Zopfform an der Hoffassade weisen auf eine holländische Mauerweise hin. Die fünf hohen Schiebefenster in der dreiachsigen Vorderfront, die Eingangstür und jeweils zwei Schiebefenster in den Seitenwänden sind mit Sprossen und schlichten Zargen ausgeführt, wie sie ab 1690 in den besseren Häusern zuerst in England und dann in Holland modern geworden waren.
Die drei Fenster im oberen Bereich, deren Oberkante eine Linie zum Dachboden bildet, täuschen eine Zweigeschossigkeit vor. Die kleiner gehaltenen Schiebefenster mit Fensterladen, jeweils zwei an den Seitenwänden und fünf an der Rückseite, erhellen die Nebenräume. Eine Holztür in der Südwestwand und auf der Rückseite des Hauses sind Nebeneingänge, die in den Flur und das Adjutantenzimmer führen. Der einzige Bauschmuck ist ein Blindfenster mit Sternornament im Glockengiebel und ein Relief über der in der Mitte liegenden Fenstertür, das den Kopf der römischen Göttin Diana mit Jagdausrüstung zeigt. Die Schmuckelemente aus hellem Sandstein wurden nachträglich im 19. Jahrhundert angebracht.
Innenraumgestaltung
Wie die schlichte Außenarchitektur ist auch die Gestaltung des Innengebäudes im Sinne Friedrich Wilhelms I. bewusst puristisch gehalten, entsprechend der schlichten, bürgerlichen Wohnkultur der Holländer, die seiner Vorstellung von Übersichtlichkeit und Sauberkeit entsprach. Zum bescheidenen Raumprogramm gehören ein Saal, an den sich ein Flur und die Küche anschließen, sowie darauffolgend ein Adjutantenzimmer und ein Schlafraum.
Die gesamte Breite der Vorderfront und fast die Hälfte des Hauses nimmt der Saal ein. Er ist der größte Raum des Gebäudes und diente dem geselligen Beisammensein nach der Jagd. Die kuppelartige, in Felderungen gegliederte Decke ragt bis in den Dachbodenbereich hinein. Die Wände sind mit einer gelblichbraunen Holztäfelung verkleidet und der Fußboden mit Dielenbrettern belegt. Über einem offenen Kamin aus dunkelrotem Marmor an der Ostwand, gegenüber der Eingangstür, konnte der Saal beheizt werden. Zu dem wenigen Raumschmuck gehört ein mit goldener Ornamentik umrahmter Spiegel und fünf in die Wandfläche eingelassene Gemälde, die Friedrich Wilhelm I. in verschiedenen Jagdszenen zeigen. Die Bildwerke stammen vermutlich von dem Maler Georg Lisiewski. Auf die Nutzung des Gebäudes hinweisend, hängen an den Fensterpfeilern Jagdtrophäen. Die fünf aus Holz geschnitzten, vergoldeten Hirschköpfe mit echtem Geweih sind Abwurfstangen des Lieblingshirsches Friedrich Wilhelms I., genannt der große Hans, aus den Jahren 1732 bis 1736. Von der ursprünglichen, nicht mehr erhaltenen Möblierung ist nur wenig bekannt. In einer Inventarliste aus dem Jahr 1826 sind einige Stücke aufgeführt, die zur ersten Ausstattung des Saales gehört haben könnten:
Neben dem Kamin führt eine Tür in den Flur, der den Saal mit den Räumen in der hinteren Haushälfte verbindet. Die Wände sind weiß getüncht und der Fußboden wie in der Küche und dem Adjutantenzimmer mit rötlichbraunen, marmorähnlichen Kalksteinplatten ausgelegt, die im 18. Jahrhundert auch unter der Bezeichnung Schneidesteine oder Gothlandsteine bekannt waren und häufig als Schiffsballast verwendet wurden. Die manganfarbenen Fliesen der Scheuerleiste sind in den Räumen mit Korn- und Schachbrettblumen sowie stilisiertem Blattwerk ornamental verziert und stammen aus der Rotterdamer Manufaktur der ehemaligen Gilde der Fliesenbrenner. Neben den Zugängen zur Küche und dem Adjutantenzimmer führt eine weitere Tür in der Südwestwand aus dem Gebäude hinaus.
Die Küche auf der Nordostseite diente vor allem zum Wärmen und Anrichten der Speisen, die wohl im Kastellanhaus zubereitet wurden. Die Wände sind vom Boden bis zur Decke weiß gefliest, ebenso der Rauchfang über dem mit Ziegeln gemauerten Herd. Zur originalen Ausstattung gehören ein niedriger Einbauschrank mit Marmorplatte unter den Fenstern, auf dem die Speisen angerichtet werden konnten und ein daneben stehender Marmorspülstein mit Abfluss. Die Wasserpumpe mit Messingblase ist nicht mehr erhalten. In der Inventarliste von 1826 sind für die Küche weitere Stücke vermerkt: .
Im Zimmer auf der Südostseite des Hauses war der Adjutant untergebracht. Zudem war es der Vorraum und die einzige Möglichkeit, in das angrenzende Schlafzimmer des Königs zu gelangen. Durch eine Tür konnte das Gebäude auch von hier betreten oder verlassen werden. Im weiß getünchten Schlafzimmer dominiert eine grün gestrichene Einbauwand mit weiß umrahmter Felderung. In der Mitte ist ein Alkoven eingelassen. Hinter den verdeckten Türen beiderseits der Bettnische führt eine Treppe auf der rechten Seite zum Dachboden und auf der Linken in den Keller. Der Raum konnte durch einen schlichten, mit roten Ziegeln gemauerten Kamin beheizt werden. Wie im Saal ist der Fußboden mit Dielenbrettern ausgelegt.
Literatur
Theo M. Elsing: Das Holländische Viertel in Potsdam. Potsdam o. J.
Jan Feustel: Jagdschloß Stern in Potsdam. In: Die Mark Brandenburg. Auf Pirsch in der Mark. Jagd und Jagdschlösser. Heft 58, Marika Großer, Berlin 2005, ISBN 978-3-910134-27-0, S. 14–21
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil III, Havelland. 1. Auflage 1873, Nymphenburger, München-Frankfurt/M.-Berlin 1971, ISBN 3-485-00293-3
Julius Haeckel: Neues vom Jagdschloss Stern. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Band V, Heft 7, Potsdam 1912, S. 1–9
Peter Hutter: Die Jagdschlösser der Hohenzollern in der Mark Brandenburg. Staatliche Schlösser und Gärten Berlin (Hrsg.): 450 Jahre Jagdschloß Grunewald 1542–1992, Teil I. (Aufsätze). Berlin 1992, S. 125–141
Hans Pappenheim: Jagdgärten mit Sternschneisen im 18. Jahrhundert. Brandenburgische Jahrbücher, Nr. 14/15 (Die alten Gärten und ländlichen Parke in der Mark Brandenburg), Potsdam/Berlin 1939, S. 20–32
Adelheid Schendel: Jagdschloss Stern, Parforceheide. Edition Hentrich, Berlin 2004, ISBN 3-89468-277-9
Weblinks
Förderverein Jagdschloss Stern-Parforceheide e.V.
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
Einzelnachweise
Stern
Stern
Hohenzollern
Jagdstern
Baudenkmal in Potsdam
Erbaut in den 1730er Jahren
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
Stern |
694816 | https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar%20Voght | Caspar Voght | Caspar Voght (* 17. November 1752 in Hamburg; † 20. März 1839 ebenda), ab 2. Mai 1802 Caspar Reichsfreiherr von Voght (zeitgenössisch zumeist Baron Caspar von Voght), war ein deutscher Kaufmann, Hanseat und Sozialreformer.
Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner und Freund Georg Heinrich Sieveking führte er eines der größten Handelshäuser Hamburgs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auf zahlreichen Reisen durchquerte er ganz Europa. Zu seinen größten Leistungen zählt die Reform des hamburgischen Armen- und Gefängniswesens im Jahre 1788. Ab 1785 widmete er sich verstärkt landwirtschaftlichen und landschaftsgärtnerischen Projekten und baute in Flottbek vor den Toren Hamburgs ein landwirtschaftliches Mustergut auf.
Leben und Werk
Herkunft, Jugend und ‚Grand Tour‘ durch Europa
Caspar Voght war das erste von insgesamt drei Kindern des Hamburger Kaufmanns und späteren Senators Caspar Voght (der Ältere, * 1707 in Beverstedt bei Bremen;† 3. Februar 1781 in Hamburg) und der Hamburger Senatorentochter Elisabeth Jencquel (* 26. September 1723). Die Bremer Domprediger Johann Vogt und Wolbrand Vogt waren seine Onkel. Ein weiterer Onkel Henry (Heinrich) Vogt (1696–1758) wirkte als Kaufmann in London. Sein Vater war um 1721 als Lehrling in das Handelshaus Jürgen Jencquels eingetreten und hatte das auf den hamburgischen Portugalhandel spezialisierte Unternehmen ab 1732 für sechzehn Jahre in Lissabon vertreten. Nach seiner Rückkehr hatte Voghts Vater ein eigenes, auf Leinen- und Seidenhandel spezialisiertes Handelshaus in Hamburg gegründet und stieg später zum Senator der Hansestadt auf.
Im Alter von zwölf Jahren erkrankte Caspar Voght schwer an den Pocken und war fortan von auffälligen Pockennarben gezeichnet. Anders als sein Freund Georg Heinrich Sieveking, den er als Jugendlicher im Kontor seines Vaters kennenlernte, fühlte er sich zeit seines Lebens mehr zur Literatur, Politik und Wissenschaft hingezogen und konnte dem Beruf eines Kaufmanns nur wenig abgewinnen. Als ihn sein Vater im Alter von zwanzig Jahren zur Ausbildung nach Lissabon schicken wollte, nutzte er geschickt die Ängste seiner Mutter, die bei dem großen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 zwei ihrer Brüder verloren hatte, und ging 1772 stattdessen auf eine Bildungsreise durch ganz Europa ('Grand Tour'). Sein Weg führte ihn unter anderem über Amsterdam, London, Paris und Cádiz nach Madrid, wo er neue Handelskontakte für das Unternehmen seines Vaters knüpfte. Über Südfrankreich reiste er weiter in die Schweiz, traf dort Johann Caspar Lavater und Albrecht von Haller und machte in Ferney bei Genf die Bekanntschaft Voltaires. Über Turin, Mailand, Parma und Bologna gelangte er nach Rom, wo er Papst Pius VI. vorgestellt wurde. Nach Abstechern nach Pompeji, Neapel und einem kurzen Aufenthalt in Venedig reiste Voght nach Bergamo, wo er für das Geschäft seines Vaters Kontakte zu den dortigen Seidenfabrikanten herstellte. Über Wien, Dresden, Berlin und Potsdam kehrte er 1775 schließlich wieder in seine Heimatstadt Hamburg zurück.
Liebe zu der verheirateten Kaufmannsgattin Magdalena Pauli
Spätestens 1777 verliebte sich Voght in die Schwester seines engsten Freundes Piter Poel, Magdalena Pauli, geb. Poel (1757–1825). Sie erwiderte die Zuneigung zu dem gebildeten Hanseaten. 1801 ließ sie sich von dem nüchternen Kaufmann Adrian Wilhelm Pauli (1749–1815) scheiden, dessen Ehefrau sie seit dem 14. April 1776 gewesen war. Auch nach dessen Tod heiratete sie ihren leidenschaftlichen Liebhaber Voght nicht; es blieb bei einer freundschaftlichen Verbindung. Voght war als Verehrer Magdalena Paulis ein Nachfolger des hessisch-kasselischen Kammerjunkers Heinrich Julius von Lindau; Charlotte Louise Ernestine, geb. von Barckhaus genannt von Wiesenhütten (1756–1821), nachmals (seit 1784) Edle von Oetinger seit ihrer Verheiratung mit Eberhard Christoph Ritter und Edlem von Oetinger, wiederum war im Winter 1775/1776 als unerreichbare Geliebte Lindaus eine Nachfolgerin der nahezu gleichaltrigen Magdalena Poel kurz vor deren Verheiratung. Sie war eine Schwester des späteren hessen-darmstädtischen Staatsministers Carl Ludwig von Barckhaus genannt von Wiesenhütten und der Kunstmalerin Louise von Panhuys, geb. von Barckhaus genannt von Wiesenhütten. Außerdem war sie ein Vorbild für die literarische Figur „Fräulein von B.“ in Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers.
Handelstätigkeit und Aufbau des Musterguts in Flottbek
Beim Tode Caspar Voghts des Älteren im Jahre 1781 hieß es in Hamburg: „Sein Handlungshaus ist eines der ansehnlichsten unserer Stadt.“ Voght führte gemeinsam mit Georg Heinrich Sieveking das Geschäft des Vaters unter der Bezeichnung „Caspar Voght & Co.“ weiter, ab 1788 unter der Bezeichnung „Voght & Sieveking“. Gemeinsam nutzten sie die Unabhängigkeit der ehemaligen englischen Kolonien zum Aufbau von festen Geschäftsverbindungen mit Handelshäusern in den Häfen der nordamerikanischen Ostküste. Das auf den 29. März 1783 datierte offizielle Glückwunschschreiben des hamburgischen Senats an den Kongress von Philadelphia überbrachte Johann Abraham de Boor, ein Hamburger Bürger, der im Auftrag des Handelshauses „Caspar Voght & Co.“ nach Übersee gereist war.
Voghts Interesse galt jedoch mehr der Landwirtschaft als dem Kaufmannsberuf. Schon in seiner Jugend hatte er sich für den von einem französischen Landschaftsgärtner gestalteten Garten seines Vaters in Hamburg-Hamm begeistert. Als ihm in späteren Jahren bewusst wurde, dass sein Hang zur Landschaftsarchitektur und zum Gartenbau mehr als eine Liebhaberei war und ihn das Geschäftsleben immer mehr abzustoßen begann (kurz vor seinem Tode bekannte Voght in einem Brief: „Als der Handel meine Einbildungskraft nicht mehr beschäftigen konnte, ekelte er mich an“), überließ er die Leitung des Handelshauses größtenteils seinem Geschäftspartner Sieveking. Ab 1785 begann Voght mit dem Ankauf von Grundstücken in Klein Flottbek vor den Toren Altonas. Nach einer Reise nach England im Winter 1785/86, wo er sich mit der dortigen Landschaftsarchitektur und den für die damalige Zeit modernen Ackerbaumethoden vertraut gemacht hatte, erwarb er seinen Besitz für die damals beträchtliche Summe von 45 600 Mark, der aus heute noch im Stadtbild erkennbaren vier Teilen bestand: Süderpark (heutiger Jenischpark), Norderpark (heute u. a. Botanischer Garten), Osterpark (heute u. a. Golfplatz) und Westerpark (zunächst Baumschulgelände, heute wieder Park). Voght wurde bei der landschaftlichen Gestaltung seines Besitzes durch das Anwesen The Leasowes des englischen Dichters William Shenstone inspiriert. Er plante eine ausgedehnte Ideallandschaft, mit der er eine Verbindung von ästhetischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, von sozialer Verantwortung und landwirtschaftlicher Nutzung erreichen wollte. Zusammen mit dem schottischen Landschaftsgärtner James Booth entwarf er ein Mustergut in Form einer sog. ornamented farm, einen Landschaftsgarten mit landwirtschaftlicher Nutzung. Es entstand eine Parklandschaft mit zwanglos eingebetteten landwirtschaftlichen Nutzflächen, Gebäuden, Waldstücken und Baumgruppen. Mit dem Franzosen Joseph Ramée holte er einen weiteren Kunstgärtner von europäischem Rang nach Flottbek. 1787 führte Voght Kartoffeln, die bis dahin hauptsächlich aus den Niederlanden importiert worden waren, als Feldfrucht ein. 1797 unterstützte er seinen Verwalter Lukas Andreas Staudinger bei der Einrichtung eines „Landwirthschaftlichen Erziehungs-Instituts“ in Groß Flottbek, der ersten landwirtschaftlichen Fachschule im deutschsprachigen Raum. Prominentester Schüler dieser Einrichtung war Johann Heinrich von Thünen, der später auch mit Voght vor allem über Fragen der Bodenstatik (=Bodenfruchtbarkeit) korrespondierte.
Voght als Reformator des Armenwesens
Bereits 1770 war Voght mit dem Gefängniswesen in Kontakt gekommen, als er den englischen Gefängnisreformator John Howard im Auftrag und als Stellvertreter seines Vaters durch das Hamburger Zuchthaus geführt hatte. Seither hatte er ein großes Interesse an Fragen des Armen- und Gefängniswesens. Gemeinsam mit dem Leiter der Handelsakademie Johann Georg Büsch und dem Juristen Johann Arnold Günther initiierte Voght im Jahre 1788 die Errichtung einer „Allgemeinen Armenanstalt“ und reformierte damit das Hamburger Armenwesen. Grundlage dieser „Hamburger Armenreform“ war die Einteilung der Stadt in einzelne Pflegebezirke, deren Bewohner von rund 200 ehrenamtlichen Armenpflegern betreut wurden. Die Einrichtung garantierte die medizinische Versorgung der Armen, ihre Unterstützung während der Schwangerschaft und Entbindung sowie Unterricht und Arbeit für die Kinder der Armen. Im Gegensatz zu der bisher unter moralisch-sittlichen Aspekten betriebenen kirchlichen Armenpflege setzte die Reform bei den konkreten wirtschaftlichen Bedürfnissen der Betroffenen an. Die Kosten des Unternehmens wurden aus Kollekten in Kirchen und aus wöchentlich stattfindenden Armensammlungen aufgebracht. In der Folge sank die Zahl der Insassen des Hamburger Zuchthauses drastisch ab.
Voghts Erfolge bei der Bekämpfung der Armut wirkten weit über Hamburg hinaus. 1801 rief ihn Kaiser Franz II. nach Wien, um sich von Voghts Maßnahmen berichten und Vorschläge für eine Reform des Wiener Armenwesens unterbreiten zu lassen. Für seine Verdienste verlieh er Voght den Titel eines Reichsfreiherrn und erhob ihn damit in den Adelsstand. Während eines Aufenthaltes in Berlin im Winter 1802/03 verfasste Voght auf Bitten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Gutachten über das Berliner Armenwesen. Im Zuge eines mehrmonatigen Aufenthalts in Paris im Jahre 1807 erstellte Voght im Auftrag des französischen Innenministeriums Gutachten über den Zustand der Pariser Armen-, Waisen- und Entbindungshäuser und Gefängnisse. Darüber hinaus reformierte er das Armenwesen in Marseille und Lyon und schickte seine Reformkonzepte nach Lissabon und Porto. Noch im Alter von 86 Jahren gab er 1838, zum fünfzigjährigen Jubiläum der Hamburger Armenanstalt, eine Schrift mit dem Titel „Gesammeltes aus der Geschichte der Armenanstalt während ihrer 50jährigen Dauer“ heraus.
Die späten Jahre
Bereits im Jahr 1793 hatte Voght alle Geschäfte mit Ausnahme des Amerikahandels an seinen Partner Sieveking abgetreten. Die Handelskrise, die Hamburg 1799 erschütterte, traf auch sein Unternehmen schwer, so dass er sich in der Folge zur Auflösung des Handelshauses, die sich über mehrere Jahre hinzog, entschließen musste.
Während der Zeit der Kontinentalsperre unternahm er erneut eine mehrjährige Reise durch die Schweiz, Frankreich und Italien. Dabei lernte er in Paris Kaiser Napoleon und dessen erste Frau Josephine kennen. Nach seiner Rückkehr nach Flottbek lebte er hauptsächlich von den Einkünften aus seiner Landwirtschaft. Nach dem Verkauf des Musterguts an den Bankier und Senator Martin Johann Jenisch im Jahre 1828 lebte er in dessen Haus, später wohnte er bei der Witwe seines 1799 verstorbenen Geschäftspartners Georg Heinrich Sieveking. Dessen Sohn Karl Sieveking, der seinen 1829 erworbenen Landsitz Hammerhof in Hamm zu einem Mustergut nach Flottbeker Vorbild umgestalten wollte, beriet Voght hierbei ebenso wie bei der Gründung des Rauhen Hauses.
Am 26. Januar 1795 wurde er zum Mitglied (Fellow) der Royal Society of Edinburgh gewählt. Am 28. Juni 1809 wurde „Caspar Friherre von Voght til Flotbek Etatsraad“ der Dannebrogorden verliehen.
Am 20. März 1839 starb Caspar Voght hochbetagt im Alter von 86 Jahren. Er wurde auf dem Nienstedtener Friedhof in Hamburg beigesetzt. Seine Gruft befindet sich direkt am Friedhofseingang an der Elbchaussee.
Nachwirkung
Nach Caspar Voght wurden zwei Hamburger Straßen benannt: Die Baron-Voght-Straße in Klein Flottbek und die Caspar-Voght-Straße in Hamm. Ebenfalls in Hamm bestand die frühere Oberrealschule für Mädchen Caspar Voght (OCV), in deren von Fritz Schumacher errichtetem Gebäude sich heute die Ballettschule des Hamburg-Balletts befindet. In Rellingen wurde vor einigen Jahren eine Grund- und Gemeinschaftsschule nach ihm benannt. Im Jenisch-Haus fand von 6. April bis 23. November 2014 die Ausstellung Caspar Voght (1752–1839) – Weltbürger vor den Toren Hamburgs statt.
Bildnisse
Jean-Laurent Mosnier, Öl auf Leinwand, 129 × 99 cm (ungerahmt), 1801, Sammlung Altonaer Museum, (Kniestück. Der Dargestellte, in schwarzem Rock und Kniehosen, mit weißer Halsbinde, sitzt auf einem Stuhl mit geschnitztem Lorbeerblattornament, die linke Hand ruht auf dem Knie, der re. Arm liegt auf dem links neben ihm stehenden Tisch mit roter Decke. Im Hintergrund ein geraffter roter Vorhang und eine Reihe Bücher. Links Ausblick in einen Park).
Johann Joachim Faber, Lithographie, Bez.: „Lithog. Institut v. P. Suhr in Hamburg / J. Faber fec.“, Blatt 40,5 × 30,3 cm, (online, Portraitsammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg).
Johann Michael Speckter, Lithographie nach Friedrich Carl Gröger, 1820, (online, Portraitsammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg).
Quellen
Caspar Voght: Lebensgeschichte. Hrsg. von Charlotte Schoell-Glass. Christians, Hamburg 2001, ISBN 3-7672-1344-3. (Die Memoiren Voghts umfassen die Jahre von 1752 bis 1811, sind also Fragment geblieben)
Lebensgeschichte, Janssen, Hamburg, 1917, (online, SUB).
Möller-Tecke (Hrsg.): Caspar Voght und sein Hamburger Freundeskreis. Briefe aus einem tätigen Leben. Christians, Hamburg 1959/ 1964/ 1967. (Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. XV, 1 – 3).
Teil 1. Briefe aus den Jahren 1792 bis 1821 an Magdalena Pauli, geb. Poel. Bearbeitet von Kurt Detlev Möller. Aus seinem Nachlaß hrsg. von Annelise Tecke. Hamburg 1959.
Teil 2. Briefe aus den Jahren 1785 bis 1812 an Johanna Margaretha Sieveking, geb. Reimarus. Bearbeitet von Annelise Tecke. Hamburg 1964.
Teil 3. Reisejournal 1807/09. Bearbeitet von Annelise Tecke. Hamburg 1967.
Caspar Voght: Sammlung landwirthschaftlicher Schriften. T 1. Perthes, Hamburg, 1825, (online).
Caspar Voght: Flotbeck und dessen diesjährige Bestellung, mit Hinsicht auf die durch dieselbe beabsichtigten Erfahrungen: ein Wegweiser für die landwirthschaftlichen Besucher desselben mit angehängten Flotbecker Garten-Versuchen im Jahre 1821. Busch, Altona 1822.
Veröffentlichungen in: „Central-Administration der Schleswig-Holsteinischen Patriotischen Gesellschaft“ (Hrsg.): Landwirthschaftliche Hefte, u. a. im 2. Heft, 1821, 6. Heft, 1822 und 10. Heft, 1825
Literatur
Hans-Jörg Czech, Kerstin Petermann, Nicole Tiedemann-Bischop (Hrsg.): Caspar Voght (1752–1839) – Weltbürger vor den Toren Hamburgs. Imhof, Petersberg 2014, ISBN 978-3-7319-0053-5 [Ausstellungskatalog für eine Ausstellung der Stiftung Historische Museen Hamburg im Jenisch-Haus, einer Außenstelle des Altonaer Museums, 6. April bis 23. November 2014.]
Verena Fink (Hrsg.): Die Bibliothek des Caspar Voght (1752–1839). Imhof, Petersberg, 2014
Katrin Schmersahl: Voght, Caspar. In: Hamburgische Biografie. Bd. 6, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1025-4, S. 350–352.
Susanne Woelk: Der Fremde unter den Freunden. Biographische Studien zu Caspar von Voght. Weidmann, Hamburg 2000, ISBN 3-935100-08-6.
Angela Kulenkampff: Caspar Voght und Flottbek. Ein Beitrag zum Thema „Aufklärung und Empfindsamkeit.“ In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Hamburg, Band 78 (1992), S. 67–102, (online).
Alfred Aust: Mir ward ein schönes Los. Liebe und Freundschaft im Leben des Reichsfreiherrn Caspar von Voght. Christians, Hamburg 1972, ISBN 3-7672-0018-X, S. 11–38.
Gerhard Ahrens: Voght, Caspar, Reichsfreiherr von. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Band 2. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1971, ISBN 3-529-02642-5, S. 236–238.
Gerhard Ahrens: Caspar Voght und sein Mustergut Flottbek. Englische Landwirtschaft in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Christians, Hamburg 1969.
Kurt Detlev Möller: Caspar v. Voght, Bürger und Edelmann, 1752–1839. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Band 43 (1956), S. 166–193, (online).
Heinrich Sieveking: Caspar Voght, der Schöpfer des Jenisch-Parks, ein Vermittler zwischen deutscher und französischer Literatur. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Band 40 (1949), S. 89–123, (online).
Georg Herman Sieveking: Das Handlungshaus Voght und Sieveking. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Band 17 (1912), S. 54–128, (online).
Alfred Lichtwark (Hrsg.), Otto Rüdiger: Caspar von Voght. Ein Hamburgisches Lebensbild. Commeter, Hamburg 1901, .
Gustav Poel: Erinnerungen aus dem Leben des Freiherrn Caspar von Voght. In: Bilder aus vergangener Zeit. 1 Bd. Rauhes Haus, Hamburg 1884, S. 73 ff. ,
Heinrich Christoph Gottfried von Struve: Dem Andenken des Königl. dänischen Etatsraths und Ritters, Caspar Freiherrn von Voght, gewidmet von einem seiner Freunde. Perthes-Besser & Mauke, Hamburg 1839, ().
Heinrich Christian Philipp Kiesewetter: Praktisch ökonomische Bemerkungen auf einer Reise durch Hollstein, Schlesswig, Dithmarsen und einen Theil des Bremer und Hannöverschen Landes an der Elbe, Grau, Hof 1807, S. 27 ff.
Weblinks
Geschichte der Baumschulen in Schleswig-Holstein – Voghts 'ornamented farm' war ein entscheidender Impuls.
Caspar Voghts Werke in der Bibliotheca Augustana
Anmerkungen
Mann
Deutscher
Unternehmer (18. Jahrhundert)
Agrarwissenschaftler (18. Jahrhundert)
Sozialreformer
Unternehmer (Hamburg)
Mitglied der Royal Society of Edinburgh
Geboren 1752
Gestorben 1839
Hamburg-Hamm |
720405 | https://de.wikipedia.org/wiki/Daodejing | Daodejing | Das Daodejing () ist eine Sammlung von Spruchkapiteln, die der chinesischen Legende nach von einem Weisen namens Laozi stammt, der nach Niederschrift des Daodejing in westlicher Richtung verschwunden sei. Es beinhaltet eine humanistische Staatslehre, die die Befreiung von Gewalt und Armut und die dauerhafte Etablierung eines harmonischen Zusammenlebens und letztlich den Weltfrieden zum Ziele hat. Die Entstehungsgeschichte ist ungewiss und Gegenstand sinologischer Forschung. Ungeachtet weiterer Übersetzungen bedeutet Dao () Weg, Fluss, Prinzip und Sinn, und De () Tugend, Güte, Integrität und innere Stärke (Charakterstärke). Jing () bezeichnet ein kanonisches Werk, einen Leitfaden oder eine klassische Textsammlung. Die beiden namengebenden Bezeichnungen stehen für etwas nicht letztgültig Bestimmbares, auf dessen eigentliche Bedeutung das Buch hindeuten möchte. Aus diesem Grund werden sie auch oft unübersetzt belassen. Das Werk gilt als die Gründungsschrift des Daoismus. Obwohl dieser verschiedene Strömungen umfasst, die sich von den Lehren des Daodejing erheblich unterscheiden können, wird es von den Anhängern aller daoistischen Schulen als kanonischer, heiliger Text angesehen.
Das Buch
Schreibweisen
In der chinesischen Schrift existieren neben verschiedenen Rechtschreib- auch verschiedene Schriftsysteme. Außer diversen Schriftarten unterscheidet man heute allgemein schon im Kaiserreich benutzte Langzeichen, die nur noch in Hongkong, Macau und Taiwan amtlich sind, und in der Volksrepublik geschaffene Kurzzeichen, welche in Festlandchina, Singapur und Malaysia als offizieller Standard gelten. In älteren historischen Quellen wird das Daodejing in Langzeichen wiedergegeben, neuere Quellen geben es auch in Kurzzeichen wieder. Auch für die Umschrift der Zeichen in das lateinische Alphabet gibt es verschiedene Systeme; das für Hochchinesisch am weitaus häufigsten benutzte und inzwischen in allen Staaten mit chinesischer Amtssprache offizielle ist das Hanyu-Pinyin-System (meist kurz: Pinyin).
Quellen zur Tabelle: Anmerkung: „“ auch möglich als Ging
Sprachhistoriker des Sinitischen sind sich erstaunlich einig, dass es in der altchinesischen Sprache noch gar keine Töne (d. h. Toneme), sondern nur segmentale Phoneme (Konsonanten und Vokale) gab. Nach der StarLing-Datenbank von Sergei und George Starostin wurde 道德經 im vorklassischen Altchinesischen „lhūʔ tǝ̄k kēŋ“ ausgesprochen und im klassischen Altchinesischen „lhū́ tǝ̄k kēŋ“.
Urheberschaft
Lǎozǐ ist ein Ehrentitel und heißt sinngemäß der alte Meister und bezeichnet den vermeintlichen Autor des Daodejing, gelegentlich aber auch das Buch selbst. Außer dem Werk selbst liegen uns über die als Autor vorgestellte Person nur eine kurze Legende und einige Erwähnungen späterer Geschichtsschreiber (Sima Qian) sowie mehrere fiktive Gespräche (geschrieben von Schülern des Konfuzius und des Zhuangzi) vor. Dass es den „Beamten“ Li Er, Gelehrtenname Bo Yang (Graf Sonne), später Lao Dan (alter Lehrer), der mit dem Ehrennamen Laozi bezeichnet worden sei, wirklich gegeben hat, wird heute daher stark angezweifelt. „Und doch spricht uns aus den vorliegenden Aphorismen eine originale und unnachahmliche Persönlichkeit an, unseres Erachtens der beste Beweis für ihre Geschichtlichkeit.“ (R. Wilhelm) Dieser Behauptung von Richard Wilhelm muss alleine schon aus dem Grund widersprochen werden, als die einzelnen Kapitel des Daodejing erhebliche Unterschiede im Sprachstil aufweisen, so dass der Text sicherlich nicht aus einer Feder und auch nicht aus einer Lebenszeit eines einzelnen Menschen stammt. Da die chinesische Sprache allgemein nicht zwischen Singular und Plural unterscheidet, könnten mit der Bezeichnung Laozi auch einfach die alten Meister gemeint sein.
Der chinesischen Tradition zufolge soll Laozi zur Zeit der Frühlings- und Herbstannalen im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben. Die Zeit war von Unruhen und Kriegen geprägt und eine Blütezeit der chinesischen Philosophie, da viele Gelehrte sich Gedanken machten, wie wieder Frieden und Stabilität erreicht werden könnten.
Der Legende nach war Laozi ein kaiserlicher Archivar und Bibliothekar. Es wird etwa von Zhuangzi erzählt, dass Konfuzius ihn aufsuchte, um von ihm zu lernen. Um den Wirren der Zeit zu entfliehen, soll Laozi sich in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen haben. Der Grenzwächter des Bergpasses soll ihn jedoch aufgefordert haben, der Welt seine Weisheit nicht vorzuenthalten, woraufhin Laozi das Daodejing schrieb und dem Grenzwächter überreichte. Diese Geschichte wird heute ebenso wie die anderen Teile der Biographie des „alten Meisters“ von den meisten als Legende betrachtet.
Textgestalt
Zeit
Da die Autorschaft unklar ist, gehen die Meinungen der Forschung über die genaue Entstehungszeit des Daodejing sehr auseinander: Die Schätzungen reichten von 800 bis 200 vor unserer Zeitrechnung; nach heutigen Erkenntnissen (linguistisch, Zitierbelege etc.) ist der Text vermutlich um 400 v. Chr. entstanden. Zwar finden sich Zitate aus dem Daodejing in vielen anderen Überlieferungen dieses Zeitraums, es lässt sich aber nicht mit Sicherheit klären, wer wen zitiert hat. Das Daodejing enthält eine Handvoll expliziter Zitate, jedoch nicht die Namen der Urheber und auch keinerlei historische Bezüge. Allerdings erscheint die Zeitbestimmung des Textes wenig bedeutsam für die „zeitlose“ Lehre darin.
Form
Den Titel Daodejing bekam das Werk erst durch den Han-Kaiser Jing (157–141 v. Chr.). Auch die heutige Einteilung in 81 Abschnitte erhielt der Text erst im 3. Jahrhundert. Man vermutet, dass der Text die schriftliche Fassung einer älteren mündlichen Überlieferung ist und er weitere Überlieferungen aufgegriffen und integriert hat.
Die überlieferte Form des Textes ist nicht die einzige, die je existierte. In einem Grab in Mawangdui wurden 1973 zwei parallele Textfassungen (ca. 206 v. Chr. und 179 v. Chr.) gefunden, die inhaltlich erstaunlich wenig, zumeist nur grammatikalisch, vom tradierten Text abweichen. Die Fassung A () ist in einer Schriftform zwischen der Siegelschrift und Kanzleischrift verfasst, während die Fassung B () als Kanzleischrift niedergeschrieben wurde. Ähnliches gilt für den erst Anfang der 1990er Jahre entdeckten, sogenannten Guodian-Text (ca. 300–280 v. Chr.), der etwa ein Drittel des Textes (32 Kapitel ganz oder teilweise) auf ca. 100 Jahre an das Original heranführt. Beide Funde wurden im Westen primär von dem amerikanischen Sinologen Robert G. Henricks zeichenweise analysiert und mit dem tradierten Text vergleichend dargeboten. Eine in deutscher Sprache verfasste Arbeit gleichen Typs wurde von Ansgar Gerstner erstellt.
Merkmale
Das Daodejing beinhaltet nicht weniger als eine Kosmologie, zugleich eine Art Leitfaden zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung und auch einen politischen Leitfaden zur Haltung des Herrschers und der Entwicklung des Staates. Stil und Wortschatz sind typisch für das klassische Chinesisch. Die aufgrund der linguistischen Struktur des klassischen Chinesisch bereits vorhandene Informationsdichte wird durch die Form des Textes als ursprünglich zu ca. 80 % gereimtes Gedicht noch verstärkt. Es besteht eine extreme Kontextabhängigkeit zur Interpretation des Textes. Auch enthält der Text einige auf den ersten Blick rätselhafte Textstellen, die schwierig zu verstehen, inzwischen aber Gegenstand wissenschaftlicher Ergründungen sind.
Übersetzungen
Das Daodejing gilt als der meistübersetzte Text nach der Bibel – es gibt ca. 300 englische, über 100 deutsche und mindestens 300 weitere Übersetzungen (davon ca. 70 auf Spanisch, 60 auf Französisch, je 50 auf Italienisch und Niederländisch), mit einer immer noch rasch steigenden Anzahl sowohl guter wissenschaftlicher Arbeiten, als auch rein interpretierender Fassungen durch Amateure.
Der Umgang mit Übersetzungen dieses Textes ist problematisch: Schon im Chinesischen bereiten Überlieferungsschäden und die inhaltliche Vieldeutigkeit chinesischer Schriftzeichen den Interpreten Schwierigkeiten, weshalb mehrere hundert Kommentare zum Text entstanden. Durch die Übersetzung in eine andere Sprache verliert die Schrift nochmals an Klarheit und schließlich lässt es sich kaum vermeiden, dass der Übersetzer in dem Bestreben, einen lesbaren Text zu liefern, mit seiner Übersetzung zugleich nur eine von mehreren möglichen Deutungen vorlegt, oder aber in dem Bestreben, unterschiedliche Deutungsansätze in einen Ausdruck zu fassen, dann kaum mehr flüssig lesbare Wortschöpfungen entstehen; darum sind neuere Arbeiten mit Angaben zu der Arbeitsweise und der Erstellung der Übertragung ein wichtiger Anhaltspunkt für Leser und westliche Daoisten.
Die erste Übersetzung des Daodejing in eine westliche Sprache war die des Jesuiten Jean-François Noëlas um ca. 1720 ins Lateinische.
Der Inhalt
Dao und De
Der heutige Titel des Werks – „Das Buch vom Dao und vom De“ – verweist auf die beiden zentralen Begriffe der Weltanschauung Laozis. Es gibt verschiedene Übersetzungen dieser beiden Worte; relativ verbreitet (zum Beispiel bei Debon) sind „Weg“ und „Tugend“, die schon im 19. Jahrhundert Verwendung fanden. Richard Wilhelm hielt das moralisierende „Tugend“ für abwegig und sah weitreichende Übereinstimmung mit den Begriffen „Sinn“ und „Leben“, was ihm einige Kritik einbrachte. Die Bezeichnungen Dào und Dé werden in allen Richtungen chinesischer Philosophie verwendet, erhalten im Daodejing aber eine besondere Bedeutung, wo sie erstmals im Sinne einer höchsten oder tiefsten Wirklichkeit und eines umfassenden Prinzips gebraucht wurden. Das Daodejing nähert sich dem Dao nicht definitorisch, sondern grenzt es durch Verneinungen ein: Wenn es schon nicht möglich ist, positiv anzugeben, was es ist, so kann man doch aussagen, was es nicht ist. Als Ursprung, durch Wandel gestaltende Urkraft und immanenter Zusammenhang allen Seins durchzieht das Dao alle Erscheinungen der Welt, es durchdringt als sich durch die tiefe Einsicht in die Erscheinungen erschließendes Prinzip alles, was es gibt und was geschieht. Dadurch, dass es anders als partielle Gedanken und Vorstellungen allem Sein zugrunde liegt, ist es immerwährend. Dies veranschaulicht das Daodejing anhand von Gleichnissen.(1, 4, 8, 9, 14, 15, 16, 18, 21, 23, 25, 32, 34, 41, 53, 77)
Der Mensch vermag sich mit dem Dao in der Stille und Selbstbesinnung zu verbinden. Dann offenbaren sich ihm alle Erscheinungen in ihrem wahren, unverfälschten Wesen.
Der Ursprung des Lebens wird bei Laozi als weiblich oder mütterlich umschrieben. Der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler vermutet, dass Laozi aus einem mutterrechtlichen Kulturgebiet stammte.
Indem ein Mensch sein Leben nach dem Dao ausrichtet, erhält er sein De. Das De geht in der Sprache des klassischen Chinesisch ursprünglich wahrscheinlich auf Vorstellungen einer Kraft zurück, wie sie im China der Shang-Dynastie mit der Gestalt der Schamanen assoziiert war, die eine magische Kraft besaßen, die mit der Vorstellung des Qi (氣 qì, Ch'i) verbunden ist. Der erste Teil des Schriftzeichens 德 dé, 彳 chì mit der ursprünglichen Bedeutung „Wegkreuzung“, deutet darauf hin, dass es sich auf die Art und Weise bezieht, wie man auf Menschen und Dinge zugeht, welchen „Weg“ man nimmt. 直 zhí bedeutet „auf geradem Wege“; es kommen auch die Augen in diesem Zeichen vor, sich also nach dem richtigen Weg zu orientieren. Das ausführende Organ ist das Herz 心 xīn, was alle Funktionen der Geist-Seele (Verstand, Bewusstsein, Wahrnehmung, Empfindung) umfasst. Das alte Wörterbuch Shuowen Jiezi erklärt die Bedeutung so: „Im Äußeren den (anderen) Menschen erreichen, im Inneren das eigene Selbst erreichen“. Gemeint ist also der angemessene, aufrichtige, gerade, direkte Weg, zum eigenen Herzen und dem anderer, die Fähigkeit, sich selbst und anderen begegnen zu können und eine echte Berührung zu ermöglichen.
Der Weise
Ein Gutteil des Daodejing befasst sich mit der Figur des Weisen, Heiligen (Shengren, ) oder Berufenen, der die Berücksichtigung des Dao in seinem Wirken zur Meisterschaft gebracht hat. Zahlreiche Kapitel enden damit, welche Lehren er aus den gemachten Beobachtungen ziehe.(2, 7, 22, 49, 58, 64) Natürlich möge sich gerade ein Regierungsoberhaupt an diesem Vorbild orientieren, da seine Entscheidungen die Geschicke Vieler beeinflussen.
Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Zurückstellen seines Selbst bis hin zur Selbstentäußerung. Gerade, dass er nichts Eigenes wolle, bedinge die Vollendung seines Eigenen.(7) Er beanspruche seine Erzeugnisse und Werke nicht für sich. Vielmehr ziehe er sich anschließend zurück (weshalb er nicht verlassen bleibe).(2) Eben das Nicht-Verharren bei dem vollbrachten Werk sei das Dao des Himmels, womit die positive Wirksamkeit dieser Vorgehensweise noch unterstrichen ist.(9) Diese stelle sich ganz von selbst ein, ohne Streiten, ohne Reden, ohne Winken.(73) Der Weise verweile im Wirken ohne Handeln (Wu Wei). Dessen Wert liege in der Belehrung ohne Worte, die besonders schwer zu erreichen sei.(43) Sie wird nicht weiter erläutert, man muss also seine eigene Vorstellungskraft benutzen, um diesen Ausdruck mit Bedeutung zu versehen.
Wu Wei
Quelle: Siehe Unten
Eine Grundlage, die sich aus der Kenntnis um das Dao ergibt, ist das Nicht-Handeln (Wu Wei). Dieses Nicht-Eingreifen in allen Lebensbereichen erscheint dem westlichen Leser zunächst utopisch und weltfremd. Es beruht auf der Einsicht, dass das Dao, welches aller Dinge Ursprung und Ziel ist, von selbst zum Ausgleich aller Kräfte und damit zur optimalen Lösung drängt. Tun ist für Laozi ein (absichtliches) Abweichen vom natürlichen Gleichgewicht durch menschliche Maßlosigkeit. Jede Abweichung hat darum eine (absichtslose) Gegenbewegung zur Folge, die das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen sucht.
Wessen Regierung still und unaufdringlich ist, dessen Volk ist aufrichtig und ehrlich. Wessen Regierung scharfsinnig und stramm ist, dessen Volk ist hinterlistig und unzuverlässig. Das Unglück ist’s, worauf das Glück beruht, das Glück ist es, worauf das Unglück lauert. Wer erkennt aber, dass es das Höchste ist, wenn nicht geordnet wird? Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunderlichkeiten, und das Gute verkehrt sich in Aberglaube. Und die Tage der Verblendung des Volkes dauern wahrlich lange.(58)
Indem der Mensch tut, was spontan den natürlichen Gegebenheiten entspricht, greift er nicht in das Wirken des Dao ein und wählt damit den segensreichen Weg. Ein Mensch, so Laozi, der von gewolltem Tun ablässt, wird nachgiebig und weich. Er stellt sich an die unterste Stelle und erlangt dadurch den ersten Platz. Weil er weich und biegsam ist wie ein junger Baum, überlebt er die Stürme der Zeit. Weil er nicht streitet, kann niemand mit ihm streiten.(66) Auf diesem Wege lebt ein Mensch in Übereinstimmung mit dem Ursprung des Lebens. Doch das Leben schließt auch den Tod in sich ein. Und doch heißt es bei Laozi, wer gut das Leben zu führen weiß habe keine sterbliche Stelle.(50)
Des Wassers Güte
Das Daodejing erkennt im Wasser Eigenschaften des Dao wieder. Es gebe nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Doch dem Harten setze es unvergleichlich zu.(78) Das Weiche und Schwache siege über das Harte und Starke.(36) Ein neugeborenes Lebewesen sei weich und schwach, doch wenn es sterbe, sei es hart und stark.(76) Das Starke und Große sei unten. So auch das Wasser: Weil es sich gut unten halten könne, ergössen sich Bergbäche und Talwasser in Ströme und Meere. So verhalte sich auch das Dao zur Welt.(66, 32) Das Dao sei immer strömend,(4) ja überströmend,(34) und verleihe den stets aufstrebenden Wesen Harmonie.(42) Höchste Güte sei wie das Wasser: Es nütze allen Wesen ohne Streit.(8) Auch das Dao verweigere sich ihnen nicht;(34) auch der Weise nicht.(2)
Moral ist Dürftigkeit
Ein Mensch des Dao lässt sowohl von persönlichen Wünschen und Begierden, als auch von gesellschaftlich anerkannten Zielen und Regeln ab. Insofern versucht er auch nicht mehr, moralisch gut zu sein. Moral ist bei Laozi bereits die Endstufe des Verfalls der Motive: Ist der SINN [Dao] verloren, dann das LEBEN [De]. … dann die Liebe. … die Gerechtigkeit. … die Sitte. Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Anfang.(38) Erst wenn das Dao verloren sei, erfänden die Menschen Sitten und Gebote, was sie noch weiter vom natürlichen Tun entferne. Die Regierung soll dem nicht Vorschub leisten: Tut ab die Sittlichkeit, werft weg die Pflicht, so wird das Volk zurückkehren zu Kindespflicht und Liebe.(19)
Hiermit steht Laozi in starkem Gegensatz zu der einflussreichen Sittenlehre des Konfutse, der Sitte und Gesetz als Ausformungen der letzten Wahrheit hochhielt und pflegte. Desgleichen spricht Konfutse davon, bei der Regierungskunst seien zunächst die „Namen“ (Worte) richtigzustellen, von denen Laozi wiederum sagt, sie seien nicht zu entbehren, um zu überschauen alle Dinge,(21) aber sie träfen nicht deren ewiges Wesen.(1) Er empfiehlt den Verzicht: Macht selten die Worte, dann geht alles von selbst.(23) Der SINN als Ewiger ist namenlose Einfalt.(32) Aber viele Worte erschöpfen sich daran. Besser ist es, das Innere zu bewahren.(5)
Menschenliebe
Das Daodejing fordert aber nicht nur das Nicht-Eingreifen, sondern auch das Eintreten für den Mitmenschen, die Güte und Nachsicht, ähnlich der christlichen Nächstenliebe und Feindesliebe. Dazu das Kapitel 49 (in der Übersetzung von Viktor Kalinke):
„Herz und Geist des Weisen sind nicht dauernd gleich
Herz und Geist des Volkes erhebt er zu seinem
Dem Guten begegne ich gut
dem Üblen ebenfalls gut
Tugend ist Güte
Dem Aufrichtigen begegne ich aufrichtig
dem Unaufrichtigen ebenfalls aufrichtig
Tugend ist Aufrichtigkeit
Regiert der Weise unterm Himmel:
zurückhaltend hält er zurück
greift ein, sich Herz und Geist nach
mit allen unterm Himmel zu einigen auf Einfaches
Im Volk strengen alle ihre Ohren und Augen an
Der Weise begegnet ihnen wie Kindern“
Regierung
Beinahe die Hälfte der 81 Kapitel des Daodejing beziehen sich in irgendeiner Form explizit auf das Volk, die Folgen verschiedener Weisen des Regierens und das Verhältnis zum Militär. Es folgt daher eine Zusammenstellung von zentralen politischen Positionen, ohne die sie stützenden Argumente im Einzelnen zu erläutern, und Einsichten und Empfehlungen für den potenziellen Herrscher (oder die Herrscherin, König, Regierungschef …), der sich eben derartige Informationen von diesem Buch erhoffen mag.
Herrschaftsweisen
Tüchtige nicht bevorzugen, schwierig zu erhaltende Güter nicht wertschätzen, keine Begehrlichkeiten wecken, und das Volk streite (wetteifere), stehle und rebelliere nicht. Eine weise Regierung stärke Leib und Vitalität des Volkes, welches aber, ganz im Sinne des Wu Wei, ohne Kenntnis und ohne Wünsche bleibe, zur Schwächung des Willens und der Begierden.3 Das Daodejing lehnt Aufklärung und Klugheit ab. Durch Klugheit den Staat ordnen ist des Staates Raub.65 Die Handlungsweise der Obersten (太上 tài shàng) sei kaum bekannt. Vertrauen gegen Vertrauen. In äußerster Verschwiegenheit würden Werke vollbracht, und niemand sehe darin irgendeine Fremdeinwirkung.
Mindere Herrschaftsweisen riefen dagegen Nähe und Ruhm, Furcht oder gar Verachtung hervor.17 Und mit dem Niedergang der harmonischen Verhältnisse würden eigentlich selbstverständlich scheinende Dinge plötzlich wichtig, um damit der großen Falschheit, uneinigen Verwandten und rebellierendem Unwesen zu begegnen.18 Umgekehrt habe das Volk hundertfachen Nutzen bei Aufgabe aller Paradigmen, wie Weisheit, Klugheit, Wohlwollen, Rechtschaffenheit, Geschicklichkeit und Nutzen. Doch
bewirkt, etwas Verbindendes zu haben.
Seht die Einfachheit, umfasst die Schlichtheit (樸 pǔ)
des geringen Eigeninteresses, der wenigen Wünsche.19
Schlichtheit und dem Volk sich unterordnen
Je mehr Verbote, Werkzeuggebrauch, Kunstfertigkeiten, Richtlinien und Verordnungen, desto ärmer sei das Volk, und in Staat und Heimat wuchert das Unwesen. Die Stille lieben, nichts unternehmen, keine Wünsche haben, und das Volk entwickle sich von selbst, richte sich auf, werde reich und dennoch schlicht.57 Ganz unaufdringlich solle man regieren, nicht seine Ordnung aufzwingen, sonst verkehrten die Ordnung und das Gute sich in ihr Gegenteil, und die Tage der Menschen Verblendung werden erst recht fortgesetzt.58 Des Namenlosen Schlichtheit bewirke Wunschlosigkeit, und die Welt würde sich selbst beruhigen.37 Ein großer Staat sei äußerst behutsam zu leiten, wie man kleine Fische brät, um die Toten nicht zu beunruhigen und den Lebenden nicht zu schaden.60 Ein großer Staat, eine Regionalmacht, sollte sich unten halten, um die Menschen vereint großzuziehen.61
Der Weise ordne sich unter das Volk, und die Welt werde es nicht müde, ihn mit Freude zu unterstützen.66
Verteilungsfrage
Man bilde sich nur nichts ein: In prächtigen Palästen Kostbarkeiten im Überfluss horten, üppig leben und Waffen tragen, aber die Felder sind verwahrlost und die Getreidespeicher leer – das heißt Diebstahl (盜 dào), nicht Dao!53 Das Volk solle nicht in Armut und Enge leben müssen. Es wird eindringlich vor Rebellion gewarnt.72 Das Volk hungert, sei schwierig zu ordnen und sterbe leichtfertig, weil seine Oberen der Steuern Fülle verzehren (Umverteilung nach oben) und übertrieben ehrgeizig und verschwenderisch seien.75 Des Menschen Weg vermindere, was nicht genügt, um es dem darzubringen, das Überfluss hat. Wer aber vermag auszugleichen in der Welt? Nur, wer den Weg hat.77
Konflikte und Militär
Der Gebieter der Streitkräfte dürfe keinesfalls um seiner selbst willen die Welt leichtnehmen oder die Ruhe verlieren. Leichtfertigkeit, dann verliert man die Basis. Erregung, dann verliert man die Souveränität.26 Ein Helfer des Weges zwingt nicht durch Waffen die Welt. Deren Angelegenheiten belieben, zurückzukehren. Gesucht ist eine friedliche Konfliktlösung, fern von Zwang und den Gräueln des Krieges.30 Schwerter zu Pflugscharen entspreche dem Dao. Kein Verhängnis größer, als Genügen nicht zu kennen.46 Gegenüber Feinden wird eine militärische Deeskalations-Strategie empfohlen. Die Schwermütigen siegen, wohlgemerkt.69 Selbstjustiz sei eine gefährliche Anmaßung.74 Versöhne man große Feindseligkeit, wie bereinige man auch noch das Übrige? Wer Wirkkraft habe, halte die Verträge ein und verlangt doch nichts von den Menschen.79
Sparsamkeit, Weichheit und Gesellschaftsvision
Ohne innere Einheit müsste ein Jegliches zugrunde gehen. Das Geringe sei die Grundlage noch des Höchsten, gerade Königen sei das bewusst.39 Kein Mittel sei besser, als Sparsamkeit, dadurch frühes Vorsorgen und Sammeln der Kräfte, dann ist nichts, das nicht gelänge, und die Menschen und ihr Staat mögen lange bestehen.59 Der Herrscher sei Schutzmacht aller Menschen, auch der „Unguten“.62 Fehlentwicklungen begegne man mit viel Geduld, wissend, dass sie ihren Zenit überschreiten werden. Weich und Schwach überwinden Hart und Stark. Fisch kann nicht aus der Tiefe entrinnen. Die Instrumente des Staates könne man daher nicht den Menschen zeigen.36 Des Weichen und Schwachen Überwindung des Harten und Starken, niemand kenne das nicht, niemand vermöge, es anzuwenden. Ein Weiser habe einmal gesagt: Wer des Staates Unglück auf sich nimmt, dies ist der Welt König.78 Kleine Staaten mögen nur weniges Volk haben. Doch niemand entfalte Rüstung, Wissen und Technik. Süß sei [der Menschen] Speise, schön ihre Kleidung, friedlich ihre Wohnung, fröhlich ihre Sitten. Bis ins höchste Alter möge niemand in die Ferne reisen.80
Das Daodejing und der Daoismus
Die Religion, die heute als Daoismus bekannt ist und Laozi als Gott verehrt (siehe Drei Reine), ist keine direkte Umsetzung des Daodejing, obgleich sie mit diesem Berührungspunkte hat und den Text als mystische Anweisung zur Erlangung des Dao versteht. Sie rührt jedoch auch aus den alten schamanistischen religiösen Traditionen (siehe Fangshi) Chinas und dem Bereich der chinesischen Naturphilosophie her, deren Weisheiten und Vokabular wahrscheinlich auch im Daodejing zitiert werden.
In der Lesart einer Staats- und Gesellschaftslehre wurde der Text als Anleitung für den Heiligen oder Weisen verstanden, womit man den Herrscher meinte, der durch seine Rückbesinnung auf den Weg und die Ausstrahlungskraft seiner Tugend zum Wohl der Welt beiträgt.
Des Weiteren wurde durch chinesische Kommentatoren wie Heshang Gong, Xiang Er und Jiejie um 200 bis 400 n. Chr. systematisch eine Sicht formuliert, die den Text als mystische Lehre zur Erlangung von Weisheit, Zauberkräften und Unsterblichkeit auffasst, und eng verbunden ist mit den alchemistischen Versuchen, ein Elixier der Unsterblichkeit zu finden.
Legende von der Entstehung des Daodejing
Berühmt ist Bertolt Brechts Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, das mit den folgenden Worten beginnt:
Als er Siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete die Schuh.
Es heißt dann weiter, dass Laozi von einem Grenzposten aufgehalten wurde, der ihm befahl, seine Lehre niederzuschreiben. Nach sechs Tagen war der Autor damit fertig. Brechts Gedicht endet mit den Worten:
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
Literatur
Laotse: Tao Te-King. übers. u. hrsg. von Richard Wilhelm. Eugen Diederich, Leipzig 1910, Marix, Wiesbaden 2004. ISBN 3-937715-07-X
Jörn Jacobs: Textstudium des Laozi, Daodejing. Frankfurt Main 2001, ISBN 3-631-37254-X (Referenzausgabe mit Anmerkungen sowie Anhängen für die praktische Arbeit)
Viktor Kalinke (Hrsg.): Studien zu Laozi, Daodejing. Deutsch-chinesische Ausgabe des Daodejing in 3 Bänden. Leipziger Literaturverlag, Leipzig 1999, ISBN 3-934015-00-X (Band 1), ISBN 3-934015-01-8 (Band 2), ISBN 978-3-86660-115-4 (Band 3)
Laotse: Tao Te King, Nach den Seidentexten von Mawangdui. Übers. u. hrsg. von Hans-Georg Möller. Fischer, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-596-12135-3
Gellért Béky: Die Welt des Tao. Alber, Freiburg / München 1972, ISBN 3-495-47257-6
Ansgar Gerstner: Das Buch Laozi: Übersetzungen mehrerer chinesischer Ausgaben mit Kommentaren. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008, ISBN 3-639-04917-9
Hilmar Klaus: Das Tao der Weisheit. Laozi – Daodejing. Wortgetreu-sinngemäß-poetisch. Hochschulverlag, Aachen 2008, ISBN 978-3-8107-0041-4
Rainald Simon: Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung. Neuübersetzung. Reclam, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-15-010718-8
Weblinks
kommentierte Übersicht vieler verschiedener deutscher Ausgaben des Tao Te King
gemeinfreies Hörbuch Daodejing von Laozi bei LibriVox
Deutungsvarianten im 1. Kapitel des Daodejing (PDF; 348 kB)
Die wahre Geschichte über Laotse und das Tao Te King
Chinese Text Project: Daodejing (englisch)
Hilmar Alquiros: Lǎozǐ Dàodéjīng verbatim + analogous + poetic; Chinese + English + German
Hilmar Alquiros: timetable
Hilmar Alquiros: Selected Sources
Einzelnachweise
Religiöse Literatur
Literatur (Chinesisch)
Philosophisches Werk
Daoistische Literatur
Heilige Schriften
Mystik |
781782 | https://de.wikipedia.org/wiki/Einschrittverfahren | Einschrittverfahren | Einschrittverfahren sind in der numerischen Mathematik neben den Mehrschrittverfahren eine große Gruppe von Rechenverfahren zur Lösung von Anfangswertproblemen. Diese Aufgabenstellung, bei der eine gewöhnliche Differentialgleichung zusammen mit einer Startbedingung gegeben ist, spielt in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften eine zentrale Rolle und gewinnt beispielsweise auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften immer mehr an Bedeutung. Anfangswertprobleme werden verwendet, um dynamische Vorgänge zu analysieren, zu simulieren oder vorherzusagen.
Die namensgebende Grundidee der Einschrittverfahren ist, dass sie ausgehend von dem gegebenen Anfangspunkt Schritt für Schritt entlang der gesuchten Lösung Näherungspunkte berechnen. Dabei verwenden sie jeweils nur die zuletzt bestimmte Näherung für den nächsten Schritt, im Gegensatz zu den Mehrschrittverfahren, die auch weiter zurückliegende Punkte in die Rechnung miteinbeziehen. Die Einschrittverfahren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: in die expliziten Verfahren, die die neue Näherung direkt aus der alten berechnen, und in die impliziten Verfahren, bei denen dazu eine Gleichung gelöst werden muss. Letztere eignen sich auch für sogenannte steife Anfangswertprobleme.
Das einfachste und älteste Einschrittverfahren, das explizite Euler-Verfahren, wurde 1768 von Leonhard Euler veröffentlicht. Nachdem 1883 eine Gruppe von Mehrschrittverfahren vorgestellt worden war, entwickelten um 1900 Carl Runge, Karl Heun und Wilhelm Kutta deutliche Verbesserungen des eulerschen Verfahrens. Aus diesen ging die große Gruppe der Runge-Kutta-Verfahren hervor, die die wichtigste Klasse von Einschrittverfahren bildet. Weitere Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sind beispielsweise die Idee der Extrapolation, vor allem aber Überlegungen zur Schrittweitensteuerung, also zur Wahl geeigneter Längen der einzelnen Schritte eines Verfahrens. Diese Konzepte bilden die Grundlage, um schwierige Anfangswertprobleme, wie sie in modernen Anwendungen auftreten, effizient und mit der benötigten Genauigkeit durch Computerprogramme lösen zu können.
Einführung
Gewöhnliche Differentialgleichungen
Die Entwicklung der Differential- und Integralrechnung durch den englischen Physiker und Mathematiker Isaac Newton und unabhängig davon durch den deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts war ein wesentlicher Impuls für die Mathematisierung der Wissenschaft in der frühen Neuzeit. Diese Methoden bildeten den Startpunkt des mathematischen Teilgebiets der Analysis und sind in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften von zentraler Bedeutung. Während Leibniz von dem geometrischen Problem, Tangenten an gegebene Kurven zu bestimmen, zur Differentialrechnung geführt wurde, ging Newton von der Fragestellung aus, wie sich Änderungen einer physikalischen Größe zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmen lassen.
Zum Beispiel ergibt sich bei der Bewegung eines Körpers dessen Durchschnittsgeschwindigkeit einfach als die zurückgelegte Strecke dividiert durch die dafür benötigte Zeit. Um jedoch die Momentangeschwindigkeit des Körpers zu einem bestimmten Zeitpunkt mathematisch zu formulieren, ist ein Grenzübergang notwendig: Man betrachtet kurze Zeitspannen der Länge , die dabei zurückgelegten Wegstrecken und die zugehörigen Durchschnittsgeschwindigkeiten . Wenn man nun die Zeitspanne gegen null konvergieren lässt und wenn sich dabei die Durchschnittsgeschwindigkeiten ebenfalls einem festen Wert annähern, dann wird dieser Wert die (Momentan-)Geschwindigkeit zu dem gegebenen Zeitpunkt genannt. Bezeichnet die Position des Körpers zur Zeit , dann schreibt man und nennt die Ableitung von .
Der entscheidende Schritt in die Richtung der Differentialgleichungsmodelle ist nun die umgekehrte Fragestellung: Im Beispiel des bewegten Körpers sei also zu jedem Zeitpunkt die Geschwindigkeit bekannt und daraus soll seine Position bestimmt werden. Es ist anschaulich klar, dass zusätzlich die Anfangsposition des Körpers zu einem Zeitpunkt bekannt sein muss, um dieses Problem eindeutig lösen zu können. Es ist also eine Funktion mit gesucht, die die Anfangsbedingung mit gegebenen Werten und erfüllt.
Im Beispiel der Bestimmung der Position eines Körpers aus seiner Geschwindigkeit ist die Ableitung der gesuchten Funktion explizit gegeben. Meist liegt jedoch der wichtige allgemeine Fall gewöhnlicher Differentialgleichungen für eine gesuchte Größe vor: Aufgrund der Naturgesetze oder der Modellannahmen ist ein Funktionszusammenhang bekannt, der angibt, wie die Ableitung der zu bestimmenden Funktion aus und aus dem (unbekannten) Wert berechnet werden kann. Zusätzlich muss wieder eine Anfangsbedingung gegeben sein, die beispielsweise aus einer Messung der gesuchten Größe zu einem fest gewählten Zeitpunkt erhalten werden kann. Zusammengefasst liegt also der folgende allgemeine Aufgabentyp vor: Man finde die Funktion , die die Gleichungen
erfüllt, wobei eine gegebene Funktion ist.
Ein einfaches Beispiel ist eine Größe , die exponentiell wächst. Das bedeutet, dass die momentane Änderung, also die Ableitung proportional zu selbst ist. Es gilt also mit einer Wachstumsrate und beispielsweise einer Anfangsbedingung . Die gesuchte Lösung lässt sich in diesem Fall bereits mit elementarer Differentialrechnung finden und mithilfe der Exponentialfunktion angeben: Es gilt .
Die gesuchte Funktion in einer Differentialgleichung kann vektorwertig sein, das heißt, für jedes kann ein Vektor mit Komponenten sein. Man spricht dann auch von einem -dimensionalen Differentialgleichungssystem. Im Anschauungsfall eines bewegten Körpers ist dann seine Position im -dimensionalen euklidischen Raum und seine Geschwindigkeit zur Zeit . Durch die Differentialgleichung ist also in jedem Zeit- und Raumpunkt die Geschwindigkeit der gesuchten Bahnkurve mit Richtung und Betrag vorgegeben. Daraus soll die Bahn selbst berechnet werden.
Grundidee der Einschrittverfahren
Bei der oben als Beispiel betrachteten einfachen Differentialgleichung des exponentiellen Wachstums ließ sich die Lösungsfunktion direkt angeben. Das ist bei komplizierteren Problemen im Allgemeinen nicht mehr möglich. Man kann dann zwar unter gewissen Zusatzvoraussetzungen an die Funktion zeigen, dass eine eindeutig bestimmte Lösung des Anfangswertproblems existiert; diese kann aber dann nicht mehr durch Lösungsverfahren der Analysis (wie beispielsweise Trennung der Variablen, einen Exponentialansatz oder Variation der Konstanten) explizit berechnet werden. In diesem Fall können numerische Verfahren verwendet werden, um Näherungen für die gesuchte Lösung zu bestimmen.
Die Verfahren zur numerischen Lösung von Anfangswertproblemen gewöhnlicher Differentialgleichungen lassen sich grob in zwei große Gruppen einteilen: die Einschritt- und die Mehrschrittverfahren. Beiden Gruppen ist gemeinsam, dass sie schrittweise Näherungen für die gesuchten Funktionswerte an Stellen berechnen. Die definierende Eigenschaft der Einschrittverfahren ist dabei, dass zur Bestimmung der folgenden Näherung nur die „aktuelle“ Näherung verwendet wird. Bei Mehrschrittverfahren gehen im Gegensatz dazu zusätzlich bereits zuvor berechnete Näherungen mit ein; ein Dreischrittverfahren würde also beispielsweise außer auch noch und zur Bestimmung der neuen Näherung verwenden.
Das einfachste und grundlegendste Einschrittverfahren ist das explizite Euler-Verfahren, das der Schweizer Mathematiker und Physiker Leonhard Euler 1768 in seinem Lehrbuch Institutiones Calculi Integralis vorstellte. Die Idee dieser Methode ist es, die gesuchte Lösung durch eine stückweise lineare Funktion anzunähern, bei der in jedem Schritt von der Stelle zur Stelle die Steigung des Geradenstücks durch gegeben ist. Genauer betrachtet: Durch die Problemstellung ist bereits ein Wert der gesuchten Funktion gegeben, nämlich . Aber auch die Ableitung an dieser Stelle ist bekannt, denn es gilt . Damit kann die Tangente an den Graphen der Lösungsfunktion bestimmt und als Näherung verwendet werden. An der Stelle ergibt sich mit der Schrittweite
.
Dieses Vorgehen kann nun in den folgenden Schritten fortgesetzt werden. Insgesamt ergibt sich damit für das explizite Euler-Verfahren die Rechenvorschrift
mit den Schrittweiten .
Das explizite Euler-Verfahren ist der Ausgangspunkt für zahlreiche Verallgemeinerungen, bei denen die Steigung , durch Steigungen ersetzt wird, die das Verhalten der Lösung zwischen den Stellen und genauer annähern. Eine zusätzliche Idee für Einschrittverfahren bringt das implizite Eulerverfahren, das als Steigung verwendet. Diese Wahl erscheint auf den ersten Blick wenig geeignet, da ja unbekannt ist. Als Verfahrensschritt erhält man aber nun die Gleichung
aus der (gegebenenfalls durch ein numerisches Verfahren) berechnet werden kann. Wählt man beispielsweise als Steigung das arithmetische Mittel aus den Steigungen des expliziten und des impliziten Euler-Verfahrens, so erhält man das implizite Trapez-Verfahren. Aus diesem lässt sich wiederum ein explizites Verfahren gewinnen, wenn man zum Beispiel das unbekannte auf der rechten Seite der Gleichung durch die Näherung des expliziten Euler-Verfahrens nähert, das sogenannte Heun-Verfahren. All diesen Verfahren und allen weiteren Verallgemeinerungen ist die Grundidee der Einschrittverfahren gemeinsam: der Schritt
mit einer Steigung , die von , und sowie (bei impliziten Verfahren) von abhängen kann.
Definition
Mit den Überlegungen aus dem Einführungsabschnitt dieses Artikels kann der Begriff des Einschrittverfahrens wie folgt definiert werden:
Gesucht sei die Lösung des Anfangswertproblems
, .
Dabei werde vorausgesetzt, dass die Lösung
auf einem gegebenen Intervall existiert und eindeutig bestimmt ist.
Sind
Zwischenstellen im Intervall und die zugehörigen Schrittweiten, dann heißt
das durch
,
gegebene Verfahren Einschrittverfahren mit Verfahrensfunktion . Wenn nicht von abhängt, dann nennt man es explizites Einschrittverfahren. Anderenfalls muss in jedem Schritt eine Gleichung für gelöst werden, und das Verfahren wird implizit genannt.
Konsistenz und Konvergenz
Konvergenzordnung
Für ein praxistaugliches Einschrittverfahren sollen die berechneten gute Näherungen für die Werte der exakten Lösung an der Stelle sein. Da im Allgemeinen die Größen -dimensionale Vektoren sind, misst man die Güte dieser Näherung mit einer Vektornorm als , dem Fehler an der Stelle . Es ist wünschenswert, dass diese Fehler für alle schnell gegen null konvergieren, falls man die Schrittweiten gegen null konvergieren lässt. Um auch den Fall nicht konstanter Schrittweiten zu erfassen, definiert man dazu genauer als das Maximum der verwendeten Schrittweiten und betrachtet das Verhalten des maximalen Fehlers an allen Stellen im Vergleich zu Potenzen von . Man sagt, das Einschrittverfahren zur Lösung des gegebenen Anfangswertproblems habe die Konvergenzordnung , wenn die Abschätzung
für alle hinreichend kleinen mit einer von unabhängigen Konstante gilt.
Die Konvergenzordnung ist die wichtigste Kenngröße für den Vergleich verschiedener Einschrittverfahren. Ein Verfahren mit höherer Konvergenzordnung liefert im Allgemeinen bei vorgegebener Schrittweite einen kleineren Gesamtfehler bzw. umgekehrt sind weniger Schritte nötig, um eine vorgegebene Genauigkeit zu erreichen. Bei einem Verfahren mit ist zu erwarten, dass sich bei einer Halbierung der Schrittweite auch der Fehler nur ungefähr halbiert. Bei einem Verfahren der Konvergenzordnung kann man hingegen davon ausgehen, dass sich dabei der Fehler ungefähr um den Faktor verringert.
Globaler und lokaler Fehler
Die in der Definition der Konvergenzordnung betrachteten Fehler setzen sich auf eine zunächst kompliziert erscheinende Weise aus zwei Einzelkomponenten zusammen: Natürlich hängen sie zum einen von dem Fehler ab, den das Verfahren in einem einzelnen Schritt macht, indem es die unbekannte Steigung der gesuchten Funktion durch die Verfahrensfunktion annähert. Zum anderen ist aber zusätzlich zu berücksichtigen, dass bereits der Startpunkt eines Schrittes im Allgemeinen nicht mit dem exakten Startpunkt übereinstimmt; der Fehler nach diesem Schritt hängt also auch von allen Fehlern ab, die bereits in den vorangegangenen Schritten gemacht wurden. Aufgrund der einheitlichen Definition der Einschrittverfahren, die sich nur in der Wahl der Verfahrensfunktion unterscheiden, lässt sich aber beweisen, dass man (unter gewissen technischen Voraussetzungen an ) direkt von der Fehlerordnung in einem einzelnen Schritt, der sogenannten Konsistenzordnung, auf die Konvergenzordnung schließen kann.
Der Begriff der Konsistenz ist ein allgemeines und zentrales Konzept der modernen numerischen Mathematik. Während man bei der Konvergenz eines Verfahrens untersucht, wie gut die numerischen Näherungen zur exakten Lösung passen, stellt man sich bei der Konsistenz vereinfacht gesprochen die „umgekehrte“ Frage: Wie gut erfüllt die exakte Lösung die Verfahrensvorschrift? In dieser allgemeinen Theorie gilt, dass ein Verfahren genau dann konvergent ist, wenn es konsistent und stabil ist. Um die Notation zu vereinfachen, soll in der folgenden Überlegung angenommen werden, dass ein explizites Einschrittverfahren
mit konstanter Schrittweite vorliegt. Mit der wahren Lösung definiert man den lokalen Abschneidefehler (auch lokaler Verfahrensfehler genannt) als
.
Man nimmt also an, dass die exakte Lösung bekannt ist, startet einen Verfahrensschritt an dem Punkt und bildet die Differenz zur exakten Lösung an der Stelle . Damit definiert man: Ein Einschrittverfahren hat die Konsistenzordnung , wenn die Abschätzung
für alle hinreichend kleinen mit einer von unabhängigen Konstante gilt.
Der auffällige Unterschied zwischen den Definitionen der Konsistenzordnung und der Konvergenzordnung ist die Potenz anstelle von . Das lässt sich anschaulich so deuten, dass beim Übergang vom lokalen zum globalen Fehler eine Potenz der Schrittweite „verloren geht“. Es gilt nämlich der folgende, für die Theorie der Einschrittverfahren zentrale Satz:
Ist die Verfahrensfunktion Lipschitz-stetig und hat das zugehörige Einschrittverfahren die Konsistenzordnung , dann hat es auch die Konvergenzordnung .
Die Lipschitz-Stetigkeit der Verfahrensfunktion als Zusatzvoraussetzung für die Stabilität ist im Allgemeinen immer dann erfüllt, wenn die Funktion aus der Differentialgleichung selbst Lipschitz-stetig ist. Diese Forderung muss für die meisten Anwendungen sowieso vorausgesetzt werden, um die eindeutige Lösbarkeit des Anfangswertproblems zu garantieren. Nach dem Satz genügt es also, die Konsistenzordnung eines Einschrittverfahrens zu bestimmen. Das lässt sich prinzipiell durch Taylor-Entwicklung von nach Potenzen von erreichen. In der Praxis werden die entstehenden Formeln für höhere Ordnungen sehr kompliziert und unübersichtlich, sodass zusätzliche Konzepte und Notationen benötigt werden.
Steifheit und A-Stabilität
Die Konvergenzordnung eines Verfahrens ist eine asymptotische Aussage, die das Verhalten der Näherungen beschreibt, wenn die Schrittweite gegen null konvergiert. Sie sagt jedoch nichts darüber aus, ob das Verfahren für eine gegebene feste Schrittweite auch tatsächlich eine brauchbare Näherung berechnet. Dass dies bei bestimmten Typen von Anfangswertproblemen tatsächlich ein großes Problem darstellen kann, beschrieben zuerst Charles Francis Curtiss und Joseph O. Hirschfelder 1952. Sie hatten beobachtet, dass bei manchen Differentialgleichungssystemen der chemischen Reaktionskinetik die Lösungen nicht mit expliziten numerischen Verfahren berechnet werden können, und nannten solche Anfangswertprobleme „steif“. Es existieren zahlreiche mathematische Kriterien, um für ein gegebenes Problem festzustellen, wie steif es ist. Anschaulich handelt es sich bei steifen Anfangswertproblemen meist um Differentialgleichungssysteme, bei denen einige Komponenten sehr schnell konstant werden, während andere Komponenten sich nur langsam ändern. Ein solches Verhalten tritt typischerweise bei der Modellierung chemischer Reaktionen auf. Die für die praktische Anwendung nützlichste Definition von Steifheit ist dabei jedoch: Ein Anfangswertproblem ist steif, wenn man bei seiner Lösung mit expliziten Einschrittverfahren die Schrittweite „zu klein“ wählen müsste, um eine brauchbare Lösung zu erhalten. Solche Probleme können also nur mit impliziten Verfahren gelöst werden.
Dieser Effekt lässt sich genauer darstellen, wenn man untersucht, wie die einzelnen Verfahren mit exponentiellem Zerfall zurechtkommen. Dazu betrachtet man nach dem schwedischen Mathematiker Germund Dahlquist die Testgleichung
mit der für exponentiell abfallenden Lösung . Die nebenstehende Grafik zeigt – exemplarisch für das explizite und das implizite Euler-Verfahren – das typische Verhalten dieser beiden Verfahrensgruppen bei diesem so einfach erscheinenden Anfangswertproblem: Verwendet man bei einem expliziten Verfahren eine zu große Schrittweite, dann ergeben sich stark oszillierende Werte, die sich im Laufe der Rechnung aufschaukeln und sich immer weiter von der exakten Lösung entfernen. Implizite Verfahren berechnen hingegen typischerweise die Lösung für beliebige Schrittweiten qualitativ richtig, nämlich als exponentiell fallende Folge von Näherungswerten.
Etwas allgemeiner betrachtet man die obige Testgleichung auch für komplexe Werte von . In diesem Fall sind die Lösungen Schwingungen, deren Amplitude genau dann beschränkt bleibt, wenn gilt, also der Realteil von kleiner oder gleich 0 ist. Damit lässt sich eine wünschenswerte Eigenschaft von Einschrittverfahren formulieren, die für steife Anfangswertprobleme eingesetzt werden sollen: die sogenannte A-Stabilität. Ein Verfahren heißt A-stabil, wenn es für beliebige Schrittweiten angewendet auf die Testgleichung für alle mit eine Folge von Näherungen berechnet, die (wie die wahre Lösung) beschränkt bleibt. Das implizite Euler-Verfahren und das implizite Trapez-Verfahren sind die einfachsten Beispiele A-stabiler Einschrittverfahren. Andererseits lässt sich zeigen, dass ein explizites Verfahren niemals A-stabil sein kann.
Spezielle Verfahren und Verfahrensklassen
Einfache Verfahren der Ordnung 1 und 2
Wie der französische Mathematiker Augustin-Louis Cauchy um 1820 bewies, besitzt das Euler-Verfahren die Konvergenzordnung 1. Wenn man die Steigungen des expliziten Euler-Verfahrens und des impliziten Euler-Verfahrens, wie sie an den beiden Endpunkten eines Schritts vorliegen, mittelt, kann man hoffen, eine bessere Näherung über das ganze Intervall zu erhalten. Tatsächlich lässt sich beweisen, dass das so erhaltene implizite Trapez-Verfahren
die Konvergenzordnung 2 hat. Dieses Verfahren weist sehr gute Stabilitätseigenschaften auf, ist allerdings implizit, sodass in jedem Schritt eine Gleichung für gelöst werden muss. Nähert man diese Größe auf der rechten Seite der Gleichung durch das explizite Euler-Verfahren an, so entsteht das explizite Verfahren von Heun
,
das ebenfalls die Konvergenzordnung 2 besitzt. Ein weiteres einfaches explizites Verfahren der Ordnung 2, das verbesserte Euler-Verfahren, erhält man durch folgende Überlegung: Eine „mittlere“ Steigung im Verfahrensschritt wäre die Steigung der Lösung in der Mitte des Schritts, also an der Stelle . Da die Lösung aber unbekannt ist, nähert man sie durch einen expliziten Euler-Schritt mit halber Schrittweite an. Es ergibt sich die Verfahrensvorschrift
.
Diese Einschrittverfahren der Ordnung 2 wurden als Verbesserungen des Euler-Verfahrens alle 1895 von dem deutschen Mathematiker Carl Runge veröffentlicht.
Runge-Kutta-Verfahren
Die erwähnten Ideen für einfache Einschrittverfahren führen bei weiterer Verallgemeinerung zur wichtigen Klasse der Runge-Kutta-Verfahren. Zum Beispiel lässt sich das Verfahren von Heun übersichtlicher so präsentieren: Zuerst wird eine Hilfssteigung berechnet, nämlich die Steigung des expliziten Euler-Verfahrens. Damit wird eine weitere Hilfssteigung bestimmt, hier . Die tatsächlich verwendete Verfahrenssteigung ergibt sich anschließend als ein gewichtetes Mittel der Hilfssteigungen, im Verfahren von Heun also . Dieses Vorgehen lässt sich auf mehr als zwei Hilfssteigungen verallgemeinern. Ein -stufiges Runge-Kutta-Verfahren berechnet zunächst Hilfssteigungen durch Auswertung von an geeigneten Stellen und anschließend als gewichtetes Mittel. Bei einem expliziten Runge-Kutta-Verfahren werden die Hilfssteigungen der Reihe nach direkt berechnet, bei einem impliziten ergeben sie sich als Lösungen eines Gleichungssystems. Als typisches Beispiel sei das explizite klassische Runge-Kutta-Verfahren der Ordnung 4 angeführt, das mitunter einfach als das Runge-Kutta-Verfahren bezeichnet wird: Dabei werden zunächst die vier Hilfssteigungen
berechnet und dann als Verfahrenssteigung das gewichtete Mittel
verwendet. Dieses bekannte Verfahren veröffentlichte der deutsche Mathematiker Wilhelm Kutta im Jahr 1901, nachdem ein Jahr zuvor Karl Heun ein dreistufiges Einschrittverfahren der Ordnung 3 gefunden hatte.
Die Konstruktion von expliziten Verfahren noch höherer Ordnung mit möglichst kleiner Stufenzahl ist ein mathematisch recht anspruchsvolles Problem. Wie John C. Butcher 1965 zeigen konnte, gibt es zum Beispiel für die Ordnung 5 nur minimal sechsstufige Verfahren; ein explizites Runge-Kutta-Verfahren der Ordnung 8 benötigt mindestens 11 Stufen. 1978 fand der österreichische Mathematiker Ernst Hairer ein Verfahren der Ordnung 10 mit 17 Stufen. Die Koeffizienten für ein solches Verfahren müssen 1205 Bestimmungsgleichungen erfüllen. Bei impliziten Runge-Kutta-Verfahren ist die Situation einfacher und übersichtlicher: Für jede Stufenzahl existiert ein Verfahren der Ordnung ; das ist zugleich die maximal erreichbare Ordnung.
Extrapolationsverfahren
Die Idee der Extrapolation ist nicht auf die Lösung von Anfangswertproblemen mit Einschrittverfahren beschränkt, sondern lässt sich sinngemäß auf alle numerischen Verfahren anwenden, die das zu lösende Problem mit einer Schrittweite diskretisieren. Ein bekanntes Beispiel eines Extrapolationsverfahrens ist etwa die Romberg-Integration zur numerischen Berechnung von Integralen. Sei daher ganz allgemein ein Wert, der numerisch bestimmt werden soll, im Fall dieses Artikels etwa der Wert der Lösungsfunktion eines Anfangswertproblems an einer gegebenen Stelle. Ein numerisches Verfahren, beispielsweise ein Einschrittverfahren, berechnet dafür einen Näherungswert , der von der Wahl der Schrittweite abhängt. Dabei sei angenommen, dass das Verfahren konvergent ist, also, dass gegen konvergiert, wenn gegen null konvergiert. Diese Konvergenz ist jedoch nur eine rein theoretische Aussage, da bei der realen Anwendung des Verfahrens zwar Näherungswerte für endlich viele verschiedene Schrittweiten berechnet werden können, man aber selbstverständlich nicht die Schrittweite „gegen null konvergieren“ lassen kann. Die berechneten Näherungen für verschiedene Schrittweiten lassen sich jedoch als Information über die (unbekannte) Funktion auffassen: Bei den Extrapolationsverfahren wird dabei durch ein Interpolationspolynom angenähert, also durch ein Polynom mit
für . Der Wert des Polynoms an der Stelle wird dann als berechenbare Näherung für den nicht berechenbaren Grenzwert von für gegen null verwendet. Einen frühen erfolgreichen Extrapolationsalgorithmus für Anfangswertprobleme veröffentlichten Roland Bulirsch und Josef Stoer im Jahr 1966.
Ein konkretes Beispiel im Falle eines Einschrittverfahrens der Ordnung kann das allgemeine Vorgehen der Extrapolation verständlich machen. Bei einem solchen Verfahren lässt sich die berechnete Näherung für kleine Schrittweiten gut durch ein Polynom der Form
mit zunächst unbekannten Parametern und annähern. Berechnet man nun mit dem Verfahren für eine Schrittweite und für die halbe Schrittweite zwei Näherungen und , erhält man aus den Interpolationsbedingungen und zwei lineare Gleichungen für die Unbekannten und . Der auf extrapolierte Wert
stellt dann im Allgemeinen eine deutlich bessere Näherung dar als die beiden zunächst berechneten Werte. Es lässt sich zeigen, dass die Ordnung des so erhaltenen Einschrittverfahrens mindestens ist, also um mindestens 1 größer als beim ursprünglichen Verfahren ist.
Verfahren mit Schrittweitensteuerung
Ein Vorteil der Einschrittverfahren ist, dass in jedem Schritt unabhängig von den anderen Schritten eine beliebige Schrittweite verwendet werden kann. In der Praxis stellt sich dabei offensichtlich die Frage, wie gewählt werden soll. In realen Anwendungen wird stets eine Fehlertoleranz gegeben sein, mit der die Lösung eines Anfangswertproblems berechnet werden soll; zum Beispiel wäre es sinnlos, eine numerische Näherung zu bestimmen, die wesentlich „genauer“ ist als die mit Messabweichungen behafteten Daten für Startwerte und Parameter des gegebenen Problems. Das Ziel wird also sein, die Schrittweiten so zu wählen, dass einerseits die vorgegebenen Fehlertoleranzen eingehalten werden, andererseits aber auch möglichst wenige Schritte zu verwenden, um den Rechenaufwand klein zu halten. Dies wird sich im Allgemeinen nur dann erreichen lassen, wenn die Schrittweiten an den Verlauf der Lösung angepasst werden: kleine Schritte, wo sich die Lösung stark ändert, große Schritte, wo sie nahezu konstant verläuft.
Bei gut konditionierten Anfangswertproblemen lässt sich zeigen, dass der globale Verfahrensfehler ungefähr gleich der Summe der lokalen Abschneidefehler in den einzelnen Schritten ist. Daher sollte als Schrittweite ein möglichst großes gewählt werden, für das unter einer gewählten Toleranzschwelle liegt. Das Problem dabei ist, dass nicht direkt berechnet werden kann, da es ja von der unbekannten exakten Lösung des Anfangswertproblems an der Stelle abhängt. Die Grundidee der Schrittweitensteuerung ist es daher, mit einem Verfahren anzunähern, das genauer ist als das zugrundeliegende Basisverfahren.
Zwei grundlegende Ideen zur Schrittweitensteuerung sind die Schrittweitenhalbierung und die eingebetteten Verfahren. Bei der Schrittweitenhalbierung wird zusätzlich zum eigentlichen Verfahrensschritt als Vergleichswert das Ergebnis für zwei Schritte mit der halben Schrittweite berechnet. Aus beiden Werten wird dann durch Extrapolation eine genauere Näherung für bestimmt und damit der lokale Fehler geschätzt. Ist dieser zu groß, wird dieser Schritt verworfen und mit einer kleineren Schrittweite wiederholt. Ist er deutlich kleiner als die vorgegebene Toleranz, kann im nächsten Schritt die Schrittweite vergrößert werden. Der zusätzliche Rechenaufwand für dieses Schrittweitenhalbierungsverfahren ist relativ groß; deshalb verwenden moderne Implementierungen meist sogenannte eingebettete Verfahren zur Schrittweitensteuerung. Die Grundidee ist dabei, in jedem Schritt zwei Näherungen für mit zwei Einschrittverfahren zu berechnen, die verschiedene Konvergenzordnungen haben, und damit den lokalen Fehler zu schätzen. Um den Rechenaufwand zu optimieren, sollten die beiden Verfahren möglichst viele Rechenschritte gemeinsam haben: Sie sollten „ineinander eingebettet“ sein. Eingebettete Runge-Kutta-Verfahren verwenden beispielsweise die gleichen Hilfssteigungen und unterscheiden sich nur darin, wie sie diese mitteln. Bekannte eingebettete Verfahren sind unter anderem die Runge-Kutta-Fehlberg-Verfahren (Erwin Fehlberg, 1969) und die Dormand-Prince-Verfahren (J. R. Dormand und P. J. Prince, 1980).
Praxisbeispiel: Lösen von Anfangswertproblemen mit numerischer Software
Für die in diesem Artikel überblicksartig dargestellten mathematischen Konzepte wurden zahlreiche Software-Implementierungen entwickelt, die dem Anwender die Möglichkeit geben, praktische Probleme auf einfache Weise numerisch zu lösen. Als konkretes Beispiel dazu soll nun eine Lösung der Lotka-Volterra-Gleichungen mit der verbreiteten numerischen Software Matlab berechnet werden. Die Lotka-Volterra-Gleichungen sind ein einfaches Modell aus der Biologie, das die Wechselwirkungen von Räuber- und Beutepopulationen beschreibt. Gegeben sei dazu das Differentialgleichungssystem
mit den Parametern und der Anfangsbedingung , . Hierbei entsprechen und der zeitlichen Entwicklung der Beute- bzw. der Räuberpopulation. Die Lösung soll auf dem Zeitintervall berechnet werden.
Für die Berechnung mithilfe von Matlab wird zunächst für die gegebenen Parameterwerte die Funktion auf der rechten Seite der Differentialgleichung definiert:
a = 1; b = 2; c = 1; d = 1;
f = @(t,y) [a*y(1) - b*y(1)*y(2); c*y(1)*y(2) - d*y(2)];
Außerdem werden das Zeitintervall und die Anfangswerte benötigt:
t_int = [0, 20];
y0 = [3; 1];
Anschließend kann die Lösung berechnet werden:
[t, y] = ode45(f, t_int, y0);
Die Matlab-Funktion ode45 implementiert ein Einschrittverfahren, das zwei eingebettete explizite Runge-Kutta-Verfahren mit den Konvergenzordnungen 4 und 5 zur Schrittweitensteuerung verwendet.
Die Lösung kann nun gezeichnet werden, als blaue Kurve und als rote; die berechneten Punkte werden durch kleine Kreise markiert:
figure(1)
plot(t, y(:,1), 'b-o', t, y(:,2), 'r-o')
Das Ergebnis ist unten im linken Bild dargestellt. Das rechte Bild zeigt die vom Verfahren verwendeten Schrittweiten und wurde erzeugt mit
figure(2)
plot(t(1:end-1), diff(t))
Dieses Beispiel kann ohne Änderungen auch mit der freien numerischen Software GNU Octave ausgeführt werden. Mit dem dort implementierten Verfahren ergibt sich allerdings eine etwas andere Schrittweitenfolge.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Numerische Mathematik
Theorie gewöhnlicher Differentialgleichungen |
816798 | https://de.wikipedia.org/wiki/Die%20Nacht%20des%20J%C3%A4gers | Die Nacht des Jägers | Die Nacht des Jägers (Originaltitel: The Night of the Hunter) ist ein US-amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 1955, basierend auf dem Roman The Night of the Hunter des Autors Davis Grubb von 1953. Der Thriller, der oft dem Film noir zugerechnet wird, ist die einzige Regiearbeit des Schauspielers Charles Laughton bei einem Film.
Die Nacht des Jägers spielt in der amerikanischen Great Depression der 1930er-Jahre und erzählt vom psychopathischen „Wanderprediger“ Harry Powell, gespielt von Robert Mitchum. Als er von einem zum Tode verurteilten Zellengenossen erfährt, dass dieser bei einem Raub 10.000 US-Dollar erbeutet und das gestohlene Geld bei seiner Familie versteckt hat, macht er sich an die Witwe und deren Kinder heran, um an das Geld zu gelangen.
Der Film wurde bei seiner Veröffentlichung von den Kritikern skeptisch beurteilt und vom Publikum abgelehnt. Mittlerweile gilt er aber als stilistisch einzigartiges Meisterwerk. 1992 wurde er in die National Film Registry aufgenommen. Das französische Filmmagazin Cahiers du cinéma listete ihn 2008 hinter Orson Welles’ Citizen Kane auf dem zweiten Platz der besten Filme aller Zeiten.
Handlung
Am Ohio River in den USA, etwa Anfang der 1930er-Jahre während der Großen Depression: Harry Powell, ein psychopathischer Frauenmörder, zieht als Wanderprediger mordend durch die Lande. Auf seine beiden Hände hat er die Wörter „Love“ und „Hate“ tätowiert. Wegen eines vergleichsweise harmlosen Autodiebstahls kommt er für einige Wochen ins Gefängnis, wo er mit dem zum Tode verurteilten Mörder und Bankräuber Ben Harper die Zelle teilt. Dieser erbeutete 10.000 Dollar bei einem Raub (nach heutiger Kaufkraft, Stand Juli 2019, rund 188.000 US-Dollar) und brachte dabei zwei Menschen um. Nur Bens Kinder John und die kleine Pearl wissen, dass er das Geld in Pearls Puppe versteckt hat. Sie mussten ihrem Vater kurz vor seiner Verhaftung schwören, dies niemand zu verraten. Powell erfährt vom Geld – nicht aber vom Versteck –, indem er Ben im Schlaf ausfragt. Nach Bens Hinrichtung möchte Powell unbedingt die Beute an sich bringen.
Als Powell entlassen wird, macht er sich sofort an Bens leichtgläubige Witwe Willa Harper heran, indem er vortäuscht, Gefängnispriester gewesen zu sein und das Vertrauen ihres Mannes genossen zu haben. Frömmelnd erschleicht er sich durch anschauliche Predigten das Wohlwollen der übrigen Dorfbewohner, überzeugt schließlich auch Willa und heiratet sie. Doch John spürt schon früh, dass etwas mit Powell nicht stimmt. Powell seinerseits weiß schon bald, dass John das Versteck der Beute kennt, und setzt ihn und Pearl zunehmend unter Druck. Willa gerät schnell in eine psychische Abhängigkeit des Predigers und hat mehr Vertrauen zu ihm als zu ihrem Sohn. Unter dem Einfluss ihres Mannes beginnt sie selbst öffentlich zu predigen. Nur der verschrobene Onkel Birdie, mit dem John immer angelt, macht sich Sorgen. Powell wendet immer perfidere Methoden an, um das Versteck des Geldes von den Kindern zu erfahren. Auch sein Umgang mit Willa wird immer brutaler. Schließlich tötet er seine Frau und versenkt die Leiche nachts im Fluss. Den Kindern und Willas besorgter Arbeitgeberin Mrs. Spoon erzählt er, seine Frau habe ihn verlassen. Er täuscht ihnen vor, er sei ein gebrochener Mann.
Zu Hause terrorisiert und quält er weiterhin die Kinder. Zwar entdeckt Onkel Birdie die Leiche von Willa im Fluss, doch aus Furcht, selbst des Mordes beschuldigt zu werden, wagt er es nicht, zur Polizei zu gehen – stattdessen betrinkt er sich. Powell presst den Kindern das Geheimnis ab, doch im letzten Moment können sie mit dem Geld fliehen. Sie suchen den völlig betrunkenen Onkel Birdie auf, der ihnen aber nicht helfen kann. Daher müssen die Kinder in einem Boot auf den Fluss flüchten. Powell verfolgt sie zu Pferd auf dem Landweg, während er den Dorfbewohnern in einem Brief vorzutäuschen versucht, mit den Kindern verreist zu sein. Schließlich finden John und Pearl bei Mrs. Cooper Unterschlupf. Die Witwe unterhält eine Art Heim für obdachlose Kinder. Schnell fassen die Kinder Vertrauen zu ihr, doch sie verschweigen weiter ihre Geheimnisse.
Als auch Powell den Ort erreicht, macht er sich an die pubertierende Ruby heran, einen Schützling von Mrs. Cooper, um den Aufenthaltsort von John und Pearl zu erfahren. Er versucht, die Kinder zurückzuholen, doch die resolute Mrs. Cooper vertreibt ihn vom Grundstück. Als Powell nachts in das Haus eindringt, verletzt sie ihn mit einem Schuss und ruft die Polizei. Powell wird wegen Mordes festgenommen, denn inzwischen sind seine vorangegangenen Untaten ans Tageslicht gekommen. Bei Powells Verhaftung bricht John psychisch zusammen und wirft Powell das Geld vor die Füße. Im Verlauf des folgenden aufreibenden Gerichtsprozesses erfahren die dem Verfahren beiwohnenden Zuschauer von Powells Verbrechen. Einem Mob unter Führung von Mrs. Spoon gelingt es beinahe, den Mörder zu lynchen, auf den als Urteil die Todesstrafe zuzukommen scheint. John und Pearl bleiben bei Mrs. Cooper, die mit ihrer ehrlichen, einfachen und frommen Art wie eine Mutter für die Kinder ist.
Hintergrund
Vorproduktion
The Night of the Hunter basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Davis Grubb, der im Jahr 1953 erschien und zum Bestseller wurde. Grubb ließ sich unter anderem für die Handlung von seiner Mutter inspirieren, die in den 1930er-Jahren ehrenamtlich verarmte Familien betreut hatte. Als historische Vorlage für Harry Powell diente Grubb der 1892 in den Niederlanden geborene Serienmörder Harry F. Powers. Dieser veröffentlichte Anfang der 1930er-Jahre an alleinstehende oder verwitwete Frauen gerichtete Kontaktanzeigen, in denen er vorgab, auf der Suche nach Liebe und einer Frau zu sein. Er beraubte und ermordete die Witwen Dorothy Lemke und Asta Eicher, die mit ihm Kontakt aufgenommen hatten, außerdem tötete er die drei Kinder von Eicher. Powers wurde nach seiner Verhaftung zum Tode verurteilt und wäre im September 1931 beinahe das Opfer eines 4.000 Leute umfassenden Lynchmobs geworden. Am 18. März 1932 wurde Powers in Grubbs Heimatstadt Moundsville gehängt, diese Strafe scheint am Ende des Filmes auch auf Harry Powell zuzukommen.
Der Theater- und Fernsehproduzent Paul Gregory zeigte sich vom Buch so fasziniert, dass er Grubb die Filmrechte abkaufte. Die kleine Produktionsfirma Paul Gregory Productions suchte sich das Filmstudio United Artists als Vertriebspartner an den Kinokassen. United Artists war dafür bekannt, seinen Filmschaffenden weitgehende künstlerische Freiheit zu gewähren. Anschließend verpflichtete Gregory seinen Freund Charles Laughton als Regisseur. Beide hatten bereits am Broadway in ihren jeweiligen Funktionen als Regisseur beziehungsweise Produzent drei Stücke gemeinsam aufgeführt.
Zudem war Laughton Mitte der 1950er-Jahre bereits seit über zwei Jahrzehnten ein beim Publikum und Kritikern beliebter Filmstar und Charakterdarsteller. Er hegte jedoch schon länger den Wunsch, sich als Filmregisseur zu betätigen. Die Nacht des Jägers wurde zu seinem ersten und zugleich letzten Film als Regisseur. Sein Biograf Simon Callow schreibt, dass für Laughton die Regiearbeit eine Art Kumulation seines Lebenswerks gewesen sei, da er seine vielfältigen Kenntnisse in den Bereichen Kunst, Literatur und Schauspielführung zeigen konnte. Dass Laughton bis zu seinem Tod 1962 keine weiteren Regiearbeiten beim Film mehr übernahm, lag nach Meinung einiger seiner Freunde auch am Unverständnis der Zeitgenossen über den von ihm gedrehten Film, was ihn tief getroffen haben soll.
Drehbuch
Mit dem Verfassen des Drehbuchs wurde der renommierte Autor James Agee beauftragt, der mit der Weltwirtschaftskrise und ihren Auswirkungen auf die ländliche Bevölkerung vertraut war, die im Film thematisiert wurde. 1941 hatte er nämlich den bedeutenden Bildband Preisen will ich die großen Männer über das Elend der Menschen in der Weltwirtschaftskrise in den USA herausgebracht. Agees Fassung stellte sich als deutlich zu lang heraus, er ließ kleine Nebenfiguren seitenlange Monologe führen und führte eine afroamerikanische Familie in die Handlung ein, die noch nicht einmal in Grubbs Buch vorkam. Seine Vision war, ein demokratisches Gesellschaftsbild vom Leben am Ohio River in der Wirtschaftskrise zu zeichnen. In der Praxis war das Drehbuch allerdings kaum verfilmbar (es sei denn der Film hätte die Länge von sechs Stunden gehabt) und Laughton beschwerte sich, es sei „so dick wie ein Telefonbuch“. Daraufhin kürzte und bearbeitete Laughton das Drehbuch selbst, sodass nach Aussage von Paul Gregory Laughton am Ende mehr Einfluss auf das Drehbuch als Agee gehabt habe. Trotz der Probleme mit diesem blieb die Zusammenarbeit mit Agee stets kollegial und Laughton entschied, dass trotz seiner eigenen Bearbeitungen im Filmvorspann James Agee alleine als Drehbuchautor genannt werden sollte. Ungewöhnlicherweise für einen Hollywood-Film hielt Laughton engen Kontakt mit Davis Grubb während seiner Arbeit am Film und befragte ihn nach seinen schriftstellerischen Einflüssen, worauf dieser unter anderem Hans Christian Andersen nannte. Der Handlung wurden in besonderem Maße Elemente eines gothicartigen Albtraumes sowie einer Märchengeschichte hinzugefügt. Das Drehbuch blieb zugleich nahe an der Romanvorlage von Grubb. James Agee starb noch vor Veröffentlichung des Filmes im Mai 1955 an einem Herzinfarkt, sodass dieses Drehbuch eine seiner letzten Arbeiten darstellte.
Ein weiteres Problem des Drehbuchs bestand darin, dass es in Konflikt mit den strengen Regeln gegen Blasphemie geriet, die nach dem damals für US-amerikanische Filme geltenden Hays Code galten. So forderte der Verband National Council of Churches, dass das Drehbuch deutlicher machen müsse, dass Harry Powell kein ordinierter Pfarrer sei. Diesem Vorschlag folgten die Filmemacher, allerdings nicht der ebenfalls vom Council vorgeschlagenen Entfernung der religiösen Lieder, die Powell im Film singt. In Grubbs Roman erzählt Ruby, dass sie mit den jungen Männern, die sie heimlich trifft, auch Sex hatte – in der Verfilmung wurde dieses Thema infolge des Hays Codes unklar gelassen. Der Zuschauer erfährt nicht, wie weit Rubys sexuelle Erfahrungen mit den jungen Männern gingen.
Das Drehbuch für den ersten Teil des Filmes wurde so angelegt, dass der Zuschauer von der Auseinandersetzung zwischen Harry Powell und seinem Stiefsohn John immer etwas mehr Wissen als diese Figuren hat, wodurch eine besondere Spannung entsteht. So wird Prediger Powell dem Zuschauer gleich in den ersten Szenen des Filmes als Frauenmörder präsentiert, John dagegen hat von dessen Untaten keine Kenntnis. Der erfährt früh im Lauf des Films, dass das Geld in der Puppe versteckt wurde, während Powell von diesem Ort nichts weiß. Während die erste Hälfte des Filmes vom bösartigen Powell dominiert wird, gehört die zweite Hälfte des Filmes eher der gutherzigen Mrs. Cooper, wobei die traumartig wirkenden Flussszenen als Bindeglied zwischen den beiden Hälften fungieren.
Besetzung
Laughton spielte kurz mit dem Gedanken, die Rolle des Harry Powell selbst zu spielen, allerdings wäre er als alleiniger Hauptdarsteller aus Sicht der Studios ein zu großes finanzielles Risiko gewesen. Gary Cooper war im Gespräch, doch er soll die negative Rolle aus Angst um seine Karriere abgelehnt haben. Auch Laurence Olivier und sogar Jack Lemmon wurden diskutiert. Am Ende entschied man sich für Robert Mitchum, der in vielen Filmen bereits Antihelden oder negative Charaktere verkörpert hatte. Für Mitchum wurden die Dreharbeiten nach eigenen Aussagen ein Horrortrip: Er identifizierte sich so sehr mit der Rolle des Verbrechers Harry Powell und war dabei derart über sich selbst schockiert, dass er erst Jahre später in der Lage war, über den Film zu sprechen. Er bezeichnete Laughton jedoch als den besten Regisseur, mit dem er je gearbeitet habe. Shelley Winters, die in den 1950er-Jahren eigentlich eine Hauptdarstellerin war, akzeptierte die relativ kleine Rolle der Mutter. Später nannte sie ihren Auftritt im Film wohl „die nachdenklichste und zurückhaltendste Darstellung, die ich je gegeben habe“. Laughton setzte sich erfolgreich für seine ehemalige Schauspielschülerin Winters ein, Paul Gregory hätte dagegen lieber das Sexsymbol Betty Grable in der Rolle gesehen.
Peter Graves, der den zum Tode verurteilten Familienvater spielt, wurde später in der Rolle des „Jim Phelps“ in der Krimiserie Kobra, übernehmen Sie berühmt. Seinen Filmkindern Billy Chapin und Sally Jane Bruce gelang anschließend keine nennenswerte Filmkarriere. Während Chapin bereits in vielen Filmen gespielt und einen bedeutenden Theaterpreis am Broadway geholt hatte, besaß Sally Jane Bruce abgesehen von einem unbedeutenden Kurzfilm von 1954 nur wenig Schauspielerfahrung. Das von ihr im Film gesungene Lied während der Flussfahrt wurde später von Kitty White nachgesungen, weil Laughton mit dem Gesang von Bruce unzufrieden war. Bruce wurde später Lehrerin in Santa Barbara. Das Ehepaar Spoon wurde von den erfahrenen Charakterdarstellern Evelyn Varden und Don Beddoe gespielt, wobei Varden ihre Rolle auffällig mit hysterischer Stimme darstellt, während Beddoe dagegen seine Figur als trotteliger, von ihr dominierter Ehemann nach den Regieanweisungen von Laughton unterspielt. Die Rolle von Rachels Schützling Ruby übernahm die Jungschauspielerin Gloria Castillo. In der Rolle des Onkel Birdie wurde zunächst Emmett Lynn besetzt und es waren bereits mehrere Szenen gedreht worden, als Laughton ihn entließ, da Lynn seinen Charakter zu sehr als klischeehaften alten Kauz vom Lande interpretierte. Er wurde durch den bekannteren James Gleason ersetzt.
Stummfilmlegende Lillian Gish, die von Laughton sehr verehrt wurde, erhielt die Rolle der Rachel Cooper. Zu diesem Zeitpunkt spielte Gish nur noch gelegentlich in Filmen. Auf Gishs Frage, warum er sie und damit einen Rückgriff auf den Stummfilm wolle, antwortete er:
Dreharbeiten
Die Dreharbeiten von Die Nacht des Jägers dauerten von August bis Oktober 1954, sie wurden von den Beteiligten in späteren Jahren einhellig als harmonisch bezeichnet. Das Budget betrug rund 600.000 US-Dollar, was damals bereits eine eher bescheidene Summe für eine A-Filmproduktion war. Ein Problem in der Spätphase der Dreharbeiten war, dass Mitchum bereits mit … und nicht als ein Fremder an einem neuen Film drehte und er nur an Sonntagen zur Verfügung stehen konnte. Mitchum bereitete zudem persönliche Probleme durch unprofessionelles Verhalten und ständige Trunkenheit am Set, wie sich Paul Gregory erinnerte.
Lange gab es Gerüchte, dass die Kinderdarsteller ihre Schauspielanweisungen von Robert Mitchum und nicht von Laughton bekommen hätten, da Laughton nicht mit den Kindern zurechtgekommen sei. Zahlreiche Bücher behaupteten dies, doch die zweieinhalbstündige Dokumentation Charles Laughton Directs aus dem Jahr 2002 mit bis dahin unveröffentlichten Aufnahmen der Dreharbeiten widerspricht dieser These. Zwischen Szenen im gesamten Verlauf des Films gibt Laughton auch den Kinderdarstellern Regieanweisungen, die später aus dem fertigen Film geschnitten wurden. Mit den Schauspielern drehte Laughton auf eine ungewöhnliche Art, wie sie zuletzt im Stummfilm üblich war: Anstatt zwischen den Takes für einzelne Szenen immer nach dem Schnitt zu rufen, ließ Laughton die Kamera laufen und gab den Schauspielern spontane Anweisungen. Peter Graves empfand diese für den Tonfilm einzigartige Arbeitsweise von Laughton als angenehm, da er – ohne den Ruf nach dem Schnitt – nie aus der Szene gerissen worden und so konzentrierter gewesen sei.
Gedreht wurde unter anderem in den Filmstudios von RKO Pictures in Culver City sowie auf der Rowland V. Lee Ranch im San Fernando Valley. Die Unterwasserszene mit der ermordeten Mutter wurde in den Republic Studios in Hollywood gefilmt. Bei den Unterwasserszenen kam nicht Shelley Winters selbst, sondern ein Modell zum Einsatz. Maurice Seiderman (1907–1989), der bereits Maskenbildner von Orson Welles bei Citizen Kane war, baute das Gesicht von Winters in aufwendiger Kleinarbeit nach. Die Luftaufnahmen wurden am Ohio River unter Leitung des jungen Second-Unit-Regisseurs Terry Sanders gedreht, von dem Laughton einen realistisch wirkenden Inszenierungsstil im Stile Griffiths einforderte. Besonders viele Luftaufnahmen entstanden nahe Wheeling in West Virginia; in Moundsville, der Geburtsstadt von Davis Grubb, wurden kurz Aufnahmen vom dortigen Staatsgefängnis gedreht. Bei den Dreharbeiten von Sanders kamen bei den Luftaufnahmen Helikopter anstelle der damals üblichen Flugzeuge zum Einsatz.
Um die Arbeitsmoral der Mitarbeiter zu stärken, versprachen Gregory und Laughton wichtigen Mitgliedern der Filmcrew wie dem Kameramann Stanley Cortez zusätzlich zu ihrem normalen Gehalt ein Prozent Anteil am möglichen Gewinn des Filmes. Cortez brachte bei Die Nacht des Jägers starke Kontraste in der Belichtung zum Einsatz, was als eines seiner Markenzeichen galt. Er äußerte sich später, dass Laughton zwar anfangs unerfahren im Umgang mit der Kameraarbeit gewesen sei, allerdings dann schnell auch eigene Ideen beisteuerte und die Zusammenarbeit außerordentlich gut funktionierte. In der Szene, in welcher der auf dem Heuboden befindliche John Harper seinen Stiefvater am Horizont reiten sieht, setzte Cortez anstelle von Mitchum und einem Pferd einen kleinwüchsigen Darsteller auf einem Pony ein, damit die Größenverhältnisse stimmten. Auf Anweisung von Laughton arbeiteten Cortez und der Filmkomponist Walter Schumann eng miteinander, um eine Einheit von Bild und Ton im Film zu schaffen. Cortez dachte beim Drehen der Mordszene an Mrs. Harper an den Valse triste von Jean Sibelius, weshalb Schumann dann Walzermusik zum Einsatz brachte. Neben Schumann und Cortez gehörten der Filmcrew der Editor Robert Golden, der Szenenbildner Hilyard M. Brown, der Setdekorateur Alfred E. Spencer, der Assistenzregisseur Milton Carter sowie der Tonmeister Stanford Houghton an.
Themen und Analyse
Filmhistorischer Kontext
Der Film gilt als einzigartige Mischung verschiedener filmischer Stile und Genres, auf die die Zuschauer seinerzeit nicht vorbereitet waren. Die Nacht des Jägers sei einzigartig in der Filmgeschichte, da der Film sich keiner Strömung zurechnen lasse und sich auch nicht mit anderen Werken von Laughton vergleichen lasse, da es seine einzige Arbeit als Filmregisseur blieb.
Mit seiner bedrohlich-beunruhigenden Grundstimmung wird Die Nacht des Jägers häufig dem Film noir zugerechnet. Die allermeisten Film noirs waren Kriminalfilme der 1940er- und 1950er-Jahre mit zumeist pessimistischer Weltsicht. Die Zuordnung von Die Nacht des Jägers ist allerdings nicht unumstritten, vor allem wegen seiner surrealistischen und märchenhaften Tendenzen, die relativ untypisch dafür wären. Das Ende von Die Nacht des Jägers fällt außerdem eher positiv und versöhnlich aus, was ein weiterer Widerspruch zu den meisten Film noirs ist. Typische Handlungselemente eines Film noir sind Privatdetektive, eine Femme fatale sowie ein urbaner Schauplatz – keines dieser Elemente findet sich in Die Nacht des Jägers. Zudem ist Davis Grubb kein „Hardboiled-Detective“-Schriftsteller wie James M. Cain, Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, die sonst die literarischen Vorlagen für viele Noir-Filme schrieben. Für eine Zuordnung zum Film noir sprechen dagegen ein eher zynischer Blick auf die Institutionen von Staat und Kirche sowie am deutlichsten die für den Noir typischen Hell-Dunkel-Kontraste. Einige Kritiker werten The Night of the Hunter als wohl wichtigstes Beispiel für einen komplett auf dem Land angesiedelten Film noir.
Auch Anleihen an die filmische Poesie von David Wark Griffiths Stummfilmen und dessen filmischen Realismus lassen sich in Die Nacht des Jägers erkennen. Das gilt insbesondere für die anfänglichen Szenen in dem Heimatdorf der Kinder und den Ort als ländliche Idylle inszenieren, die durch die Ankunft des Predigers endgültig zerstört wird. Das Versteck der beiden Kinder im Keller vor Powell wird dem Zuschauer beispielsweise durch eine Irisblende gezeigt, indem man den sichtbaren Bildausschnitt immer weiter verkleinert, sodass man das Kellerversteck erkennt. Die Irisblende war eine insbesondere in Stummfilmen angewandte Technik, die durch Griffith etabliert wurde. Für den Tonfilm waren Irisblenden dagegen unüblich. Ein Rückgriff auf die Stummfilmära wird nicht zuletzt durch die Besetzung von Stummfilmlegende Lillian Gish als Rachel deutlich, deren Name in der amerikanischen Öffentlichkeit bis heute unmittelbar mit dem Hollywood-Stummfilm und besonders mit Griffiths Werken assoziiert wird.
Die traumhafte Bildsprache, die ungewöhnlichen Kameraperspektiven und die kontrastreiche Beleuchtung erinnern an den expressionistischen Film aus dem Deutschland der 1920er-Jahre, beispielsweise an die Scherenschnittfilme von Lotte Reiniger sowie den Stummfilmklassiker Das Cabinet des Dr. Caligari, den wie The Night of the Hunter ein bewusst künstliches Szenenbild kennzeichnet. Während bei Caligari dadurch eine Atmosphäre der Angst erzeugt wird, sind es bei The Night of the Hunter in den Flussszenen eher Staunen und Geruhsamkeit. Auffallend ist vor allem auch die Schwärze, mit der viele Szenen gestaltet sind – insbesondere die Szenen, in denen die Kinder vom Priester bedroht werden, spielen mit der Düsternis. Ein Beispiel ist die wenig beleuchtete Szene am Filmanfang, in der Powell mit anderen Männern dem Striptease einer Tänzerin zuschaut: nur die Tänzerin und Prediger mit seinen tätowierten Händen und seinem Klappmesser sind beleuchtet, der Rest der Szene ist nur minimalistisch in Silhouetten zu sehen. Am deutlichsten wird der expressionistische Einfluss während der rund zehn Minuten langen Flussszenen, deren teilweise groteske Kulissen vom bekannten Szenenbildner Hilyard M. Brown bewusst überkünstelt gestaltet wurden. Bei den Flussszenen kommt es immer wieder zu surrealistischen Momenten, etwa wenn es durch die Kameraperspektive so aussieht, als ob das Boot mit den flüchtenden Kindern in einem Spinnennetz gefangen sei.
Neben Griffith und dem deutschen Expressionismus waren die skandinavischen Stummfilme eine dritte Inspiration für Laughton. Regisseure wie Victor Sjöström schilderten hingebungsvoll das Landleben und räumten der Kraft der Natur, die gegenüber dem einzelnen Menschen als übermächtig erscheint, in ihren Filmen viel Platz ein – Merkmale, die auch in diesem Film erkennbar sind. So wird Harry Powell durch die Tiefe des Flusses vorerst aufgehalten, die Kinder weiter jagen zu können, und muss ihnen auf dem Landweg folgen.
Einsatz von Musik
Die teilweise auffallende Filmmusik von Walter Schumann ist an die Begleitmusik zu Stummfilmen angelehnt. Schumann hatte in der Vergangenheit bereits mit Laughton gearbeitet und war dessen erste und einzige Wahl. Schumann legte für Harry Powell eine laute Themenmusik an, die ständig bei dessen Erscheinen auftritt. Dieses Thema wird schon im Vorspann beim Namen Robert Mitchum gespielt (von Schumann „pagan motif“ getauft), dann in der ersten Szene, in welcher Mitchum im Auto fährt und erstmals auftaucht, wiederholt. In einer späteren Szene überzeugt Mrs. Spoon Willa nach der Hinrichtung ihres Mannes davon, dass sie sich nochmals verheiraten solle – die Kamera schneidet zweimal kurz auf einen großen, schwarzen Zug, mit welchem Powell offenbar in Richtung Familie Harper fährt. Durch Bild und Ton wird so das tragische Schicksal von Willa bereits vorweggenommen. Andere Figuren wie Onkel Birdie und Mrs. Cooper bekommen ebenfalls eigene, zu den Figuren passende Musikthemen zugeteilt, Mrs. Coopers Thema erinnert an ein Wiegenlied und vermittelt Geborgenheit, bei Onkel Birdie erklingen fröhliche und sprunghafte Rhythmen. Die Musikthemen von Birdie und Mrs. Cooper sind im 6/8-Takt geschrieben und harmonieren rhythmisch miteinander, was von der Handlung her stimmig ist, da beide im Film als Ersatzeltern für John fungieren. Willa hat einen langsamen, romantisch und traumhaft klingenden Walzer als Musikthema, der nach ihrer Ermordung nur noch einmal auftaucht: als Mrs. Coopers Schützling Ruby in die Stadt geht und nach Männern Ausschau hält. Ruby und Willa, die beide auf ähnlich obsessive Weise dem Prediger verfallen sind, werden folglich musikalisch miteinander verknüpft.
Ebenfalls lässt Schumann trotz der düsteren Handlung des Filmes verschiedene Kinderlieder zum Einsatz kommen, die einen Gegensatz zwischen dem „unbeschwert-Kindlichen und dem Verbrechen“ erzeugen würden. Dieser Gegensatz ziehe sich durch den gesamten Film. Mehrmals singt Prediger Powell das 1887 geschriebene Kirchenlied Leaning on the Everlasting Arms im Film. Das Lied handelt vom Vertrauen auf Gott, da es aber der gefährliche Mörder Powell singt, wird der Text pervertiert. Als Powell das Kirchenlied erneut vor dem Haus von Mrs. Cooper anstimmt, singt diese kurzerhand mit, wodurch sie Powells boshafter Vereinnahmung des Glaubens ihr positives Gottvertrauen gegenüberstellt. Die ironische Verwendung von Gesangsliedern ist bereits in Grubbs Roman angedacht, in dem beispielsweise bei der Picknickszene Shall We Gather at the River? gesungen wird.
Geografische und geschichtliche Einordnung
Geografisch spielt die Handlung des Films am Ohio River in den Appalachen und damit nicht wirklich in den Südstaaten, sondern an der Grenze zwischen West Virginia und Ohio. Trotzdem knüpft The Night of the Hunter inhaltlich wie formal an die literarische Gattung der Southern Gothic an, zu welcher der Roman von Grubb ebenfalls gehört. Daher kann man den Film akkurater als „Appalachian Gothic“ sehen. Mit seiner Sozialkritik, dem Vorkommen ländlicher Dörfer sowie den düsteren und markanten Charakteren werden viele Kennzeichen des Southern Gothic bei The Night of the Hunter erfüllt. Der Ohio River nimmt im Film eine zentrale Rolle ein: bei dem Picknick am Fluss, als Wohnort von Onkel Birdie, als Versteck der Leiche von Willa und schließlich als zeitweiliger Zufluchtsort für die Kinder. Davis Grubb bemerkte, dass wie schon in seinem Buch auch in Laughtons Verfilmung der Fluss der eigentliche Held des Filmes sei. Der Ohio River wird im Film in vielen Facetten gezeigt und bildet, ähnlich wie der Mississippi in Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn, einen Ort temporärer Zuflucht für Verfolgte.
Geschichtlich ist die Handlung in der Great Depression der 1930er-Jahre angesiedelt, die insbesondere die Bauern hart traf. Es wird das Bild eines machtlosen Staates gezeigt, der selbst Kinder nicht versorgen und den Serienmörder Powell nicht fassen kann. James Agee wollte mit seinem Drehbuch aufzeigen, wie in der Bevölkerung, die in der Wirtschaftsnot ein Bedürfnis nach Sicherheit entwickelt, Gewalt zunehmend einen Platz findet und so die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Ben Harper will mit seinem Bankraub seinen Kindern eine gute Zukunft bieten, lässt sie aber traumatisiert zurück. Auch die kleine Nebenhandlung des Henkers Bart, der am liebsten keine Hinrichtungen mehr vollziehen würde, aber dies wegen des sicheren Jobs und der Versorgung seiner Kinder nicht aufgeben will, thematisiert dieses Problem. Hier schlägt Agee Parallelen zu einem seiner Lieblingsfilme, Monsieur Verdoux von Charlie Chaplin, in dem Chaplins Familienvater ebenfalls aus finanziellen Gründen – wie Harry Powell – Morde an Witwen begeht. Sigurd Enge befand gar, dass der Vater Harper durch den Staat und Mutter Harper durch die Religion getötet worden sei. Die kurzen Szenen im Film, die direkt das Elend der Landbevölkerung zeigen und vor allem zwischen den traumhaft wirkenden Sequenzen der Flussfahrt eingefügt sind, erinnern bildlich durch ihren grobkörnigen, rauen Stil an die Fotografien von Walker Evans, die dieser auf seiner gemeinsamen Reportage mit James Agee in den Südstaaten in den 1930er-Jahren geschossen hatte.
Gleichzeitig übt der Film Kritik an der Leichtgläubigkeit und Bigotterie der amerikanischen Bevölkerung: Autor Davis Grubb spielte in seiner Vorlage auf radikale Hassprediger wie Charles Coughlin an, die in den 1930er-Jahren viele Anhänger unter der notleidenden Bevölkerung gewinnen konnten. Im Film ist speziell die weibliche Landbevölkerung – von der älteren Mrs. Spoon über die Mutter Willa bis zur Jugendlichen Ruby – beeindruckt von Powells anschaulich-plakativen Predigten. So drängt Mrs. Spoon, beeindruckt von Powell, Willa zu ihrer Heirat mit ihm, die schließlich zu ihrer Ermordung führt. Später ist Mrs. Spoon wild herumschreiend als eine der Anführerinnen der versuchten Lynchjustiz gegen Powell zu sehen, wobei Laughton der Darstellerin Evelyn Varden die Anweisung gab, die Szene „mit starrenden Augen und betrunkenem Gesicht“ zu spielen. Mr. Spoon verdächtigt die „Zigeuner“, als ein Bauer ermordet und dessen Pferd gestohlen wird – tatsächlich offenbart die nächste Szene aber, dass Powell das Pferd gestohlen und den Bauern offenbar ermordet hat, um die Kinder auf dem Landweg am Ohio River verfolgen zu können.
Willa Harper wie auch Onkel Birdie sind Erwachsene, die den Kindern keinen Schutz bieten können, da sie selbst von Ängsten und Problemen besessen sind. Beide trauern um ihren verstorbenen Ehepartner, ihren Schmerz stillen sie im Alkohol (Onkel Birdie) oder mit fanatischer Religiosität (Willa). Letztere lässt sich sogar von Powell ohne Gegenwehr umbringen, nachdem sie von dessen wahren Absichten erfahren hat, anstatt die Kinder zu nehmen und zu fliehen. Zwar werden die Kinder am Ende von Mrs. Cooper gerettet und der Film findet ein versöhnliches Ende, doch in dem letzten, von ihr gesprochenen Satz des Filmes, dass die Kinder es „aushalten und ertragen“ (abide and endure), ist ein deutlicher Hinweis auf das anhaltende Schicksal verfolgter Kinder auf der Welt erkennbar.
„Gut und Böse“ in den Figuren
Die Nacht des Jägers beinhaltet biblische und auch märchenhafte Elemente. So bezieht sich die Handlung mehrmals konkret darauf, wie Moses und Jesus ihren Feinden entkommen konnten. Die Flucht und Situation der Kinder erinnert an Grimmsche Märchen wie Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen. Laughton selbst bezeichnete den Film als „albtraumhaftes Mother Goose“, wobei die Figur der mütterlichen Rachel speziell an die im englischen Sprachraum beliebte Figur der Mother Goose erinnert. Der Film sollte in seinem Szenenbild und der Kameraarbeit bewusst aus der Perspektive eines Kindes – und aus der Sicht eines Kindes auf die Welt – inszeniert sein.
Ein zentrales Thema des Filmes sind Gegensätze, etwa die zwischen den Kindern und Erwachsenen, aber vor allem der ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Während Rachel Cooper dabei für das Gute und eine positive Religiosität steht, verkörpert Powell als ihr Gegenpol das Böse und eine strafende, verirrte Religiosität. In Grubbs Roman wird Mrs. Cooper, deren Sohn weit entfernt lebt und kaum Kontakt hält, als eine zumindest teilweise vom Leben gebrochene Frau gezeigt, in Gishs Darstellung erscheint Mrs. Cooper als Symbol für Gutmütigkeit dagegen weitgehend unsentimental und unkompliziert. Dargestellt wird dieser Kampf bildlich durch die tätowierten Finger von Harry Powell, auf denen LOVE und HATE geschrieben steht. Eindrucksvoll demonstrierte er in einer Filmszene damit den Kampf zwischen Gut (rechte Hand = LOVE) und Böse (linke Hand = HATE). Das Motiv wurde und wird bis heute in zahlreichen Kino- und Fernsehproduktionen zitiert. „So wie LOVE und HATE beide in der Seele des Menschen vorhanden sind, so dienen auch Glaube und Religion sowohl zu gefährlichen als auch veredelnden Zwecken.“ Während der Prediger und, zu geringerem Grade, die scheinheiligen Dorfbewohner engstirnigen Fanatismus und Gewissheit repräsentieren würden, verkörpere Mrs. Cooper „den Zweck von Glauben, symbolischem christlichem Mitgefühl und Durchhaltevermögen“, schreibt Elbert Ventura vom Online-Magazin Slate.
Auch schauspielerisch versuchte Laughton durch die Regieanweisungen diesen Gegensatz auszudrücken. Mitchum spielt seinen Charakter bewusst übertrieben, bis an die Grenzen der Glaubwürdigkeit und im Stile des Epischen Theaters von Brecht: „Er ist eine durch sich selbst geschaffene Bühne, und es freut ihn, sowohl seine leichtgläubigen Zuschauer als auch seine eigene Darbietung anzusehen“, schreibt der zu dem Film forschende Jeffrey Couchman über Mitchums Figur. In einer Szene, als John ihn konfrontiert, scheint es den Prediger fast zu freuen, dass mit John jemand hinter seine Maske gekommen ist. Umso triumphaler macht es ihn, dass niemand John Glauben schenken wird. Als Mrs. Cooper ihn in der Nacht anschießt, wirkt der plötzlich aus dem Nichts auftauchende Prediger wie eine Slapstick-Figur aus Stummfilmkomödien. Lillian Gish spielt die Mrs. Cooper als Gegensatz hierzu naturalistisch und glaubwürdig: „Schmal, kinderhaft, mit zarten Gesichtszügen, strahlt sie eine spirituelle Intensität aus, die sich in physischer Stärke manifestiert“, bemerkt Couchman. Auch in den Nebenfiguren zeigt sich dieser Wechsel zwischen auffälligem und naturalistischem Schauspiel, durch den Beziehungskonstellationen verdeutlicht werden: So werden die sympathischen Figuren John und Onkel Birdie wie Mrs. Cooper eher natürlich gespielt und harmonieren miteinander, die heuchlerische Mrs. Spoon passt hingegen vom Schauspielstil durch Evelyn Vardens übertriebene Gesten zum Prediger, zu dessen unwissentlicher Komplizin sie wird, als sie die Heirat zwischen ihm und Willa initiiert. Shelley Winters als Willa schwankt passenderweise zwischen naturalistischem und auffälligem Schauspiel.
In Mrs. Cooper, die im Gegensatz zu den anderen weiblichen Figuren nicht dem Charme des Predigers erliegt und im Kontrast zu Onkel Birdie die Kraft aufbietet, den Kindern zu helfen, findet Powell seine Gegenspielerin. Sie siegt am Ende, was auch dadurch verdeutlicht wird, dass sie sowohl die ersten als auch die letzten Sätze des Filmes spricht, also wie eine die Handlung einrahmende Erzählerin fungiert.
Synchronisation
Die deutsche Synchronfassung entstand vermutlich zur deutschen Erstaufführung im März 1956.
Rezeption
Veröffentlichung und Publikumsreaktion
Die Nacht des Jägers hatte seine Premiere am 26. Juli 1955 in Paul Gregorys Heimatstadt Des Moines in Iowa, landesweit wurde er einen Monat später am 26. August 1955 veröffentlicht. In Westdeutschland und Österreich erschien der Film erst im März 1956 in den Kinos. Kommerziell war der Film seinerzeit ein Misserfolg, so erinnerte sich beispielsweise die Kritikerin Pauline Kael, dass sie den Film in einem Kino mit 2000 Plätzen gesehen habe, von denen nur ein Dutzend besetzt gewesen seien. Paul Gregory führte das auch auf die schlechte Vermarktungsstrategie des Filmstudios United Artists zurück, wo Die Nacht des Jägers für zu sonderbar gehalten und weitgehend ohne Promotion in die Kinos gelassen wurde. Viele zeitgenössische Plakate und Anzeigen stellten den Film als genreüblichen Horrorschocker da, während von Gregory entworfene Marketingstrategien, den für damalige Sehgewohnheiten ungewohnten Film auf besondere Art zu bewerben, von United Artists unbeachtet blieben. United Artists konzentrierten ihre Kräfte bei der Vermarktung hauptsächlich auf den zeitgleich herauskommenden … und nicht als ein Fremder mit Mitchum, der teurer produziert und mit Olivia de Havilland und Frank Sinatra in den weiteren Rollen auch mehr Stars aufbot.
Zeitgenössische Kritiken
Die zeitgenössischen Kritiken zu The Night of the Hunter fielen nur gemischt aus, an der US-Ostküste wurde der Film sogar von einigen Kritikern komplett verrissen. Die Kritiken in Kalifornien fielen besser aus, aber selbst das dort ansässige Branchenblatt Variety zeigte sich wenig überzeugt: Der „unbarmherzige Terror“ von Grubbs Romanvorlage würde bei Paul Gregory und Charles Laughton in ihrer Verfilmung verschwinden. Das Debüt von Gregory als Produzent und Laughton als Regisseur sei zwar vielversprechend, doch das komplette Produkt sei, obwohl manchmal faszinierend, insgesamt gescheitert. Es verliere seinen wichtigen Antrieb durch zu viele Seitengeschichten, die auf den Film einen „dunstigen Effekt“ ausüben würden. Ein direkteres Erzählen der Geschichte ohne die „Verschönerungen“ hätte den Film überzeugender gemacht. Positiver gestimmt waren die Kolumnisten Ed Sullivan und Louella Parsons sowie Charlotte Speicher im Library Journal, die als eine der wenigen Stimmen komplett von The Night of the Hunter begeistert war: „In seiner Sensibilität, seiner einfallsreichen und oft poetischen Kameraarbeit, seiner eindringlichen Filmmusik, seinem geschickten Einsatz von Hymnen und besonders in seiner ergreifenden, nervenzerreibenden Kraft, bildet er eine wichtige und denkwürdige Leistung.“
In der Regel versuchten die meisten Rezensenten, Lob und Kritik auszubalancieren. Beispielhaft war Bosley Crowthers wohlwollende, aber nicht komplett überzeugte Meinung in der New York Times vom 30. September 1955: „Die Lokalitäten sind schrecklich ländlich, die Atmosphäre der Provinz ist intensiv, und Robert Mitchum spielt den mörderischen Geistlichen mit einer eisernen Gesalbtheit, dass einem der Schauer über den Rücken läuft. In seiner Figur ist mehr als Böswilligkeit und Gemeinheit. Da ist eine starke Spur von Freudscher Verirrung, Fanatismus und Schuld.“ Evelyn Varden und Don Beddoe würden faszinierende Darbietungen ignoranter Kleinstadt-Figuren bieten, und auch Shelley Winters als Mutter sei beeindruckend. Crowther hob die Hochzeitsnacht-Szene zwischen Mitchum und Winters heraus, diese sei eine der „erschreckendsten Szenen ihrer Art“ seit Erich von Stroheims Stummfilm-Klassiker Gier. Zudem lobte Crowther die Regiearbeit von Laughton, der mit „starken, unnachgiebigen Bildern“ gearbeitet hätte. Er kritisierte aber zugleich, dass Laughtons Regiedebüt ein paar Unsicherheiten zeige, die sich im letzten Teil des Filmes bemerkbar machen würden. Nach der Flucht der Kinder bewege „sich der Film in Richtung allegorischem Kontrast zwischen den Kräften von Gut und Böse. Seltsame, nebelhafte Szenen, komponiert aus Schatten und unrealistischen Silhouetten, suggerieren den Übergang zur Abstraktion.“ Gegen Ende seien die Szenen zu prätentiös gehandhabt worden und der zuvor hart wirkende Film werde auf einmal zu sanft.
Den Vorwurf, der Film sei zu künstlerisch („arty“) geraten, teilten fast alle Rezensenten aus den 1950er-Jahren. Laut Filmeditor Robert Golden warf ein Produzent der United Artists dies Laughton auch persönlich vor, woraufhin dieser ihn verbittert fragte: „Was verstehen Sie denn schon von Kunst?“ In der internationalen Kritik lobte François Truffaut den Film, prophezeite aber zugleich zutreffenderweise, dass es wahrscheinlich Laughtons einzige Regiearbeit bleiben werde, da er mit seinem Werk „gegen die Regeln des Kommerzes“ verstoßen habe.
Spätere Rezeption
In den folgenden Jahrzehnten veränderte sich die Rezeption des Filmes grundlegend, nicht zuletzt durch Ausstrahlungen des Filmes im US-Fernsehen sowie den sich verändernden Publikumsgeschmack. Vorherige Aspekte des Films, die als übertrieben künstlerisch stigmatisiert wurden, fanden ab den 1970er-Jahren Lob. So äußerte Douglas Brode 1976, dass der Film so offensichtlich wie nur möglich im Studio gedrehte Szenen mit anderen, sehr realistisch wirkenden Einstellungen verbinde. Aber „statt zusammenzustoßen, mischen sie sich zu einer auffällig eigenständigen Vision“. Truffaut äußerte rückblickend, dass es ein Film gewesen sei, der die Liebe zum Experimentalfilm wiedererweckt hätte („[…] ein Experimentalkino das wirklich experimentiert, und ein Kino der Entdeckungen, das wahrhaftig entdeckt“). Durch die Veröffentlichung des Filmes auf Homevideo, verschiedene popkulturelle Referenzen und den Einsatz von Regisseuren wie Martin Scorsese wurde der Status von The Night of the Hunter ab den frühen 1990er-Jahren nochmals aufgewertet und es erfolgten seitdem häufiger wissenschaftliche Untersuchungen.
Bei vielen Filmkritikern wird er mittlerweile als einer der besten Filme aller Zeiten geschätzt. Auf dem Kritikerportal Rotten Tomatoes besitzt Die Nacht des Jägers basierend auf den gewerteten 69 Kritiken eine positive Wertung von 99 %, wobei die einzige negative der 69 Kritiken zum Film aus dem Entstehungsjahr kommt. Roger Ebert von der Chicago Sun-Times nahm den Film 1996 in seine Bestenliste der Great Movies auf und gab ihm die Höchstwertung von vier Sternen. The Night of the Hunter sei „einer der größten amerikanischen Filme, hat aber nie die Anerkennung erhalten, die er verdient“. Die Menschen könnten ihn nicht kategorisieren, deshalb würden sie ihn ignorieren. „Dennoch: Was für ein unwiderstehlicher, angsteinflößender und wunderschöner Film er ist! Und wie gut er seine Zeit überstanden hat.“ Auch 40 Jahre später wirke der Film noch komplett zeitlos und Laughton habe mit seiner ersten Regiearbeit „einen Film, wie es ihn nie zuvor und nie danach gegeben hat“ geschaffen. Der Film zeuge von einem großen Selbstvertrauen des Debütanten Laughton, denn beim Anschauen könne man denken, er würde auf ein Lebensalter an Regieerfahrung zurückgreifen. Dabei habe er viele filmische Konventionen erfolgreich gebrochen: „Es ist riskant, Horror mit Humor zu verbinden, und tollkühn einen expressionistischen Ansatz zu verfolgen.“
Dave Kehr entdeckt in seiner Kritik für den Chicago Reader neben dem Einfluss des deutschen Expressionismus auch weitere „germanische Obertöne“ im Film: Die „allgegenwärtige, grüblerische Romantik“ von Schiller und Goethe mit seinem Erlkönig sei spürbar. Trotz unterschiedlicher Einflüsse sei die „Ursache seines Stils und seiner Kraft geheimnisvoll – es ist ein Film ohne Präzedenzfall und ohne seinesgleichen“. Kehr verweist auch auf die Schauspielleistung von Robert Mitchum, der in diesem „bleibenden Meisterwerk“ am deutlichsten seine „wilde Sexualität“ auf der Leinwand zeige.
In Deutschland schrieb Reclams Filmführer im Jahr 1973, der Film sei ein „eigenwilliger, manchmal monströser, aber immer faszinierender Film. Laughton bedient sich mancher Stilmittel der Stummfilmzeit, setzt weniger auf vordergründige Aktion, sondern kostet Gefühle und Stimmungen aus. Dabei gelingen ihm Bilder von naiver Schönheit und düsterer Kraft.“ Der Filmdienst schrieb, der Film arbeite „mit suggestiven Licht- und Toneffekten und erzeugt so eine irreale, beklemmende, manchmal schockierende Atmosphäre“. Der Film sei erst spät als Werk mit „originärer Filmsprache“ wiederentdeckt worden. Prisma verteilte ebenfalls die Höchstwertung und schrieb, Laughtons einzige Regiearbeit erweise sich als „ein einzigartiges, expressionistisches Meisterwerk mit beklemmender, teilweise sogar schockierender Atmosphäre und einem bemerkenswert psychopathisch agierenden Mitchum, dessen Performance stark an Ein Köder für die Bestie erinnert. Ein Film, der in Atmosphäre und Thema seiner Zeit weit voraus war. Düsterer geht es kaum!“
Einfluss auf spätere Künstler
Einige der Thriller- und Horror-Elemente sowie die von Laughton teilweise grotesk gezeigten Situationen verweisen stilistisch und inhaltlich bereits auf spätere Filme. Die Konfrontation der beschaulichen Kleinstadt mit dem ultimativen Bösen wurde beispielsweise für den Regisseur David Lynch ein zentrales Thema, etwa in Blue Velvet und Twin Peaks.
Rückblickend kann Die Nacht des Jägers als Vorreiter späterer, erfolgreicher Filmgenres verstanden werden. Ethan und Joel Coen zitierten die Szene mit Mrs. Harper am Flussgrund in ihrer Noir-Hommage The Man Who Wasn’t There. Auch in weiteren Filmen der Coen-Brüder lassen sich Anspielungen finden: So wird in Ladykillers (2004) und True Grit (2010) jeweils das Lied Leaning on the Everlasting Arms gesungen und die letzte Zeile von The Big Lebowski mit dem Satz „Der Dude bleibt“ (“The Dude Abides”) erinnert an den letzten Satz von Mrs. Cooper in The Night of the Hunter – in dem sie ihre Aussage aber nicht auf Jeff Bridges’ Alt-Hippie-Figur, sondern auf die Kinder der Welt bezieht.
In Spike Lees Do the Right Thing (1989) trägt die Figur Radio Raheem an seinen Fingern Ringe mit den Wörtern Love und Hate und zitiert an einer Stelle im afroamerikanischen Slang die Predigt von Harry Powell direkt. Lee setzt diese Szene als Vorausdeutung des gewaltsamen Filmendes von Do the Right Thing ein, bei dem Radio Raheem erschossen wird und daraufhin wie in The Night of the Hunter ein gewaltsamer Mob durch die Straße zieht. 2012 stellte Lee The Night of the Hunter bei einer Ausstrahlung im Fernsehsender Turner Classic Movies als einen seiner Lieblingsfilme vor. Eine Anspielung an die Händeszene gibt es auch bei der von Meat Loaf verkörperten Figur des Eddie in The Rocky Horror Picture Show (1975) sowie in einer Episode der Serie Die Simpsons von 1993.
Bruce Springsteen spielt in seinem Lied Cautious Man von 1987 auf The Night of the Hunter an.
Auszeichnungen
Zwar wurde Die Nacht des Jägers bei seiner Veröffentlichung mit keinerlei Auszeichnungen bedacht, allerdings folgten in späteren Jahren zahlreiche Ehrungen durch Kritiker: 1992 erfolgte die Aufnahme des Filmes in das National Film Registry als „kulturell, historisch oder ästhetisch bedeutsam“. Bei einer Abstimmung des American Film Institute wurde er 2001 auf Platz 34 der besten amerikanischen Thriller aller Zeiten gewählt, zwei Jahre wurde bei dem Filminstitut außerdem die Figur des Harry Powell auf Platz 34 der größten Filmschurken genannt. Das französische Filmmagazin Cahiers du cinéma listete Die Nacht des Jägers im Jahr 2008 hinter Orson Welles’ Citizen Kane auf dem zweiten Platz der besten Filme aller Zeiten. 2009 wurde der Film vom britischen Kulturmagazin The Spectator auf Platz 1 der 50 „essenziellsten Filme aller Zeiten“ gewählt (vor Apocalypse Now und Sunrise). Bei der renommierten, alle zehn Jahre stattfindenden Kritikerumfrage des britischen Filmmagazins Sight & Sound nach dem besten Film aller Zeiten wurde The Night of the Hunter im Jahr 2012 auf Platz 63 gewählt.
Adaptionen
1991 entstand das Fernsehfilm-Remake The Night of the Hunter unter Regie von David Greene, das Grubbs Romanhandlung in die 1990er-Jahre versetzte, aber von Kritikern als deutlich schwächer beurteilt wurde. Es spielten unter anderem Richard Chamberlain als Harry Powell, Diana Scarwid als Willa Harper sowie Burgess Meredith als Onkel Birdie.
Minutentexte, ein Hörspiel von Volker Pantenburg und Michael Baute, entstand unter Produktion des Hessischen Rundfunks und des Deutschlandfunks im Jahr 2008. 93 Autoren interpretieren die 93 Minuten des Films, darunter Hanns Zischler, Harun Farocki und Julia Hummer.
Medien
Die Nacht des Jägers. DVD, MGM Home Entertainment 2001.
Die Nacht des Jägers. DVD, Süddeutsche Zeitung Cinemathek, Sony Pictures 2006.
Die Nacht des Jägers. (Blu-Ray inkl. DVD), Masterpieces Of Cinema Collection, Koch Media GmbH 2013.
The Night of the Hunter (Blu-Ray und DVD), Criterion Collection 2021. (englisch)
Soundtrack
The Night of the Hunter. An Original Soundtrack Recording with Narration. Music by Walter Schumann. BMG/RCA 74321720532, 1999.
Romanvorlage
Davis Grubb, Susanna Rademacher Die Nacht des Jägers. Blanvalet, 1954. 319 Seiten, Leineneinband, Gr. 8° [Varia].
Davis Grubb: Die Nacht des Jägers (= The Night of the Hunter, Übersetzer Helmut Grass). Ullstein, Nr. 10772, Kriminalroman, Frankfurt am Main, Berlin 1995, ISBN 978-3-548-10772-1.
Literatur
Stephen M. Bauer: Oedipus Again: A Critical Study of Charles Laughton’s The Night of the Hunter. In: The Psychoanalytic Quarterly, Jahrgang 1999, Ausgabe 4, S. 611–636.
Michael Baute, Volker Pantenburg (Hrsg.): 93 Minutentexte: The Night of the Hunter. Brinkmann und Bose, Berlin 2006, ISBN 3-922660-94-0 (93 Texte über die 93 Minuten des Films; u. a. von Thomas Arslan, Hartmut Bitomsky, Frieder Butzmann, Diedrich Diederichsen, Heinz Emigholz, Harun Farocki, Julia Hummer, Florian Koerner von Gustorf, Enno Patalas, Christian Petzold, Angela Schanelec, Klaus Theweleit, Klaus Wyborny und Hanns Zischler).
Simon Callow: The Night of the Hunter (BFI Film Classics). British Film Institute, London 2000, ISBN 978-0-85170-822-5.
Jeffrey Couchman: The Night of the Hunter: A Biography of a Film. Northwestern University Press, Evanston 2009, ISBN 978-0-8101-2542-1.
Preston Neal Jones: Heaven & Hell To Play With – The Filming of The Night of the Hunter. Limelight Editions, New York, 2002, ISBN 0-87910-974-2.
Thomas A. Schwenn: Bringing Day to Night: The Resurrection of The Night of the Hunter. Essay online unter BrightLightFilms, 2015.
Anke Sterneborg: Die Nacht des Jägers / The Night of the Hunter. In: Filmklassiker – Beschreibungen und Kommentare. Hrsg. von Thomas Koebner. 5. Auflage, Reclam junior, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-15-030033-6, Band 2: 1946–1962, S. 270–274.
Damien Ziegler: La Nuit du chasseur, une esthétique cinématographique. Bazaar and Co, 2008. 160 Seiten.
Weblinks
The Night of the Hunter bei Senses of Cinema
Sigurd Enge: Analyse des Filmes, insbesondere in Bezug auf Film-Noir-Aspekte. (PDF; 7,9 MB)
Einzelnachweise
Filmtitel 1955
US-amerikanischer Film
Thriller
Film noir
Filmdrama
Schwarzweißfilm |
820022 | https://de.wikipedia.org/wiki/T-40%20%28Panzer%29 | T-40 (Panzer) | Der T-40 (Objekt 020) war ein leichter sowjetischer Schwimmpanzer zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. In der Sowjetunion wurde er als „kleiner Panzer“ klassifiziert.
Das Konstruktionsbüro des Werks Nr. 37 in Moskau entwickelte den T-40 in der ersten Hälfte des Jahres 1939. Als Chefkonstrukteur wirkte Nikolai Alexandrowitsch Astrow, einer der damals führenden Spezialisten in der Entwicklung leichter Panzer. Die Rote Armee nahm den Panzer im Dezember 1939 an und das Werk Nr. 37 produzierte ihn bis Dezember 1941 in Serie.
Während der Serienfertigung modifizierten die Entwickler den T-40 mehrfach, sowohl um die Fertigung zu vereinfachen, als auch um Panzerung und Feuerkraft zu verstärken. Die späteren Ausführungen, in der Literatur als T-40S und T-30 bezeichnet, wiesen einen besseren Panzerschutz auf und trugen als Hauptbewaffnung eine kleinkalibrige Maschinenkanone statt eines überschweren Maschinengewehrs. Gleichzeitig verloren die Panzer ihre Schwimmfähigkeit. Diese Varianten stellten Übergangsmodelle zum Nachfolgemodell, dem leichten Panzer T-60 dar.
Die Rote Armee setzte den T-40 hauptsächlich in den Kämpfen der Anfangsphase der deutschen Invasion der UdSSR ein. Die meisten T-40-Panzer wurden im Spätherbst des Jahres 1941 in der Schlacht um Moskau eingesetzt. Fast alle Panzer gingen hier und in Folge verloren, so dass der Typ bereits 1942 aus den Panzertruppen verschwand. Einzelne verbliebene Fahrzeuge verwendete die Armee zu Trainingszwecken bis zum Ende des Krieges.
Entwicklungsgeschichte
Voraussetzungen
Neben den schweren, mittleren und leichten Panzern sah das System der Panzerausrüstung der Roten Armee eine besondere Klasse von Panzern vor, die sogenannten kleinen Panzer (russisch малые танки). Sie bildeten eine Unterart des leichten Panzers. Aufklärung, Schutz der Infanterie beim Marsch, Kampf gegen gegnerische Saboteure, Fallschirmjäger und Partisanen sowie die Nachrichtenverbindung waren typische Aufgaben für den kleinen Panzer der Roten Armee Ende der 1930er-Jahre. Auch sollten sie Wasserhindernisse ohne Vorbereitung überwinden können.
Ende der 1930er-Jahre gehörten zwei Typen von kleinen Panzern zur Ausrüstung der Roten Armee, der T-37A und der T-38. Beide Fahrzeuge waren Weiterentwicklungen eines britischen Schwimmpanzerprototyps, dessen Lizenz zum Bau und zur Weiterentwicklung des Entwurfs bei Carden-Loyd Tractors Ltd. gekauft worden war. Die Anpassung der britischen Konstruktion an die sowjetischen Produktionsbedingungen übernahm das Konstruktionsbüro des Moskauer Werks Nr. 37 unter Leitung N. N. Kosyrews und N. A. Astrows. Die großen an ihn gestellten Erwartungen konnte das Ergebnis dieser Arbeiten, der kleine Schwimmpanzer T-38 nur zu einem kleinen Teil erfüllen. Zwei darauf folgende Modernisierungen behoben nur einen Teil der Mängel. Der T-38 wies weiterhin folgende Hauptschwachpunkte auf:
schwache Bewaffnung mit nur einem 7,62-mm-DT-Maschinengewehr;
schwache Panzerung, die nicht vor Treffern durch Panzerbüchsen, Granatsplitter und Handgranaten schützen konnte;
räumlich getrennte Plätze für Fahrer und Kommandant, so dass der Panzer bei Verwundung oder Tod des Fahrers gänzlich ausfiel;
ungenügende Schwimmfähigkeit; der Panzer konnte selbst bei gutem Wetter weder zwei Soldaten noch sonstige Nutzlast befördern, mehrmals sanken T-38 bei Übungen und Tests aufgrund ungenügender Abdichtung der Panzerwanne oder infolge leichten Wellengangs;
schlechte Mobilität auf weichen Böden.
Deshalb begann das Konstruktionsbüro des Werks Nr. 37 unter der Leitung N. A. Astrows bereits im zweiten Halbjahr des Jahres 1937 mit den Arbeiten am Projekt eines neuen kleinen Schwimmpanzers, der diese Mängel nicht mehr aufweisen sollte. Eine Hauptentwicklungsrichtung lag im Bereich der Panzerwanne, die durch eine günstigere Formgebung bessere Schwimmeigenschaften aufweisen sollte, um so die bestehenden Beschränkungen in der Abmessung der Wanne zu verringern. Außerdem sollten billige und zuverlässige Teile aus der Automobilindustrie für den Antrieb sowie technische Neuentwicklungen für das Laufwerk verwendet werden. Einige Bestandteile des neuen Entwurfs wurden vom T-38 übernommen, das Projekt mit der Bezeichnung 010 war aber keine Weiterentwicklung des britischen Urahnen der T-37A- und T-38-Panzer, sondern eine unabhängige Neuentwicklung durch Astrows Konstruktionsbüro.
Vorkriegsentwicklung
Das Schicksal des Projektes 010 war in einer frühen Entwicklungsstufe akut bedroht. Der Auftraggeber der Panzerfahrzeuge, das Hauptpanzeramt der Roten Armee (GBTU (ГБТУ РККА – ), wünschte anstatt eines Panzers wie dem T-38 als Schwimmaufklärer ein Fahrzeug, das sich, ähnlich den Fahrzeugen der BT-Serie, sowohl auf Rädern als auch mit aufgezogenen Ketten (bei der Fahrt im Gelände) fortbewegen konnte (колёсно-гусеничный танк, Koljoßno-Gußennitschnij Tank)). Als Gewicht waren fünf bis sechs Tonnen, als Antrieb ein Dieselmotor mit etwa 150 bis 180 PS gefordert. Dieses Projekt trug die Armeebezeichnung T-39. Zu diesem Zeitpunkt vertrat Astrow den verhafteten N. N. Kosyrew als Direktor des Werks Nr. 37. Er meldete dem GBTU die Unmöglichkeit des Baus eines solchen Panzers im Rahmen der Gewichts- und Kostenvorgaben. Auch stand kein passender Dieselmotor zur Verfügung, es gab nicht einmal ein Projekt zu dessen Entwicklung. Diese Einwände führten nur zur Anweisung, einen solchen Motor bis zum Herbst 1937 zu entwickeln. Im Juli 1937 folgte die Inspektion durch das GBTU, dessen Bericht für Astrow und seine Mitarbeiter unbefriedigend ausfiel. Im Frühjahr 1938 änderte die neue Führung des GBTU (die vorhergehenden Kader waren der stalinischen Tschistka zum Opfer gefallen) jedoch die taktischen und technischen Anforderungen für den neuen Schwimmpanzer deutlich. Jetzt sollte dieser ausschließlich auf Ketten fahren können und ein Ottomotor mit 90 PS Leistung zum Einsatz kommen. Diesen Anforderungen entsprach Astrows Projekt 010 gut. Zur selben Zeit erhielt das Projekt die Armeebezeichnung T-40.
In dieser Zeit wurde das 010-Projekt vom kleinen Konstruktionsbüro des Werks Nr. 37 entwickelt. Außer dem Chefkonstrukteur, der aktiv an der Projektierung teilnahm, waren die Ingenieure R. A. Anschelewitsch und A. W. Bogatschew mit der Entwicklung des neuen Panzers beschäftigt. Es wurde jedes Laufrad einzeln mit einem Drehstab gefedert. Die Konstrukteure legten besondere Sorgfalt auf die Ergonomie des Fahrzeugs. Anders als beim T-38 saß die Mannschaft des T-40 in einem Raum; der Fahrer hatte seinen Arbeitsplatz mittig in der Panzerwanne mit einem guten Blickfeld. Seine Sehöffnung war hoch in der Frontpanzerung angebracht, um das Eindringen von Wasser bei Wasserfahrten zu vermeiden; auch wurde Platz für die sperrige 71-TK-3-Funkanlage vorgesehen. Abweichend von der offenen Anbringung des Schraubenpropellers am T-38 wurde dieser am neuen Fahrzeug zum Schutz vor möglichen Beschädigungen in einer speziellen hydrodynamischen Nische am Heck platziert.
Die Arbeiten am Entwurf waren im Frühling 1939 fast beendet und schon im Juli 1939 begannen die Tests der ersten vier Versuchspanzer. Zwei Fahrzeuge fuhren mit der neuen Drehstabfederung, die anderen beiden Panzer waren mit der alten Federung mit zwei Rollenwagen und Blattfedern ausgestattet. Das ausgedehnte Testprogramm umfasste die Prüfung der Lauf- und Manövriereigenschaften zu Land und zu Wasser, die Überwindung von künstlichen und natürlichen Hindernissen, die Erprobung der Waffen sowie die Bewertung der Bedienerfreundlichkeit der Waffen und des Panzers im Ganzen. Da das GAS-Werk Probleme mit dem Beginn der Serienproduktion der 85-PS-Ottomotoren GAS-202 hatte, waren alle vier Versuchpanzer mit importierten Prototypen des GAS-202-Motors (Dodge Export) ausgestattet. Das Testprogramm war gegenüber dem der Vorgänger um einiges umfangreicher, da jetzt möglichst alle Schwächen des Entwurfs noch vor dem Ende der Entwicklungsphase gefunden und behoben werden sollten, um den T-40 so auch in der Hand eines gering qualifizierten Soldaten zuverlässig funktionieren zu lassen.
Die Tests zeigten eine Vielzahl an nötigen Änderung des Entwurfs, das Werk Nr. 37 konnte diese Mängel aber schnell beheben. Insbesondere wurde die Panzerwanne um zwölf Zentimeter verlängert und um fünf Zentimeter verbreitert, während die Höhe verringert wurde, um so die Stabilität zu Lande und zu Wasser zu verbessern. Auch verstärkten die Konstrukteure die Drehstäbe der Federung, vergrößerten den Durchmesser und die Breite der Laufrollen und ersetzten den dreiflügeligen Propeller durch einen vierflügeligen. Als Ergebnis der Tests erwies sich die Drehstabfederung der alten Variante mit zwei Rollenwagen und Blattfedern überlegen und wurde daher für die künftigen Serienfahrzeuge empfohlen. Nach den erfolgten Verbesserungen des Panzers wurde dieser von den Militärexperten und der staatlichen Leitung der Panzerindustrie akzeptiert.
Am 19. Dezember 1939 hatte das Verteidigungskomitee der UdSSR mit der Resolution Nr. 433ss den verbesserten kleinen Panzer des 010-Projekts unter derselben Armeebezeichnung T-40 gleichzeitig mit einigen anderen neuen Militärfahrzeugen in den Dienst übernommen. Dieses Dokument stellte an das Werk Nr. 37 eine Reihe von neuen Aufgaben: bis zum 1. März 1940 sollte der Betrieb drei Versuchspanzer des T-40 fertigen, bis 1. August 1940 sollte eine kleine Vorserie aus 15 Fahrzeuge fertiggestellt sein und am 1. Oktober 1940 sollte mit der Serienproduktion des T-40 begonnen werden.
Im Laufe des späten Frühlings 1940 baute das Werk Nr. 37 noch zwei weitere Versuchspanzer, bei denen alle Anmerkungen auf Grundlage der Ergebnisse der Tests Berücksichtigung fanden. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten sowjetischen GAS-11-Motoren aus der Serienproduktion geliefert, genau zur rechten Zeit, da infolge von Verschleiß der importierten Ottomotoren in den vorherigen Versuchsfahrzeugen diese einen erhöhten Wartungsaufwand zum Weiterbetrieb erforderlich machten. Im Sommer 1940 besuchten der Volkskommissar der Verteidigung S. K. Timoschenko und der Generalstabschef G. K. Schukow das Werk, um die neuen T-40-Vorserienpanzer zu begutachten. Letzterer hatte ein besonderes Interesse am T-40 und der Fähigkeit des Werks zur Serienfertigung des T-40.
Entwicklung während des Krieges
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion bekam das Werk Nr. 37 den Befehl, die Produktion des kleinen Schwimmpanzers T-40 zu beenden und die Produktionskapazitäten für die Fertigung des leichten Panzers T-50 vorzubereiten. Indessen forderte die Rote Armee den Bau möglichst vieler Panzer im Hinblick auf ihre hohen Verluste in der Anfangsphase des Krieges und in Anbetracht des weiteren Vormarschs der Wehrmacht. Für das Werk Nr. 37 war der technologische Prozess der T-50-Serienproduktion aber zu kompliziert. In dieser Situation nahm Astrow die Arbeit an einem neuen leichten Panzer, unter hauptsächlicher Nutzung der Teile und Geräte des T-40 auf und schnell wurde durch das Verteidigungskomitee der Befehl zur Serienproduktion des T-50 zu Gunsten der Vergrößerung der Produktion der „Landvariante“ des T-40, dem T-40S (russisch Т-40С) widerrufen. Diese Ausführung wurde im Juli 1941 auf Initiative des Oberst S. A. Afonins, Leiter einer der Abteilungen des GBTU, entwickelt. Da die Schwimmfähigkeit des T-40 in den Kämpfen der ersten Monate des Krieges nicht eingesetzt wurde, bestand die Möglichkeit, die Konstruktion des Panzers unter Verzicht auf die notwendigen Vortriebsmittel für die Wasserfahrt zu vereinfachen. Der Propeller mit Kardanwelle, das Zapfwellengetriebe, Steuerruder, Wärmeübertrager, Lenzpumpe, Wasserschild und Kompass wurden entfernt und die Gewichtseinsparung zur Verstärkung der Panzerung auf bis zu 15 mm an den wichtigsten Stellen der Panzerwanne genutzt. Die Nische für den Schraubenpropeller wurde aber beibehalten. Später konnte auch keine Funkanlage mehr eingebaut werden, da es an diesen Geräten mangelte.
Das letzte Überbleibsel der ursprünglichen Konzeption eines Schwimmpanzers, die nun unnütze hydrodynamische Nische, wurde an der folgenden und auch gleichzeitig letzten Ausführung des T-40 abgeschafft. Nach ihrer Projektbezeichnung 030 wird diese in der Literatur T-30 genannt. Der russische Historiker M. N. Swirin führt dazu auf Grund seiner Forschungen in den Archivdokumenten des Panzerindustrie-Volkskommissariats aus, dass Astrow in einem Brief an Josef Stalin im Bezug auf den Vorschlag der Produktion einer weiter verbesserten Version des T-40 anstatt des zu komplizierten T-50s von ebendieser Variante berichtete. Nach Stalins Zustimmung im August 1941 erhielt dieses Fahrzeug dann ursprünglich die Bezeichnung T-60, die später auch für den Nachfolger des T-40, dem eigentlichen T-60 verwendet wurde. Dies, so Swirin, erklärt die in der Literatur somit irrtümlich dargelegte, ungewöhnlich kurze Entwicklungszeit des eigentlichen T-60 als Verwechslung mit der letzten T-40-Variante, die bereits vorher als T-60 in den Dokumenten zu finden war.
Die in den damaligen Truppen- und Produktionsberichtswesen der Armee weiterhin als T-40 geführte Version war eine Überarbeitung des T-40S durch Astrow im Juli 1941, mit einer auf bis zu 20 mm weiter verstärkten Panzerung. Auch der innere Aufbau des Panzers wurde geringfügig verändert mit dem Ziel der Nutzung des freigewordenen Raums infolge des Verzichts auf die Vortriebsmittel für die Wasserfahrt und der Nische am Heck. Ab September 1941 wurde der neue T-30 mit der automatischen 20-mm-Kanone SchWAK-T ausgerüstet.
Unter Nutzung des vorhandenen Freiraums und der Anordnung der Geräte im T-30 entwickelte der Konstrukteur A. W. Bogatschew eine neue niedrigere Panzerwanne für den neuen Panzer des Projektes 060. Der 060-Versuchspanzer mit dieser Panzerwanne wurde der Prototyp für die spätere Serienversion des T-60. Mit diesem Zeitpunkt endete die Entwicklung des T-40, alle Personal- und Materialressourcen wurden jetzt für die Arbeiten am direkten Nachfolger in der Produktion, dem T-60 eingesetzt.
Serienproduktion
Der leichte Panzer T-40 wurde in allen seinen Varianten in den Jahren 1940–41 nur im Werk Nr. 37 hergestellt.
Nach der Umgestaltung und Erweiterung der Produktionskapazitäten begann die Serienproduktion des T-40 im Oktober 1940. Der Betriebsplan sah eine Fertigung von 100 T-40 bis zum Ende des Jahres 1940 vor, aber die Serienproduktion litt an Schwierigkeiten und so konnten in jenem Jahr vom Besteller lediglich 41 Panzer der Serienproduktion und sechs Versuchspanzer abgenommen werden. Das Jahr 1941 war erfolgreicher; bis zum 22. Juni 1941 konnten 179 T-40 an die Rote Armee geliefert werden, gemeinsam mit fertiggestellten Fahrzeugen vom vorherigen Jahr. Die Serienproduktion der Schwimmvariante des T-40 wurde im Juli 1941 mit der Lieferung der letzten 16 Fahrzeuge dieser Ausführung beendet. Stattdessen besetzte die „Landvariante“ T-40S seinen Platz in den Fertigungslinien des Betriebs. Im Juli, August und frühen September 1941 wurden 136 T-40S gebaut, ab dann wurde diese ihrerseits durch die mit verstärkter Panzerung ausgestattete T-30-Variante ersetzt. Diese Ausführung war in der Serienproduktion bis einschließlich Oktober 1941, zeitgleich mit dem neuen leichten Panzer T-60.
Im November 1941 begann die kriegsbedingte Evakuierung des Werks Nr. 37 nach Swerdlowsk. Am neuen Standort baute das Werk Nr. 37 im Dezember 1941 die letzten 20 T-30 aus noch vorhandenen Panzerwannen. Damit war die Serienproduktion aller Varianten des T-40 endgültig abgeschlossen, die Produktion wurde auf die Fertigung des T-60 umgestellt. Die letzten Serien-T-30 wurden mit der automatischen 20-mm-Kanone SchWAK-T anstatt des schweren Maschinengewehrs DSchK ausgerüstet. Im Werk Nr. 37 wurden auch einige frühere T-40 im Rahmen der Instandsetzung von Frontbeschädigungen mit dieser Kanone bewaffnet. Die Panzerwannen und Türme des T-40 für das Werk Nr. 37 in Moskau wurden im Maschinenbaubetrieb „Kuibyschew“ in Kolomna und im Podolsker Werk hergestellt. Die Produktionszahlen des T-40 werden in der folgenden Tabelle aufgezeigt:
Unterstellung
Der T-40 war als Ersatz der Schwimmpanzertypen T-37A und T-38 in der Roten Armee vorgesehen. Allerdings wurde in der Vorkriegszeit die Struktur der Panzer- und mechanisierten Einheiten mehrmals revidiert. Des Weiteren lag die Produktionszahl des T-40 unter dem Soll. Aus diesen Gründen gibt es nur sehr wenige genaue Informationen über die Verteilung des T-40 in der Roten Armee vor dem Krieg.
Infolge der katastrophalen Verluste im Jahr 1941 und den mehrfach umgestalteten Aufstellungsplänen führten die sowjetischen Einheiten sehr verschiedene leichte Panzer in ihren Reihen, so dass sich auch während des Krieges keine bestimmte Aufstellung festmachen lässt. Vielmehr gab es bereits wegen der allmählichen Umstellung der Produktion des T-40, über die Varianten T-40S und T-30, zum T-60 keine genaue Spezifizierung der Fahrzeugtypen in den Aufstellungsplänen. Stattdessen gab man die Gesamtzahl der leichten Panzer in den konkreten Panzereinheiten an. Diese leichten Panzer konnten verschiedenen Typs sein: BT-5, BT-7, T-26, alle Varianten des T-40 und seit Oktober 1941 auch T-60-Panzer, im Ergebnis alle Fahrzeuge, die noch zur Verfügung standen oder geliefert werden konnten.
Trotzdem wurden die T-40 auf allen Ebenen der Panzereinheiten der Roten Armee, von den selbstständigen Panzerbataillonen bis zu den Panzerarmeen eingesetzt. Die Aufstellungspläne wurden in der ersten Kriegsphase mehrmals revidiert, so waren zum Beispiel 64 von 93 Panzern in einer selbstständigen Panzerbrigade, die im August und frühen September 1941 aufgestellt wurde, leichte Panzer (T-40 und dessen Varianten). In der zweiten Hälfte des Septembers wurde die Gesamtzahl der Panzer in den Brigaden auf insgesamt 67 Fahrzeuge verringert, dann folgte eine zweite Reduzierung auf 46 Fahrzeuge (davon 20 T-40 bzw. dessen Varianten).
Später musste die sowjetische Führung auf Grund des Mangels an Fahrzeugen den Schwerpunkt bei der Einheitenaufstellung ändern, da selbst mit der verringerten Fahrzeuganzahl nicht genügend Brigaden aufgestellt werden konnten. Man ging dazu über, selbstständige Bataillone mit 9 mittleren und 20 leichten Panzern aufzustellen, eine geringe Anzahl von Brigaden wurden aber weiterhin organisiert.
Seit dem Beginn des Jahres 1942, als die nach dem Kriegsausbruch in der Roten Armee aufgrund der katastrophalen Niederlagen herrschende Konfusion teilweise bewältigt werden konnte, erschienen erstmals klare Aufstellungspläne der Panzereinheiten. Anstatt den selbstständigen Panzerbataillonen, die mit allem vorhandenen Material aufgestellt wurden, sollten neue Panzerkorps für Großoffensiven gebildet werden. So wurde im März 1942 der neue Aufstellungsplan für Panzerkorps mit 100 Panzern (20 KW-1, 40 T-34 und 40 T-60) übernommen. Die erhöhte Produktion der sowjetischen Panzerindustrie ermöglichte im April 1942 die Verstärkung der Panzerkorps auf das Anderthalbfache (30 KW-1, 60 T-34 und 60 T-60). Obwohl der Haupttyp der leichten Panzer der T-60 war, wurden zum Beginn des Jahres 1942 einige Einheiten mit den letzten T-30 der Serienproduktion oder reparierten T-40 mit SchWAK-T-Kanone ausgerüstet.
Seit Mitte 1942 verschwanden die T-40-Panzer aus den Frontberichten der Roten Armee und die einzelnen übrig gebliebenen Panzer dieses Typs wurden als Lehrfahrzeuge im Hinterland verwendet.
Einsatz
In Folge seiner insgesamt geringen Produktionszahl gibt es keine Einzelheiten über den Einsatz des T-40. Am 1. Juni 1941 führte die Rote Armee 131 T-40-Panzer, davon 113 Gefechts-, 16 Führungs- und 2 Lehrfahrzeuge. 115 davon waren westlichen Militärbezirken zugeordnet, hauptsächlich dem Besonderen Kiewer Militärbezirk (, deutsche Transkription Kiewskij Osoby Wojenny Okrug). Die Mannschaften waren nicht auf dem T-40 ausgebildet, ihre Gefechtsausbildung war unzureichend und der T-40 wurde von ihnen wie ein gewöhnlicher Kampfpanzer eingesetzt, so dass im Ergebnis praktisch fast alle Vorkriegs-T-40 in den ersten Kriegstagen verloren gingen (so blieben zum Beispiel der Nordwestfront am 17. Juli nur fünf von ehemals 88 T-40). Aber auch die Verluste an anderem Panzermaterial waren sehr hoch. Als Beispiel dient hier das 216. Panzerregiment der 108. Panzerdivision an der Brjansker Front: Während sechs Kampftagen vom 30. August bis zum 4. September 1941 hatte diese Einheit 3 von 5 KW-1, 25 von 34 T-34 und 23 von 25 T-40 verloren.
Die größte Verwendung sah der T-40 im späten Herbst des Jahres 1941 in der Schlacht um Moskau. So hatte zum Beispiel am 28. Oktober 1941 die Westfront 441 Panzer (33 KW-1, 175 T-34, 43 BT, 50 T-26 und 32 T-60), davon waren 113 T-40. Schon Mitte 1942 waren nur noch einzelne Panzer dieses Typs in den Fronteinheiten der Roten Armee vorhanden. Am 1. Juli 1942 hatte die Südwestfront und Südfront nur noch vier T-40 im 478. selbstständigen Panzerbataillon im Einsatz, bis zum Ende desselben Monats gingen sie alle verloren. Am längsten wurde der T-40 auf dem nordwestlichen Kriegsschauplatz bei Leningrad verwendet. Dort besaß das 124. Panzerregiment an der Wolchow-Front noch am 16. Januar 1944 einen T-40.
Im aktiven Einsatz versuchte die Führung der Roten Armee, den T-40 für Hilfszwecke zu verwenden, zum Beispiel für Gefechte in Moor- und Waldgelände. Wegen der ungenügenden Zahl von stärkeren Panzern war man jedoch gezwungen, den kleinen Panzer trotz seiner schwachen Panzerung und Bewaffnung zur Infanterieunterstützung einzusetzen.
In dieser Verwendung waren sie selbst den leichten deutschen PzKpfW II unterlegen, mit den zahlreichen PzKpfW 38(t), PzKpfW III und PzKpfW IV der Wehrmacht zu dieser Zeit waren sie allgemein nicht zu vergleichen. Die Vernichtung eines T-40 mit den leichten deutschen 3,7-cm-Panzerabwehrkanonen Pak 35/36 war aus jeder Schussweite und unter jedem Winkel kein Problem. Im Ergebnis waren die Verluste sehr hoch. Zu diesen Gefechtsverlusten kamen nur wenige Verluste ohne Feindeinwirkung, so galten die Manövrierfähigkeit und Zuverlässigkeit in der Roten Armee im Vergleich zu anderen Typen in dieser Kriegsphase als gut.
Einzelne erbeutete T-40 wurden von der Wehrmacht unter der Bezeichnung Schwimm-Panzerkampfwagen T 40-733 (r) bei Sicherungseinheiten im besetzten Hinterland der Sowjetunion und als Zugmaschinen eingesetzt. Ein T-40 war aber am 1. November 1942 in der rumänischen Armee anzutreffen.
Technische Beschreibung
Der Aufbau des T-40 diente als Vorbild für die nach ihm folgenden sowjetischen leichten Panzer, die während des Krieges in Serie gingen.
Das Fahrzeug lässt sich in fünf Abschnitte gliedern (von vorn nach hinten):
Getrieberaum,
Fahrerraum,
Motorraum in der rechten Wannenseite mit auf der Wannenoberseite angeordnetem Lufteinlass,
Kampfraum im linken Wannenteil und im Turm,
Heckraum mit den Kraftstofftanks, den Einrichtungen zur Wasserfahrt, Kühler und dem Wärmeübertrager.
Diese Bauweise bestimmte die Vor- und Nachteile des T-40 und der anderen Fahrzeuge seiner Klasse. Insbesondere die Lage des Getriebes und Kettentreibrads an der Front machte den Entwurf verwundbar, da die Vorderseite dem feindlichen Beschuss am stärksten ausgesetzt ist. Andererseits war die Lage des Tanks im Heckraum hinter einem speziellen Brandschott, anders als bei mittleren und schweren sowjetischen Panzern von Vorteil (der T-34 und die Panzer der IS- und KW-Serie hatten jeweils Kraftstoffbehälter direkt im Kampfraum). Es verringerte das Risiko eines Brandes im Falle eines Treffers – ein Problem vor allem bei Fahrzeugen mit Ottomotoren – und erhöhte somit die Überlebenschance der Besatzung. Ein weiterer Vorteil des T-40 war sein geringes Gewicht im Vergleich zu anders aufgebauten Panzern (der in Panzerung und Bewaffnung vergleichbare französische Automitrailleuse AMR 35 erreichte zum Beispiel ein Gewicht von 6,6 Tonnen). Die Besatzung bestand aus zwei Mann: einem Fahrer und dem Kommandanten, der gleichzeitig die Arbeit des Richtschützen und des Laders übernahm.
Wanne und Turm
Die Panzerwanne des T-40 wurde aus verschiedenen gewalzten Panzerplatten mit Stärken von 5 und 13 mm (sowie 15 und 20 mm bei den Varianten T-40S und T-30) zusammengeschweißt. Die Oberfläche wurde zur Verstärkung der Festigkeit flammgehärtet. Der T-30 erhielt keine gehärtete Panzerung, um die Serienproduktion zu vereinfachen und Kosten zu sparen. Im Gegenzug wurde zum Ausgleich die Panzerdicke erhöht.
Die Front- und Turmpanzerung schützte vor Beschuss durch schwere Maschinengewehre, die Seitenpanzerung widerstand Gewehrfeuer. Front- und Heckpanzerung sowie die Seiten des Aufbaus waren deutlich geneigt. Die Seiten waren im Bereich des Laufwerks senkrecht und aus zwei Platten geschweißt, die Schweißnaht wurde durch einen aufgenieteten Stahlbalken verstärkt. Ein Teil der Panzerplatten (zum Beispiel über dem Motor und dem Kühler) war abnehmbar, um so die Zugänglichkeit zu Wartungszwecken zu gewährleisten. Der Fahrerplatz lag leicht nach links versetzt vorne in der Wanne. Die Luke zum Ein- und Ausstieg des Fahrers war in die Oberseite des Chassis eingelassen. Zudem besaß der Fahrer eine spezielle kleine Luke in der Frontpanzerplatte zur Fahrt unter Gefechtsbedingungen.
Der Kommandant saß hinter dem Fahrer im Turm. Die beiden Positionen lagen in einem zusammenhängenden Kampfraum, so dass, anders als bei T-38, die Plätze bei Verwundung oder Tod eines Besatzungsmitglieds gewechselt werden konnten. Die Munition der Hauptwaffe wurde rund um den Turmdrehkranz, die Munition für das Maschinengewehr im Turm und im Kampfraum der Panzerwanne gelagert. Der Boden und die hydrodynamische Nische bestanden aus mehreren verschweißten Platten.
In der Landvariante wurde hinter dem Fahrerplatz eine Notausstiegsluke in den Wannenboden eingeschnitten. Über die Panzerwanne waren verschiedene kleinere Luken, Lüfter- und Wartungsöffnungen (Tank- oder Ablassöffnungen für Kraftstoff, Wasser, Öl) verteilt. Sie waren teils mit gepanzerten Abdeckungen versehen oder verstöpselt.
Der Turm hatte die Form eines Kegelstumpfes. Die 15 mm (20 mm beim T-30) starke Panzerung war deutlich geneigt (25°), um den Panzerschutz zu verbessern (Panzerungsoptimierung durch Neigung). Infolge der Anordnung des Motors auf der rechten Fahrzeugseite wurde er nach links versetzt montiert. Am vorderen Teil des Turms wurde eine rechteckige Aufnahme für die Waffen und das Richtwerk angeschweißt, geschützt durch eine Panzerblende von 10 mm (T-40 und T-40S) oder 20 mm (T-30) Dicke. Die Blende besaß drei Öffnungen, je eine für die SchWAK-T-Kanone oder das DSchK-Maschinengewehr, das DT-Maschinengewehr und das Visierfernrohr. Die Turmdecke hatte eine große Luke zum Ein- und Ausstieg des Kommandanten. Diese Luke wiederum besaß eine kleinere Öffnung zum Heraushalten von Signalflaggen. Spezielle Feststeller am Drehkranz des Turmes verhinderten Turmbewegungen bei gekipptem Fahrzeug.
Bewaffnung
Die Hauptwaffe des T-40 war ein überschweres Maschinengewehr DSchK mit einem Kaliber von 12,7 mm. Das DSchK hatte eine Rohrlänge von 78,7 Kaliberlängen (L/79), die Schusslinie lag in 1590 mm Höhe. Die maximale Kernschussweite betrug etwa 3,5 km. Die Sekundärbewaffnung war ein achsparallel zum DSchK angebrachtes Degtjarjow DT 7,62-mm-Maschinengewehr. Das DT-MG konnte leicht demontiert werden und die Panzersoldaten es abgesessen verwenden. Das überschwere MG DSchK konnte auch durch die Mannschaft für den Infanterieeinsatz ausgebaut werden, aber dies war recht schwierig und zeitaufwendig. Beide Waffen hatten ein Höhenrichtbereich von −7° bis +25° und durch Drehung des Turms einen Seitenrichtbereich von 360° – sie eigneten sich damit jedoch nicht zur Flugzeugbekämpfung. Zur einfacheren Benutzung durch den Kommandanten waren beide Maschinengewehre aus der Turmmitte verschoben angeordnet: Das DSchK war rechts und das DT war links von der Turmmitte angebracht. Die Maschinengewehranlage wurde mit Achszapfen in der frontalen Nische des Turmes montiert, die mit einer Panzerblende vorne und mit einem Panzermantel an der Seite geschützt war. Das Zahngetriebe zur Seitenrichtung des Turmes und das Höhenrichtwerk mit Schraubgetriebe waren links bzw. rechts vom Arbeitsplatz des Kommandanten angebracht. Die beiden Richtwerke waren handgetrieben. Für die schnellere Schwenkung des Turmes konnte der Kommandant das Seitenrichtwerk auskuppeln und den Turm direkt drehen. Jedes der Maschinengewehre verfügte über mittels eines Pedal-Mechanismus ausgelösten Abzug sowie über normale, händisch zu bedienende Abzüge (für die abgesessene Verwendung). Die Richtwerke und die Abzüge wurden ohne Änderungen in die folgenden Modelle und beim leichten Panzer T-60 übernommen.
Der Kampfsatz für das DSchK-MG betrug 500 Stück Patronenmunition in zehn Patronengurten. Die Mündungsgeschwindigkeit lag bei 850 bis 870 m/s, die theoretische Feuergeschwindigkeit lag bei 80 Schuss pro Minute. In der Praxis waren die Feuerstöße des DSchK kürzer, um Überhitzung, Verschleiß und Genauigkeitsverlust zu vermeiden. Für das DSchK standen verschiedene Typen von Projektilen mit einem Gewicht von etwa 50 g zur Verfügung:
Für das koaxiale DT-MG wurden 2016 Schuss Munition (32 Scheibenmagazine) mitgeführt. Die T-40-Varianten mit SchWAK-T-Kanone führten 750 20-mm-Granaten mit, der Kampfsatz für DT wurde in diesem Fall bis auf 1512 Schuss (24 Scheibenmagazine) verringert.
Für den Einbau der SchWAK-T-Kanone mussten die Halterungen für die Achszapfen der Waffe nicht verändert werden, da die Achszapfen von DSchK und SchWAK-T kompatibel waren. So wurden lediglich die Waffenaufnahme nebst Panzerblende entfernt und durch die SchWAK-T-Kanone mit der alten, aber modifizierten Panzerblende ersetzt. Zusätzlich schützte ein Panzermantel die Teile des Waffenmechanismus, die außerhalb der Blende lagen. Des Weiteren wurden die Munitionshalterungen in der Wanne neu angeordnet, um mehr Granaten für die SchWAK-T und weniger Patronen für das DT-MG aufzunehmen.
Motor
Der T-40 wurde durch einen 6-Zylinder-Viertakt-Reihen-Ottomotor vom Typ GAS-11 (andere Bezeichnung GAS-202) angetrieben. Das wassergekühlte Triebwerk leistete etwa 62,5 kW (85 PS) bei 3400 Umdrehungen pro Minute. Der Motor war mit einem Vergaser vom Typ K-23 ausgestattet, aber einige Fahrzeuge erhielten zwei Vergaser vom Typ GAS-M-9510 anstatt des vorgesehenen K-23.
Der Lufteinlass des Motors auf der rechten Wannenoberseite wurde durch eine gepanzerte Haube (5 mm Dicke) geschützt.
Der Motor wurde durch einen SL-40-Anlasser mit einem Einschaltrelais (Gesamtleistung etwa 0,6 kW bzw. 0,8 PS) gestartet. Das Anlassen war auch über eine Handkurbel, einen inneren Pedalmechanismus oder das Anschleppen durch einen anderen Panzer möglich.
Der T-40 hatte drei Kraftstofftanks im Heck. Sie fassten zusammen 206 Liter und der Fahrbereich lag damit auf der Straße bei 300 Kilometern. Als Kraftstoff wurde das Flugbenzin B-70 oder KB-70 (Oktanzahl 70) verwendet.
Kraftübertragung
Der T-40 war mit einer vollständig mechanischen Kraftübertragung ausgestattet. Die einzelnen Baugruppen waren:
die Haupt-Einscheiben-Trockenkupplung mit Reibbelägen aus Ferodo-Verbundwerkstoff (Werkstoff benannt nach dem britischen Hersteller Ferodo);
das Vierganggetriebe (vier Vorwärtsgänge, ein Rückwärtsgang), in vielen Teilen baugleich mit dem Getriebe des GAS-51-LKWs (zu dieser Zeit noch ein Versuchsfahrzeug);
zwei Seiten-Einscheiben-Kupplungen mit Trockenreibung Stahl auf Stahl und Stahl-Bremsband mit Ferodo-Belägen;
zwei einfache Seitenvorgelege;
zwei mechanische Steuerhebel und Pedale
Laufwerk
Das Kettenlaufwerk des T-40 war eine Neuerung im sowjetischen Panzerbau – erstmals wurde ein sowjetisches Serienfahrzeug (gleichzeitig mit dem schweren Panzer KW-1) mit Drehstabfederung ausgestattet. Das Rollenlaufwerk bestand aus vier Laufrollen mit drei Stützrollen und vorne liegendem Treibrad mit Triebstockverzahnung. Das hinten liegende Führungsrad war mit den Laufrollen identisch. Es war auch Teil des Kettenspannmechanismus. Die einteiligen Laufrollen mit 550 mm Durchmesser und Gummibandagen waren einzeln ohne zusätzliche Stoßdämpfer drehstabgefedert. Die frühere Ausführungen T-40 und T-40S hatten gestanzte Laufrollen, einige spätere T-30-Panzer wurden mit gröberen, aber billigeren gegossenen Speichenlaufrollen ausgestattet. Der Ausschlag des ersten und vierten Schwingarms (von vorn gezählt) wurde durch nah an der Panzerwanne angeschweißte Endanschläge mit Gummipuffern begrenzt. Die Stützrollen der Vorkriegs-T-40 besaßen ebenfalls Gummiauflagen, um den Lauf leiser zu machen, aber nach dem Beginn des Krieges wurden aufgrund des Gummimangels die Auflagen der Stützrollen abgeschafft und diese nur noch aus Stahl gefertigt. An der Panzerwanne waren zusätzlich spezielle Begrenzer angebracht, die ein Abrutschen der Gleiskette bei schräger Auflage der Kette verhindern sollten. Die Gleiskette bestand aus 87 kurzen, aus abriebfestem Hartfield-Stahl gegossenen Kettengliedern mit zwei Zahnreihen, 98 mm Länge und 260 mm Breite. Das Kettenlaufwerk wurde im folgenden Modell, dem T-60 ohne Änderungen übernommen und auch für den T-70, der eine Weiterentwicklung des sowjetischen leichten Panzers war, nutzten die Konstrukteure sehr viele Teile des T-40/T-60 für das Kettenlaufwerk.
Vorrichtungen für die Wasserfahrt
Die Bestandteile des Wasserantriebs waren der Schraubenpropeller in der hydrodynamischen Nische am Heck, die Kardanwelle zwischen Schraube und Zapfwellengetriebe am Motor und die beiden nebeneinander liegenden Steuerruder direkt hinter dem Propeller. Für die Sicherstellung der effektiven Kühlung des Motors bei der Gewässerfahrt hatte der T-40 einen speziellen Wärmeübertrager neben dem gewöhnlichen Kühler. Am Bug wurde ein Wasserschild montiert, um Wellen zu reflektieren. Die Mannschaft war zur Rettung zu Wasser, wenn die Gefahr der Versenkung bestand, mit Schwimmgürteln ausgestattet. Eingedrungenes Wasser konnte mit einer Pumpe aus der Wanne gelenzt werden. Zur Orientierung besaß der T-40 einen magnetischen Kompass, der im Moskauer Awiapribor-Werk hergestellt wurde. Die Fahrtüchtigkeit des T-40 war gut genug, dass der Panzer noch bei Seegang der Stärke 3 seine Aufgaben ausführen konnte, bei gutem Wetter konnte gefahrlos eine beachtliche Nutzlast befördert werden (drei vollständig ausgerüstete Schützen).
Brandschutzausrüstung
Der T-40 war mit zwei Kohlenstofftetrachlorid-Feuerlöschern ausgestattet. Davon war einer fest installiert, der andere Löscher war tragbar. Vier Röhren führten vom fest installierten Feuerlöscher zum Motor, dem Vergaser und zu den Kraftstofftanks. An den Enden waren Sprühgeräte zur besseren Zuführung des Löschmittels angebracht. Die Mannschaften wurden angewiesen, den Brand unter Gasmasken zu löschen, da das Kohlenstofftetrachlorid auf der glühenden Metalloberfläche mit atmosphärischem Sauerstoff zum Lungenkampfstoff Phosgen (Kohlenoxiddichlorid) reagierte.
Elektrische Ausrüstung
Das Bordnetz bestand aus einem Leitungsdraht zu allen Verbrauchern, die Panzerwanne als Massepotenzial übernahm die Rückleitung.
Die Stromquelle war ein G-41-Generator mit einem RRA-264-Spannungsregler (200 W Leistung) und 3-STE-112-Akkumulatoren mit einer Kapazität von je 112 Amperestunden. Die Fahrzeuge wurden mit zwei Akkumulatoren ausgestattet, aber die Gefechtspanzer ohne Funkanlage nutzen nur einen davon, der zweite diente als Reserve und blieb vom Bordnetz getrennt. In den T-40-Befehlspanzern war der zweite Akkumulator im Bordnetz zur Sicherstellung der Arbeit der Funkanlage geschaltet. Die Arbeitsspannung lag bei 6 Volt. Die Stromabnehmer waren:
die Außen- und Innenbeleuchtung, das Ausleuchtungsgerät für die Visierskala;
die Hupe;
die Nachrichtenmittel: Funkanlage und Lichtsignalgerät;
die Motorelektrik: SL-40-Starter, KS-11-Zündspule, R-10-Zündverteiler, SE-01-Zündkerzen etc.
Visiereinrichtungen und Sehgeräte
Das 12,7-mm-Maschinengewehr DSchK (oder 20-mm-Kanone SchWAK-T) und das koaxial angebrachte 7,62-mm-MG DT des T-40 waren mit einem Visierfernrohr TMFP ausgestattet. Bei Beschädigung des Visierfernrohres konnte der Kommandant es abnehmen und das Reserve-Visier verwenden. Das Korn dieser offenen Visierung wurde mittels eines Mechanismus aufgestellt. Zur Ausstattung jedes Bedienplatzes (Fahrer und Kommandant) gehörten einige Sehgeräte. Der Fahrer hatte drei Winkelspiegel zur Verfügung, einen in der Beobachtungsluke in der Frontplatte und je einen in den beiden seitlichen, schrägen Frontpanzerplatten. Neben dem Visierfernrohr hatte der Kommandant noch zwei Winkelspiegel in den Turmseiten.
Im Vergleich zum T-38 wurde das Blickfeld des T-40 wesentlich verbessert: der T-40 war mit fünf Sehgeräten ausgestattet, gegenüber drei im T-38, daneben war die Form der Panzerwanne des T-40 zur besseren Beobachtung vom Fahrerplatz aus ausgelegt.
Nachrichtenmittel
Die T-40-LGefechtspanzer verfügten weder über eine Funkanlage noch eine interne Panzergegensprechanlage. Der Kommandant konnte dem Fahrer nur mit einem Lichtsignalgerät Befehle geben. Die verschiedenen Kombinationen der drei Farbleuchten in der Anzeigetafel bezeichneten einfache Befehle wie „Halt“, „Nach links“, „Nach rechts“, „Vorwärts“ etc. Das einzige mögliche Nachrichtenmittel zwischen den Gefechtsfahrzeugen war eine Signalflagge.
Der T-40-Befehlspanzer war demgegenüber mit einer 71-TK-3-Funkanlage in der Panzerwanne ausgestattet.
Die 71-TK-3-Anlage bestand aus dem Funksender, -empfänger und dem Umformer zum Anschluss an das 6-V-Bordstromnetz. Vom technischen Standpunkt her war die 71-TK-3 eine Duplex-, Amplitudenmodulation-, Röhren- und Kurzwellenfunkanlage mit Heterodynempfänger. Der Ausgang lag bei 20 Watt. Der Sender und Empfänger hatten einen Frequenzbereich von 4 bis zu 5,625 MHz. Im Stillstand lag die Reichweite im Sprachmodus ohne Funkstörungen und günstigem Gelände bei 16 km, während der Fahrt verringerte sich die Reichweite. Die größte Reichweite erreichte man durch den reinen Einsatz von Tastfunk.
Technische Daten
Versionen
Serienfahrzeuge
Der T-40 wurde in verschiedenen Ausführungen gebaut. Sie unterschieden sich in Panzerung, Bewaffnung und Schwimmfähigkeit. Zwischen den Typen wurde in den Front- und Produktionsberichten jedoch nicht unterschieden, sie wurden generell als T-40 bezeichnet. Dennoch hatten alle Serienfahrzeuge eine eigene Bezeichnung:
T-40, in der Vorkriegszeit produziert und schwimmfähig;
T-40S, zwischen Juli und September 1941 produziert, mit leicht verstärkter Frontpanzerung, ohne die notwendige Ausrüstung für die Wasserfahrt und Schwimmfähigkeit, aber noch mit Nische für den Propeller am Heck;
T-30 (Objekt030, vorläufige Armeebezeichnung T-60), ebenfalls nicht schwimmfähig, ohne Nische und mit verstärkter Panzerung. Teile der späteren Produktion wurden mit der 20-mm-Maschinenkanone SchWAK-T ausgerüstet (sogenannte T-30Sch). Die Entwicklung einer flacheren Wanne ohne Bootsform und Verbesserung der SchWAK-T-Kanone führte zum neuen leichten Panzer T-60.
Die Bezeichnungen T-40S, 030 und T-30 werden hauptsächlich in den Dokumenten der Nachkriegszeit und in modernen Publikationen verwendet, um die Unterscheidung der T-40-Varianten zu erleichtern.
Versuchsfahrzeuge
Die schwache Bewaffnung gegen feindliche Panzer bewog die Konstrukteure, auch im Bereich der Bewaffnung Anstrengungen mit dem Ziel zu unternehmen, die Durchschlagfähigkeit zu verbessern. Als Lösung des Problems wurde der Entwurf einer automatischen 23-mm-Flugabwehrkanone von Ja. G. Taubin und M. N. Baburin für die Verwendung im Panzer adaptiert.
Die Panzervariante des Geschützes hatte die Bezeichnung PT-23TB (russisch ПТ-23ТБ) und wurde im Konstruktionsbüro von Alexander Emmanuilowitsch Nudelman unter seiner Beteiligung nachgearbeitet. Die Panzerwanne des Versuchspanzers T-40 mit PT-23TB-Kanone wurde zur Verstärkung der Panzerung und zur Verringerung der Abmessungen der Wanne in geringem Umfang modifiziert; Aufbau und Lage der Luken blieben hingegen im Vergleich zum Serien-T-40 beinahe unverändert.
Trotz stärkerer Panzerung und Bewaffnung wurde das Gewicht des Fahrzeuges bis auf 5,32 Tonnen verringert, auch konnte es schwimmen. An Laufwerk, Motor, Kraftübertragung und der elektrischen Ausrüstung wurden keine Änderungen vorgenommen. Der Versuchspanzer mit der PT-23TB-Kanone wurde im Juli 1941 hergestellt und Anfang Oktober geprüft. Doch bei diesen Test hatte die Kanone viele Ausfälle, so dass der Panzer nicht von der Roten Armee angenommen wurde und nicht in Serie ging.
Fahrzeuge auf Fahrgestell des T-40
Das Laufwerk des T-40 wurde als Fahrgestell für den Selbstfahrraketenwerfer BM-8-24 genutzt. Anstatt des Turmes wurde auf die Wanne ein Raketenwerfer aus zwölf Trägern mit Seiten- und Höhenrichtwerk gesetzt. Jeder Träger hielt zwei ungelenkte 82-mm-Raketengeschosse M-8 an Ober- und Unterseite; insgesamt 24 Raketen. Die Bezeichnung BM-8-24 (russisch БМ-8-24) setzt sich zusammen aus BM, der Abkürzung für Boewaja Maschina (russisch Боевая машина, Kampffahrzeug), die Ziffer 8 bezeichnet das Kaliber der Raketen in Zentimeter und die Zahl 24 die Gesamtzahl der Raketen. Das Feuerleitgerät des BM-8-24 konnte alle Raketen in einer Salve oder nacheinander mit vorgegebenem Takt abfeuern. Die Fahrzeuge wurden im Werk Nr. 733 „Kompressor“ hergestellt, insgesamt wurden 44 Fahrgestelle vom Werk Nr. 37 für die Montage der Abschussrampen geliefert. Nach dem Ende der Serienproduktion des T-40 setzte das Werk Nr. 733 die Fertigung des BM-8-24 mit dem Fahrgestell seines Nachfolgers, des T-60 fort.
Entwurfsanalyse
Der kleine Schwimmpanzer T-40 war der Höhepunkt der Entwicklung seiner Fahrzeugklasse in der Sowjetunion. Nach ihm übernahm die Rote- oder Sowjetarmee keine weiteren kleinen Panzer in den Dienst und bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die kleinen (sowie die leichten) Panzer aus dem Panzer-Klassifizierungssystem herausgenommen.
Von allen neueren Vorkriegspanzern (KW, T-34, T-50 und T-40) war gerade der T-40 für die Serienproduktion und im Hinblick auf die Einsatzbedingungen am weitesten entwickelt. Für die vorgesehene Verwendung – Aufklärung, Nachrichtenverbindung, Schutz der Infanterie beim Marsch – entsprach der T-40 völlig den Anforderungen. Neben seiner Besatzung konnte der T-40 zwei oder drei Schützen mit Ausrüstung leicht zu Wasser transportieren, was mit seinem Vorgänger T-38 in der Praxis unmöglich war. Die Bewaffnung aus überschweren und normalkalibrigen Maschinengewehren ermöglichte dem T-40 Erfolge bei der Infanterieunterstützung gegenüber einem Feind, der keine Panzerabwehrkanonen einsetzte und im Kampf gegen gegnerische Fahrzeuge mit leichter Panzerung. Sogar gegen leichte Panzer mit einer senkrechten Seiten- und Heckpanzerung von 10 bis 15 mm Stärke hatte der T-40 einige Chancen, da die panzerbrechenden Geschosse des DSchK diese noch durchschlagen konnten. Der niedrige Bodendruck und das recht niedrige Leistungsgewicht schlugen sich in einer guten Mobilität auf weichen Böden (zum Beispiel Sand oder Flussufern) nieder.
Hauptnachteil des T-40 war die funktionelle Überbelastung des Kommandanten. Er musste gleichzeitig die Arbeit des Kommandanten, Lade- und Richtschützen und – soweit Funkgeräte vorhanden waren – auch die des Funkers übernehmen.
Nach dem Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion wurde der T-40 anstatt zur Aufklärung und bei amphibischen Operationen, für die er als Schwimmpanzer geeignet war, zur Infanterieunterstützung verwendet. Da eine starke Panzerung und Bewaffnung Hauptanforderungen an einen solchen Panzer waren, konnte der T-40 mit seinen Maschinengewehren und einem Panzerschutz, der nur Feuer aus leichten Infanteriewaffen und teils aus schweren Maschinengewehren und Panzerbüchsen standhielt, nicht den moderneren leichten Panzer T-50 oder sogar den veralteten T-26 ersetzen. Er war als Infanteriepanzer klar ungeeignet. Der Verlauf der Ereignisse wurde jedoch durch die technologischen und wirtschaftlichen Umstände bestimmt. Der Versuch der Organisation der Serienproduktion des T-50 im Werk Nr. 37 schlug fehl, aber nach dem Verzicht auf die zur Wasserfahrt benötigte Ausrüstung und der Verstärkung der Panzerung des T-40 zog dieser mit dem T-26 in Sachen Panzerschutz gleich.
So wurde der ursprüngliche Befehl, die Produktion des T-40 zu beenden, widerrufen und stattdessen die „Land-Varianten“ T-40S und T-30 hergestellt. Der Entwurf des T-40 besaß dabei noch ein großes Potential zur Verbesserung und ermöglichte die schnelle Entwicklung des neuen leichten Panzers T-60 mit stärkerer Panzerung und Bewaffnung.
Auch nach der Verteidigungsphase des Krieges hatten die sowjetischen Streitkräfte Bedarf an spezialisierten Fahrzeugen wie den T-40. Als die Rote Armee zum Angriff überging, erinnerten sich die sowjetische Kommandeure an die Notwendigkeit, Schwimmpanzer zur Verfügung zu haben. So wurden die veralteten, übrig gebliebenen Schwimmpanzer T-37A und T-38 zusammen mit T-40 zu einigen amphibischen Operationen verwendet (zum Beispiel der Überwindung des Swir-Flusses). Die Amphibienradfahrzeuge DUKW-353 und Ford GPA, die im Rahmen des Lend-Lease-Abkommens an die sowjetischen Truppen geliefert wurden, wurden ebenfalls für diese Operationen verwendet. Beide konnten aber den Mangel an Schwimmpanzern nicht vollständig ausgleichen, da sie ungepanzert und unbewaffnet waren und so keinen Schwimmpanzer ersetzen konnten. Auch standen sie nicht in genügender Anzahl zur Verfügung. Die Flussflottillen mit gepanzerten Motorbooten konnten meist auch nicht eingreifen. Deswegen mussten die sowjetischen Soldaten häufig Wasserhindernisse mit improvisierten Schwimmmitteln überwinden. Im Ergebnis waren die Verluste durch deutsches Maschinengewehr- und Granatwerferfeuer sehr hoch. Der schnelle und mobile Schwimmpanzer T-40 konnte die Einnahme der anderen Seite des Wasserhindernisses deutlich vereinfachen.
Leicht gepanzerte Schwimmfahrzeuge mit überschweren Maschinengewehren oder kleinkalibrigen automatischen Kanonen sind heute in modernen Armeen weit verbreitet. Die Raupenketten wurden in vielen Fällen durch große Räder mit regulierbarem Luftdruck ersetzt. Ein gutes Beispiel ist der sowjetische BRDM-2.
Außerhalb der Sowjetunion wurden zu dieser Zeit keine mit dem T-40 vergleichbaren Schwimmpanzer in Serie produziert. Eine mit dem T-40 vergleichbare Panzerung bei Landpanzern anderer Staaten in der Gewichtsklasse von 5 bis 7 Tonnen wiesen der deutsche leichte Panzer I, der französische Automitrailleuse AMR 35 und der japanische leichte Panzer Typ 95 „Ha-Gō“ auf. Der T-40 war besser bewaffnet als der Panzer I (12,7-mm- und 7,62-mm-Maschinengewehre gegen zwei 7,92-mm-MG), der AMR 35 war etwa gleich stark bewaffnet (13,2-mm-Maschinengewehr) und der Typ 95 war dem T-40 mit seinem 37-mm-Geschütz überlegen. Die Varianten des T-40 mit Kanonenbewaffnung (Serienpanzer mit 20-mm-SchWAK-T oder Versuchspanzer mit 23-mm-PT-23) konnten diesen Nachteil teils wettmachen. Ein immenser Nachteil bei den Gefechtsfahrzeugen war jedoch das Fehlen von Kommunikationseinrichtungen, so dass die Verständigung innerhalb wie außerhalb des Fahrzeugs ausschließlich auf optische Signale angewiesen war. In Anbetracht der hohen Zuverlässigkeit, der niedrigen Produktionskosten und des Weiterentwicklungspotenzials des T-40 kann dieser Panzer unter den gegebenen Umständen als gelungene Konstruktion Astrows und seiner Kollegen angesehen werden. Das Ausbildungsniveau in der Roten Armee im Jahr 1941 war jedoch zu schlecht für den richtigen Einsatz dieses spezialisierten Fahrzeuges und so teilte der T-40 das Schicksal der sowjetischen Truppen in den Jahren 1941–42.
Erhaltene Fahrzeuge
Die einzigen beiden bis heute erhalten gebliebenen T-40 sind im Panzermuseum Kubinka bei Moskau ausgestellt. Der eine ist ein Panzer der Ausführung T-30Sch (mit 20-mm-Kanone SchWAK-T), der andere ist ein T-40S-Versuchsfahrzeug, aber ebenso mit SchWAK-T-Kanone anstatt des DSchK-Maschinengewehrs. Der T-30Sch wurde 2007 wieder fahrtüchtig gemacht, wogegen der T-40S ein statisches Exponat ist.
Weiterführende Informationen
Literatur
Солянкин А. Г. и др.: Советские малые и лёгкие танки 1941–1945. Москва, Цейхгауз, 2006, ISBN 5-94038-113-8.(russisch; deutsch in etwa: A. G. Soljankin u. a.: Die sowjetischen kleinen und leichten Panzer 1941–1945. Moskau, Zeughaus, 2006.)
Прочко Е. И.: Лёгкие танки Т-40 и Т-60. (Бронеколлекция). 1997, Nr. 4(russisch; deutsch in etwa: E. I. Protschko: Die leichten Panzer T-40 und T-60. (Panzerkollektion). 1997, Nr. 4)
Мощанский И. Б.: Лёгкие танки семейства Т-40. «Красные» разведчики. Вече, Москва 2009, ISBN 978-5-9533-4330-5.(russisch; deutsch in etwa: Ilja B. Moschtschanski: Die leichten Panzer der T-40-Fahrzeugfamilie. Die «roten» Aufklärer. Wetsche, Moskau 2009)
Свирин М. Н.: Броневой щит Сталина. История советского танка 1937–1943. Москва, Эксмо, 2007, ISBN 978-5-699-16243-7.(russisch; deutsch in etwa: Michail N. Swirin: Der gepanzerte Schild Stalins. Die Geschichte der sowjetischen Panzer 1937–1943. Moskau, Eksmo, 2007)
Коломиец М. В. Танки-амфибии Т-37, Т-38, Т-40. (Фронтовая иллюстрация). альманах 2003, Nr. 3.(russisch; deutsch in etwa: M. W. Kolomietz: Die Amphibienpanzer T-37, T-38, T-40. (Frontillustration). Almanach 2003, Nr. 3.)
Коломиец М. В. Битва за Москву 30 сентября – 5 декабря 1941 года. (Фронтовая иллюстрация). альманах 2002, Nr. 1.(russisch; deutsch in etwa: M. W. Kolomietz: Die Schlacht um Moskau 30. September – 5. Dezember 1941. (Frontillustration). Almanach 2002, Nr. 1.)
Свирин М. Н.: Стальной кулак Сталина. История советского танка 1943–1955. Москва, Эксмо, 2007, ISBN 978-5-699-14628-4.(russisch; deutsch in etwa: Michail N. Swirin: Die stählerne Faust Stalins. Die Geschichte der sowjetischen Panzer 1943–1955. Moskau, Eksmo, 2007.)
Желтов И. Г. и др.: Неизвестный Т-34. Москва, Экспринт, 2001, ISBN 5-94038-013-1.(russisch; deutsch in etwa: I. G. Scheltow u. a.: Der unbekannte T-34. Moskau, Exprint, 2001.)
Alexander Lüdeke: Beutepanzer der Wehrmacht – Großbritannien, Italien, Sowjetunion und USA 1939–45. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-613-03359-7.
Weblinks
ArmorSite: T-40, technische Daten, Fotos (russisch)
ArmorSite: Die Erinnerungen des Chefkonstrukteurs N. A. Astrow über die T-40-Panzer (russisch)
ArmorSite: T-40, technische Beschreibung, Fotos, Skizzen (entspricht Beschreibung in: A. G. Soljankin u. a.: Die sowjetischen kleinen und leichten Panzer 1941–1945. Moskau 2006, ISBN 5-94038-113-8.) (russisch)
Siehe auch
Sowjetische Militärfahrzeuge des Zweiten Weltkrieges
Einzelnachweise
(M) Ilja B. Moschtschanski: Die leichten Panzer der T-40-Fahrzeugfamilie. Die «roten» Aufklärer.
(S) Michail N. Swirin: Der gepanzerte Schild Stalins. Die Geschichte der sowjetischen Panzer 1937–1943.
(F) Michail N. Swirin: Die stählerne Faust Stalins. Die Geschichte der sowjetischen Panzer 1943–1955.
(P) A. G. Soljankin u. a.: Die sowjetischen kleinen und leichten Panzer 1941–1945.
(T) I. G. Scheltow u. a.: Der unbekannte T-34.
(K) M. W. Kolomietz: Frontillustration
(B) Webseite „Russian BattleField“
Anmerkungen
Leichter Panzer
Kampfpanzer
Spähpanzer
Schwimmpanzer
Militärfahrzeug des Zweiten Weltkrieges (Sowjetunion)
Sowjetisches Militärfahrzeug |
847603 | https://de.wikipedia.org/wiki/Timaios | Timaios | Der Timaios (altgriechisch Tímaios, latinisiert Timaeus) ist ein in Dialogform verfasstes Spätwerk des griechischen Philosophen Platon. Darin wird ein fiktives, literarisch gestaltetes Gespräch wörtlich wiedergegeben. Beteiligt sind Platons Lehrer Sokrates, ein vornehmer Athener namens Kritias und zwei Gäste aus dem griechisch besiedelten Süditalien: der Philosoph Timaios von Lokroi, nach dem der Dialog benannt ist, und der Politiker Hermokrates von Syrakus.
Sokrates und Hermokrates ergreifen nur im Einleitungsgespräch das Wort. Danach berichtet Kritias von einem Abwehrkrieg, den Athen nach seinen Worten vor neun Jahrtausenden gegen das mythische Inselreich Atlantis führte und gewann. Anschließend hält Timaios einen langen naturphilosophischen Vortrag, der den weitaus größten Teil des Dialogs ausmacht.
Nach Timaios’ Darstellung ist der Kosmos hauptsächlich von zwei Faktoren geprägt, der Vernunft und der Notwendigkeit. Bei der Erschaffung des Alls wollte der vernünftige, wohlwollende Schöpfergott, der Demiurg, das Bestmögliche erreichen. Dazu musste er sich mit der „Notwendigkeit“ – vorgegebenen Sachzwängen – arrangieren und aus dem Chaos der bereits vorhandenen Materie Ordnung schaffen. Er bildete die Weltseele, mit der er den Kosmos zu einem lebendigen, beseelten Wesen machte. Den von ihm hervorgebrachten untergeordneten Gottheiten wies er die Aufgabe zu, den menschlichen Körper zu erschaffen. Die unsterblichen individuellen Seelen schuf er selbst. Sie treten im Rahmen der Seelenwanderung immer wieder in neue Körper ein. Nachdrücklich weist Timaios auf die Güte des Schöpfers und die Harmonie und Schönheit der Welt hin.
Von der Antike bis zum Spätmittelalter erzielte der Timaios die stärkste und nachhaltigste Wirkung von allen Werken Platons. Im Mittelalter blieb er bis ins 12. Jahrhundert das einzige den lateinischsprachigen Gelehrten zugängliche Werk des antiken Denkers. Im 12. Jahrhundert erreichte die Rezeption ihre größte Intensität, als die platonisch orientierten Philosophen der Schule von Chartres den biblischen Schöpfungsglauben mit dem Weltbild des Timaios zu harmonisieren trachteten. Die moderne Forschung griff die schon in der Antike umstrittene Frage auf, ob der Schöpfungsbericht wörtlich im Sinne eines bestimmten historischen Vorgangs oder sinnbildlich als Veranschaulichung einer ewigen Wirklichkeit zu verstehen ist. Nach der heute vorherrschenden Auffassung ist die Schöpfung des Demiurgen nicht als ein bereits abgeschlossenes Ereignis, sondern als beständiger Prozess zu verstehen.
Der literarische und historische Kontext
Die gesamte Dialogsituation ist eine literarische Konstruktion Platons und beruht auf keinem historischen Ereignis.
Die Gesprächssituation
Im Gegensatz zu manchen anderen platonischen Dialogen weist der Timaios keine Rahmenhandlung auf. Das Geschehen wird nicht von einem Berichterstatter erzählt, sondern setzt unvermittelt ein und wird durchgängig in direkter Rede wiedergegeben. Diese Darstellungsweise des Dialoggeschehens ohne narrativen Rahmen wird in der Fachliteratur als „dramatischer“ bzw. „mimetischer“ Modus bezeichnet. Allerdings bietet der Dialog kaum „Dramatik“, da er größtenteils aus einem kürzeren und einem sehr langen Vortrag besteht. Nur im Einleitungsteil kommt der Gesprächscharakter zur Geltung.
Die Zusammenkunft findet in Athen statt. Der genaue Ort wird nicht genannt; jedenfalls handelt es sich weder um das Haus des Kritias noch um den Wohnsitz des Sokrates. Der Leser erfährt aber, dass Timaios und Hermokrates während ihres Aufenthalts in Athen als Gäste des Kritias in dessen Haus wohnen.
Die Atmosphäre der Zusammenkunft ist freundschaftlich, kooperativ und von gegenseitigem Respekt geprägt. Darin unterscheidet sich der Timaios von vielen platonischen Dialogen, in denen konträre Auffassungen aufeinanderstoßen und Widerlegung angestrebt wird, wobei manchmal auch Schärfe und Ironie ins Spiel kommen.
Am Vortag ist Sokrates der Gastgeber gewesen und hat seine Gäste mit geistiger Nahrung bewirtet, indem er ihnen sein Staatsideal erläuterte. Nun sind die Rollen vertauscht, diesmal ist er als Gast gekommen, und die drei anderen sind Gastgeber und wollen sich mit Gegengaben derselben Art erkenntlich zeigen.
Das Trilogieprojekt
Nach der Absicht des Autors sollte der Timaios den ersten Teil einer geplanten Trilogie – eines dreiteiligen Gesamtwerks – bilden. Die Trilogie sollte aus drei zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgenden Gesprächen mit denselben vier Teilnehmern bestehen. Sie sollte mit dem Timaios beginnen, mit dem Kritias fortgesetzt werden und mit dem Hermokrates enden. Der Kritias blieb aber unvollendet und den Hermokrates hat Platon wahrscheinlich nie begonnen, wohl weil er das Trilogieprojekt aufgab.
Alle drei Teile der Trilogie sollten dadurch gekennzeichnet sein, dass die Interaktion zwischen den Teilnehmern stark in den Hintergrund tritt. Vorgesehen war, dass jeweils einer als Hauptsprecher auftritt und den anderen einen Vortrag hält. Dabei wollte der Autor nicht nur Wissensvermittlung darstellen, sondern die Konstellation mit den geplanten drei Auftritten hatte auch einen Wettkampfcharakter im Sinne des in der griechischen Mentalität verwurzelten „agonalen Prinzips“. Nur für Sokrates, der nicht mit den anderen in Konkurrenz treten sollte, war kein Vortrag vorgesehen. Wie man zu Beginn des Timaios erfährt, hat er seinen Beitrag schon am Vortag der Zusammenkunft geleistet, als er Gastgeber war; nun hört er als Gast den anderen zu.
Nach einer Hypothese, die in der Forschung Anklang gefunden hat, hatte Platon anfänglich einen einheitlichen, aus drei Teilen bestehenden Dialog schreiben wollen. Der Timaios und der Kritias sollten wohl ursprünglich zusammen mit dem Hermokrates ein einziges Werk bilden. Erst nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Gesamtwerk nicht vollendet werden konnte, wurde der vorhandene Text in zwei separate Dialoge zerlegt. Wegen dieser Zusammengehörigkeit ist in der Forschungsliteratur oft vom „Timaios-Kritias“ die Rede.
Die Konzeption der Trilogie ist schon im Einleitungsgespräch des Timaios erkennbar. Dort erfährt man, dass sich die drei Gastgeber Timaios, Kritias und Hermokrates eine umfassende Thematik, die sie ihrem Gast in drei Vorträgen darlegen wollen, aufgeteilt haben. Sie haben vor, aus philosophischer Perspektive erst den Anfang der Naturgeschichte und dann Ausschnitte der Menschheitsgeschichte darzustellen. Timaios hat die Aufgabe übernommen, als erster zu reden und den Verlauf der Weltschöpfung zu schildern. Dann soll Kritias anhand des Atlantis-Mythos eine lehrreiche Phase der Weltgeschichte beleuchten. Abschließend wird Hermokrates im dritten Teil der Trilogie das Wort ergreifen. Das Ziel ist offenbar, ein Gesamtbild der Geschichte und Beschaffenheit des Kosmos und seiner Bewohner zu skizzieren.
Die Gesprächsteilnehmer
Bei der Zusammenkunft sind vier Männer anwesend. Sokrates, Kritias und Hermokrates sind sicher historische Personen. Bei Timaios hingegen ist unklar, ob er tatsächlich gelebt hat oder eine von Platon erfundene Gestalt ist.
Timaios
Im Dialog erscheint Timaios als vornehmer und reicher Bürger der griechischen Kolonie Lokroi Epizephyrioi (heute Locri in Kalabrien), der in seiner Heimatstadt hohe Ämter ausgeübt hat. Seine Kompetenz in allen Bereichen der Philosophie, besonders auf dem Gebiet der Naturphilosophie, sowie in der Astronomie wird hervorgehoben. Er wird nicht als Pythagoreer bezeichnet, doch legt seine süditalienische Herkunft den Gedanken an eine Verbindung mit der pythagoreischen Bewegung nahe. Sein Weltbild enthält zwar pythagoreische Elemente, aber auch auffallend viel Unpythagoreisches; jedenfalls ist er kein typischer Pythagoreer.
In der Altertumswissenschaft herrscht die Ansicht vor, dass Platon die Gestalt des Timaios erfunden hat. Es ist vermutet worden, dass er ihr Züge des ihm bekannten Pythagoreers Archytas von Tarent verlieh. Das Hauptargument für die Annahme einer literarischen Fiktion ist, dass alle von den antiken Quellen überlieferten Informationen über Timaios aus Platons Angaben abgeleitet sein können, abgesehen von einer sehr späten und daher nicht vertrauenswürdigen Notiz. Bei Platon erscheint Timaios als wichtiger Politiker und bedeutender Wissenschaftler; ein solcher hätte aber, wenn er tatsächlich gelebt hätte, in den Quellen wohl eine Spur hinterlassen. Ein Gegenargument lautet, dass Platons namentlich genannte Dialogfiguren in der Regel historische Personen sind. Daher schließen einige Altertumswissenschaftler die Historizität des Timaios nicht aus; es wird sogar die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Platon ihn in Lokroi besucht hat.
Kritias
Die historische Identität der Dialogfigur Kritias ist umstritten. In der älteren Forschung galt es als selbstverständlich, dass Platon im Timaios und im Kritias den Politiker „Kritias IV“ (* frühestens um 460 v. Chr.; † 403 v. Chr.) auftreten ließ. Dieser Kritias, der auch als Dichter hervortrat, stammte aus einer vornehmen und wohlhabenden Familie Athens und war ein Vetter von Platons Mutter Periktione. Er gehörte zu den profiliertesten Vertretern der oligarchischen Richtung. Nach der katastrophalen Niederlage seiner Heimatstadt gegen Sparta im Peloponnesischen Krieg übernahm er eine Führungsrolle, als eine oligarchische Gruppe im Jahr 404 v. Chr. die demokratische Staatsordnung beseitigte. Die Oligarchen ergriffen die Macht und richteten einen „Rat der Dreißig“ als höchstes Gremium ein. In dem dreißigköpfigen Rat, der aus den Anführern der oligarchischen Bewegung bestand, spielte Kritias eine wichtige Rolle. Die mit Terror verbundene Herrschaft der Dreißig dauerte allerdings nicht lange. Schon im folgenden Jahr 403 erlitten die Truppen der Oligarchen im Kampf gegen eine Streitmacht von exilierten Demokraten eine entscheidende Niederlage, wobei Kritias im Kampf fiel.
Gegen die Identifizierung der Dialogfigur mit „Kritias IV“ spricht allerdings eine eindeutige Angabe im Timaios: Platons Kritias erwähnt seinen gleichnamigen Großvater und seinen Urgroßvater Dropides, der mit dem berühmten Staatsmann und Gesetzgeber Solon eng befreundet gewesen sei. Wenn man vom Wortlaut des Timaios und vom historisch korrekten Stammbaum der Familie ausgeht, ist der Dialogteilnehmer Kritias als Urenkel des Dropides nicht „Kritias IV“, sondern dessen Großvater, der um 520 v. Chr. geborene „Kritias III“. Über „Kritias III“ ist sehr wenig bekannt; immerhin ist seine Existenz archäologisch gesichert. Die Gleichsetzung der Dialogfigur mit „Kritias III“ hat eine Reihe von Befürwortern, bei anderen Historikern stößt sie auf Ablehnung.
Für die Identifizierung mit „Kritias III“ sind eine Reihe von Argumenten vorgebracht worden:
„Kritias IV“ war der profilierteste und verhassteste Repräsentant der oligarchischen Schreckensherrschaft. Nach seiner Niederlage und seinem Tod war er in seiner wieder demokratisch gewordenen Heimatstadt völlig diskreditiert, da man ihm die willkürlichen Hinrichtungen während der Herrschaft der Dreißig anlastete. Daher hätten es Platons Zeitgenossen als ungeheure Provokation betrachtet, wenn der Philosoph in seinen Dialogen diesem Politiker die ehrenvolle Rolle, Heldentaten zu verherrlichen, zugewiesen hätte. Hinzu kommt, dass Platons Sokrates im Timaios seine Wertschätzung für Kritias ausdrückt.
Platons Kritias berichtet, er habe im Alter von zehn Jahren mit seinem gleichnamigen, damals fast neunzigjährigen Großvater gesprochen, der als Kind Solon gekannt habe. Zwischen dem Tod Solons 560/559 v. Chr. und der Mitte des 5. Jahrhunderts, als der frühestens um 460 geborene „Kritias IV“ zehnjährig war, liegen aber rund 110 Jahre. Daher kann der Großvater des Oligarchen, wenn er um 450 fast neunzigjährig war, keinesfalls vor Solons Tod schon am Leben gewesen sein.
Der literarische Kritias erwähnt im Timaios, dass zur Zeit seiner Kindheit die Gedichte Solons noch neu waren und von vielen Knaben gesungen wurden. Das kann für die Zeit um 450 nicht zutreffen.
Platons literarischer Kritias weist darauf hin, dass er über ein gutes Langzeitgedächtnis, aber ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis verfügt. Dieser greisenhafte Gedächtniszustand passt nicht zu „Kritias IV“, der zur Zeit der Dialoghandlung noch relativ jung war.
Wenn Platon den Oligarchen meinte, hat er in seinen genealogischen Angaben zwei Generationen übersprungen. Ein so krasser Irrtum ist nicht plausibel, denn es handelt sich um Platons eigene Vorfahren – „Kritias III“ war sein Urgroßvater – und es ist bekannt, dass er auf den Ruhm seines Geschlechts und die Kenntnis der eigenen Abstammung Wert legte, wie es damals in vornehmen Familien üblich war.
In anderen Dialogen, in denen Platon „Kritias IV“ auftreten lässt (Protagoras, Charmides), nennt er ihn ausdrücklich „Sohn des Kallaischros“, womit er Verwechslungen ausschließt. Dies spricht dafür, dass das Fehlen dieses identifizierenden Hinweises im Timaios und im Kritias nicht zufällig ist, sondern darauf deutet, dass es sich um eine andere Person handelt.
Die Forscher, die meinen, der Dialogteilnehmer müsse der Oligarch „Kritias IV“ sein, unterstellen Platon einen Irrtum oder bewusste Missachtung der genealogischen Tatsachen. Sie bringen folgende Argumente vor:
Der historische „Kritias III“ war zur Zeit der Entstehung des Timaios wohl der Öffentlichkeit nicht mehr bekannt. Daher mussten Platons Zeitgenossen, wenn sie im Dialog den Namen der Titelgestalt lasen, an den berüchtigten Oligarchen denken, was auch die gesamte antike Nachwelt getan hat. Das deutet darauf, dass Platon ihn gemeint hat.
Anscheinend wurde zu Platons Lebzeiten der zeitliche Abstand zu Solons Epoche unterschätzt.
Platon hat auch seinen Onkel Charmides, der ebenso wie „Kritias IV“ ein namhafter Oligarch war und zusammen mit diesem im Kampf gegen die Demokraten ums Leben kam, zur Titelgestalt eines Dialogs, des Charmides, gemacht. Außerdem liegen zwischen der Zeit der Dialoghandlung des Timaios und dem Beginn der oligarchischen Schreckensherrschaft mehr als zwei Jahrzehnte. Beide Oligarchen waren zur Zeit ihres fiktiven Auftretens in Platons Dialogen noch unbescholten. Dadurch wird die Anstößigkeit abgemildert. Hinzu kommt, dass Platon möglicherweise bewusst provozieren wollte. Jedenfalls war er ein Kritiker der athenischen Demokratie, und es kann sein, dass sein Urteil über die Politik des Oligarchen Kritias milder ausfiel als das der öffentlichen Meinung.
Platon nahm als Schriftsteller seine literarische Freiheit in Anspruch und legte auf chronologische Stimmigkeit wenig Wert, wie eine Reihe von Anachronismen in seinen Dialogen zeigt. Wichtig war ihm nur der Bezug zu Solon, auf dessen Autorität er sich berufen wollte. Daher ist ihm das Überspringen von zwei Generationen zuzutrauen, wenn er aus literarischen Gründen beabsichtigte, den Oligarchen Kritias auftreten zu lassen und die Überlieferungskette nicht zu lang werden zu lassen.
Im Timaios spielt Kritias nur eine Nebenrolle, wenn auch eine gewichtigere als Sokrates und Hermokrates. Er tritt nur als Berichterstatter auf, ohne für eigene Ansichten einzutreten.
Sokrates
Sokrates ist im Timaios der zuhörende Gast, aber dennoch eine zentrale Gestalt, denn die Vorträge werden zu seinen Ehren gehalten. Die für Platons Sokrates-Figur charakteristische Didaktik, die Mäeutik, fällt in diesem Dialog gänzlich weg. Im Einleitungsgespräch bekennt sich Sokrates emphatisch zu seinem Staatsideal. Er kann zwar die Grundzüge der Verfassung des idealen Staates entwerfen und als theoretisches Modell überzeugend darlegen, was er am Vortag bereits getan hat, doch sieht er sich nicht in der Lage, eine konkrete Verwirklichung des Ideals angemessen auszumalen. Daher wünscht er sich, dass seine Gastgeber diese Aufgabe übernehmen.
Hermokrates
Hermokrates ergreift im Timaios nur einmal das Wort. Er hat seinen Auftritt im Einleitungsgespräch, wo er sich kurz zur Planung des Tages äußert.
Der historische Hermokrates war ein syrakusanischer Politiker und Truppenführer, der im Peloponnesischen Krieg als entschlossener und erfolgreicher Widersacher der Athener bekannt wurde.
Die Zeit der Dialoghandlung
Im Dialog erwähnt Kritias beiläufig, dass seine Zusammenkunft mit Sokrates, Timaios und Hermokrates während eines Festes der Göttin Athene stattfindet. Dabei kann es sich nur um die Großen oder Kleinen Panathenäen handeln, die im Sommermonat Hekatombaion gefeiert wurden. Das Jahr der Dialoghandlung lässt sich nicht einmal annähernd bestimmen. Die Datierungsansätze in der Forschungsliteratur gehen weit auseinander, sie schwanken zwischen den 440er Jahren und dem letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts und hängen von verschiedenen teils sehr spekulativen Annahmen ab. Der Kritias des Dialogs steht bereits in fortgeschrittenem Alter; daher kommt, falls es sich um den Oligarchen „Kritias IV“ handelt, nur eine relativ späte Datierung in Betracht. Wenn man hingegen die Dialogfigur mit „Kritias III“ identifiziert, muss die Dialoghandlung spätestens in die frühen 420er Jahre gesetzt werden. Dass Hermokrates nach dem Beginn der im Jahr 415 eingeleiteten Sizilienexpedition der Athener die feindliche Stadt Athen aufgesucht haben könnte, ist kaum vorstellbar; ein Zeitpunkt nach 415 dürfte somit ausgeschlossen sein. Wahrscheinlich hat Platon keine konkrete historische Situation im Sinn gehabt.
Die Anknüpfung der Dialoghandlung des Timaios-Kritias an das Gespräch vom Vortag, in dem Sokrates sein Konzept vom bestmöglichen Staat dargelegt hat, bietet für die Datierung keinen Anhaltspunkt. Mit dem Vortagsgespräch ist sicher nicht – wie man in der Antike und noch im 19. Jahrhundert glaubte – die Erörterung gemeint, die in Platons Dialog Politeia dargestellt ist.
Inhalt
Das Einleitungsgespräch
Nach einer Diskussion am Vortag sind Sokrates, Timaios, Kritias und Hermokrates erneut zusammengetroffen, um ihren Gedankenaustausch fortzusetzen. Beim ersten Treffen war Sokrates Gastgeber und hat sein Konzept eines idealen Staates dargelegt. Diesmal soll er der zuhörende Gast sein; die anderen übernehmen die Aufgabe, in drei Vorträgen Grundzüge der Weltordnung und der Natur- und Menschheitsgeschichte zu umreißen. Zunächst rekapituliert Sokrates die Kernpunkte seiner gestrigen Ausführungen, mit denen er auf allgemeine Zustimmung gestoßen ist. Sein Modell sieht eine ständische Staats- und Gesellschaftsordnung vor, in der jeder die seiner Veranlagung gemäße Aufgabe übernimmt. Die Bürgerschaft soll in drei Teile gegliedert und hierarchisch organisiert sein. Den untersten Stand bilden die Produzenten (Bauern und Handwerker). Ihnen übergeordnet ist der Stand der Krieger oder Wächter, der sowohl für die Verteidigung des Staates als auch für das Justizwesen zuständig ist. Die Staatslenkung obliegt dem Stand der Herrscher. Die Wächter erhalten eine gründliche Ausbildung. Sie besitzen kein Privateigentum, sondern leben in Kollektiveigentumsgemeinschaft. Ihre Einheit zeigt sich auch darin, dass sie keine Familien gründen; vielmehr bildet der ganze Wächterstand eine einzige große Familie, wobei die Fortpflanzung vom Staat nach eugenischen Gesichtspunkten geregelt wird. Die Standeszugehörigkeit ergibt sich zunächst aus der Abstammung, ausschlaggebend ist aber letztlich die individuelle Veranlagung und tugendhafte Bewährung. Ein Kernelement des Modells ist die sorgfältige Erziehung der Heranwachsenden, die sich an der individuellen Begabung orientiert.
Nun möchte Sokrates einen anschaulichen Eindruck davon gewinnen, wie eine praktische Umsetzung seines Konzepts aussehen könnte. Sich selbst traut er aber eine solche konkrete Darstellung nicht zu. Daher möchte er von den anderen eine Schilderung der Großtaten hören, die von der Führungsschicht eines derartigen Staates zu erwarten sind. In diesem Sinne haben seine drei Gastgeber bereits untereinander eine Absprache getroffen. Kritias will von Heldentaten einer längst vergessenen Urzeit erzählen, die er für geschichtliche Begebenheiten hält. Ihm ist eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den damaligen Verhältnissen und Sokrates’ Modell eines idealen Staates aufgefallen. Dank dieser Übereinstimmung eignet sich die Erzählung des Kritias vorzüglich zur Veranschaulichung der sokratischen Theorie. Überdies zeigt sie, dass ein Konzept dieser Art bereits eine historische Verwirklichung erfahren hat. Zur Beglaubigung seiner Darstellung beruft sich Kritias auf seinen gleichnamigen Großvater. Dieser habe ihm einst als Greis jene Heldentaten so geschildert, wie sie ihm, dem Großvater, von dem berühmten Staatsmann Solon berichtet worden seien.
Es ist vereinbart, dass die drei Vorträge von Timaios, Kritias und Hermokrates nach der chronologischen Ordnung ihrer Themen aufeinander folgen sollen. Somit ist zuerst Timaios, der über die Entstehung der Welt und der Menschheit zu berichten hat, an der Reihe. Daher gibt Kritias zunächst nur einen Überblick über sein Thema und überlässt dann Timaios das Wort. Erst nach dessen Referat wird Kritias mit der ausführlichen Wiedergabe der Heldengeschichte beginnen, die er als seltsam, aber völlig wahr bezeichnet. Sie bildet das Thema des Dialogs Kritias.
Der zusammenfassende Kurzvortrag des Kritias
Nach der Darstellung des Referenten hat Solon einst Folgendes erzählt. In Ägypten befindet sich im Nildelta die Stadt Sais, deren Bewohner traditionell mit den Athenern befreundet sind. Dort hat sich Solon einige Zeit aufgehalten. Dabei hatte er Gelegenheit, von einem alten ägyptischen Priester einen Bericht über eine ferne Vergangenheit zu erhalten, von der man in Griechenland nichts mehr weiß. Eine der periodisch auftretenden gigantischen, kataklysmischen Naturkatastrophen hat die damalige griechische Zivilisation ausgelöscht; nur Analphabeten haben überlebt. Ägypten hingegen blieb verschont, dort haben sich in den Tempeln uralte Aufzeichnungen erhalten. Sie berichten von den Verhältnissen und Begebenheiten vor der Deukalionischen Flut, der letzten verheerenden Überschwemmung, bis zu der die griechische Überlieferung zurückreicht.
Unter den Staaten, die vor der Flut bestanden, war nach den ägyptischen Geschichtsaufzeichnungen der athenische (Ur-Athen) der bedeutendste. Die Ur-Athener vollbrachten die herrlichsten Taten. Ihr ständisch gegliedertes Staatswesen blühte neun Jahrtausende vor Solons Zeit. Der Gegenspieler Ur-Athens war das Königreich von Atlantis, das sein Zentrum auf einer riesigen, später im Atlantischen Ozean versunkenen Insel hatte und den westlichen Mittelmeerraum beherrschte. Beim Versuch, auch Griechenland zu unterwerfen, unterlag die atlantische Streitmacht jedoch den Ur-Athenern, deren hervorragende Staatsordnung sich mit diesem Sieg glänzend bewährte.
Der Vortrag des Timaios
Nach dem knapp zusammenfassenden Bericht des Kritias hält Timaios seinen langen Vortrag, der den Rest des Dialogs ausmacht. Er hat sich vorgenommen, die Entstehung und Beschaffenheit der Welt und den Ursprung der Menschheit darzustellen, wobei nicht mythische Überlieferung, sondern naturphilosophische Spekulation die Grundlage bildet. Als frommer Mensch beginnt Timaios mit einer Anrufung der Götter. Dann wendet er sich der philosophischen Voraussetzung seiner kosmologischen Ausführungen zu, der Unterscheidung zwischen Seiendem und Werdendem.
Seiendes und Werdendes
Im Sinne der platonischen Ontologie, der Lehre vom Sein oder vom Seienden als solchem, unterscheidet Timaios zwei Hauptgattungen der Entitäten. Es gibt auf der einen Seite das „stets Seiende“, das unentstanden und unvergänglich ist und sich nie ändert, und auf der anderen Seite das „stets Werdende“, das aufgrund seines unablässigen Wandels nie „ist“, sondern nur als Prozess existiert. Den beiden Hauptgattungen entsprechen zwei verschiedene Arten der Erfassung durch den Menschen: Das Beständige, Immerwährende kann Gegenstand echter Erkenntnis sein, über das Veränderliche hingegen gibt es nur Vermutungen und Meinungen, denn es unterliegt immer der Relativität und hat keine dauerhafte, präzis und sicher erfassbare Beschaffenheit. Daher können Feststellungen über Vorgänge nur eingeschränkt zutreffen. Etwas allgemein und zeitunabhängig Gültiges, schlechthin Wahres lässt sich nur über das Seiende aussagen. Alle Objekte der Sinneswahrnehmung zählen zum „Werdenden“. Seiend und damit im eigentlichen Sinn erkennbar sind nur reine Vernunftinhalte.
Die ontologische Ordnung ist hierarchisch, sie impliziert Wertung: Das Ewige, immer Gleichbleibende ist objektiv „besser“ als das Entstandene und Wandelbare, es hat in der Weltordnung einen höheren Rang. Außerdem ist es die Ursache dafür, dass es das Entstandene gibt. Alles Entstandene hat notwendigerweise eine Entstehungsursache, das heißt einen Erzeuger, und ein Muster, nach dem es geschaffen wurde. Es ist Abbild des Musters. Ist das Muster ein wirklich seiendes, ewiges Urbild – eine „Idee“ im Sinne von Platons Ideenlehre –, so ist das Abbild zwangsläufig gelungen und schön. Wird hingegen ein Abbild nach einem minderwertigen Muster geschaffen, das selbst nur Abbild von etwas anderem ist, so fällt es nicht so gut aus. Diese allgemeinen Feststellungen bilden den Rahmen für die Erkenntnistheorie des Timaios und für seine philosophische Erklärung der Welt. Der Kosmos ist sinnlich wahrnehmbar, also „geworden“ und dem Werdenden zugehörig. Daher sind absolut zutreffende Aussagen über seine Entstehung prinzipiell unmöglich. Das Weltentstehungsmodell – die Kosmogonie – des Timaios kann somit, wie er eingangs betont, nur ein „gut wiedergebender Mythos“ (eikṓs mýthos) sein, das heißt eine zwangsläufig mit Mängeln behaftete, aber brauchbare Abbildung der Wirklichkeit. Damit muss man sich zufriedengeben, mehr anzustreben ist zwecklos.
Immerhin lässt sich nun aufgrund dieser Überlegungen bereits eine Aussage über den Kosmos treffen: Es ist offenkundig, dass er außerordentlich schön ist und dass er als etwas Gewordenes ein Abbild sein muss. Daraus folgt, dass er einen Erzeuger hat, der ihn nach einem Muster geschaffen hat, und dass als sein Urbild nur etwas Seiendes und Ewiges in Betracht kommen kann.
Der Entstehungsgrund und die Einzigkeit des Kosmos
Den Grund der Schöpfung sieht Timaios in der Güte des Schöpfers. Nach seiner Überzeugung ist der Urheber der Welt schlechthin gut. Daher ist er notwendigerweise von Neid und Missgunst völlig frei, wohlwollend und stets bestrebt, das Bestmögliche zu bewirken. Daraus folgt zwangsläufig, dass er das Gute nicht für sich behalten wollte, sondern es allem gönnte und danach strebte, dass alles ihm möglichst ähnlich wird. Daher musste er den bestmöglichen Kosmos erschaffen. Eine andere Entscheidung war ihm nicht möglich, denn sonst hätte er gegen seine eigene gütige Natur verstoßen müssen, was ausgeschlossen ist. Da der Gott seine Natur niemals ändert, kann er immer nur so handeln, wie sein Charakter es fordert. Daher erstreckt sich sein Wohlwollen auch auf die Materie, die er nicht geschaffen, sondern vorgefunden hat. Sie existierte schon vor der Schöpfung und befand sich damals in einem Zustand chaotischer Bewegung, der ihrer eigenen Natur entspricht und dann vorliegt, wenn kein ordnendes Prinzip von außen dem Chaos entgegenwirkt. Da dieser Zustand nicht optimal war, musste der Schöpfer eingreifen und das Weltall gestalten. Aus dem formlosen Chaos schuf er den sinnvoll geordneten Kosmos und verlieh ihm die größtmögliche Schönheit. Da solche Schönheit nur Vernünftigem zukommen kann und nur Beseeltes vernünftig sein kann, gab der Schöpfer dem Weltall eine Seele, die Weltseele. So entstand der Kosmos als ein vernünftiges Lebewesen.
Das Muster, nach dem der Kosmos gestaltet ist, ist die geistige Welt, die alle Vernunftinhalte umfasst. Daraus folgert Timaios, dass es nur ein einziges Universum geben kann. Die geistige Welt muss eine Einheit bilden, denn sonst wäre sie nur ein Teil von etwas Umfassenderem und Höherrangigem, und dann hätte der Schöpfer dieses als Muster genommen, um das optimale physische Abbild des Geistigen zu erschaffen.
Die Erschaffung des Weltkörpers
Anschließend wendet sich Timaios der Erschaffung und Beschaffenheit des Weltkörpers – des sichtbaren Leibes der Weltseele – zu. Da das Materielle im Kosmos sichtbar und betastbar ist, müssen bei seiner Entstehung die Elemente Feuer und Erde beteiligt gewesen sein, denn ohne Feuer ist nichts sichtbar und ohne Erde nichts fest und anfassbar. Außerdem wurden zwischen Erde und Feuer zwei vermittelnde Bindeglieder benötigt, damit eine Ganzheit entstehen konnte. So ergab sich die Vierheit der Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Das harmonische Verhältnis der Elemente bestimmte der Schöpfer nach einer mathematischen Proportion, bei der die erste von vier Zahlen sich zur zweiten so verhält wie die zweite zur dritten und die dritte zur vierten. Er gestaltete den Weltkörper kugelförmig, da die Kugel der vollkommenste geometrische Körper ist, und verlieh ihm nur die vollkommenste Bewegungsart, die Rotation.
Die Erschaffung der Weltseele und ihre Verknüpfung mit dem Weltkörper
In den Weltkörper setzte der Schöpfer die Weltseele als belebendes Prinzip. So wurde der Kosmos ein völlig autarkes Wesen, eine erschaffene Gottheit. Da er alles, was er benötigt, auf vollkommene Weise in sich trägt und mit sich selbst im Einklang ist, nennt ihn Timaios einen „seligen Gott“.
Die Weltseele schuf der Schöpfergott schon vor dem Weltkörper, dem er sie dann einpflanzte. Bei ihrer Erschaffung griff er auf die zwei Grundprinzipien, das Sein und das Werden, zurück und mischte sie. So entstand eine „dritte Wesensform“, eine Mischform, welche die Qualität des ewigen, unteilbaren Seins mit der des Werdens und der Teilbarkeit verbindet. Bei dem Mischvorgang musste er die Naturen der gegensätzlichen Prinzipien „Selbes“ und „Anderes“ gewaltsam zusammenfügen. Dann teilte er sein Erzeugnis nach einem mathematischen Verfahren, das Timaios genau beschreibt, und bildete aus den Teilen eine komplexe Struktur, die Weltseele. Bei der Teilung ging er in drei Schritten vor. Im ersten Schritt gliederte er aus dem Ganzen sieben Teile aus, die zueinander im Verhältnis 1 : 2 : 3 : 4 : 9 : 8 : 27 standen. Zwischen diesen Teilen bestanden „Abstände“, die er dann im zweiten und dritten Schritt mit weiteren Teilen, die er vom Ganzen abschnitt, auffüllte. Schließlich gelangte er mit diesem Verfahren zu dem Zahlenverhältnis 256 : 243, das in der Musiktheorie die mathematische Beschreibung des pythagoreischen Halbtons (Limma) ist. Innerhalb der Weltseele brachte er zwei kreisförmige Bewegungen in Gang, den äußeren Kreis des „Selben“ und den inneren des „Anderen“. Dann verband er die Mitte des Weltkörpers mit der Mitte der Weltseele. Das Ergebnis ist der Kosmos, dessen Seele den kugelförmigen Körper des Alls überall durchdringt und von außen ringsum umhüllt.
Zeit und Ewigkeit
Der nächste Schritt war die Erschaffung der messbaren Zeit. Sie entstand zugleich mit der Ordnung des Himmels; die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper ermöglichten die Abgrenzung von Zeiteinheiten, die Zeitmessung. Die Zeit ist als „bewegliches Abbild der Ewigkeit“ zu verstehen. Für die Menschen, deren Dasein sich innerhalb der Zeit abspielt, ist das Denken in zeitlichen Begriffen selbstverständlich. Daher ist ihre Sprache gemäß dem zeitlichen Erleben gestaltet; wo es um die Unterscheidung von Zeitlichem und Überzeitlichem geht, ist sie unpräzis.
Nachdem der Schöpfer die sieben relativ erdnahen Himmelskörper – die Sonne, den Mond und die fünf im Altertum bekannten Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn – erschaffen hatte, setzte er sie in ihre Umlaufbahnen. Nach dem geozentrischen Weltbild des Timaios umkreisen diese Himmelskörper die Erde, die den Mittelpunkt des Weltalls bildet. Optimal ist die gleichmäßige Kreisbewegung von Sonne und Mond. Die Bewegungen der Planeten kommen dem irdischen Beobachter zwar ziellos vor, doch sind auch sie gesetzmäßig, was allerdings nur Astronomen verstehen. Die Umlaufbahnen der sieben Himmelskörper sind der Kreisbahn des „Anderen“ der Weltseele zugeordnet, die schräg zur Bahn des „Selben“ verläuft und diese kreuzt. Gemeint sind mit der Bahn des „Selben“ der Äquator der Himmelskugel und mit der des „Anderen“ die Ekliptik. Der Fixsternhimmel hingegen orientiert sich an der Bahn des „Selben“ der Weltseele.
Der Ursprung der Götter und der übrigen Lebewesen
In der nächsten Phase seiner Tätigkeit brachte der Schöpfer die „sichtbaren und entstandenen“ Götter der Fixsterne hervor. Sie sind zwar wie alle gewordenen Wesen ihrer eigenen Natur nach sterblich, aber durch den Willen des Schöpfers leben sie ewig, da er wegen seiner Güte nicht wollen kann, dass etwas so Gutes wie diese Gottheiten aufgelöst wird. Zur Vollendung der Welt wurden nun noch die irdischen Geschöpfe benötigt, die das Wasser, die Luft und das Land bevölkern sollten, darunter insbesondere der Mensch. Diese Wesen konnte der Schöpfer nicht selbst erschaffen, denn als seine Erzeugnisse wären sie vollkommener, als es ihrer irdischen Daseinsweise entspricht, sie besäßen dann eine göttliche Natur. Dann wäre die Welt ohne ihre dem Kreislauf von Geburt und Tod unterworfenen Bewohner geblieben, es gäbe unterhalb der göttlichen Ebene keine Lebewesen. Eine solche Welt wäre unvollständig und somit unvollkommen. Daher beauftragte der Schöpfer die geschaffenen Götter mit der Erzeugung der Erdbewohner. Deren Seelen erzeugte er selbst in demselben Mischkrug, den er schon für die Erschaffung der Weltseele verwendet hatte. Jede Seele ist einem bestimmten Stern, ihrem Heimatstern, zugeordnet.
Die Erklärung für die Verbindung der unvergänglichen Seelen, deren Anzahl konstant ist, mit den fortlaufend entstehenden und vergehenden Körpern bietet die Seelenwanderungslehre. Die Seelen werden immer wieder in neuen Körpern wiedergeboren. Ihr Schicksal in diesem Kreislauf hängt von ihrer Lebensführung ab. Die vorteilhafteste irdische Daseinsform ist die eines Mannes. Wer in einem Leben als Mann versagt, wird als Frau wiedergeboren; bei weiterem Versagen erhält er einen Tierkörper. Timaios legt Wert auf die Feststellung, dass alle Seelen anfangs dieselben Ausgangsbedingungen hatten. Die Übel, von denen sie im Verlauf der Seelenwanderung befallen werden, sind ausschließlich auf ihr eigenes Fehlverhalten zurückzuführen, nicht auf Willkür des Schöpfers oder der Götter.
Die Götter führten den Auftrag aus, indem sie die Tätigkeit des Schöpfers nachahmten; sie schufen Körper und setzten die Seelen hinein. Daraus ergaben sich für die Seelen große Schwierigkeiten, da sie nun heftigen Einwirkungen ihrer materiellen Umwelt ausgesetzt waren. Das hatte zur Folge, dass ihnen zeitweilig die Vernunft abhandenkam. Dies ist auch weiterhin in jedem Menschenleben so: Nach dem Eintritt in einen Körper ist die Seele zunächst vernunftlos, erst später wird sie im Lauf des Lebens vernünftig.
Als nächstes beschreibt Timaios die Erschaffung und Beschaffenheit des menschlichen Körpers. Er erläutert dessen Zweckmäßigkeit, wobei er sich in erster Linie mit dem Kopf befasst. Den kugeligen Kopf des Menschen schufen die Götter, indem sie die vollkommene runde Gestalt des Weltalls nachbildeten. Daher ist der Kopf das Göttlichste am Menschen, ihm ist der restliche Körper als Diener untergeordnet. Detailliert legt Timaios seine Theorie der optischen Wahrnehmung dar.
Die Rolle der Notwendigkeit
Bisher hat Timaios hauptsächlich das von der göttlichen Vernunft, dem Nous, Hervorgebrachte behandelt. In den folgenden Ausführungen bezieht er den zweiten Hauptfaktor bei der Entstehung des Kosmos, die Notwendigkeit (anánkē), in seine Überlegungen ein. Nach seiner Theorie ist die Welt durch das Zusammentreten von Vernunft und Notwendigkeit entstanden. Dabei hat die Vernunft die dominierende Rolle übernommen. Sie wollte immer das Beste bewirken, stieß aber auf Hindernisse, die von der Notwendigkeit stammten. Daher musste die Vernunft die Notwendigkeit „überzeugen“, „das Meiste des Werdenden zum Besten zu führen“. Es gelang ihr, die Notwendigkeit zum Nachgeben zu bewegen. Das bedeutet aber nicht, dass die Schöpfung gänzlich nach dem Willen der Vernunft gestaltet wurde. Neben dem gezielten Vorgehen der Vernunft gab es auch die Einwirkung der „Form der schweifenden Ursache“, eines Zufallsfaktors.
Der Raum
Wenn man ein besseres Verständnis des Alls erlangen will, muss man außer den beiden bisher betrachteten Hauptgegebenheiten, den seienden Urbildern und ihren werdenden Abbildern, eine „dritte Gattung“ berücksichtigen. Diese bezeichnet Timaios als „schwierig und dunkel“. Sie ist die Instanz, die alles Werden in sich aufnimmt. Ihre Funktion ist der einer Amme vergleichbar.
Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet Timaios’ Kritik an den kosmologischen Ansätzen der früheren Philosophen, der Vorsokratiker. Die vorsokratische Naturphilosophie basierte auf der Lehre von den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, aus denen sich nach damaligem Verständnis der Kosmos zusammensetzt. Vorsokratische Denker versuchten, ein stoffliches Urprinzip, den „Ursprung von allem“, zu ermitteln; manche setzten es mit einem der vier Elemente gleich, aus dem dann alles übrige hervorgegangen sei. Diesen Ansatz hält Timaios für verfehlt. Er geht zwar auch von der Vierzahl der Elemente aus, sieht aber in ihnen keine primären Gegebenheiten, die als Ursprung in Betracht kämen. Wenn ein Stoff der Ursprung von allem wäre, müsste er eine stabile Beschaffenheit aufweisen. Die vier Elemente sind jedoch instabil; durch Vorgänge wie Erstarren und Schmelzen, Verflüchtigen und Entzünden verändern sie sich und gehen ineinander über. Sie sind nicht Substanzen (ein „Dieses“), sondern nur Aggregatzustände (ein „Derartiges“). Timaios vergleicht das mit verschiedenen aus Gold gebildeten Figuren, die nur unterschiedliche, wechselnde Gestalten der einen Substanz Gold sind. Das, was alle körperlichen Dinge in sich aufnimmt, muss aber etwas Beständiges, ein „Dieses“ sein. Damit es alle sichtbaren Formen in sich bergen kann, muss es selbst unsichtbar und formlos sein. Dieses Substrat, die „Amme des Werdens“, ist die chṓra, der Raum. Ursprünglich war der Raum nur der Ort des Regellosen, Chaotischen, der amorphen Urmaterie. Indem der Schöpfer das, was er da vorfand, mit „Formen und Zahlen“ gestaltete, schuf er die Grundlage von Ordnung. So entstand zunächst das System der vier Elemente.
Die Elemente und die Ästhetik des Kosmos
Aus der amorphen Urmaterie erzeugte der Gott die vier Elemente. Dabei ging er vom Dreieck, der einfachsten Flächenfigur, aus. Aus Dreiecken konstruierte er dreidimensionale Figuren in Gestalt von regelmäßigen konvexen Polyedern, die er als winzige, für das menschliche Auge unsichtbare Bausteine der Elemente verwendete. Für jedes Element nahm er einen dieser geometrischen Körper als Grundbaustein. Drei der Körper, das Tetraeder, das Oktaeder und das Ikosaeder, baute er aus gleichseitigen Dreiecken, den vierten, das regelmäßige Hexaeder (Würfel), aus sechs Quadraten, die er aus jeweils vier gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecken konstruiert hatte. Das Feuer schuf er aus den tetraedrischen Bausteinen, die Luft aus den oktaedrischen, das Wasser aus den ikosaedrischen und die Erde aus den würfelförmigen. Ein weiteres Polyeder, das Dodekaeder, verwendete er bei der Konstruktion des Weltalls. So ist die gesamte sichtbare Welt aus diesen fünf Polyedern aufgebaut, die heute – in Anknüpfung an den Timaios – als „platonische Körper“ bezeichnet werden. Die Annahme, dass die Grundbausteine der vier Elemente gerade diese vier Formen aufweisen, ergibt sich für Timaios aus dem Grundsatz, dass der Gott den Kosmos optimal erschaffen haben muss. Wegen seiner Vollkommenheit muss der Kosmos als Ganzes und hinsichtlich seiner Bestandteile die für ein dreidimensionales Gebilde größtmögliche Schönheit aufweisen, soweit dies mit den Erfordernissen der Zweckmäßigkeit vereinbar ist. Die fünf platonischen Körper sind die einzigen regelmäßigen konvexen Polyeder, die es gibt. Sie bieten ein Höchstmaß an Symmetrie und damit an Schönheit. Wenn die Gottheit nichts Schöneres finden konnte, muss sie zwangsläufig diese Formen verwendet haben. In der Konstruktion des Kosmos ist für Timaios nichts zufällig oder willkürlich, sondern alles resultiert zwingend aus dem Zusammentreffen von ästhetischem Gestaltungswillen, Zweckmäßigkeitserfordernissen und mathematischer Notwendigkeit.
In diesem Zusammenhang kommt Timaios auf die schon früher erörterte Frage nach einer möglichen Vielzahl von Welten zurück. Eine unendliche Anzahl schließt er zwar weiterhin aus, doch äußert er sich nun vorsichtiger. Er erwägt die Möglichkeit, dass es fünf Welten gibt, die den fünf platonischen Körpern entsprechen. Zwar entscheidet er sich wiederum für die Einzigkeit der Welt, da dies die am besten begründete Theorie sei, doch lässt er nun die Möglichkeit der Fünfzahl offen.
Die Erklärung der Natur mit der platonischen Elementenlehre
Die Theorie, nach der es insgesamt vier Elemente gibt, die sich durch die Stereometrie ihrer Grundbausteine unterscheiden, dient Timaios als Grundlage seiner Erklärung einer Reihe von Naturphänomenen. Diese deutet er als Resultate der Interaktion der Elementarteilchen; beispielsweise wirkt das Feuer durch die Spitzigkeit seiner Teilchen auflösend. Die Erdteilchen sind die einzigen, die eine quadratische Grundfläche aufweisen; daher ist die Erde das stabilste und unbeweglichste Element. Sie kann nicht in ein anderes Element umgewandelt werden. Die anderen drei Elemente, deren Teilchen aus Dreiecken konstruiert sind, können ineinander übergehen; beispielsweise können aus einem Luftteilchen zwei Feuerteilchen entstehen. Bei diesen Prozessen werden die Teilchen zerspalten oder sie treten zu einem neuen Polyeder zusammen. Ausführlich geht Timaios auf Einzelheiten ein. Unter anderem legt er dar, wie kinematische Eigenschaften, Vorgänge wie Schmelzen und Erstarren sowie Wahrnehmungen wie „warm“ und „kalt“, „hart“ und „weich“, „schwer“ und „leicht“ im Rahmen seines physikalischen Weltbilds zu erklären sind. Er bestreitet, dass es im Weltall ein Oben und ein Unten gibt, denn die Weltkugel zerfällt für ihn nicht in zwei unterschiedlich beschaffene Halbkugeln. Lust- und Schmerzempfindungen sowie Geschmacks-, Geruchs-, Laut- und Farbwahrnehmungen finden ebenfalls in diesem Kontext ihre Erklärung.
Der Mensch
In der Übersicht über die Naturkunde, die Timaios in seinem Vortrag bietet, kommt als nächstes Thema der Mensch an die Reihe. Er wird unter dem Gesichtspunkt der Verbindung und Interaktion von Seele und Körper beschrieben. Eingangs hebt Timaios erneut die Bedeutung der Symmetrie und der mathematischen Proportion in der Weltordnung hervor. Grundlegend für sein Konzept des Verhältnisses von Körper und Seele ist die Unterscheidung zwischen einem unsterblichen und einem sterblichen Seelenteil, wobei der sterbliche wiederum unterteilt ist. Nach Timaios’ Verständnis ist nur der anfänglich vom Weltschöpfer geschaffene Teil der Seele unsterblich. Die Götter, die beauftragt waren, die unsterblichen Seelen in sterbliche Körper zu versetzen, mussten zu diesem Zweck sterbliche Seelenteile erschaffen, die für die Interaktion des Seelischen mit dem Körper und der materiellen Umwelt zuständig sind. Diese vergänglichen Teile trennten sie soweit möglich von dem weit edleren, seiner Natur nach göttlichen Seelenteil. Das geschah, indem sie den Kopf zur Wohnstätte des unsterblichen, vernunftbegabten Teils machten und ihn durch den Hals vom Rumpf trennten.
Die verschiedenen Regionen des Rumpfes bestimmten die Götter zu Sitzen der vernunftlosen, vergänglichen Seelenteile: den Mut und den Zorn wiesen sie dem Bereich oberhalb des Zwerchfells zu, den Nahrungstrieb dem Bereich zwischen Zwerchfell und Nabel. Die gesamte Anatomie richteten sie höchst zweckmäßig so ein, dass sie die verschiedenartigen Funktionen des Körpers und sein Zusammenwirken mit den Seelenteilen optimal unterstützt. Wie dies geschieht, zeigt Timaios anhand der Besprechung der einzelnen Organe und Körperbereiche, wobei er auch auf die Atmung, die Ernährung und das Blut eingeht.
In Zusammenhang mit der Behandlung des Atmungsvorgangs kommt Timaios auf die Frage nach der Leere zu sprechen. Er bestreitet die Existenz eines Vakuums. Nach seiner Ansicht gibt es nichts Leeres, vielmehr ist das ganze Weltall dicht mit Teilchen vollgepackt, die überall aneinanderstoßen. Vermeintliche Wundererscheinungen wie der Magnetismus lassen sich durch die unmittelbare Interaktion der Teilchen erklären, die Hypothese einer Anziehungskraft erübrigt sich.
Alter und Tod sind physikalisch erklärbare Phänomene. Der Tod ist an sich nicht naturwidrig. Er ist dann schmerzhaft, wenn er durch Krankheit oder Verwundung bewirkt wird. Wenn er aber altersbedingt auf natürlichem Weg eintritt, ist er nicht nur schmerzlos, sondern sogar – wie alles Natürliche – angenehm. Die Seele fliegt dann davon, und das ist für sie ein lustvoller Vorgang.
Krankheit und Heilung
Anschließend geht Timaios auf die Entstehung von Krankheiten ein. Deren Ursachen sieht er in einem Überfluss oder Mangel eines der vier Elemente im Körper oder in naturwidriger Erzeugung und Verteilung der Elemente und der aus ihnen gebildeten Stoffe. Ausführlich analysiert er Zersetzungs- und Entzündungsprozesse. Unter den seelischen Krankheiten hält er übermäßige Schmerz- oder Lustgefühle für besonders schlimm, da sie die Vernunft ausschalten können. Manche Leiden deutet er als Folgen von körperlichen Einwirkungen auf die Seele oder eines unharmonischen Verhältnisses zwischen Körper und Seele. So entsteht ein ungesunder Zustand, wenn eine kräftige, machtvolle Seele einen relativ schwachen Körper bewohnt und ihn überfordert. Wenn ein starker Körper mit einem schwachen Verstand verbunden ist, wird die Seele stumpf, ungelehrig, vergesslich und unwissend.
Heilung bedeutet Rückkehr zum naturgemäßen Zustand, zur Harmonie und Ausgeglichenheit. Damit ahmt der Mensch in sich selbst die Vortrefflichkeit des Kosmos nach, insbesondere dessen Schönheit, die auf Angemessenheit und harmonischen Proportionen beruht. Die schädliche Einseitigkeit eines übertriebenen Übergewichts der geistigen oder der körperlichen Betätigung ist zu vermeiden; wo eine solche Unausgewogenheit in der Lebensführung entstanden ist, ist ein Ausgleich zu schaffen. Eine gesunde Lebensweise mit viel körperlicher Bewegung ist dem Einsatz von Arzneien vorzuziehen. Das Mittel zur Pflege der seelischen Gesundheit ist die Beschäftigung mit den kosmischen Harmonien und Orientierung an ihnen. Sie bringt den Menschen mit dem All in Einklang und führt ihn zur Eudaimonie, der aus einem gelungenen Leben resultierenden „Glückseligkeit“. Dies ist möglich, weil der unsterbliche Seelenteil kein irdisches, sondern ein himmlisches „Gewächs“ ist.
Die Seelenwanderung als Degeneration
Danach wendet sich Timaios der Fortpflanzung und der Tierwelt zu. Dabei kommt er auf seine Seelenwanderungslehre zurück und fasst sie knapp zusammen. Im Vordergrund steht für ihn der ethische Aspekt. Durch Unvernunft und schlechte Lebensführung gerät eine Seele in immer ungünstigere Verhältnisse. Wer als Mann ungerecht gelebt hat, wird als Frau wiedergeboren. Wenn sich eine Seele im menschlichen Dasein nicht richtig oder gar nicht um Erkenntnis bemüht hat, scheitert sie an ihrer Unwissenheit und tritt im nächsten Leben in einen Tierkörper ein. Innerhalb der Tierwelt gibt es Abstufungen; die unterste Stufe bildet das Leben als Wassertier, dem sogar die Luftatmung versagt ist.
Das Schlusswort
Timaios beschließt seinen Vortrag mit einem enthusiastischen Lob des Kosmos. Für ihn ist der Kosmos ein göttliches Lebewesen von vollendeter Schönheit, sichtbare Gottheit, das einzigartige Abbild des unsichtbaren, aber gedanklich erfassbaren Schöpfers.
Interpretation
Der eikos mythos
Ein Hauptthema der Forschung ist die Frage, wie Platon den Wahrheitsgehalt von Aussagen über die Weltentstehung eingeschätzt hat. Sein Timaios nimmt grundsätzlich zur Zuverlässigkeit von Behauptungen auf dem Gebiet der Kosmogonie Stellung. Er spricht von einem eikos mythos, einem die Wirklichkeit relativ gut wiedergebenden Bericht, den er vortrage. Hinsichtlich der Erkennbarkeit dessen, was sich im Bereich des Gewordenen und Werdenden abspielt, ist er skeptisch. Er meint, sicheres Wissen darüber sei prinzipiell unerreichbar, daher solle man sich mit einem brauchbaren Modell begnügen. Diskutiert wird im philosophiehistorischen Diskurs die Einordnung dieses Konzepts in die aus anderen Werken, vor allem dem Dialog Politeia, bekannte Erkenntnistheorie des Philosophen. Dabei geht es um die Frage, wie in der Terminologie von Platons Liniengleichnis das Wirklichkeitsnahe (eikos) des Timaios hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Erkenntnisweise zu bezeichnen wäre. Einer verbreiteten Forschungsmeinung zufolge ist es mit dem „Fürwahrhalten“ (pístis) gleichzusetzen, das eine Art des Meinens (dóxa) ist, ein Vertrauen auf die Richtigkeit von nicht ausreichend gesicherten Auffassungen. Nach einer anderen Interpretation entspricht es der wesentlich zuverlässigeren Erkenntnisweise des begrifflichen Denkens (diánoia). Die Vermischung von Elementen mythischer Erzählung mit philosophischer Argumentation wird unterschiedlich gedeutet: Teils wird der mythische Aspekt betont, teils der naturwissenschaftliche Ansatz, dessen Grundlage der Versuch ist, eine Naturerklärung aus mathematischen Gegebenheiten abzuleiten. Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob die erkenntnistheoretische Beschränkung auf relative Wirklichkeitsnähe nur die kosmologischen Aussagen oder auch die Erkenntnistheorie selbst betrifft. Überwiegend wird in der Forschung angenommen, dass Platon für seine erkenntnistheoretischen Thesen einen Wahrheitsanspruch erhoben hat.
Schwierig und umstritten ist die Übersetzung von Platons Begriff eikos, der ungefähr „gut wiedergebend“ bedeutet. Er wird oft mit „wahrscheinlich“ übersetzt, was aber problematisch ist, da es sich nicht um Wahrscheinlichkeit im heute geläufigen Sinne handelt. Auch die verbreitete Übersetzung mit „plausibel“ stößt auf Widerspruch. Gemeint ist eine Modellvorstellung, die wie jedes Modell zwangsläufig Mängel aufweist und das, was sie darstellen soll, nicht in jeder Hinsicht befriedigend wiedergeben kann, aber doch eine brauchbare Annäherung an eine nicht besser erfassbare Wirklichkeit darstellt. Den verschiedenen Übersetzungen und Umschreibungen ist gemeinsam, dass ein solcher „Mythos“ jedenfalls eine in gewisser Hinsicht unzulängliche und daher nur begrenzt belastbare Mitteilung ist.
Der Demiurg
Die Figur des Demiurgen wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert und in den Kontext der platonischen Ontologie eingeordnet. Sie trägt mythische Züge und wird oft als Personifikation eines Prinzips gedeutet, wobei in erster Linie das Prinzip des Guten und der Nous in Betracht gezogen werden. Verbreitet ist die Gleichsetzung des Demiurgen mit der Gesamtheit der platonischen Ideen. Falls es sich um den Nous handelt, stellt sich die Frage, ob der Nous der Weltseele oder ein separater, unabhängig von ihr bestehender Nous gemeint ist. Gegen die Bestimmung des Schöpfers als Nous wird eingewendet, im Platonismus könne Nous nur in einer Seele existieren, die Weltseele sei aber ein Erzeugnis von Platons Schöpfergott.
Ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Demiurgen Platons und dem christlichen Schöpfergott besteht darin, dass im Timaios der Schöpfer keineswegs allmächtig ist und die Welt nicht aus dem Nichts erschaffen hat. Vielmehr formt der Demiurg nur eine bereits existierende Materie in einem bereits vorhandenen Raum, wobei er auf den Widerstand der Notwendigkeit stößt. Diesen Widerstand muss er durch das „Überzeugen“ überwinden, was ihm weitgehend, aber nicht vollständig gelingt.
Die Notwendigkeit
In der Forschung ist Platons Begriff der „Notwendigkeit“ ein oft diskutiertes Thema. Das griechische Wort anánkē enthält ebenso wie seine deutsche Übersetzung „Notwendigkeit“ sowohl den Aspekt von Voraussetzung und Ermöglichung als auch den von Beschränkung und Zwang. Platons Notwendigkeit ist sowohl eine Voraussetzung für das Sichtbarwerden des Geistigen im Physischen als auch eine Einschränkung, da sichtbare Abbilder die Beschaffenheit ihrer Urbilder nur begrenzt aufweisen können. Sie ist somit zugleich Mitursache als auch Hemmnis der Schöpfung. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem platonischen und dem modernen Begriff besteht darin, dass der platonische keine Gesetzmäßigkeit impliziert, sondern im Gegenteil diesen Aspekt ausschließt. Das Kennzeichen der platonischen Notwendigkeit ist Regellosigkeit, Abwesenheit von Ordnung.
In der präkosmischen Welt, die – zeitlich ausgedrückt – vor der Erschaffung des Kosmos bestand, war nach der vorherrschenden Forschungsmeinung die ziellos wirkende Notwendigkeit der bestimmende Faktor. Ob schon für den Präkosmos ein Einfluss der Weltvernunft anzunehmen ist oder sogar die Notwendigkeit selbst schon einen Keim von Vernunft und Ordnung in sich trug und die Elemente vorstrukturierte, ist umstritten. Dem Wortlaut des Timaios zufolge gab es vor der Schöpfung noch keine Einwirkung der Weltvernunft, doch fassen manche Philosophiehistoriker diese Aussage nicht wörtlich auf. Sie meinen, die Notwendigkeit könne von sich aus nichts verursachen, somit müsse die Vernunft schon damals ursächlich gewesen sein. Nach der gegenteiligen Interpretation gibt es Wirkungen der reinen Notwendigkeit; der chaotische Charakter des Präkosmos resultiert nur aus ihrer Ziellosigkeit, nicht aus einem bei ihr bestehenden Mangel an Ursächlichkeit.
Luc Brisson betont den rein mechanischen Charakter der Notwendigkeit. Im Rahmen des zeitlich formulierten Modells des Timaios unterscheidet er drei Stadien. Im ersten, präkosmischen Stadium verursacht die „reine“ Notwendigkeit, die keinem Einfluss der Vernunft unterliegt, einen chaotischen Zustand. Am Ende dieses Stadiums wird sie von der Vernunft überzeugt und beginnt mit ihr zu kooperieren. Das Zusammenwirken der beiden Faktoren ermöglicht die Entstehung des Kosmos, die im zweiten Stadium stattfindet. Damit wird die Notwendigkeit zu einer untergeordneten Ursache oder Hilfsursache der Schöpfung. Im dritten Stadium ist die Schöpfung vollendet, der Demiurg hat sich zurückgezogen. Nun macht sich der Einfluss der Vernunft nur noch durch die Weltseele geltend, welche die Lenkung der Welt übernommen hat, während die Notwendigkeit als kooperierende Zweitursache weiterhin mitwirkt. Nach Brissons Verständnis sind die Stadien nur gedanklich zu trennen, nicht im Sinne eines realen zeitlichen Ablaufs, da die „Erzeugung“ der Zeit nicht als zeitlicher Vorgang denkbar ist, sondern nur als ontologischer Sachverhalt.
Eine von den gängigen Interpretationen völlig abweichende Hypothese lautet, in der präkosmischen Welt gebe es keine Notwendigkeit. Vielmehr seien die Ausführungen des Timaios so zu verstehen, dass die Notwendigkeit überhaupt erst mit der Schöpfung aufgetreten sei. Der Begriff „Notwendigkeit“ beziehe sich auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung, das erst seit der Schöpfung existiere, und nicht auf die präkosmische Selbstbewegung der Materie.
Der räumliche und materielle Aspekt
Eine weitere Forschungsdiskussion dreht sich um die „Amme des Werdens“, die chora. Dieser Begriff wird gewöhnlich mit „Raum“ übersetzt. Darunter ist jedoch nicht ein potentiell leerer Raum zu verstehen. Vielmehr hat die chora sowohl räumlichen als auch materiellen Charakter, sodass man von „Raum-Materie“ sprechen kann. Sie ist das stabile Substrat, das die materiellen Objekte aufnimmt; sie verschafft ihnen die räumliche Ausdehnung und ermöglicht ihnen damit die physische Existenz. Eine adäquate Interpretation von Platons einschlägigen Aussagen muss sowohl den räumlichen als auch den materiellen Aspekt der chora berücksichtigen. Der Raum kann nicht isoliert für sich gedacht werden, er ist immer auf die in ihm vorhandenen Körper bezogen. Nur begrifflich, nicht real kann er von seinem materiellen Inhalt getrennt werden. Eine von dieser Standarddeutung („One Entity View“) abweichende Auffassung vertritt Dana Miller. Sie meint, die aufnehmende Entität sei physisch, aber etwas anderes als der Raum oder Ort, der eine separate Entität darstelle.
Als neutrale, formlose, durch ihre Unbestimmtheit Dasein ermöglichende Entität weist die chora Gemeinsamkeiten mit der „unbestimmten Zweiheit“ auf, die in der Platon zugeschriebenen Prinzipienlehre eine wichtige Rolle spielt. Dort ist die unbestimmte Zweiheit eines der beiden höchsten Prinzipien, auf die alles zurückgeführt wird. Die Behauptung, dass die nur indirekt überlieferte „ungeschriebene Lehre“ oder Prinzipienlehre ein authentisches Konzept Platons und in den Grundzügen rekonstruierbar sei, gehört allerdings in der Platon-Forschung zu den umstrittensten Hypothesen. Die Befürworter der Authentizität stützen ihre Hypothese unter anderem auf die Ausführungen über die chora – das materielle und räumliche Prinzip – im Timaios. Michael Erler vergleicht Platons Begriff der chora mit dem des Feldes in der modernen Physik.
Die Materie des präkosmischen Raums war nicht absolut undifferenziert. Sie enthielt bereits „Spuren“ (íchnē) der Elemente, die der Schöpfer dann bei der Erschaffung des Kosmos erzeugte. Die Spuren können als Aggregatzustände der vorkosmischen Materie aufgefasst werden. Schwierig ist das Problem der chaotischen Bewegung im präkosmischen Raum, deren Ursache im Timaios nicht angegeben wird und in der Forschung umstritten ist. Eine Erklärungshypothese nimmt eine Einwirkung der Ideen als Ursache an, andere weisen die Rolle des Bewegungsprinzips der Notwendigkeit, der bereits einwirkenden Weltvernunft, einem irrationalen Teil der Weltseele, einer irrationalen seelischen Kraft außerhalb der Weltseele, der chora oder der Inhomogenität der Stoffe zu. Nach der letztgenannten Hypothese verursacht die Materie ihre Bewegung selbst.
Umstritten ist die Beschaffenheit der Dreiecke und Quadrate, aus denen die Elemente aufgebaut sind. Zahlreiche Hypothesen sind vorgebracht und diskutiert worden. Dazu zählen die Vermutungen, es handle sich um zweidimensionale geometrische Figuren, um immaterielle physikalische Objekte, um zweidimensionale Begrenzungen von Raum, um dreidimensionale Körper oder um ein rein theoretisches Konzept.
Viel Beachtung findet in der Forschung das Verhältnis zwischen dem mathematischen Konzept Platons von den kleinsten Bausteinen der Sinnesobjekte und dem materialistischen Atomismus seines älteren Zeitgenossen Demokrit. Platons Modell gilt als Reaktion auf dasjenige Demokrits, mit dem es erhebliche Ähnlichkeiten aufweist. Ein fundamentaler Unterschied besteht darin, dass Demokrit die Atome als primäre Gegebenheit betrachtete, für die er nicht nach einer immateriellen Ursache suchte und deren Bewegung er nicht zu erklären versuchte, während Platon sein Modell als Bestandteil seiner umfassenden metaphysischen Welterklärung vortrug. Außerdem unterscheiden sich die beiden Modelle unter anderem dadurch, dass Demokrit im Gegensatz zu Platon die Existenz eines leeren Raums annahm und die Atome für unveränderlich und unteilbar hielt.
Die Mischungsvorgänge
Ein intensiv diskutiertes Forschungsthema sind die Mischungsvorgänge bei der Erschaffung der Weltseele durch den Schöpfergott, den Demiurgen, und der Einzelseelen durch die ihm untergeordneten Götter. Hervorgehoben wird die Rolle der Mittelwerte (geometrisches, harmonisches und arithmetisches Mittel) bei der Darstellung der mathematischen Grundlage der Erschaffung der Weltseele. Plato hat bei seinen Angaben zur Struktur der Weltseele die mathematischen Verhältnisse berücksichtigt, die der musikalischen Harmonie zugrunde liegen. Darauf deutet jedenfalls das Zahlenverhältnis 256/243, welches sich bereits bei Philolaos nachweisen lässt. Die musiktheoretische Deutung der angegebenen Zahlenverhältnisse hat Plato aber nicht explizit thematisiert, sondern entsprechende Folgerungen dem sachkundigen Leser überlassen. Umstritten ist in der Forschung, ob es ihm auf die heutige Definition der Musiktheorie ankam oder ob es ihm um die Verbindung musikalischer Gesetzmäßigkeiten und Phänomene mit der allgemeinen Struktur des Seienden ging und er damit der antiken Definition von Musiktheorie folgt. Letzteres ist wahrscheinlicher.
Die einzelnen Schritte bei der Bildung der Weltseele sind in der Forschung umstritten, da der überlieferte Wortlaut der Textpassage problematisch ist und seine Richtigkeit bezweifelt wird. Es bestehen mehrere gravierende Textprobleme. Eine Änderung am mutmaßlich fehlerhaft überlieferten Text ist vorgeschlagen und diskutiert worden. Bei der Interpunktion bestehen Unklarheiten, die inhaltliche Konsequenzen haben. Das Zusammentreffen textlicher und inhaltlicher Schwierigkeiten ist ein großes Auslegungshindernis. Eine allseits befriedigende Lösung ist bisher nicht gefunden worden. Wegen der daraus resultierenden Unsicherheit wird die Stelle unterschiedlich übersetzt, je nachdem welche Lösungsmöglichkeit der Übersetzer favorisiert.
Die Problematik des zeitlichen Ursprungs des Kosmos
Die bereits in der Antike kontrovers erörterte Frage, ob der Bericht über die Entstehung des Alls in der Zeit wörtlich zu verstehen ist, beschäftigt auch die modernen Interpreten. Wie schon bei den antiken Platonikern lautet auch in der Forschung die Mehrheitsmeinung, Platon habe den Kosmos für ewig gehalten. Nur aus didaktischem Grund habe er Überzeitliches fiktiv auf eine zeitliche Ebene projiziert, um es für das zeitgebundene menschliche Denken besser erfassbar zu machen. Nach einer Deutungsrichtung, die von der Ewigkeit der Welt ausgeht, ist die Schöpfung kein einmaliger Akt, sondern ein ewiger Prozess. Eine andere Hypothese geht zwar von einer Weltentstehung aus, fasst diese aber als „überzeitlichen Akt“ auf, durch den die Zeit konstituiert worden sei, indem sie Messbarkeit erhalten habe. Im Sinne eines überzeitlichen Aktes ist auch von einem „zeitlosen Entstehen“, einem „Ins-Sein-Treten ohne Zeit“ die Rede. Im Dialog weist Platons Timaios wiederholt und mit Nachdruck auf die Schwierigkeit der Aufgabe hin, sein Thema angemessen darzustellen. Den Hintergrund für diese Warnungen vor übertriebenem Vertrauen auf die Richtigkeit der eigenen Meinung bildet wohl der Umstand, dass die Frage der Weltentstehung in Platons Schule, der Akademie, heftig umstritten war.
Ein wichtiges Argument gegen eine wörtliche Auslegung ist der Umstand, dass die Seele im Dialog Phaidros als unentstanden bezeichnet wird, während im Timaios die Erschaffung der Weltseele, der Einzelseelen und des Kosmos geschildert wird. Wenn man die Darstellung im Timaios wörtlich nimmt, ergibt sich ein Widerspruch, der schwer zu erklären ist, wenn man nicht ein Schwanken oder eine Meinungsänderung Platons annehmen will oder die „Erschaffung“ der Weltseele metaphorisch auffasst.
Umstritten ist die Frage, ob Platon der vorkosmischen Welt eine Zeit zugewiesen hat und wie er sich diese gegebenenfalls vorgestellt hat. Einer Forschungshypothese zufolge ist der vorkosmische Zustand durch das Fehlen einer Früher-Später-Relation, eines „Zeitpfeils“, gekennzeichnet. Nach einer anderen Interpretation gab es schon irreversible Zeit, nur war sie noch nicht messbar. Die Annahme einer vorkosmischen Zeit ist aber auch auf scharfe, grundsätzliche Ablehnung gestoßen.
Ernst und Scherz
Bei manchen Ausführungen des Timaios ist umstritten, ob sie ernst oder scherzhaft gemeint sind. Insbesondere die Passage über verschiedene Arten von tierischen Inkarnationen der Seele wird von einigen Interpreten als humoristische Einlage betrachtet. Allerdings entsprechen die Grundzüge der Seelenwanderungstheorie einer echten Überzeugung Platons. Als scherzhaft gilt u. a. auch die Bemerkung des Timaios, die Götter hätten dem Menschen lange Gedärme gegeben, damit die Verdauung viel Zeit in Anspruch nehme und dadurch die Unersättlichkeit eingedämmt werde.
Der politische Aspekt
Die im Anfangsteil des Dialogs behandelte politische Thematik tritt quantitativ gegenüber der naturphilosophischen stark zurück. Dennoch bildet, wie vor allem Lothar Schäfer herausgearbeitet hat, ein politisches Anliegen nicht nur den Ausgangspunkt des Gesprächs, sondern auch den Hintergrund des gesamten Textes. Die naturphilosophischen Überlegungen werden nicht um ihrer selbst willen angestellt, sondern zielen auf eine Nutzanwendung ab, welche die Lebensführung und die soziale Organisation betrifft. Platons großangelegtes Projekt bezweckt die Abstützung von ethischen und politischen Forderungen durch die Darstellung einer kosmischen Ordnung, die das Vorbild für ein entsprechend geordnetes menschliches Dasein abgeben soll. Da das Weltall als göttliches Erzeugnis optimal eingerichtet ist, kann man das in der Natur Geltende, die natürliche „Gerechtigkeit“, als das schlechthin Naturgemäße bestimmen und mit dem Richtigen gleichsetzen. Das so erkannte Richtige kann dann auf die menschlichen Verhältnisse übertragen und zur verbindlichen Handlungsnorm erhoben werden. Die absolute Unveränderlichkeit der kosmischen Ordnung soll sich in der relativen Stabilität eines bestmöglich eingerichteten Staates spiegeln.
Ganz im Dienst der staatspolitischen Ziele des Autors steht die im Timaios nur skizzierte Atlantis-Geschichte, die im unvollendeten Kritias ausführlicher dargestellt werden sollte. Die Erzählung ist nach heutigem Forschungsstand eine freie Erfindung Platons; für eine frühere Existenz des Stoffs gibt es keine Anhaltspunkte. Die Forschungsdiskussion dreht sich um die Frage, ob Platon davon ausging, dass seine Leser den fiktionalen Charakter der Erzählung leicht durchschauen würden. Hierfür spricht die auffällige Analogie zwischen der Rolle der mythischen Ur-Athener im Abwehrkampf gegen Atlantis und derjenigen der historischen Athener in den Perserkriegen. Außerdem signalisiert Platon die Fiktionalität mit verschiedenen Hinweisen.
Entstehung
Einigkeit besteht heute darüber, dass der Timaios zu den späten Dialogen zählt. Für die Spätdatierung spricht vor allem der sprachstatistische Befund. Ein gewichtiges stilistisches Argument ist die Vermeidung des Hiats. Meist wird angenommen, dass es sich um eines der letzten Werke des Philosophen handelt und dass die Abfassung nach 360 v. Chr. erfolgte. Diese Einordnung passt allerdings unter inhaltlichem Gesichtspunkt nicht zu der von zahlreichen Philosophiehistorikern vertretenen „revisionistischen“ Interpretation der Entwicklung von Platons Ontologie. Die Revisionisten meinen, Platon habe in seiner letzten Schaffensphase die Vorstellung aufgegeben, dass die Ideen als urbildliche Muster der Sinnesobjekte aufzufassen seien. Im Timaios wird jedoch ein solches Verständnis der Ideen vorausgesetzt, was den Dialog inhaltlich in die Nähe der Werke der mittleren Periode zu rücken scheint. Das hat einige Forscher zu einer relativ frühen Datierung bewogen. Nach ihrer Ansicht ist der Timaios das letzte in der mittleren Zeit entstandene Werk. Diese vor allem von Gwilym E. L. Owen vertretene, auch mit weiteren Argumenten inhaltlicher und stilistischer Art begründete Auffassung ist nach der heute vorherrschenden Lehrmeinung widerlegt. Eine inhaltlich begründete Frühdatierung des Timaios – vor der Endfassung des Parmenides – ist aber noch 2005 von Kenneth M. Sayre verteidigt worden.
Rezeption
Kein anderes Werk Platons hat in der europäischen Geistesgeschichte eine größere Wirkung erzielt als der Timaios. Als besonders wirkmächtig erwies sich der Gedanke, dass der Mensch analog zum Kosmos konstruiert ist und diesen als Mikrokosmos spiegelt.
Antike
Bereits in der Antike galt der Timaios als dunkel und schwer verständlich. Er wurde eifrig studiert und kommentiert und oft zitiert. Die antiken Ausleger beschäftigten sich insbesondere mit der Frage, ob die Schöpfungsgeschichte wörtlich im Sinne einer Weltentstehung in der Zeit zu verstehen ist oder nur die überzeitliche Ordnung einer ewigen Welt mit erzählerischen Mitteln veranschaulichen soll. Viele lehnten die wörtliche Interpretation ab. Die Beantwortung der Frage nach einem zeitlichen Weltanfang wurde als existentielles Problem betrachtet, da sie weitreichende philosophische und religiöse Konsequenzen hatte. Daher führten die Philosophen die Auseinandersetzung mit außergewöhnlicher Intensität. Umstritten war auch die Geschichtlichkeit der Atlantis-Erzählung.
In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Timaios zur achten Tetralogie. Ein Alternativtitel lautete Über die Natur.
Vom 4. bis zum 1. Jahrhundert v. Chr.
In Platons Philosophenschule, der Akademie, dominierte anscheinend schon bald nach dem Tod des Schulgründers die Auffassung, mit der Schilderung der Weltentstehung könne kein zeitlicher Anfang gemeint sein. Dieser Ansicht waren die Schulleiter Speusippos und Xenokrates. Sie meinten, Platon habe nur aus didaktischen Erwägungen eine zeitliche Darstellung gewählt; in Wirklichkeit habe er die Weltseele für überzeitlich und daher auch die Welt für anfangslos gehalten.
Platons Schüler Aristoteles zitierte den Timaios häufiger als jeden anderen Dialog seines Lehrers, wobei er zum Inhalt sehr kritisch Stellung nahm. Er unterstellte Platon die Annahme eines zeitlichen Anfangs der Welt und versuchte diese Ansicht zu widerlegen. Nach seiner Kosmologie ist das Universum unentstanden und unvergänglich; Entstandenes kann prinzipiell nicht unvergänglich sein. Außerdem bekämpfte er die Seelenlehre des Timaios; Anstoß nahm er insbesondere an der Vorstellung, die Seele sei eine ausgedehnte Größe und als Bewegungsprinzip zu bestimmen und ihre räumliche Bewegung sei eine Denkbewegung. Die platonische Elementenlehre, die Raumkonzeption und die präkosmische Bewegung verwarf Aristoteles ebenfalls. Auch Aristoteles’ Schüler Theophrast und Klearchos von Soloi befassten sich mit dem Timaios. Theophrast hielt Atlantis für historisch. In seiner Abhandlung über die Sinneswahrnehmung (De sensibus) setzte er sich kritisch mit einzelnen diese Thematik betreffenden Behauptungen im Timaios auseinander. Klearchos legte den Bericht über die Entstehung der Weltseele aus.
Den ersten, nur fragmentarisch erhaltenen Timaios-Kommentar – oder vielleicht nur eine Auslegung ausgewählter Passagen des Dialogs – verfasste Krantor von Soloi († 276/275 v. Chr.), ein Schüler des Xenokrates. Aus einem indirekt überlieferten Fragment des Kommentars scheint hervorzugehen, dass Krantor den Atlantis-Mythos für eine geschichtliche Tatsache hielt. Diese Stelle gilt als Beleg für eine frühe Diskussion um die Geschichtlichkeit der Atlantis-Erzählung. Die Interpretation der Stelle ist allerdings umstritten; möglicherweise handelt es sich nicht um eine eigene Meinungsäußerung Krantors, sondern nur um eine Wiedergabe einer Feststellung im Timaios. Krantor war der Ansicht, der Schöpfungsbericht sei nicht im zeitlichen Sinn zu verstehen.
Epikur († 271/270 v. Chr.) kritisierte in seiner Schrift Über die Natur die geometrische Elementenlehre des Timaios scharf. Er bezeichnete sie als lächerlich. Seine Argumentation ist nur fragmentarisch überliefert.
Cicero übersetzte im Jahr 45 v. Chr. oder bald darauf einen Teil des Timaios – etwa ein Viertel von Platons Text – ins Lateinische. Den Einleitungsteil und den Vortrag des Kritias ließ er ebenso wie den letzten Teil von Timaios’ Vortrag weg, sein Text beginnt mit den Ausführungen des Timaios über die philosophischen Voraussetzungen der Kosmologie. Ciceros Übersetzung ist – wenngleich lückenhaft – erhalten geblieben.
Der frühe Mittelplatoniker Eudoros von Alexandria, der wohl um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. aktiv war, verfasste eine heute verlorene Schrift, bei der es sich entweder um einen Kommentar zum ganzen Timaios oder um Erläuterungen zu Platons Ausführungen über die Weltseele handelte. Er hielt die Welt für unentstanden und fasste den Schöpfungsbericht metaphorisch auf.
Vom 1. bis zum 3. Jahrhundert
In den ersten drei Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung war der Timaios Platons berühmtestes Werk, wie eine Fülle von Zitaten zeigt. Er wurde nicht nur in philosophischen Kreisen studiert, sondern war auch einer breiten gebildeten Öffentlichkeit vertraut; man konnte davon ausgehen, dass jeder Gebildete ihn gelesen hatte.
Der jüdische Philosoph und Theologe Philon von Alexandria verwertete Gedankengut des Timaios bei seiner Auslegung der Genesis. Er war von Parallelen zwischen den beiden Schöpfungsberichten stark beeindruckt.
Der Geschichtsschreiber und Philosoph Plutarch verfasste eine Abhandlung über die Erschaffung der Weltseele nach dem Timaios und eine weitere – heute verlorene – über die Entstehung des Kosmos. Er plädierte nachdrücklich für die zeitliche Interpretation des Schöpfungsberichts. Außerdem ging er in seinen Platonischen Fragen (Quaestiones Platonicae) auf einzelne Probleme und Stellen des Dialogs ein.
Christliche Autoren behaupteten, Platon habe im Timaios theologisches Wissen verwertet, das er nicht durch eigene Erkenntnis gewonnen, sondern den Schriften des Moses entnommen habe. Abhängigkeit von der Lehre des Moses unterstellten ihm Justin der Märtyrer (2. Jahrhundert), Clemens von Alexandria (2./3. Jahrhundert) und der unbekannte Verfasser der Cohortatio ad Graecos (Pseudo-Justin).
Zu den Mittelplatonikern, die im 2. und 3. Jahrhundert Kommentare zum Timaios verfassten, zählten Severos, Lukios Kalbenos Tauros, Attikos, Harpokration von Argos (im Rahmen eines umfassenden Platonkommentars) und Longinos. Diese heute verlorenen Kommentare sind nur aus Erwähnungen und Zitaten in späterer antiker Literatur bekannt. Attikos sprach sich in seinem offenbar umfangreichen Werk für eine wörtliche Interpretation von Platons Aussagen über die Entstehung der Welt und der Weltseele aus, womit er sich Plutarchs Meinung – einer Minderheitsposition unter den Platonikern – anschloss. Von den Mittelplatonikern Ailianos und Demokritos sind Äußerungen zu Einzelfragen überliefert, die entweder aus Kommentaren zum gesamten Timaios oder aus Spezialuntersuchungen zu bestimmten Aspekten des Dialogs stammen. Die überlieferten Angaben über die Timaios-Auslegung des Platonikers Origenes basieren vermutlich auf Aufzeichnungen eines Schülers aus einer Lehrveranstaltung dieses Gelehrten.
Stark vom Timaios beeinflusst war der Mittelplatoniker Numenios, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts lebte. Er hielt den Atlantismythos für reine Fiktion ohne historischen Hintergrund und deutete ihn allegorisch im Rahmen seiner Version der platonischen Seelenlehre. Nach seiner Überzeugung existiert im Kosmos neben der guten Weltseele eine zweite Seele, die ebenfalls unsterblich, aber von Natur aus böse ist. Die böse Seele hielt er für die Ursache der Selbstbewegung der Materie. Außerdem machte er sie für die Entstehung alles Schlechten im Menschen verantwortlich. Den Abstieg der Einzelseelen in die Körperwelt, ihr Eintreten in die menschlichen Körper betrachtete er grundsätzlich als ein Unglück. Nach seiner Auslegung versinnbildlicht der Kampf der Ur-Athener gegen die Streitmacht von Atlantis die Auseinandersetzung zwischen der Schar der besseren Seelen unter der Leitung der Göttin Athene, der Repräsentantin der Vernunft, und der zahlenmäßig überlegenen Gruppe der schlechteren Seelen, die dem Meeresgott Poseidon unterstehen.
Im 2. Jahrhundert entstand der Timaios-Kommentar des Peripatetikers Adrastos von Aphrodisias, der späteren Gelehrten als wertvolles Handbuch diente, aber heute bis auf Fragmente verloren ist. Es handelte sich vermutlich in erster Linie oder ausschließlich um eine Erklärung von technischen Einzelheiten. Adrastos ging ausführlich auf die Zahlenlehre und ihre Rolle in der Kosmologie und in der Musiktheorie ein. Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias verteidigte in der Frage der Ewigkeit der Welt den aristotelischen Standpunkt.
Der berühmte Arzt Galen verfasste einen Kommentar zum Timaios, von dem teils umfangreiche Fragmente erhalten sind. Er bot nicht nur Erläuterungen, sondern nahm auch inhaltlich Stellung. Außerdem erstellte er eine Zusammenfassung des Dialoginhalts, die heute nur in einer arabischen Teilübersetzung vorliegt. Sein besonderes Interesse galt psychosomatischen Zusammenhängen. Er war aufgrund seiner Erfahrungen der Überzeugung, dass körperliche Faktoren seelische Krankheiten hervorrufen, und berief sich dafür zusätzlich auf den Timaios.
Mit Plotin († 270), dem Begründer des Neuplatonismus, begann eine neue Epoche der Timaios-Rezeption. Die Neuplatoniker interpretierten den Dialog im Sinne ihres Weltbilds. Sie plädierten vehement für die Ungeschaffenheit des Kosmos, die zu ihren Grundüberzeugungen zählte. Plotins Schüler Porphyrios († 301/305) schrieb einen in der Folgezeit sehr einflussreichen Timaios-Kommentar. Sein gründlich ausgearbeitetes, nur fragmentarisch erhaltenes Werk wurde zur Grundlage für die spätere antike Kommentierung des Dialogs.
Spätantike
In der Spätantike lag die Untersuchung und Kommentierung des Timaios in der Hand der Neuplatoniker. Iamblichos († um 320/325), der eine sehr einflussreiche neuplatonische Schulrichtung begründete, verfasste einen umfangreichen Kommentar, von dem 90 Fragmente erhalten sind. Darin setzte er sich kritisch mit der Sichtweise des Porphyrios auseinander. Die späteren Neuplatoniker sahen wie schon Iamblichos im Parmenides und im Timaios die beiden grundlegenden Schriften der klassischen Philosophie, von denen die eine die Metaphysik, die andere die Naturlehre darlege. Im Studiengang der spätantiken Philosophenschulen bildete das Studium dieser beiden Dialoge den krönenden Abschluss der philosophischen Ausbildung.
Im 4. Jahrhundert verfasste der Dichter Tiberianus einen lateinischen Hymnus in 32 Hexametern, in dem er von der höchsten Gottheit Erkenntnis über die Schöpfung und die im Kosmos wirkenden Gesetze, Ursachen und Kräfte erbat. Dabei orientierte er sich an zentralen Themen des Timaios.
Im 4. oder 5. Jahrhundert übertrug der Gelehrte Calcidius den Anfangsteil des Timaios – etwas weniger als die Hälfte des Werks – ins Lateinische und verfasste einen lateinischen Kommentar, in dem er den übersetzten Text nur selektiv behandelte, aber auf die aus seiner Sicht wesentlichen Themen ausführlich einging. Er brachte seine Auffassung selbstbewusst zur Geltung und grenzte sich kritisch von der Tradition der Timaios-Kommentierung ab. Den Schöpfungsbericht deutete er im Sinne einer nichtzeitlichen Weltentstehung. Als Hauptthema des Dialogs bezeichnete er die „natürliche Gerechtigkeit“, die als göttliche Einrichtung die Grundlage des in der Politeia erörterten positiven Rechts sei.
Gründlich studiert wurde der Timaios in der neuplatonischen Philosophenschule von Athen, die an die Tradition der platonischen Akademie anknüpfte. Proklos († 485), ein sehr angesehener Scholarch (Leiter) dieser Schule, verfasste den bedeutendsten spätantiken Kommentar zu dem Dialog. Ein großer Teil seines Werks ist erhalten geblieben. Da sich Proklos eingehend mit der älteren Fachliteratur auseinandersetzte und auch zahlreiche Interpretationen seines Lehrers Syrianos anführte, ist sein Kommentar eine wertvolle Quelle für die frühere Geschichte der Timaios-Rezeption. Die Atlantis-Erzählung betrachtete Proklos als allegorische Darstellung des kosmischen Konflikts zwischen der ordnenden göttlichen Macht und der ihr Widerstand leistenden Materie. Er wandte sich gegen die Auffassung des Aristoteles, wonach Platon die Weltseele zugleich als Denkvermögen und als ausgedehnte Größe beschrieben hat und das Denken der Seele mit der Kreisbewegung des Alls gleichgesetzt hat. Nach Proklos’ Verständnis ist Platons Weltseele ausdehnungslos und die Bewegung des Weltalls nur ein physisches Abbild des seelischen Denkens. Damit wandte sich Proklos gegen die wörtliche Interpretation, die für Aristoteles die Grundlage seiner Kritik am Timaios bildete.
Verloren sind heute die Kommentare von Proklos’ Schüler Asklepiodotos von Alexandria und des nach 538 gestorbenen Damaskios, des letzten Scholarchen der Athener Philosophenschule. Damaskios setzte sich kritisch mit der Timaios-Interpretation des Proklos auseinander.
Der Philosoph Boethius († 524/526) stellte in die Mitte seines Hauptwerk Consolatio philosophiae (Der Trost der Philosophie) das später berühmt gewordene, mit den Worten O qui perpetua beginnende Gedicht, in dem er Kerngedanken des von Calcidius übersetzten Teils des Timaios zusammenfasste. In seinem Lehrbuch De institutione musica (Einführung in die Musik) beschrieb Boethius musikalische Konsequenzen aus der im Timaios dargestellten mathematischen Weltordnung.
Die Plagiatslegende
Schon in der Epoche des Hellenismus kursierte das Gerücht, der Timaios sei ein Plagiat. Es wurde behauptet, Platon habe für viel Geld ein pythagoreisches Buch gekauft, dem er die im Timaios dargelegten naturphilosophischen Lehren entnommen habe. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schrieb der Philosoph Timon von Phleius in satirischen Versen, Platon habe sich nach dem Kauf dieser Schrift an die Arbeit gemacht. Hermippos, ein jüngerer Zeitgenosse Timons, berichtete von verschiedenen Versionen des Gerüchts, denen zufolge es sich um ein Werk des Pythagoreers Philolaos gehandelt habe, das Platon in Italien erworben habe. Die Plagiats-Unterstellung, die in der modernen Forschung einhellig für abwegig gehalten wird, wirkte bis in die Spätantike stark nach. Eine Schrift mit dem Titel Über die Natur des Kosmos und der Seele, die in mehr als fünfzig Handschriften überliefert ist, galt als authentisches Werk des Timaios von Lokroi. Man glaubte, Platon habe diese Schrift als Vorlage für den Vortrag des Timaios in seinem Dialog verwendet. Tatsächlich stimmt sie im Aufbau weitgehend mit Platons Text überein und enthält eine zusammenfassende Darstellung der Ausführungen der Dialogfigur Timaios. Sogar Platoniker wie Proklos nahmen an, Platon habe sich auf das vermeintliche Werk des Pythagoreers Timaios von Lokroi gestützt. Erst moderne philologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Abhandlung Über die Natur des Kosmos und der Seele aus dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. oder aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. stammt und auf Platons Timaios basiert.
Mittelalter
Die älteste erhaltene mittelalterliche Handschrift des griechischen Originaltextes wurde im 9. Jahrhundert im Byzantinischen Reich angefertigt. In West- und Mitteleuropa war der Originaltext nicht zugänglich, dort waren die Gelehrten auf die antiken lateinischen Teilübersetzungen von Calcidius und Cicero angewiesen. Wegen der Unvollständigkeit beider Übersetzungen war ein beträchtlicher Teil des Dialogs unbekannt. Calcidius’ Übersetzung und Kommentar waren außerordentlich verbreitet und einflussreich. Oft unterschieden mittelalterliche Leser nicht zwischen den Ansichten Platons und denen des Calcidius, sondern betrachteten den Dialog und den Kommentar inhaltlich als Einheit.
Außerdem gelangte Gedankengut des Timaios auf indirektem Weg über Werke spätantiker Autoren ins Mittelalter. Eine starke Wirkung entfalteten insbesondere Boethius’ Trost der Philosophie und sein musiktheoretisches Lehrbuch, das für die mittelalterliche Musiktheorie wegweisend war.
Vom Beginn des Frühmittelalters bis zum 11. Jahrhundert
Abschriften von Calcidius’ Übersetzung und Kommentar waren in Gallien schon im 6. Jahrhundert, in Hispanien spätestens im 7. Jahrhundert vorhanden. Im 9. Jahrhundert entnahm der Philosoph Johannes Scottus Eriugena dem Werk des Calcidius wesentliche Anregungen; er war von der Belebtheit des Kosmos überzeugt. Zwei bedeutende frühmittelalterliche Gelehrte, Abbo von Fleury († 1004) und Gerbert von Aurillac († 1003), studierten sowohl den Timaios als auch den Kommentar. Im 11. Jahrhundert steigerte sich das Interesse am Timaios beträchtlich. Die zunehmende Glossierung von Handschriften des Dialogs und des Kommentars zeugt von der wachsenden Intensität der Auseinandersetzung mit den Inhalten. Die stärkere Rezeption rief aber auch Kritik hervor; als Wortführer streng kirchlich orientierter Kreise polemisierte Manegold von Lautenbach gegen die Wertschätzung und Christianisierung der platonischen Naturphilosophie.
12. Jahrhundert
Im 12. Jahrhundert erreichte die mittelalterliche Rezeption des Dialogs ihre größte Intensität. Viele Abschriften wurden angefertigt. In der stark vom Platonismus geprägten Schule von Chartres, die eine der bestimmenden geistigen Kräfte ihrer Zeit war, bildete die Kosmogonie und Kosmologie des Timaios einen thematischen Schwerpunkt.
Bernhard von Chartres († nach 1124), die erste prägende Gestalt der Schule von Chartres, verfasste einen Timaios-Kommentar in Glossenform. Das für den Unterricht konzipierte Werk zeigt das Bemühen des Autors um ein genaues Textverständnis und seine intensive, eigenständige Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Er versuchte nicht den Timaios zu christianisieren. Besonderes Gewicht legte Bernhard auf das schon von Calcidius hervorgehobene Konzept einer „natürlichen Gerechtigkeit“ (naturalis iustitia), das er für das eigentliche Thema des Dialogs hielt.
Wilhelm von Conches († nach 1154), ein namhafter Vertreter der Schule von Chartres, kommentierte den Timaios ebenfalls. Seine Auslegung des Dialogs rief ein starkes, allerdings teilweise negatives Echo hervor. Als Platoniker versuchte er, die Schöpfungsgeschichte der Bibel mit einer metaphorischen Interpretation der Weltschöpfungserzählung im Timaios in Einklang zu bringen. Dabei brachte er die platonische Weltseele vorsichtig mit dem Heiligen Geist in Verbindung. Auch andere Gelehrte des 12. Jahrhunderts, Abaelard und Thierry von Chartres, sahen in der Weltseele das platonische Gegenstück zum Heiligen Geist. Das war allerdings theologisch sehr problematisch, da bei Platon die Weltseele etwas „Gewordenes“, ein Teil der Schöpfung ist, während der Heilige Geist nach dem christlichen Glauben eine Person der göttlichen Dreifaltigkeit und als solche ungeschaffen ist. Daher formulierte Wilhelm von Conches seine Meinung als bloße Hypothese, und Abaelard betonte, die platonische Lehre von der Weltseele sei nicht konkret, sondern nur gleichnishaft gemeint. Dennoch sahen die einflussreichen Theologen Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Saint-Thierry in der Christianisierung der Weltseele Häresie und bekämpften sie nachdrücklich.
Wilhelm von Conches meinte, die „natürliche Gerechtigkeit“ sei in der gesetzmäßigen Struktur des Kosmos und der Harmonie der natürlichen Bewegungsabläufe erkennbar. Sie zeige sich im Lauf der Himmelskörper ebenso wie in der einträchtigen Verbindung der Elemente oder in der elterlichen Liebe. Das Verständnis dafür vermittle der Timaios dem Leser. Platons Schrift zeige, dass im sichtbaren Kosmos die göttliche Macht, Weisheit und Güte zu erkennen sei. Durch die Erkundung der Natur werde man dazu angeregt, Gott nicht nur zu verehren und zu lieben, sondern auch nachzuahmen. Mit solchen Überlegungen begründete Wilhelm sein naturkundliches Forschungsprogramm. Indem er die so legitimierte Naturbetrachtung als Aufgabe des Menschen bestimmte, wertete er die Naturwissenschaft auf eine für damalige Verhältnisse umwälzende Weise auf.
Aus theologischer Sicht interessant war die aus Überlegungen im Timaios abgeleitete Behauptung, die Welt habe so geschaffen werden müssen wie sie ist, denn der Schöpfer könne nicht von seiner eigenen Natur abweichen, die ihm eine bestimmte Handlungsweise – die jeweils optimale – zwingend vorschreibe. Demnach hätte Gott keinesfalls eine bessere Welt erschaffen können, denn wenn das möglich wäre, hätte er es notwendigerweise getan. Diese Gottes Allmacht einschränkende und daher theologisch problematische Behauptung vertrat Petrus Abaelardus in seinem Werk Theologia „scholarium“. Dabei berief er sich auf den Timaios, wo Platon die Richtigkeit der These bewiesen habe. 1141 wurde die These auf der Synode von Sens als häretisch verurteilt.
Der Philosoph und Dichter Bernardus Silvestris schuf in den 1140er Jahren das Prosimetrum Cosmographia, eine mythische Darstellung der Weltentstehung. Dabei entnahm er dem Timaios wesentliche Anregungen.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ging die Begeisterung für die platonische Naturphilosophie deutlich zurück. Sowohl im theologischen Diskurs als auch bei naturwissenschaftlichen Fachautoren setzte sich eine skeptischere Haltung gegenüber der Autorität des antiken Philosophen durch.
Spätmittelalter
Albert der Große († 1280), einer der angesehensten Gelehrten seiner Epoche, setzte sich intensiv mit Platons naturphilosophischer Schrift auseinander. Ansonsten war aber das Interesse der Theologen und Philosophen am Timaios im Verlauf des 13. Jahrhunderts stark rückläufig. In den Wissenschaften wurde der Platonismus zurückgedrängt, unter dem Einfluss neuer lateinischer Aristoteles-Übersetzungen setzte eine Wende zu aristotelischem Gedankengut ein. Im 14. und frühen 15. Jahrhundert wurden nur wenige Abschriften des Timaios angefertigt. Im 15. Jahrhundert intensivierte sich die Beschäftigung mit dem Dialog wiederum deutlich. Vereinzelt entstanden im Spätmittelalter noch neue Kommentare.
Dante ging in seiner Divina commedia im vierten Gesang des Paradiso ausführlich auf die Seelenlehre des Timaios ein. Auf seiner im Paradiso geschilderten Himmelsreise wird der zweifelnde Dante von seiner Führerin Beatrice belehrt. Sie unterscheidet zwischen einer wörtlichen und einer übertragenen Auslegung dessen, was Timaios im Dialog über die Heimkehr der Seelen zu ihren Heimatsternen behauptet. Die wörtliche Auslegung entspreche nicht den Tatsachen, doch wenn man die Worte des Timaios allegorisch verstehe, könne darin Wahrheit zu finden sein.
Arabischsprachiger Raum
Im arabischsprachigen Raum gehörte der Timaios im Mittelalter zu den bekanntesten Dialogen Platons, wie zahlreiche Bezugnahmen in der arabischen Literatur zeigen. Er wurde im 9. Jahrhundert von dem Gelehrten Yaḥyā ibn al-Biṭrīq, der zum Umkreis des Philosophen al-Kindī zählte, ins Arabische übersetzt. Später wurde diese Übersetzung von Ḥunain ibn Isḥāq und/oder Yaḥyā ibn ʿAdī überarbeitet. Auch Galens Zusammenfassung des Dialogs war arabischsprachigen Gelehrten teilweise zugänglich; sie lag ihnen in einer von Ḥunain ibn Isḥāq stammenden Teilübersetzung vor.
Frühe Neuzeit
Der lateinische Timaios und der Kommentar des Calcidius gehörten zu den antiken Werken, die den Humanisten der Frührenaissance vertraut waren. Einen neuen Impuls brachte die Wiederentdeckung des vollständigen griechischen Originaltextes. Der Humanist Marsilio Ficino fertigte eine lateinische Übersetzung des gesamten Dialogs an. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Damit machte er den ganzen Text erstmals einem breiteren Lesepublikum zugänglich. Außerdem verfasste er einen Kommentar zu dem Dialog, das Compendium in Timaeum, dessen definitive Fassung 1496 gedruckt wurde.
Die herausragende Rolle des Timaios in der platonischen Tradition und in der abendländischen Geistesgeschichte fand eine künstlerische Würdigung in Raffaels berühmtem, wohl 1510/1511 geschaffenem Fresko Die Schule von Athen, wo Platon mit diesem Werk in der Hand dargestellt ist. Mit der Rechten weist Platon auf den sichtbaren Himmel, das heißt auf dessen unveränderliche, schlechthin musterhafte Ordnung, das Vorbild, an dem nach dem Timaios der Mensch sein Leben ausrichten soll.
Die Erstausgabe des Originaltextes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten griechischen Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros. Im 16. Jahrhundert wurden vier neue Kommentare publiziert, und zahlreiche Gelehrte nahmen in ihren Schriften auf Platons Werk Bezug.
Johannes Kepler hielt den Timaios für eine pythagoreische Version des biblischen Schöpfungsberichts. Er teilte grundlegende Überzeugungen Platons und verwertete Gedanken des Dialogs für seine kosmologischen Hauptwerke Mysterium cosmographicum (1596) und Harmonices mundi libri V (1619), doch lehnte er die im Timaios vorgetragene Theorie der Materie ab.
Voltaire veröffentlichte 1756 seine Erzählung Songe de Platon (Platons Traum), eine satirische Bearbeitung des Timaios-Stoffs.
1794 verfasste Friedrich Wilhelm Joseph Schelling den Aufsatz Timaeus, ein Jugendwerk, in dem er ausgewählte Teile des Dialogs erörterte. Sein Interesse galt vor allem dem aufnehmenden Prinzip, für das er den Begriff „Materie“ verwendete. Gemeint war nicht Materie im physikalischen Sinn, sondern Platons gestaltlose, präkosmische Proto-Materie, die später ein zentrales Thema von Schellings Naturphilosophie wurde. Es ging ihm um die „Konstruktion“ der Materie, um die Frage, wie die Entstehung einer sichtbaren Körperwelt gedacht werden kann, wenn alles, was in ihr „Form“ ist, der reinen Vernunft zugeordnet ist. Die Ideen fasste er im Sinne der Terminologie Kants als die Begriffe der reinen Vernunft und des reinen Verstandes auf. Später wandte sich Schelling jedoch vom kosmologischen Modell des Timaios ab, indem er die Vorstellung eines eigenständigen materiellen Prinzips verwarf. Diesen Bruch vollzog er so konsequent, dass er 1804 sogar bestritt, dass Platon der Verfasser des Timaios sei. Dennoch hielt er daran fest, dass der Timaios der früheste Vorläufer seiner „positiven Philosophie“ sei.
Moderne
Altertumswissenschaftliche Forschung
Wie auch bei anderen Dialogen ist die Frage, inwieweit der Text Rückschlüsse auf Platons eigene Position ermöglicht, kontrovers diskutiert worden. 1928 veröffentlichte der Platon-Forscher Alfred Edward Taylor einen Timaios-Kommentar, in dem er bestritt, dass die Lehre des Timaios Platons Meinung entspricht. Taylor meinte, Platon lasse die Hauptfigur des Dialogs eine pythagoreische Auffassung vortragen, die er selbst nicht teile. Die Gegenposition begründete Francis Macdonald Cornford in seinem 1937 publizierten umfangreichen Timaios-Kommentar, der in der Folgezeit zur Standarddarstellung wurde. Cornfords Deutung, wonach es sich um Platons eigene Kosmologie handelt, hat sich in der Folgezeit durchgesetzt, ist aber auch im 21. Jahrhundert nicht ganz unbestritten. 2003 trug Rainer Enskat die Hypothese vor, Sokrates verzichte auf eine kritische Prüfung von Timaios’ These über das Abbildverhältnis der Zeit zur Ewigkeit nur höflichkeitshalber wegen seines Status als beschenkter Gast, obwohl diese These aus sokratischer Sicht problematisch sei.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war insbesondere die Frage der inhaltlichen und chronologischen Einordnung des Timaios in das Gesamtwerk des Autors Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Dabei ging es vor allem um das Problem der Funktion der Ideen als Muster. Da dieses Konzept von Platons Timaios nicht zu einem nach dem Dialog Parmenides entstandenen Spätwerk des Philosophen zu passen schien, wurden verschiedene Lösungsvorschläge vorgetragen und diskutiert.
Philosophische Aspekte
Georg Wilhelm Friedrich Hegel befasste sich in den 1820er Jahren mit dem Timaios. Die naturphilosophischen Einzelheiten hielt er für unwesentlich. Er kritisierte die Vermischung von Vorstellung und begrifflicher Philosophie und urteilte, Platon habe über „die philosophische Beschaffenheit der Sache selbst“ noch kein Bewusstsein gehabt. Für Hegel lag ein fundamentaler Mangel darin, dass Platon nicht berücksichtigt habe, dass die Natur zugleich Geist sei. Andererseits lobte Hegel den Gedanken, dass Gott neidlos sei, und wandte sich nachdrücklich gegen die Vorstellung eines abwesenden, unzugänglichen Gottes; Gott müsse neidlos und daher erkennbar sein. Den erschaffenden Demiurgen hielt Hegel zwar für einen leeren Begriff, doch meinte er, Platons Konzept eines erzeugten Gottes habe über diese Leerheit hinausgeführt; erst der erzeugte Gott sei „das Wahrhafte“. Großes Gewicht legte Hegel auf die Proportionenlehre und die Seelenlehre im Timaios, die er im Sinne seiner eigenen Denkweise auslegte. Den dialektischen Gedanken der Einheit der Gegensätze fand er in der Beschreibung der Zusammensetzung der Weltseele ausgesprochen; dies sei eine der berühmtesten, tiefsten Stellen Platons. In der Seelenmischung sah er die Vereinigung von Einheit und Vielheit, Identität und Verschiedenheit in absoluter, die Unterschiede in sich enthaltender Identität.
Der Neukantianer Paul Natorp äußerte 1903 die Ansicht, der Demiurg sei nicht als konkrete, vom Prinzip der Bestimmung getrennte Substanz aufzufassen. Vielmehr meine Platon mit dem Schöpfer des Kosmos „die Idee der Idee, das Gesetz der Gesetzlichkeit überhaupt“. Diese Idee verwirkliche sich und bewirke damit das Werden und konkrete Sein nach Maßgabe der Ideen, das heißt der besonderen Bestimmtheiten. Auch in der Weltschöpfungslehre des Timaios halte Platon an der Gesetzesbedeutung der Idee fest, deren Geltung die des Logischen schlechthin sei. Unter den Urbildern seien die Prädikate wissenschaftlicher Urteile zu verstehen, unter den Abbildern „die bestimmten Prädikationen von diesem und diesem“. Das „Dritte aus beiden“ – Platons „Raum“ – sei das wissenschaftliche Urteil „x ist A“.
Der Neukantianer Nicolai Hartmann befasste sich in einer 1909 veröffentlichten Untersuchung mit dem „Aufnehmenden“ im Timaios, „worin sich das Werden abspielt“. Er betonte, dass es schwer fasslich sei, denn es fehle ein angemessener Begriff, in dem es „zur Ruhe kommen könnte“. Platon bestimme das Aufnehmende als das Räumliche; ein stoffliches Substrat solle man darin nicht suchen. Die Annahme eines Urstoffs sei Platon nicht zu unterstellen, vielmehr habe er sie direkt verworfen und der Materie kein eigenständiges Sein als zweites Urprinzip eingeräumt. Die Struktur allein mache für ihn das ganze Wesen des Körpers aus; erst das Räumliche konstituiere am Werdenden den Körper. Das Werden, an dem die ganze Reihe der Ideen beteiligt sei, und der Raum seien die beiden Faktoren, deren Zusammenwirken das erscheinen lasse, „was wir das Stoffliche, Körperliche nennen“, und dieses „Erscheinen“ sei das Dasein. Körper sei nichts anderes als geometrisch begrenzter Raum. Das sei Platons Lösung des Problems der Materie. Sie sei zwar unzulänglich, doch sei erst auf der Grundlage neuzeitlicher Naturwissenschaft ein darüber hinausführender Erkenntnisfortschritt möglich geworden.
Bertrand Russell fällte 1945 ein vernichtendes Urteil. Er befand, der Timaios sei philosophisch unbedeutend und sein starker Einfluss auf die Geistesgeschichte merkwürdig, denn es stehe darin „bestimmt mehr schlechthin Törichtes“ als in Platons sonstigen Schriften.
Der Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich nahm 1973 zur Bedeutung des eikos mythos im Timaios Stellung. Nach seinem Verständnis geht es um die Bedingungen, unter denen Physik als Wahrheit gegeben sein kann. Für Meyer-Abich ist Platons „Mythos“ eine qualitative Naturkunde, die betrieben wird, weil es keinen Sinn hat, auf die quantitativen Verhältnisse einzugehen, solange sie nicht durch einen wirklichkeitsgemäßen Logos – eine mathematische Naturbeschreibung – begründet werden können. Platon habe im Timaios die Mathematik und Naturwissenschaft seiner Zeit kritisiert, da sie ihre Voraussetzungen nicht hinterfragt habe. Hierzu erinnerte Meyer-Abich an Heideggers Feststellung „Die Wissenschaft denkt nicht“. Allerdings konstatierte er auch, dass Platons Untersuchung der Voraussetzungen zu etwas führe, das im Zusammenhang eines wirklichkeitsgemäßen Logos als Mythos erscheinen müsse. Möglicherweise sei die Wahrheit eines jeglichen Logos letztlich nur als Mythos gegeben.
Hans-Georg Gadamer legte 1974 seine Interpretation des Dialogs vor. Er stellte sich die Aufgabe, die mythische Erzählung in die eigentliche Dialektik zu integrieren. Platon wechsle nicht sorglos zwischen mythischen und theoretischen Elementen des Textes, sondern komponiere bewusst. Gadamer betonte, der Demiurg sei nicht bei der geometrischen Konstitution der Elemente beteiligt, sondern übernehme die von der Notwendigkeit vorgeordneten Elemente. Er erschaffe nicht, sondern erzeuge nur Ordnung.
Jacques Derrida widmete 1987 der chora, dem aufnehmenden Prinzip im Timaios, einen Essay, in dem er diskurstheoretische Folgerungen aus Platons Einführung der „dritten Gattung“ zog. Er meinte, das von Platon mit chora Bezeichnete fordere die Logik der Binarität, des Ja oder Nein, heraus. Somit unterstehe die chora möglicherweise einer anderen Logik. Sie schwanke nicht zwischen zwei Polen, sondern zwischen zwei Gattungen des Schwankens: der zweifachen Ausschließung („weder/noch“) und der Teilnahme („zugleich“). Die Logik oder Meta-Logik dieses „Über-Schwankens“ könne von den Gattungen des Seins zu den Gattungen des Diskurses verschoben werden. Der Diskurs über chora spiele für die Philosophie eine Rolle analog zu der, welche chora für den Gegenstand des Diskurses, den Kosmos, spiele. Die Philosophie sei nicht in der Lage, von dem, dem ihre Annäherung gelte, direkt, „im Modus der Wachsamkeit“, zu sprechen.
Naturwissenschaftsgeschichtliche Aspekte
Im 20. Jahrhundert wurde der Timaios als wissenschaftsgeschichtlicher Faktor kontrovers beurteilt. Manche Wissenschaftshistoriker nahmen einen ungünstigen Einfluss Platons auf die Entwicklung der Naturwissenschaft an und sahen darin einen Unglücksfall. Sie wiesen auf seine Geringschätzung der empirischen Forschung hin, die eine Gegenposition zur Grundlage der experimentellen Naturwissenschaft sei. Außerdem wurde geltend gemacht, der Timaios sei hinsichtlich seiner naturwissenschaftlichen Hypothesen insgesamt ein Fehlschlag. Ferner wurde die Originalität der naturkundlichen Ausführungen von Platons Timaios bestritten; diese seien nur das Ergebnis einer Vermischung von damals bereits bekannten Theorien. Ein weiteres Argument lautete, Platon sei als Metaphysiker und „Mystiker“ naturwissenschaftlich nicht ernst zu nehmen. Die Gegenposition vertraten eine Reihe von Philosophen und Altertumswissenschaftlern, darunter Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Alfred North Whitehead, Paul Shorey und Paul Friedländer. Zur Begründung einer positiven Einschätzung wurde unter anderem vorgebracht, Platons Mathematisierung der Naturforschung sei als zukunftsweisender Fortschritt zu würdigen, seine Annahme einer mathematischen Struktur der Natur mache ihn zu einem Vorläufer des modernen naturwissenschaftlichen Denkens. Wilamowitz und Whitehead machten geltend, Platon stehe in gewisser Hinsicht der modernen naturwissenschaftlichen Denkweise näher als Aristoteles.
Die positive Einschätzung, zu deren anfänglicher Formulierung und Begründung Whitehead einen maßgeblichen Beitrag leistete, ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschend. Werner Heisenberg berichtet in seiner Autobiografie ausführlich von seinem bereits 1919 erfolgten erstmaligen Studium des griechischen Platotextes. Er habe die in diesem Text vorgetragenen Gedanken "zunächst für ganz absurd gehalten". Er sehe aber jetzt "hier zum ersten Mal einen Weg" vor sich, da diese Erklärungen "nun auf einmal plausibel erschienen". Der Physiker stimmt mit Platos Timaios überein, dass die Welt im Innersten von mathematischen Formen zusammengehalten werde und die klassische Vorstellung der Trennung von Geist und Materie überholt sei. Die Zahlenmystik der Quantenphysik erinnerte ihn „an die Beobachtungen der alten Pythagoreer, nach denen zwei schwingende Saiten dann harmonisch zusammen klingen, wenn bei gleicher Spannung ihre Längen in einem ganzzahligen Verhältnis stehen.“ (S. 47). Der Physiker wies auch 1958 darauf hin, dass die Elementarteilchen im Timaios „letzten Endes nicht Stoff, sondern mathematische Form“ seien. Diesbezüglich bestehe eine Übereinstimmung mit der Quantentheorie. Karl Popper befand 1962, Platon habe eine spezifisch geometrische Fassung der zuvor rein arithmetischen Atomtheorie vorgetragen. Durch diese Weichenstellung sei die Geometrie und nicht die Arithmetik das grundlegende Instrument aller physikalischen Erklärungen und Beschreibungen geworden, sowohl in der Theorie der Materie als auch in der Kosmologie. Damit habe Platon die Misere des griechischen Atomismus in eine bedeutende Errungenschaft verwandelt. Die geometrische Kosmologie sei seine größte Leistung. 1968 urteilte Geoffrey Lloyd, der Timaios markiere ein neues Stadium der Auseinandersetzung mit zahlreichen typischen Problemen der frühen griechischen Naturphilosophie. In der Physik sei sein geometrischer Atomismus eine originelle Lösung der zentralen Frage nach den kleinsten Bausteinen der materiellen Objekte. 1978 wies Karin Alt auf den Unterschied zwischen einer älteren und einer neueren Perspektive hin: Im Rahmen der älteren, von der Denkweise des 19. Jahrhunderts geprägten Vorstellungen wirke Platons Konzeption des Materiellen abwegig und naiv, von den Voraussetzungen der neueren Physik her sei sie hingegen zugänglich und faszinierend. Seine Vorstellung des Körperlich-Räumlichen sei von der Struktur bestimmt und könne insofern „in aufregendem Maße modern genannt werden“. Allerdings wirke in seiner Durchführung und Anwendung der Konzeption einiges unklar, widersprüchlich und absonderlich. Hans Günter Zekl bezeichnete 1992 die Materie- und Raumtheorie des Timaios als produktive Transformation der Theoreme der damals modernen Atomistik und Alternativmodell zu ihnen. Der Vortrag des Timaios biete eine große Synthese aller bisherigen Naturforschung, die den aufgenommenen Stoff auf ein höheres Reflexionsniveau hebe.
Carl Friedrich von Weizsäcker hielt 1970 einen Vortrag über die Geschichte der platonischen Naturwissenschaft. Er stellte fest, die moderne Physik gehe gleichsam rekapitulierend die verschiedenen bei Platon entworfenen Gedanken durch, allerdings mit einer anderen Auffassung von der Zeit. Im Timaios habe Platon ein Derivationssystem entworfen, mit dem er das, was das Wesen eines Elements ausmache, über die Dreiecke und über die Linie auf die Zahl zurückführe. Damit habe er einen Versuch einer deduktiven Naturwissenschaft unternommen. Dahinter stehe der Gedanke der Einheit der Natur, wie in der modernen Physik, deren Entwicklung auf die Entdeckung einer Einheit als Grundprinzip zusteuere. Eine Vollendung der Physik, „so wie sie heute als möglich am Horizont zu stehen scheint“, verlangt nach Weizsäckers Einschätzung eine philosophische Reflexion, die der platonischen „als Partner gegenüberstehen würde“.
2010 publizierte der Physik-Nobelpreisträger Anthony James Leggett einen Aufsatz, in dem er aus der Perspektive der modernen Physik und Kosmologie auf die im Timaios erörterten Fragen einging.
Im Vordergrund des Interesses stehen seit jeher die physikalischen Aspekte, doch wird in der naturwissenschaftsgeschichtlichen Forschung auch darauf hingewiesen, dass die Ausführungen von Platons Timaios über die Eigenschaften und Reaktionen von Stoffen chemische Überlegungen enthalten. In diesem Sinne ist bei Klaus Ruthenberg von einer platonischen Chemie die Rede. Ruthenberg konstatiert, es handle sich um den frühesten schriftlich festgehaltenen Ansatz zu einer theoretischen Chemie.
Psychologische Deutung
Carl Gustav Jung befasste sich im Rahmen seiner psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas auch mit vorchristlichen Parallelen zur Vorstellung einer göttlichen Dreifaltigkeit und untersuchte unter diesem Gesichtspunkt die Zahlenlehre des Timaios. Platons Timaios stellt fest, die Verbindung eines Gegensatzpaars durch ein „Mittleres“ könne nur eine Vereinigung zweidimensionaler Gebilde sein. Die Vereinigung dreidimensionaler Gebilde erfordere zwei Mittlere. Nach Timaios’ Angaben verhält sich ein Element (Feuer) zum ersten Mittleren (Luft) wie dieses zum zweiten Mittleren (Wasser) und wie das zweite Mittlere zum vierten Element (Erde). Durch diese ihnen gemeinsame Proportion sind sie fest verknüpft. Nach der Elementenlehre des Timaios ergibt die Vereinigung der Extreme Feuer und Erde durch die beiden Mittelglieder eine Vierheit, und damit entsteht Körperlichkeit. Nach Jungs psychologischer Deutung geht es hier um das Dilemma des bloßen Gedachtseins (Zweidimensionalität und Dreiheit) und der physischen Wirklichkeit oder Verwirklichung (Dreidimensionalität und Vierheit, „Quaternio“), das für den Philosophen ein Problem erster Ordnung sei. Platon sei in der Dreiheit der Gedankenwelt geblieben, er habe sich mit der „Harmonie eines schwerelosen Gedankengemäldes“ begnügen müssen. Den „Schritt von Drei zu Vier“, der „auf dem Gedanken fremde und unerwartete Schwere, Trägheit und Beschränkung“ stoße, habe er zwar in der Elementenlehre gefordert, aber in der Seelenlehre nicht vollzogen; anderenfalls hätte er die Weltseele nicht als Dreiheit, sondern als Vierheit aufgefasst. Die „Widerspenstigkeit des Vierten“ habe er nicht gemeistert.
Ausgaben und Übersetzungen
Ausgaben mit Übersetzung
Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Bd. 7, 4. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 1–210 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Albert Rivaud, 4. Auflage, Paris 1963, mit der deutschen Übersetzung von Hieronymus Müller, Leipzig 1857)
Thomas Paulsen, Rudolf Rehn (Hrsg.): Platon: Timaios. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-018285-9 (unkritische Ausgabe mit Übersetzung der Herausgeber)
Hans Günter Zekl (Hrsg.): Platon: Timaios. Meiner, Hamburg 1992, ISBN 3-7873-1040-1 (griechischer Text der Ausgabe von John Burnet, 1902, ohne den kritischen Apparat; daneben Übersetzung von Zekl)
Deutsche Übersetzungen
Manfred Kuhn: Platon: Timaios, Meiner, Philosophische Bibliothek 686, Hamburg 2017, ISBN 978-3-7873-2867-3 (Mit einer erschließenden Lesebegleitung und einem Anhang über die Nachwirkung des "Timaios" in der Philosophiegeschichte.)
Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck (Hrsg.): Platon: Timaios. Übersetzung nach Platon, Sämtliche Werke, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller. Band 5, Hamburg 1961.
Otto Apelt: Platons Dialoge Timaios und Kritias. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 6, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922)
Rudolf Rufener: Platon: Spätdialoge II (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 191–306 (mit Einleitung von Olof Gigon S. XXXII–IL).
Franz Susemihl: Timaios. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 91–191
Antike lateinische Übersetzungen
Karl Bayer, Gertrud Bayer (Hrsg.): Marcus Tullius Cicero: Timaeus de universitate. Timaeus, Über das Weltall. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 3-7608-1746-7 (lateinischer Text nach der Ausgabe von Giomini, geringfügig verändert und ohne den kritischen Apparat; daneben deutsche Übersetzung der Herausgeber)
Remo Giomini (Hrsg.): De divinatione. De fato. Timaeus (= M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc. 46). Teubner, Leipzig 1975 (kritische Edition der Übersetzung Ciceros, daneben der griechische Text)
Claudio Moreschini (Hrsg.): Calcidio: Commentario al “Timeo” di Platone. Bompiani, Milano 2003, ISBN 88-452-9232-0 (die lateinische Übersetzung und der Kommentar des Calcidius mit italienischer Übersetzung; lateinischer Text nach der Ausgabe von Waszink ohne den kritischen Apparat)
Jan Hendrik Waszink (Hrsg.): Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus (= Plato Latinus, Bd. 4). 2. Auflage, The Warburg Institute, London 1975, ISBN 0-85481-052-8 (kritische Edition der Übersetzung und des Kommentars des Calcidius)
Literatur
Zum Dialog als literarischem Genre
Bernd Häsner: "Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung", in: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hrsg. von Klaus W. Hempfer. Franz Steiner, Berlin 2004, S. 13–65.
Übersichtsdarstellung
Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 262–272, 651–656
Allgemeine Untersuchungen
Luc Brisson: Le Même et l’Autre dans la Structure Ontologique du Timée de Platon. Un commentaire systématique du Timée de Platon. 3., überarbeitete Auflage, Academia Verlag, Sankt Augustin 1998, ISBN 3-89665-053-X.
Anne Freire Ashbaugh: Plato’s Theory of Explanation. A Study of the Cosmological Account in the Timaeus. State University of New York Press, Albany 1988, ISBN 0-88706-608-9.
Karen Gloy: Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios. Königshausen & Neumann, Würzburg 1986, ISBN 3-88479-247-4
Thomas Kjeller Johansen: Plato’s natural philosophy. A study of the Timaeus-Critias. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-79067-0.
Wolfgang Scheffel: Aspekte der platonischen Kosmologie. Untersuchungen zum Dialog „Timaios“ (= Philosophia antiqua, Bd. 29). Brill, Leiden 1976, ISBN 90-04-04509-0.
Monographien zu einzelnen Themen
Filip Karfík: Die Beseelung des Kosmos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios. Saur, München/Leipzig 2004, ISBN 3-598-77811-2, S. 85–220 (untersucht auch die Bewegungslehre des Timaios)
Dana R. Miller: The Third Kind in Plato’s Timaeus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, ISBN 3-525-25244-7
Mischa von Perger: Die Allseele in Platons Timaios (= Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 96). Teubner, Stuttgart/Leipzig 1997, ISBN 3-519-07645-4
Lothar Schäfer: Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat. Alber, Freiburg/München 2005, ISBN 3-495-48135-4 (behandelt den politischen Hintergrund der Kosmologie des Timaios)
Ernst A. Schmidt: Platons Zeittheorie. Kosmos, Seele, Zahl und Ewigkeit im Timaios. Klostermann, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-465-03730-9
Aufsatzsammlungen
Tomás Calvo, Luc Brisson (Hrsg.): Interpreting the Timaeus-Critias. Proceedings of the IV Symposium Platonicum. Selected Papers. Academia Verlag, Sankt Augustin 1997, ISBN 3-89665-004-1
Richard D. Mohr, Barbara M. Sattler (Hrsg.): One Book, the Whole Universe. Plato’s Timaeus Today. Parmenides Publishing, Las Vegas 2010, ISBN 978-1-930972-32-2
Linda M. Napolitano Valditara (Hrsg.): La sapienza di Timeo. Riflessioni in margine al „Timeo“ di Platone. Vita e Pensiero, Milano 2007, ISBN 978-88-343-1393-0
Carlo Natali, Stefano Maso (Hrsg.): Plato physicus. Cosmologia e antropologia nel Timeo. Hakkert, Amsterdam 2003, ISBN 90-256-1173-7
Maureen Rosemary Wright (Hrsg.): Reason and Necessity. Essays on Plato’s Timaeus. Duckworth, London 2000.
Rezeption
Matthias Baltes: Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten (= Philosophia antiqua, Bände 30 und 35). Teile 1 und 2, Brill, Leiden 1976–1978, ISBN 90-04-04720-4 (Teil 1) und ISBN 90-04-05799-4 (Teil 2)
Christina Hoenig: Plato's Timaeus and the Latin Tradition. Cambridge University Press, Cambridge 2018, ISBN 978-1-108-41580-4
Charlotte Köckert: Christliche Kosmologie und kaiserzeitliche Philosophie. Mohr Siebeck, Tübingen 2009, ISBN 978-3-16-149831-2, S. 7–222 (gründliche Darstellung der Timaios-Auslegung von Plutarch bis Porphyrios)
Thomas Leinkauf, Carlos Steel (Hrsg.): Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance. Leuven University Press, Leuven 2005, ISBN 90-5867-506-8
Ada Neschke-Hentschke (Hrsg.): Le Timée de Platon. Contributions à l’histoire de sa réception – Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte. Peeters, Louvain/Paris 2000, ISBN 90-429-0860-2
Gretchen Reydams-Schils: Demiurge and Providence. Stoic and Platonist Readings of Plato’s Timaeus. Brepols, Turnhout 1999, ISBN 2-503-50656-9
Gretchen J. Reydams-Schils (Hrsg.): Plato’s Timaeus as Cultural Icon. University of Notre Dame Press, Notre Dame 2003, ISBN 0-268-03872-4 (Aufsatzsammlung)
Robert W. Sharples, Anne Sheppard (Hrsg.): Ancient approaches to Plato’s Timaeus. Institute of Classical Studies, London 2003, ISBN 0-900587-89-X
Bronislaus W. Switalski: Des Chalcidius Kommentar zu Plato’s Timaeus (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III, VI). Münster 1902.
Weblinks
Griechischer Originaltext
Timaios nach der Ausgabe von John Burnet, 1902
Deutsche Übersetzungen
Timaios, Übersetzung nach Franz Susemihl, 1856, bearbeitet (PDF)
Timaios, Übersetzung nach Franz Susemihl, 1856
Timaios, Übersetzung nach Hieronymus Müller, bearbeitet
Lateinische Übersetzung des Calcidius
Platonis Timaeus interprete Chalcidio cum eiusdem commentario, Text der Ausgabe von Johann Wrobel, Leipzig 1876
Platonis Timaeus
Platonis Timaeus
Timaeus, die Übersetzung des Calcidius in der Handschrift Digby 23 der Bodleian Library, Oxford (12. Jahrhundert)
Lateinische Übersetzung Ciceros
Marci Tullii Ciceronis Timaeus
Cicéron, traduction du Timée de Platon, lateinischer Text mit französischer Übersetzung
Literatur
Kyung Jik Lee: Der Begriff des Raumes im „Timaios“ im Zusammenhang mit der Naturphilosophie und der Metaphysik Platons. Dissertation, Konstanz 1999
Anmerkungen
Corpus Platonicum
Naturphilosophie
Kosmologie |
907742 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner%20Vampir | Gemeiner Vampir | Der Gemeine Vampir (Desmodus rotundus) ist eine auf dem amerikanischen Kontinent lebende Fledermausart. Diese Spezies ist die bekannteste – und auch am besten erforschte – der drei Arten der Vampirfledermäuse (Desmodontinae), der einzigen Säugetiergruppe, die sich ausschließlich vom Blut anderer Tiere ernährt. Gemeine Vampire sind als Überträger von Krankheiten wie der Tollwut auf Nutztiere und Menschen gefürchtet, gleichzeitig liefert ein gerinnungshemmendes Enzym in ihrem Speichel wichtige Impulse für die medizinische Forschung.
Beschreibung
Körperbau und Abmessungen
Gemeine Vampire sind mittelgroße Fledermäuse: Sie erreichen eine Kopfrumpflänge von 70 bis 90 Millimetern und ein Gewicht von 15 bis 50 Gramm. Die Unterarmlänge, eine wichtige Größenangabe bei Fledertieren, beträgt zwischen 50 und 63 Millimetern und die Flügelspannweite zwischen 35 und 40 Zentimeter.
Im Körperbau stimmt der Gemeine Vampir weitgehend mit den anderen Fledermäusen überein: die Flugmembran besteht aus zwei Hautschichten und erstreckt sich von den Handgelenken bis zu den Fußgelenken, gespannt wird sie von den stark verlängerten Fingern der Vordergliedmaßen. Weitere Flughäute erstrecken sich von den Schultern zum Handgelenk und zwischen den Beinen. Letztere wird Uropatagium genannt und dient bei vielen Fledermausarten zum Insektenfang. Da diese Funktion beim Gemeinen Vampir wegfällt, ist sie bei dieser Art klein und unbehaart. Ein Schwanz ist nicht vorhanden. Die Hinterbeine sind im Gegensatz zu vielen anderen Fledermausarten stark und muskulös und ermöglichen den Tieren unter anderem ein schnelles Vorwärtskrabbeln auf dem Boden. Vampirfledermäuse können darüber hinaus auch hüpfen (siehe Lokomotion). Das Fell dieser Tiere ist an der Oberseite graubraun gefärbt, die Unterseite ist etwas heller.
Von den anderen Vampirfledermaus-Arten unterscheidet sich der Gemeine Vampir durch die verlängerten Daumen, die fehlende Behaarung des Uropatagiums, die spitzeren Ohren sowie die Anzahl der Zähne.
Gesicht und Zähne
Die Schnauze des Gemeinen Vampirs ist kurz und kegelförmig. Sie hat im Gegensatz zu vielen anderen Blattnasen kein echtes Nasenblatt, sondern einen hufeisenförmigen Ballen über den Nasenlöchern. Die Ohren sind spitz und eher klein und enthalten einen kleinen lanzettförmigen Tragus (Ohrdeckel). Die Augen hingegen sind für Fledermausverhältnisse relativ groß.
Der Gemeine Vampir hat mit 20 die wenigsten Zähne der Vampirfledermäuse, seine Zahnformel lautet 1/2-1/1-2/3-0/0 x2. Am größten sind die Schneide- und Eckzähne, sie sind sichelförmig und an das Aufschneiden der Haut ihrer Opfer angepasst. Die Backenzähne sind rückgebildet und haben keinerlei zum Kauen geeignete Oberfläche mehr. An der Unterseite der Zunge finden sich zwei Rillen, die sich während der Mahlzeit zusammenziehen und ausdehnen. Weitere Anpassungen an die spezielle Ernährung sind die kurze Speiseröhre und der schlauchförmige Magen.
Lokomotion
Bestimmte Anpassungen im Körperbau und im Bewegungsverhalten des Gemeinen Vampirs werden von Fachleuten als „spektakulär“ bezeichnet. So kann Desmodus rotundus zum Beispiel mit zusammengefalteten Flughäuten auf dem Erdboden stehen und darüber hinaus eine Art hüpfend-springende Fortbewegung ausführen. Dabei laufen die Tiere auf ihrem extrem verlängerten „Daumen“ (1. Finger). Diese Fledermäuse sind darüber hinaus in der Lage, aus dem Stand blitzschnell „in den Flug“ abzuspringen, selbst wenn sie eine Blutmahlzeit aufgenommen und dadurch ihr Körpergewicht erheblich erhöht haben. Sie vermögen schließlich aus dem Flug auf dem Erdboden zu landen und sofort in den Stillstand zu kommen.
Der Gemeine Vampir besitzt artspezifische Besonderheiten in der Skelett- und Muskelanatomie, etwa besonders kräftige vordere Extremitäten (in Form der zusammengefalteten Flughäute), die solche Leistungen möglich machen. Diese Anpassungen befähigen diese Vampirfledermäuse, neben einem großen Beutetier (Rind, Pferd) auf dem Boden zu landen und sich diesem im Laufen zu nähern; während des Fressvorgangs kann Desmodus langsamen Bewegungen der Beute folgen oder aber blitzschnell auf Abwehrbewegungen reagieren.
Verbreitung und Lebensraum
Gemeine Vampire leben auf dem amerikanischen Kontinent, ihr Verbreitungsgebiet reicht vom nördlichen Mexiko bis ins südliche Südamerika (Zentralchile, Argentinien und Uruguay). Sie finden sich auch auf einigen Südamerika vorgelagerten Inseln (wie Margarita und Trinidad), fehlen aber auf den anderen Westindischen Inseln. Sie bewohnen sowohl feuchte als auch trockene Gebiete der Tropen und Subtropen, darunter Wälder, offene Grasländer und Gebirgsregionen bis in Höhe.
Der einzige Zoo in Deutschland, der Gemeine Vampire hält, ist der Zoologische Garten in Berlin.
Lebensweise
Aktivitätszeiten und Gruppenleben
Gemeine Vampire sind ausschließlich nachtaktiv, als Schlafquartiere nutzen sie in erster Linie Höhlen, daneben findet man sie auch in hohlen Bäumen, Minen und Schächten sowie in verlassenen Gebäuden. Ruheplätze der Vampirfledermäuse riechen wegen des heraufgewürgten Blutes oft streng nach Ammoniak.
Diese Tiere leben in Gruppen von 20 bis 100 Tieren, gelegentlich bilden sie auch Kolonien von bis zu 2000 Tieren. Diese Gruppen zerfallen in Haremsgruppen, die aus 8 bis 20 Weibchen samt ihrem Nachwuchs sowie einem Männchen, das sich in deren Nähe aufhält, bestehen. Andere Männchen bilden Junggesellengruppen. Immer wieder versuchen männliche Tiere, dem Haremsführer seinen Rang streitig zu machen, in diesem Fall kann es zu wilden Kämpfen kommen. Die Kämpfe können auch durch aggressive Laute begleitet werden.
Sinnesfunktionen und Orientierung
Bei der Orientierung zeigen Vampirfledermäuse ähnliche Fähigkeiten und Leistungen wie verwandte Fledermausarten; allerdings hat die Forschung charakteristische Besonderheiten aufgedeckt, die als spezifische Anpassung an die blutfressende (sanguivore) Ernährungsweise interpretiert werden können.
Die Echoortung bei Desmodus ähnelt der anderer Arten aus der Familie der Blattnasenfledermäuse (Phyllostomatidae) und kann als eher unspezialisiert gelten. Die Ultraschall-Ortungslaute werden durch das Maul ausgestoßen; sie weisen zwei intensive Harmonische (Obertöne) auf, die insgesamt einen Frequenzbereich zwischen ca. 43 und 100 Kilohertz (kHz) abdecken. In Ruhe ist die Intensität der Laute nur gering (max. 84 dB SPL, 10 cm vor dem Maul der Fledermaus), im Flug steigt die Lautintensität auf bis zu 120 dB. Die Lautdauer variiert situationsabhängig zwischen 1 und 0,4 Millisekunden (ms). Im Flug werden die Laute während des Flügelaufschlags abgegeben.
Der Geruchssinn ist bei Desmodus gut entwickelt. Die Riechleistung liegt für einige Duftstoffe im Bereich der olfaktorischen Sensitivität des Menschen. Untersuchungen lassen darauf schließen, dass die Vampire ihren Geruchssinn insbesondere bei Kontakten in der sozialen Gruppe sowie möglicherweise auch beim Auffinden und Identifizieren einzelner Beutetiere nutzen.
Der Sehsinn ist bei Desmodus hervorragend ausgebildet, wie Untersuchungen zur Sehschärfe (abhängig von der Beleuchtungsstärke), zur Größe des Gesichtsfeldes sowie zur Geschwindigkeits-Auflösung zeigen. Desmodus ist darüber hinaus in der Lage, visuelle Muster zu unterscheiden. Die Forschungsergebnisse lassen erwarten, dass Desmodus den visuellen Sinn beim Flug im Freiland sowohl über größere Distanz nutzt, um natürliche Landmarken (etwa Silhouetten von Bäumen oder Felsen) zu identifizieren, wie auch auf kürzere Distanz, zum Beispiel im Umfeld der Quartiere. Auf Distanzen unterhalb eines halben Meters scheinen sich diese Fledermäuse dann vor allem auf die Echoortung zu verlassen.
Spezifische Anpassungen an die blutfressende Ernährungsweise haben sich bei diesen Vampirfledermäusen insbesondere in zwei Sinnessystemen ausgebildet: zum einen beim Gehör (passive akustische Orientierung), zum anderen beim Tast- und Wärmesinn.
Das Gehör von Desmodus rotundus ist empfindlich vor allem im Ultraschallbereich zwischen 50 und 100 Kilohertz (dem Bereich ihrer eigenen Echoortung) sowie in einem Frequenzband zwischen 10 und 30 kHz. Wie elektrophysiologische Untersuchungen gezeigt haben, besitzt Desmodus im Vergleich zu vielen anderen Fledermäusen unterhalb von 25 kHz ungewöhnlich niedrige Hörschwellen, das heißt ein sehr gutes Hörvermögen. Zudem fanden die Forscher im Gehirn der Vampirfledermaus Nervenzellen, die nur auf „Rauschen“ (breitbandige Schallfrequenzen) reagierten, sowie Neurone, die ausschließlich auf (menschliche) Atemgeräusche antworteten. Diese und weitere Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Vampire das extrem leistungsfähige Gehör sehr gut nutzen können, um Beutetiere anhand der Geräusche des Atems oder kleinster Bewegungen aufzuspüren.
Bei der eigentlichen Auswahl der Bissstelle besitzt dagegen der Wärmesinn von Desmodus eine zentrale Bedeutung. Er ist im Vergleich zu anderen Fledermausarten außergewöhnlich leistungsfähig und ermöglicht den Tieren, die von durchblutetem Gewebe ausgehende Wärmestrahlung aus mehr als 10 Zentimeter Entfernung wahrzunehmen. Weitergehende Untersuchungen haben gezeigt, dass im zentralen Teil des Nasenaufsatzes (dem „Nasenblatt“) von Desmodus (siehe Abbildung) eine große Zahl an Kalt- und Warmrezeptoren (so genannte freie Nervenendigungen) konzentriert sind, insbesondere in dem dünnen Rand sowie dem mittleren Grat des Nasenblattes. Der Aktivitätsbereich der Warmrezeptoren ist im Vergleich mit anderen Säugetieren (z. B. Nagern) deutlich zu niedrigeren Temperaturen verschoben. Ähnliche Eigenschaften und Leistungen kannte man zuvor nur von bestimmten Schlangenarten. Die zentrale Gesichtsregion von Desmodus bildet mithin ein regelrechtes Wärmesinnesorgan.
Desmodus trägt rund um dieses Nasenblatt zudem zahlreiche Sinneshaare, deren Mechanorezeptoren sehr empfindlich sowie richtungsabhängig auf winzigste Bewegungsreize antworten. Der Tastsinn spielt offenbar eine wichtige Rolle während des eigentlichen Fressvorganges: Da die Fledermaus dabei direkten Körperkontakt mit der zumeist erheblich größeren Beute hat, ist sie durch mögliche Abwehrbewegungen gefährdet. Der sensible Tastsinn hilft den Tieren in solchen Situationen blitzschnell reagieren zu können.
Sozialverhalten
Gemeine Vampire besitzen ein hochentwickeltes Sozialverhalten. Dazu gehört die gegenseitige Fellpflege, ein unter Fledermäusen eher unübliches Verhalten; außerdem teilen sie sich mit ihren hungrigen Artgenossen häufig ihre Blutnahrung, indem sie diese hochwürgen und andere Tiere damit füttern.
Ein Gemeiner Vampir stirbt, wenn er in zwei oder drei aufeinanderfolgenden Nächten keine Nahrung zu sich nimmt. Zwischen 7 und 30 % der Tiere einer Gruppe scheitern jedoch in einer Nacht bei ihrer Nahrungssuche, sei es wegen Krankheit, Verletzung, Geburt oder simpler Erfolglosigkeit. Aufgrund des dringenden Blutbedarfes und der Schwierigkeiten, Beute zu finden, spielt das Heraufwürgen und Teilen der Nahrung eine wichtige Rolle für das Überleben der Gemeinen Vampire. Ohne Teilen der Nahrung läge die jährliche Todesrate der Tiere hochgerechnet bei 82 %, tatsächlich aber beträgt sie 24 %.
Wenn ein Tier eine nach menschlichen Maßstäben „selbstlose“ Handlung ausführt, geschieht dies entweder zum Nutzen seiner Verwandten, insbesondere der Nachkommen, oder zum Nutzen seiner selbst, damit ihm also sozusagen selbst ebenfalls entsprechend geholfen wird. Dies bezeichnet man als Reziproken Altruismus. Das Blutteilen der Gemeinen Vampire ist ein Beispiel dafür. Schätzungen zufolge gewinnt ein hungriges Tier durch eine Nahrungsspende 18 Stunden bis zum Hungertod, während der Spender nur rund 6 Stunden verliert. In Summe profitieren also beide Tiere von diesem Verhalten.
Abgesehen von der Versorgung des eigenen Nachwuchses, was im Tierreich absolut üblich ist, hängt die Frage, ob ein Vampir zum Teilen bereit ist, auch von der Wahrscheinlichkeit ab, diese Leistung auch einmal wieder zurückzubekommen, beziehungsweise von der Tatsache, ob das bittende Tier früher schon einmal mit dem jetzt Angebettelten geteilt hat. Voraussetzung dafür ist, dass die Tiere einander individuell erkennen. Die gegenseitige Fellpflege dürfte eine wichtige Rolle beim Identifizieren der einzelnen Artgenossen spielen. Wenn ein hungriges Tier einem anderen das Fell pflegt, so kann der angebettelte Artgenosse dieses identifizieren und erkennen, ob es selbst schon einmal geteilt hat. Mitentscheidend für den reziproken Altruismus scheint zu sein, dass Desmodus-Weibchen sehr stabile Gruppen bilden, in denen die einzelnen Individuen sehr lange, möglicherweise lebenslang zusammenbleiben.
Eine wichtige Rolle im Sozialleben der Vampire spielen Lautäußerungen. Bei entsprechenden Untersuchungen. konnten insgesamt 16 deutlich unterscheidbare Laute identifiziert werden. Die meisten davon haben einen starken Frequenzanteil im Hörbereich des Menschen (also unterhalb von ca. 16 Kilohertz). Einzelne Lauttypen kann man bestimmten Situationen oder Funktionen im Rahmen des Sozialverhaltens der Tiere zuordnen: So gibt es Laute mit aggressivem Charakter, weiterhin Droh-, Kampf- und Abwehrlaute, außerdem Befreiungs-, Protest-, Kontakt- und Beschwichtigungslaute. Bestimmte Laute weisen strukturelle Ähnlichkeiten mit den so genannten Verlassenheitslauten von Jungtieren auf und haben sich möglicherweise direkt aus diesen entwickelt.
Ernährung
Beutetiere
Im Prinzip kann jedes Tier Opfer eines Vampirbisses werden. Der Gemeine Vampir nutzt als Wirte aber hauptsächlich Säugetiere, vornehmlich Rinder, Pferde und Esel sowie eine Reihe größerer Wildtiere wie etwa Tapire. Weniger häufig gehören auch Menschen zu ihren Blutquellen. Darüber hinaus werden auch größere Vögel wie Hühner und Truthühner gebissen. Hunde zählen kaum jemals zu den Opfern, vermutlich, weil sie die Ultraschalllaute, die die Tiere zur Orientierung aussenden, hören können.
Experimente mit gefangenen Tieren haben gezeigt, dass sie auch Schlangen, Echsen, Kröten, Krokodile und Schildkröten beißen. Ob diese Tiere auch in der Natur zu ihren Opfern zählen, ist nicht bekannt.
Annäherung an das Opfer
Die Tiere landen meistens nicht direkt auf ihren Opfern, sondern in der Nähe und laufen oder hüpfen dann in seine Richtung. Die kräftigen Hinterbeine und der lange Daumen stellen Anpassungen an diese Fortbewegungsweise dar.
Zunächst sucht sich die Fledermaus eine geeignete Bissstelle an ihrem Opfer, beispielsweise bei Rindern oder Pferden direkt oberhalb der Hufe. Die Bewegungen von Desmodus bei der Annäherung an eine Beute sind scheu und vorsichtig; die unter Fledermäusen seltene Fähigkeit zu hüpfen dient dem schnellen Ausweichen für den Fall, dass sie entdeckt und vom Opfer mit Tritten oder Schwanzschlägen verscheucht werden. Vampire kämpfen nicht mit ihren Beutetieren, ihr Biss erfolgt in der Regel unbemerkt und oft wacht das schlafende Tier nicht einmal auf. Als Bissstelle bevorzugen sie nicht von Haaren oder Federn bedeckte Körperteile wie die Anal- und die Vaginalregion oder die Ohren von Säugetieren beziehungsweise die Beine oder Kämme der Vögel.
Der Fressvorgang
Zunächst wird die Körperstelle mit der Zunge abgeleckt. Der Speichel der Tiere enthält ein Betäubungsmittel, mit dem die Bissstelle lokal unempfindlich wird. Anschließend werden eventuell vorhandene Haare oder Federn mit den Zähnen abrasiert. Mit den scharfen Schneidflächen der Eck- und Schneidezähne beißen sie ein Stück der Haut heraus. Die so entstehende Wunde ist rund drei bis zehn Millimeter breit und einen bis fünf Millimeter tief. Mit der Zunge lecken sie das ausfließende Blut auf und pumpen es durch die Rillen an der Unterseite der Zunge in den Mund. Ein Gerinnungshemmer sorgt dafür, dass das austretende Blut beim Trinkvorgang nicht gerinnt und somit für das Tier unbrauchbar wird. Das hierfür verantwortliche Enzym heißt Desmoteplase, auch Draculin oder Desmodus rotundus Salivary Plasminogen Activator (kurz DSPA) genannt; es ist ein Glykoprotein und bewirkt, dass sich das Fibrin (der feste Gerüststoff von gerinnendem Blut) auflöst. Nach einem Biss kann das Blut bis zu acht Stunden aus der Wunde fließen.
Der gesamte Vorgang kann bis zu zwei Stunden dauern, die eigentliche Nahrungsaufnahme bis zu 30 Minuten. Dabei nehmen die Tiere rund 20 bis 30 Milliliter Blut auf, eine Menge, die das Gewicht der Tiere nahezu verdoppelt. Dadurch fällt es ihnen häufig schwer, sich wieder in die Luft zu erheben. Nach einer Mahlzeit begeben sie sich an ihren Schlafplatz, um zu verdauen.
Gefahren des Bisses
Der Blutverlust des Opfers stellt ein geringes Problem dar. Viel größer sind die Gefahren durch Infektionskrankheiten, die von den Tieren übertragen werden, insbesondere die Tollwut und durch Trypanosomen verursachte Viehseuchen. Darüber hinaus kann es an der offenen Wunde zu Infektionen und zum Befall durch Larven der Neuwelt-Schraubenwurmfliege (Cochliomyia hominivorax) kommen. Tausende Tiere sterben so jährlich an den Folgen von Vampirbissen und auch Menschen kommen immer wieder zu Schaden.
Fortpflanzung
Das Reproduktionsverhalten von Desmodus unterscheidet sich in einigen Punkten von dem anderer, auch nah verwandter Fledermausarten.
Prinzipiell können sich Vampirfledermäuse das ganze Jahr über fortpflanzen. In den meisten Regionen ihres Verbreitungsgebietes treten aber ein- oder zweimal pro Jahr Geburtenspitzen auf. In Costa Rica fallen die meisten Geburten zum Beispiel in die Regenzeit (Oktober bis November), auf Trinidad und Tobago gibt es eine Spitze von April bis Mai, eine zweite von Oktober bis November.
Um die Paarung einzuleiten, klettert das Männchen auf den Rücken der Weibchen, umschließt ihre Flügel mit seinen Flugmembranen und beißt in ihren Nacken. Nach einer ca. siebenmonatigen Tragzeit kommt in der Regel ein einzelnes Jungtier zur Welt. Neugeborene sind gut entwickelt und wiegen zwischen fünf und sieben Gramm. Im ersten Lebensmonat werden sie ausschließlich gesäugt, ab dem zweiten Lebensmonat füttert die Mutter sie zusätzlich mit hochgewürgtem Blut. Ab dem vierten Monat beginnt das Jungtier seine Mutter auf Beuteflügen zu begleiten; endgültig entwöhnt wird es aber erst mit neun oder zehn Monaten. Ungefähr im gleichen Alter tritt auch die Geschlechtsreife ein.
Werden die Jungtiere von ihrer Mutter getrennt, stoßen diese so genannte Verlassenheitslaute aus. Diese Laute bleiben erhalten, bis die Jungtiere nach ca. zehn Monaten endgültig unabhängig von der Mutter werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Laute individuell unterscheidbare Merkmale besitzen, die sich im Verlauf der Juvenilentwicklung nur unwesentlich verändern. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Muttertiere ihre eigenen Jungtiere anhand dieser Laute zweifelsfrei identifizieren können.
Bedingt durch die lange Tragzeit und die Abhängigkeit der Jungtiere von ihrer Mutter, können die Weibchen nur alle neun bis zehn Monate gebären, was den Fortpflanzungserfolg limitiert. Die Lebensdauer ist, wie bei vielen anderen Fledermäusen auch, recht lang. In freier Natur wird die Lebenserwartung auf neun bis zwölf Jahre geschätzt; das höchste bekannte Alter eines Tieres in menschlicher Obhut betrug 29 Jahre.
Natürliche Feinde
Zu den wenigen natürlichen Feinden der Gemeinen Vampire zählen Eulen, Greifvögel und Schlangen. Gegenüber letzteren nutzen sie ihre besonderen lokomotorischen Fähigkeiten, sich durch schnelle Sprünge in Sicherheit zu bringen.
Gemeine Vampire und Menschen
Die Sagengestalt Vampir
Legenden und Mythen von Vampiren, Sagengestalten, die sich von Blut ernähren und manchmal in Fledermaus- oder Eulengestalt auftreten, finden sich in vielen Kulturen rund um den Globus. Vielfach sind diese Sagen älter und können auch aufgrund der geografischen Distanz nicht von den Vampirfledermäusen beeinflusst sein, die nur aus Amerika belegt sind. Die Tiere haben ihren Namen von der Sagengestalt und nicht umgekehrt, wie auch die frühere Verwendung des Wortes „Vampir“ für die Gestalt als für die Tiere zeigt. Näheres dazu siehe unter dem Lemma Vampirfledermäuse.
Unabhängig davon gab es in der Mythologie der Maya ein Camazotz genanntes Ungeheuer in Fledermausgestalt, das Menschen und Tiere anfiel und ihr Blut trank. Inwieweit diese Vorstellungen vom Gemeinen Vampir oder von Desmodus draculae, einer ausgestorbenen, noch größeren Art der Vampirfledermäuse (siehe unter Systematik), beeinflusst sind, ist unklar.
Schäden durch Vampirbisse
Die Schäden, die durch den Gemeinen Vampir verursacht werden, sind enorm. Jährlich werden zahllose Nutz- und Haustiere das Opfer von Krankheiten, die durch Vampirbisse übertragen werden. Insbesondere Hausrinder sind gefährdet, da sie in großer Zahl vorhanden und auf den Weiden leicht zugänglich sind. Schätzungen zufolge sind diese Fledermäuse jedes Jahr für bis zu 100.000 Todesfälle bei Rindern durch Tollwut und durch Trypanosomen verursachte Krankheiten wie Surra verantwortlich. Eine Studie aus dem Jahr 1988 bezifferte den jährlichen wirtschaftlichen Schaden, der daraus entsteht, auf 40 Millionen US-Dollar.
Obwohl Menschen nicht zu den bevorzugten Opfern des Gemeinen Vampirs zählen, kommt es auch bei ihnen immer wieder zu Todesfällen durch Krankheiten, die durch die Bisse dieser Tiere hervorgerufen werden. So starben im Mai 2004 in Brasilien bis zu 22 Menschen an der Tollwut, die durch diese Tiere übertragen wurde.
Bedrohung durch den Menschen
Mit der großflächigen Einführung von Rinderfarmen und Viehweiden in Mittel- und Südamerika haben sich die Bestandszahlen des Gemeinen Vampirs vergrößert. Aufgrund der Gefahren durch Krankheitsübertragungen wird jedoch vielerorts versucht, die Tiere auszurotten. Höhlen wurden gesprengt oder ausgeräuchert. Da Gemeine Vampire optisch schlecht von anderen Fledermausarten zu unterscheiden sind, waren auch viele harmlose frucht- oder insektenfressende Tiere betroffen, oft im stärkeren Ausmaß als Gemeine Vampire selbst. Andere Methoden, die gegen diese Fledermäuse eingesetzt werden, sind langsam wirkende Gifte, die auf das Fell gefangener Tiere gestrichen werden und die durch die gegenseitige Fellpflege auch die anderen Bewohner des Quartiers töten, schwache Gifte, die in die Rinder injiziert werden, Fangnetze vor Ställen und andere. Trotz alledem ist die Art häufig und zählt nicht zu den bedrohten Arten.
Bedeutung für die Forschung
Es war schon länger bekannt, dass ein Bestandteil des Speichels dieser Tiere die Blutgerinnung hemmt. Seit den 1980er Jahren gab es Bestrebungen, dieses Enzym zu isolieren, was einem deutsch-mexikanischen Forscherteam gelang. Seit Anfang der 1990er Jahre kann dieses Enzym (Desmodus rotundus Salivary Plasminogen Activator (DSPA) oder Desmoteplase genannt) biotechnologisch hergestellt werden. Es sollte vor allem als Medikament gegen ischämische Schlaganfälle eingesetzt werden, da es auch bereits bestehende Blutverklumpungen im Gefäßsystem auflösen kann. Zwischen 1990 und 1999 wurde schon eine Studie mit Herzinfarktpatienten erfolgreich abgeschlossen. Synthetisierte Präparate, die das Enzym enthalten, unterdrücken die Blutgerinnung bis zu 20-mal länger als herkömmliche Mittel und sie sollen nach ersten Studien auch eine bis zu 150-mal stärkere Wirkung aufweisen. Man versprach sich mit diesem Mittel eine Erweiterung des Zeitfensters für die Behandlung, das gegenwärtig beim Ischämischen Hirninfarkt bei drei Stunden liegt. In der Phase-III-Studie konnte beim Ischämischen Hirninfarkt jedoch keine Verbesserung des klinischen Outcomes nachgewiesen werden.
Systematik
Stellung innerhalb der Fledermaussystematik
Der Gemeine Vampir bildet zusammen mit dem Kammzahnvampir (Diphylla ecaudata) und dem Weißflügelvampir (Diaemus youngi) die Gruppe der Vampirfledermäuse (Desmodontinae), wobei der Weißflügelvampir der nächste Verwandte des Gemeinen Vampirs ist. Vampirfledermäuse werden als Unterfamilie der Blattnasen (Phyllostomidae) eingeordnet, einer formenreichen, auf den amerikanischen Kontinent beschränkten Fledermausgruppe. Phylogenetisch bilden sie das Schwestertaxon aller übrigen Blattnasenarten.
Von der Gattung Desmodus sind außerdem zwei ausgestorbene Arten bekannt:
Desmodus stocki war etwas schwerer als der Gemeine Vampir und lebte in den südlichen Vereinigten Staaten und in Mexiko. Die Art ist erst vor rund 3000 Jahren ausgestorben.
Desmodus draculae, auch „Riesenvampir“ genannt, war größer als der Gemeine Vampir, seine Flügelspannweite wird auf 60 bis 75 Zentimeter geschätzt. Fossile Überreste dieser Art aus dem Pleistozän wurden in Mexiko, Venezuela, Argentinien und Brasilien gefunden. Wegen des (zumindest behaupteten) jungen Alters der Funde und Legenden der Maya über Camazotz, eines Wesens in Gestalt eines Riesenvampirs, mutmaßen Kryptozoologen, dass die Art sogar noch leben könnte oder erst in jüngster Zeit ausgestorben ist. Beweise dafür gibt es allerdings keine.
Stammesgeschichte
Abgesehen von den zwei oben erwähnten Arten sind keine fossilen Vorfahren der Vampirfledermäuse bekannt. Die Frage, wie es zur Entwicklung dieser spezialisierten Ernährungsweise kam, kann derzeit nur auf spekulativem Weg beantwortet werden. Zwei Theorien wurden hierfür vorgeschlagen:
Nach einer Theorie haben sich Vampirfledermäuse aus fruchtfressenden Vorfahren entwickelt, die besonders geformten Schneide- und Eckzähne seien zunächst eine Anpassung an das Aufbeißen hartschaliger Früchte gewesen.
Nach einer anderen Theorie haben sich Vampirfledermäuse aus insektenfressenden Vorfahren entwickelt, die auf ektoparasitische (auf der Haut lebende) Tiere spezialisiert waren. Möglicherweise lockten die Wunden, die die Insekten ihren Wirten zufügten, diese Vorfahren an.
Innerhalb der Blattnasen gibt es sowohl frucht- als auch insektenfressende Arten, so dass beide Wege denkbar sind.
Literatur
Klaus Richarz: Fledermäuse beobachten, erkennen und schützen. Kosmos, Stuttgart 2004, ISBN 3-440-09691-2.
Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Uwe Schmidt: Vampirfledermäuse. Spektrum Verlag, Heidelberg 1995. ISBN 978-3-89432-176-5.
Dennis Turner: The Vampire Bat. A Field Study in Behavior and Ecology. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1975, ISBN 0-8018-1680-7.
Arthur M. Greenhall, Gerhard Joermann, Uwe Schmidt: Desmodus rotundus (PDF; 753 kB). In: Mammalian Species. 202, 1983.
Arthur M. Greenhall, Uwe Schmidt: Natural History of Vampire Bats. CRC Press, Boca Raton 1988, ISBN 0-8493-6750-6.
Gerald S. Wilkinson: Food Sharing in Vampire Bats. (PDF; 919 kB) In: Scientific American. 262, 1990, S. 76–82.
Einzelnachweise
Weblinks
Bildergalerie (englisch)
Informationen des Pharmakonzerns Paion zu Desmoteplase
Blattnasen |
927904 | https://de.wikipedia.org/wiki/Herman%20Moll | Herman Moll | Herman(n) Moll (* vermutlich 1654; † 22. September 1732 in London) war ein britischer Kupferstecher, Kartograph und Verleger.
Bekannt wurde Moll für seine zahlreichen, zumeist aufwändig gestalteten Kartendarstellungen Europas und Amerikas. Daneben stellte er auch Karten für Daniel Defoes Robinson Crusoe und Jonathan Swifts Gullivers Reisen her. Molls Karten zeichnen sich vor allem durch die Klarheit in ihrer Darstellung und die bisweilen prachtvolle Gestaltung ihrer Titelkartuschen aus. In seinem Gesamtwerk sind die fünfbändige Ausgabe des „Atlas Geographus“ (1711–1717) und der „Atlas Minor“ (1719) hervorzuheben, die beide in mehreren Auflagen erschienen.
Leben und Werk
Herkunft
Herman Molls genaue Herkunft ist unbekannt. Aufgrund der überragenden Bedeutung der niederländischen Kartographie im 17. Jahrhundert und der Tatsache, dass er in seinen späten Jahren eine Reise durch die Niederlande unternahm, nahm man lange Zeit an, er stamme aus Amsterdam oder Rotterdam. Sein im Original überliefertes Testament, in dem er seinen gesamten Besitz „im Königreich Großbritannien, in Deutschland oder anderswo“ an seine Tochter Henderina Amelia Moll vermachte und die Tatsache, dass der Name „Moll“ nicht nur im niederländischen, sondern auch im norddeutschen Raum verbreitet war, legen jedoch eher eine deutsche Herkunft nahe. Sein Biograph Dennis Reinhartz vermutet, dass Moll aus Bremen stammte. Nach anderen Angaben wurde er in Solingen geboren. Als Geburtsjahr wird gemeinhin das Jahr 1654 angenommen.
Erste Jahre in London
Seit 1678 ist Molls Aufenthalt in London nachweisbar, doch ist über seine ersten Jahre dort nur wenig bekannt. Moll arbeitete zunächst als Kupferstecher für Verleger wie Moses Pitt, Sir Jonas Moore, Greenville Collins, John Adair, Seller & Price und andere. Seine wahrscheinlich ersten Karten mit den schlichten Titeln „America“ und „Europe“ erschienen in Moores A New Systeme of the Mathematicks containing … A New Geography im Jahr 1681 und tragen den Imprint „H. Mol schulp“.
Vermutlich verkaufte Moll seine ersten eigenen Karten von einem Verkaufsstand aus, den er an wechselnden Plätzen in London aufbaute. Ab 1688 besaß er einen eigenen Laden bei Vanley’s Court im Londoner Stadtteil Blackfriars. Zwischen 1691 und 1710 befand sich sein Geschäft an der Ecke Spring Garden und Charing Cross, bevor er schließlich an die entlang der Themse verlaufende Straße Strand wechselte, wo er bis zu seinem Tode blieb.
In den 1690er Jahren arbeitete Moll vorwiegend als Kupferstecher für Christopher Browne, Robert Morden und Lea, an deren Geschäften er auch beteiligt war. In diese Zeit fällt auch sein erstes größeres eigenständiges Werk, der 1695 erschienene Thesaurus Geographicus. Der Erfolg dieser Arbeit bekräftigte Moll vermutlich in seiner Entscheidung, einen eigenen Kartenverlag zu gründen.
Der Kartograph und der Weltumsegler
Für die Produktion seiner Karten war Moll auf möglichst genaue geographische Angaben aus erster Hand angewiesen. Moll profitierte dabei von seiner Bekanntschaft mit dem Weltumsegler und Freibeuter William Dampier, der 1691 von seiner ersten Weltumrundung nach London zurückkehrte. Über die Erlebnisse seiner insgesamt zwölf Jahre dauernden Reise verfasste Dampier einen Bericht, der 1698 in London erschien und bereits ein Jahr später seine vierte Auflage erlebte. Die meisten der Karten und Illustrationen für die als A New Voyage round the World betitelte Erzählung fertigte Moll an. Während Molls kartographisches Material die Anschaulichkeit von Dampiers Schilderungen für den Leser enorm steigerte, waren Dampiers geographische Kenntnisse ungemein wichtig für die Genauigkeit von Molls Karten. In einer Zeit, in der Kartographen auf die Ortskenntnisse von Kaufleuten und Kapitänen angewiesen waren, war die Bekanntschaft mit einem Mann wie Dampier entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg eines Kartenzeichners wie Moll. Das wachsende Interesse des Publikums an Reiseliteratur und der enorme Erfolg von Dampier regte wiederum andere Autoren wie Daniel Defoe oder Jonathan Swift zu ähnlichen Werken an. Auch sie sollten später auf Molls künstlerische Fähigkeiten für die Illustration ihrer Werke zurückgreifen.
Erste Arbeiten als eigenständiger Verleger
Im Jahr 1701 erschien mit A System of Geography das erste Kartenwerk, das Moll in seinem eigenen Verlag veröffentlichte. Obwohl es keine grundlegenden Neuerungen in der Darstellung enthielt, half es ihm, sich als selbständiger Kartograph durchzusetzen. Über die Jahre wurden das Werk selbst sowie einzelne Karten daraus von Moll wie auch von anderen Verlegern immer wieder kopiert und neu aufgelegt.
Nachdem er in den folgenden Jahren mehrere Bände mit Kriegskarten herausgebracht hatte, veröffentlichte Moll 1708 mit Fifty-Six new and accurate Maps of Great Britain einen Band mit Karten der Britischen Inseln. Ein Jahr später erschienen The Compleat Geographer und der Atlas Manuale. Während der Compleat Geographer eine nur wenig innovative Erweiterung von A System of Geography darstellte, ragte der Atlas Manuale schon aufgrund seines kleinen Formats aus der Atlantenproduktion des frühen achtzehnten Jahrhunderts heraus. Seine zweiundvierzig einfarbig gestalteten Karten erschienen ohne den üblichen Textapparat und bestachen durch ihre Klarheit und Übersichtlichkeit. Durch den Verzicht auf Farben konnte Moll seinen Atlas deutlich günstiger produzieren als vergleichbare Werke und so durchlief der Atlas Manuale innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Neuauflagen.
Zwei Jahre später gab er seinen Atlas Geographus heraus, der in monatlichen Lieferungen von 1711 bis 1717 erschien und schließlich fünf Bände umfasste. Dieser enthielt eine vollständige geographische Darstellung der Welt in farbigen Karten, sowie zusätzliche – nicht von Moll stammende – Illustrationen. Zu Molls Subskribenten gehörten Buchhändler und Verleger aus London, aber auch bereits aus einer Reihe anderer englischer Städte. Wie schon A System of Geography wurde auch der Atlas Geographus eifrig kopiert und nachgeahmt.
Ab 1710 begann Moll mit der Herstellung kunstfertig gearbeiteter Taschengloben. Es handelte sich dabei jeweils um ein Globenpaar, wobei der größere, aufklappbare Himmelsglobus einen kleineren Erdglobus umschloss. Auf letzterem war auch wieder die Route der Weltumseglung Dampiers eingezeichnet. Diese Globen sind heute sehr selten und stellen unter den im Original überlieferten Arbeiten Molls eine große Rarität dar (eine Abbildung von Molls Taschenglobus siehe unter Weblinks).
Moll, Defoe und das englische Südseeunternehmen
Mit seinem 1711 veröffentlichten Buch A View of the Coasts, Countries, and Islands within the limits of the South-Sea-Company griff Moll in eine zu jener Zeit laufende außenpolitische Debatte ein. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert hatte das Interesse der Engländer an Unternehmungen in den Pazifischen Ozean stark zugenommen. Die englischen Kaufleute waren auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten und der günstige Verlauf des Spanischen Erbfolgekriegs weckte Hoffnungen auf Handelsoptionen in den bislang ausschließlich den Spaniern offenstehenden Häfen an der Westküste Südamerikas. Zudem hatten die Beutezüge Dampiers und anderer englischer Freibeuter die zunehmende Schwäche der Spanier eindrucksvoll belegt. Die Tatsache, dass diese offenbar immer weniger in der Lage waren, ihre südamerikanischen Besitzungen ausreichend zu schützen, spielte in der literarischen Verarbeitung der Reisen Dampiers eine prominente Rolle. Gleichzeitig malte Dampier in seinen Reiseberichten ein über alle Maßen positives Bild vom Reichtum und wirtschaftlichen Potential der Südsee. Und genau diese Schilderungen Dampiers gab Moll in seinem Vorwort als wichtigste Quelle für sein 1711 erschienenes Werk an.
Weiteren Einfluss auf Molls Sicht des südpazifischen Raumes übte sein enger Kontakt zu Daniel Defoe aus. Defoe und Moll trafen sich regelmäßig in dem 1680 gegründeten Kaffeehaus „Jonathan's“, einem beliebten Treffpunkt für die Londoner Finanz- und Börsenwelt in der City of London. Vor dem Beginn seiner Karriere als Romanautor hatte sich Defoe zunächst als Kaufmann betätigt und trat ab den 1690er Jahren als Autor verschiedener politischer Satiren und Pamphlete in Erscheinung. Zwischen 1704 und 1713 veröffentlichte Defoe den dreimal wöchentlich erscheinenden Review, ein Blatt, das sich vor allem mit Fragen britischer Kolonialpolitik befasste. Darin trat Defoe vehement für die Durchsetzung englischer Herrschaftsansprüche in Übersee und für die Erschließung neuer Märkte für heimische Textilfabrikate ein. Auch wenn für die Behauptung, der Titel seines späteren Buchs Moll Flanders sei von einer Werbeanzeige mit dem Titel „The History of Flanders with Moll's Map“ (dt. „Die Geschichte Flanderns mit Molls Karte“) inspiriert, ausreichende Belege fehlen, so steht doch fest, dass zwischen Defoe und Moll ein enger Gedankenaustausch – insbesondere über Fragen der englischen Kolonialpolitik – stattfand.
Molls Buch enthielt die Karte A New & Exact Map of the Coast, Countries and Islands within ye Limits of ye South Sea Company, deren Widmungskartusche mit dem Text „To the Rt. Hon.ble Robert Earl of Oxford and Mortimer &c…“ versehen war. Gemeint war damit Robert Harley, der Gründer der South Sea Company, als dessen Sekretär Daniel Defoe unter anderem arbeitete. Diese Londoner Südseekompanie hatte im Jahr 1710 im Vorgriff auf das Kriegsende – das tatsächlich erst 1713 stattfand – Exklusivrechte auf den Handel mit Spanisch-Amerika erhalten, sie löste sich aber nach nur knapp zehnjährigem Bestehen in der sogenannten „South Sea Bubble“ auf.
Molls Karte zeigt den Einflussbereich der Handelskompanie im Raum des Südpazifiks. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den an der südamerikanischen Westküste gelegenen Häfen, die gleich zu Hunderten in die Karte eingetragen sind. Wichtige Plätze wie Guayaquil sind zusätzlich noch detaillierter in einer der zwölf Nebenkarten am Rande des Blattes dargestellt. Einen prominenten Platz nimmt die Darstellung der Juan-Fernández-Inseln in einer dieser Nebenkarten ein. Dies war der Ort, an dem Alexander Selkirk, das Vorbild für Defoes Romanfigur Robinson Crusoe, von einem der Kapitäne aus Dampiers Expedition im Jahr 1704 ausgesetzt und erst 1709 wieder befreit worden war.
Mit Karten wie dieser nahm Moll ebenso starken Einfluss auf die öffentliche Debatte wie die Romanautoren Defoe oder Swift – und dies vor allem auch, weil seine Karten auch Analphabeten eine Vorstellung von den dargestellten Räumen ermöglichten. Ganz konkreten Einfluss auf Defoes Südamerika-Pläne nahm er jedoch durch einen Fehler in der Darstellung Südamerikas. Eine von Defoes Ideen bestand nämlich in der Errichtung eines Handelsstützpunktes in Patagonien, von dem aus eine Handelsverbindung mit Chile aufgebaut werden sollte. Defoe hatte aber nur sehr ungenaue Vorstellungen von der Geographie der Anden und vermutete auf der Grundlage von Molls Karten, sie seien über Pässe problemlos zu überwinden. Während Defoes Pläne allerdings spätestens mit der South Sea Bubble platzten, wurde Molls Karte A New & Exact Map of the Coast, Countries and Islands within ye Limits of ye South Sea Company noch nach seinem Tode in späteren Auflagen seines Werkes The World Described nachgedruckt.
The World Described und Atlas Minor
Im Jahr 1715 erschien Molls The World Described, eine Sammlung von dreißig großen, doppelseitigen Karten, die bis 1754 zahlreiche Neuauflagen erlebte. Die Karten, in denen Molls Kunstfertigkeit als Kupferstecher besonders zur Geltung kommt, wurden zunächst einzeln und später gebunden in Form eines Atlanten verkauft. Der Druck war ein Gemeinschaftsunternehmen von Moll und einer Reihe anderer Verleger.
Der Band enthielt zwei der bekanntesten Karten Molls, A new and exact map of the Dominions of the King of Great Britain und John Lord Sommers This map of North America, die wegen ihrer auffälligen und kunstvoll gearbeiteten Insetdarstellungen als Beaver Map und als Codfish Map bekannt wurden.
Die Beaver Map zeigt eine Szene dammbauender Biber vor den Niagarafällen, die aber ursprünglich nicht von Moll selbst stammte, sondern aus einer wenig bekannten Karte von Nicolas de Fer aus dem Jahr 1698. Dennoch trug Molls Karte durch ihre Popularität zur Etablierung des Bibers als Sinnbild für die nordamerikanischen Kolonien bei.
Molls Codfish Map zeigt in ihrer Titelkartusche eine Szene aus der Kabeljaufischerei vor Neufundland. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts stellte die Kabeljaufischerei in den Neufundlandbänken einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor für die europäischen Kolonialmächte dar. Zur Zeit der Herstellung der Karte war der Kampf um die Fischereirechte einer der zentralen Streitpunkte in der Nordamerikapolitik Frankreichs und Englands. Mit seiner Darstellung der Verarbeitung des fangfrischen Kabeljaus zur Verschiffung nach Europa hob Moll die Wichtigkeit dieses Wirtschaftsbereiches für sein Heimatland England hervor.
Über die Auswahl der Szenen für Titelkartuschen und Nebenkarten hinaus versuchte Moll auch immer wieder über die Beschriftung der Karten seine Botschaft von der Bedeutung der kolonialen Machtausdehnung Englands zu vermitteln. In der Codfish Map beschriftete er den Atlantischen Ozean als „Sea of the British Empire“ und unterstrich damit die englischen Ansprüche auf das Fischereirecht vor der Küste Neufundlands. In einer Westindien-Karte aus demselben Band schrieb er in die südwestliche Ecke Carolinas die Worte „Spanish Fort Deserted“ und „Good Ground“. Auf vielen seiner Nordamerikakarten – unter anderem auf der Beaver Map – zeichnete er insbesondere in der Nähe wichtiger Häfen Straßen ein, weil er wusste, dass eine ausreichende Infrastruktur für die weitere englische Expansion von großer Bedeutung war.
Im Jahr 1719 veröffentlichte Moll die erste einer Vielzahl von Ausgaben seines Atlas Minor. Dieser kleinere Atlas kam ohne den üblichen weitschweifigen Textteil aus und zeigte aktuelle Darstellungen aller bis dahin bekannten Regionen der Erde. Auch hier setzte Moll im Bereich der Nordamerikakarten seine Kolonialwerbung fort. Die Karte A Plan of Port Royal harbour in Carolina beschriftete er mit dem Text:
Was Moll dabei bewusst verschwieg, war die Tatsache, dass die Sterblichkeit der Siedler im feuchten und sumpfigen Südwesten South Carolinas zu seiner Zeit nahezu genauso hoch war wie auf den britischen Überseebesitzungen in der Karibik. Die Gefahren durch Indianer verharmloste er durch dekorative Porträts der „Guten Wilden“ als Beigaben zu seinen aufwendig gestalteten Titelkartuschen und Umrahmungen. In seiner Beschriftung der Beaver Map erwähnte er zwar die Irokesen als „tüchtige Freunde der Engländer“ im Kampf gegen die Franzosen, ließ dabei aber unerwähnt, dass sich die Franzosen gleichfalls solcher „tüchtiger Freunde“, nur von anderen Stämmen, bedienten.
Jenseits aller politischen Ausrichtung waren Molls Karten zu seinen Lebzeiten und weit darüber hinaus stilprägend und gehören noch heute zu den ästhetisch anspruchsvollsten Kupferstichen in der Geschichte der Kartographie. Molls Atlas Minor blieb bis zu seiner letzten Ausgabe im Jahr 1781 eines der wichtigsten Kartenwerke des 18. Jahrhunderts.
„My worthy friend, Mr. Herman Moll“ – Gullivers Reisen
Sechs Jahre vor Molls Tod veröffentlichte Jonathan Swift seinen Roman Lemuel Gulliver’s travels into several remote nations of the world (dt. Gullivers Reisen). Das Werk, das heute fälschlicherweise als Kinderbuch gilt, weil zwei seiner Episoden zu Kindergeschichten umgetextet wurden, ist in Wirklichkeit eine bissige gesellschaftskritische Satire und setzte sich neben Fragen zur Politik, Philosophie und Wissenschaft auch mit dem englischen Expansionsstreben im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts auseinander. Zwei Personen aus Swifts Londoner Bekanntenkreis werden darin namentlich erwähnt: der Weltumsegler William Dampier (der von Swift als Cousin Gullivers in die Geschichte eingeführt wird) und der Kartenmacher Herman Moll.
Dampiers rund dreißig Jahre zuvor erschienenes – und von Swift direkt genanntes – Buch A New Voyage round the World gab die ideale Vorlage für Gullivers Reisebericht ab. Damit karikierte Swift die Sucht des englischen Lesepublikums nach immer neuen Beschreibungen ferner Länder, nutzte diese aber zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil. Und gleichzeitig erweiterte er Gullivers Reisen um jene unverzichtbare Beilage, ohne die ein Reisebericht der damaligen Zeit kaum auskommen konnte: um die Karten Herman Molls.
Moll selbst wird im elften Kapitel des vierten Teils erwähnt, in einer Passage, die Gullivers Ankunft in New Holland (Australien) beschreibt:
Obwohl Swift an dieser Stelle die Beharrlichkeit seines werten Freundes Mr. Herman Moll im Festhalten an bereits widerlegten Fakten aufspießt, folgt er in seiner sonstigen Darstellung geographischer Gegebenheiten weitgehend dessen 1719 erstmals erschienenen Weltkarte A new map of the whole world with the trade winds (Abbildung siehe oben). Insbesondere die Umrisse Japans und die Benennung der Orte belegen, dass Molls Zeichnungen als Vorlage von Swifts Schilderungen dienten.
Die von Moll eigens für Gullivers Reisen hergestellten Karten erhöhten – genauso wie schon bei den bereits 1719 für Defoes Robinson Crusoe angefertigten Abbildungen – die Anschaulichkeit des Romans und trugen in nicht unerheblicher Weise zum Erfolg des Werkes bei. Seit der ersten Auflage des Buches wurden auch Molls Karten vielfach mitreproduziert und gehören damit kurioserweise – wie Frederick Bracher treffend festgestellt hat – zu den am weitesten verbreiteten Karten, die Moll jemals gezeichnet hat.
Das letzte Jahrzehnt
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens setzte Moll seine kartographische Arbeit vor allem anhand von Darstellungen der britischen Inseln fort. Einem 1724 veröffentlichten Atlas mit Karten zu England und Wales folgten 1725 ein Atlas mit Karten Schottlands und 1728 ein Band mit Darstellungen Irlands. Darüber hinaus schuf er bereits 1721 mit Thirty two new and accurate Maps of the Geography of the Ancients einen Geschichtsatlas für den Schulgebrauch. Eine Rarität unter seinen Werken stellt heute der Band Roads of Europe dar, der im Jahre seines Todes erschien und wohl aus diesem Grund keine hohe Auflage erlebte.
Die genauen Umstände seines Todes liegen im Dunkeln. Das einzige überlieferte Porträt Molls, gefertigt von seinem engen Freund William Stukeley aus dem Jahr 1723 stellt ihn jedoch noch im Alter von knapp 70 Jahren mit einem klaren, aufmerksamen Blick dar.
Schon in Molls letztem Lebensjahrzehnt, insbesondere aber nach seinem Tod, wurden seine Karten in einer steigenden Zahl von Nach- und Raubdrucken verbreitet. Selbst die in ihnen enthaltenen Fehler wie die Darstellung Kaliforniens als Insel wurden dabei nie korrigiert. Die bis heute andauernde Nachfrage nach Molls Kupferstichen gibt eine ungefähre Vorstellung von seiner nachhaltigen Popularität. Zuletzt erschien seine Map of the Island of Bermudos aus dem Jahr 1709 auf einer 1987 ausgegebenen Briefmarke Bermudas. Molls Karten spiegeln stets eine spezifische Weltsicht wider, die seinem Ruhm jedoch keinen Abbruch getan hat.
Werke (Auswahl)
Thesaurus Geographicus (1695)
A System of Geography (1701)
A History of the English Wars (1705)
The History of the Republick of Holland (1705)
A Description of all the Seats of the present Wars of Europe (1707)
Fifty-Six new and accurate Maps of Great Britain (1708)
The Compleat Geographer (1709)
Atlas Manuale (1709)
A View of the Coasts, Countries, and Islands within the limits of the South-Sea-Company (1711)
Atlas Geographus (1711–1717)
The World Described (1715)
Atlas Minor (1719)
Thirty two new and accurate Maps of the Geography of the Ancients (1721)
A Set of fifty New and Correct Maps of England and Wales (1724)
A Set of thirty-six New and Correct Maps of Scotland (1725)
A Set of twenty New Maps of Ireland (1728)
Roads of Europe (1732)
Literatur
Dennis Reinhartz: The cartographer and the literati – Herman Moll and his intellectual circle, Lewiston NY 1997, ISBN 0-7734-8604-6.
Sarah Tyack: London Map-Sellers 1660–1720, Tring 1978, ISBN 0-906430-00-3.
Frederick Bracher: The Maps in Gulliver’s Travels, in: Huntington Library Quarterly 8 (1944/45), , S. 59–74.
Weblinks
Jan Rychtář: Kartensammlung Moll, Webseite auf deutsch, englisch und tschechisch mit der vollständig digitalisierten Sammlung einschließlich der handschriftlichen Kataloge von Bernhard Paul Moll aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, mit kurzer Verschlagwortung und Möglichkeiten zum Übereinanderlegen von historischen mit aktuellem Kartenmaterial, auf der Seite mapy.mzk.cz, zuletzt abgerufen am 29. März 2014
Terrestrial and celestial pocket globe (GLB0197) – Foto eines von Moll 1719 gefertigten Taschenglobus aus der Sammlung des National Maritime Museum, London.
Einzelnachweise
Kupferstecher (Vereinigtes Königreich)
Kartograf (17. Jahrhundert)
Kartograf (18. Jahrhundert)
Globenhersteller
Verleger (17. Jahrhundert)
Verleger (18. Jahrhundert)
Brite
Engländer
Geboren 1654
Gestorben 1732
Mann |
935470 | https://de.wikipedia.org/wiki/Griechische%20Tanne | Griechische Tanne | Die Griechische Tanne (Abies cephalonica), auch Kefalonische Tanne genannt, ist eine europäische Nadelbaumart aus der Gattung der Tannen (Abies) in der Familie der Kieferngewächse (Pinaceae). Sie ist ein Endemit Griechenlands, das bedeutet, dass sie nur dort vorkommt. Von der ähnlichen Weiß-Tanne (Abies alba) unterscheidet sie sich durch ihre geringere Wuchshöhe von bis zu 30 Metern und ihre mit einer Länge von bis zu 3,5 Zentimetern längeren Nadeln. Die Borke der Griechischen Tanne ist eher graubraun statt weiß- bis dunkelgrau wie bei der Weiß-Tanne. Die männlichen Blütenzapfen der Griechischen Tanne sind zur Blütezeit im Mai karminrot gefärbt. Die zur Reife im August bis September violett über bräunlich rot und gelbbraun bis braun gefärbten, 10 bis 20 Zentimeter langen und stark harzigen Zapfen sind zylindrisch – genauso wie die der Weiß-Tanne – geformt.
Ihr Bestand gilt als stabil, obwohl es in den Sommermonaten häufig zu Waldbränden kommt und es auch Studien gibt, die den Bestand seit fünf Jahrzehnten als rückläufig ansehen. Die IUCN stuft die Art in ihrer Roten Liste seit 2011 als „nicht gefährdet“ ein. Zuvor wurde sie als „gering gefährdet“ angesehen. Sie wird in zwei Reservaten sowie in mehreren griechischen Nationalparks geschützt.
Sie gilt als anfällig für den Befall durch Schadinsekten, vor allem durch Vertreter der Borkenkäfer. Ein Befall mit Borkenkäfern kann zu wirtschaftlich bedeutsamen Ausfällen führen. Pilzbefall spielt bei dieser Art jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl in Anbauversuchen gezeigt werden konnte, dass die Griechische Tanne eine mittlere Resistenz gegenüber Luftverschmutzung hat, lässt es sich nicht ausschließen, dass diese eine Rolle bei Wachstumseinbußen spielt.
Das Holz lässt sich in der Qualität mit dem der Weiß-Tanne vergleichen und findet auch als Bau- und Konstruktionsholz Verwendung. Wo sich ihr Verbreitungsgebiet überlappt, bildet die Art intermediäre Formen, die auf eine natürlich vorkommende Kreuzung der beiden Arten zurückgehen. Diese Formen werden oft als Bulgarische Tanne (Abies borisii-regis) bezeichnet. Eine weitere Form, welche vermutlich auf eine natürliche Kreuzung mit der Nordmann-Tanne (Abies nordmanniana) zurückgeht, ist die in der Türkei heimische Troja-Tanne (Abies nordmanniana subsp. equi-trojani).
Beschreibung
Erscheinungsbild
Die Griechische Tanne wächst als immergrüner Baum, der Wuchshöhen von 20 bis 30 Meter und Brusthöhendurchmesser von 40 bis 70 Zentimeter erreicht. Die langen Äste gehen horizontal vom geraden Stamm ab und breiten sich weit aus. Es wird meist eine pyramidenförmige Krone gebildet.
Knospen und Nadeln
Die konischen bis eiförmigen, behaarten Knospen sind harzig und stehen zwischen den Nadeln. Sie sind violett bis rötlich gefärbt und werden zwischen 1,2 und 1,6 Millimeter dick. Die Knospenschuppen sind an der Spitze erkennbar. Die eiförmigen Winterknospen werden rund 6 Millimeter lang. Sie sind meist stark verharzt und weisen eine gelbe bis gelblichbraune Färbung auf.
Die scharf zugespitzten Nadeln werden zwischen 1,5 und 3,5 Zentimeter lang und 2 bis 3 Millimeter breit und haben einen flachen Querschnitt. Sie stehen an den Seitentrieben bürstenförmig bis schwach gescheitelt und leicht zur Zweigspitze hin gerichtet. Die Nadeloberseite ist glänzend dunkelgrün und die Nadelunterseite grünlichweiß gefärbt. An der selten gefurchten Nadeloberseite findet man zwei bis drei kurze Stomatareihen, die sich von der Spitze bis zur Mitte der Nadel erstrecken. An der gekielten Nadelunterseite findet man sechs bis sieben Stomatareihen. Die Nadeln verbleiben bis zu zehn Jahre am Baum, ehe sie abfallen. Die Sämlinge besitzen fünf bis neun Keimblätter (Kotyledonen), die eine Länge von 2 bis 2,5 Zentimeter aufweisen.
Rinde und Wurzeln
Die graubraune Borke ist bei jungen Bäumen glatt und reißt bei älteren Bäumen in kleine, längliche Platten auf. Zweige besitzen eine glatte, hellbraun bis rötlichbraun gefärbte Rinde. Die Griechische Tanne bildet eine Pfahlwurzel aus, um die sich ein kräftiges Wurzelsystem ausbildet.
Blüten, Zapfen und Samen
Die Griechische Tanne ist einhäusig-getrenntgeschlechtig (monözisch). Sie wird im Freistand mit 20 bis 25 und in geschlossenen Beständen mit 30 bis 35 Jahren mannbar. Die Blütezeit liegt im Mai. Die eiförmigen männlichen Blütenzapfen werden 12 bis 18 Millimeter lang und rund 4 Millimeter dick. Sie sind zur Blütezeit karminrot gefärbt. Man findet sie vor allem im unteren Kronenteil. Dort stehen sie an der Unterseite von vorjährigen Trieben in den Nadelachsen.
Die fast zylindrisch geformten, stark verharzten Zapfen werden 10 bis 20 Zentimeter lang und 3 bis 5 Zentimeter dick. Sie sind zur Reife im August bis September von violett über bräunlich rot und gelbbraun bis braun gefärbt. Man findet sie vor allem im oberen Kronenbereich, wo sie an den Spitzen von vorjährigen Trieben stehen. Unter den keilförmigen, 2 bis 4 Millimeter langen und ebenso breiten Samenschuppen ragen die zurückgebogenen, goldbraunen Deckschuppen hervor. Die Samen werden im Oktober aus den Zapfen entlassen.
Die rötlichen, bei einer Länge von 10 bis 19 Millimeter kantigen Samen besitzen einen 12 bis 20 Millimeter langen Flügel. Das Tausendkorngewicht liegt zwischen 50 und 65 Gramm.
Verbreitung und Standort
Das natürliche Verbreitungsgebiet der Griechischen Tanne liegt in Griechenland, wo sie endemisch vorkommt. Es umfasst fünf Standorte in der Region Epirus, elf auf dem Peloponnes und zehn in Zentralgriechenland. In Zentralmakedonien findet man die Art am Olymp und am Berg Athos. Auf den Ionischen Inseln kommt sie nur auf Kefalonia, auf den ägäischen Inseln nur auf Euböa vor. Die Nordgrenze ihres Verbreitungsgebietes verläuft durch das südliche Pindos-Gebirge. Ihr gesamtes Verbreitungsgebiet wird auf rund 200.000 Hektar geschätzt.
Die Griechische Tanne ist eine Pflanzenart des mediterranen Klimas. Sie kommt in Höhenlagen von 400 bis 2100 Metern vor, wobei sie optimal in Höhen zwischen 1000 und 1800 Metern gedeiht. Die jährliche Niederschlagsmenge liegt je nach Standort zwischen 700 und 1500 mm. Am natürlichen Standort kann eine bis zu sieben Monate lange Sommertrockenheit auftreten. Die Art besiedelt überwiegend spaltengründige, entwickelte Kalkstein-(Rotlehmböden) auf gebankten Kalksteinen und Dolomiten. Da sie tolerant gegenüber sauren Standorten ist, kommt sie auch auf Sandstein, Serpentinit sowie Glimmer- und Tonschiefer vor. Der pH-Wert der besiedelten Böden liegt zwischen 5 und 8. Die Griechische Tanne ist in Mitteleuropa weitgehend winterhart, reagiert aber aufgrund des frühen Austriebes empfindlich auf Spätfröste.
Durch die häufige Besiedlung initialer Kalkrohböden hat die Griechische Tanne den Charakter einer Pionierart mit der, für ausgeprägte Trockentannen, bescheidenen Wuchsleistung.
Allgemein sind die überwiegend auf Hartkalk und Dolomit stockenden Reinbestände der Griechischen Tanne (600–1700/400–2100 m; Chelmos 2300 m) Klimaxwälder, die weithin die Waldgrenze bilden. Durch Weide, Brand und Rodung sind sie stark dezimiert.
Ökologie
Mykorrhizapartner
Als mögliche Mykorrhizapartner kommen vor allem der Kaiserling (Amanita caesarea), der Fliegenpilz (Amanita muscaria), der Fichtensteinpilz (Boletus edulis), der Pfifferling (Cantharellus cibarius), der Edelreizker (Lactarius deliciosus) sowie der Grünling (Tricholoma equestre) in Frage. Alle diese Arten gehen eine Symbiose mit der Weiß-Tanne (Abies alba) ein und könnten auch an der Griechischen Tanne zu finden sein. Weitere Mykorrhiza-Partner könnten der Anhängselröhrling (Boletus appendiculatus), der Tonblasse Fälbling (Hebeloma crustuliniforme), der Butterröhrling (Suillus luteus) sowie der Körnchenröhrling (Suillus granulatus) sein.
Vermehrung und Wachstum
Bei der Griechischen Tanne kommt es alle zwei bis vier Jahre zu Vollmasten; das bedeutet, dass besonders viele Samen ausgebildet werden. Die Samen fallen aufgrund ihres relativ hohen Gewichtes bereits meist in der Nähe des Mutterbaumes zu Boden. 50 bis 70 Prozent der Samen eines Baumes können allerdings so genannte Hohlkörner, also Samen ohne Keimling, sein. Bevor die Samen im nächsten Frühjahr austreiben, müssen sie 21 bis 28 Tage lang von einem feuchten Substrat bedeckt sein. Die Art scheint nicht in der Lage zu sein, durch Waldbrände vernichtete Gebiete sofort neu zu besiedeln, da die Samen kein Feuer überstehen und sie auf Naturverjüngung aus benachbarten Waldgebieten angewiesen ist. Auch drei Jahre nach den Bränden konnten an den Standorten keine Jungpflanzen gefunden werden.
Jungbäume haben nur ein sehr langsames Wachstum. So erreichen sie mit einem Alter von fünf Jahren Wuchshöhen von 20 bis 50 Zentimetern und in einem Alter von zehn Jahren Wuchshöhen von 100 bis 150 Zentimetern. In einem Alter von 15 bis 25 Jahren kommt es jedoch zu einer deutlichen Zunahme des Höhenwachstums. In Feldversuchen in Frankreich wurde gezeigt, dass die Art mit 15 Jahren Wuchshöhen von 2,4 Metern und in einem Alter von 24 Jahren von 4 Metern erreichen kann. Weiters zeigte sich, dass das jährliche Höhenwachstum höchstens zwei Monate lang anhält und in die Zeit mit dem maximalen Gehalt an Bodenwasser fällt.
Vergesellschaftung
Die Griechische Tanne bildet xerophytische Waldgesellschaften. Zu diesen an die mediterranen Trockenheit angepassten Gesellschaften zählen die pflanzensoziologischen Verbände Abieto-Pinion, Quercion frainetto sowie der immergrüne Steineichenwald (Quercion ilicis). Dagegen ist die in Nordgriechenland gefundene Abies borisii-regis schon Bestandteil mesophytischer Rot-Buchenwälder (Fagus sylvatica) den sogenannten (Fagion) geht aber auch in Stufe supramediterraner Hainbuchen-Hopfenbuchen-Wälder (Ostryo-Carpinion) hinunter. Damit sind die Griechischen-Tannenwälder zu einer oromediterranen die Bulgarischen-Tannenwälder einer alpinen Höhenstufe zuzuordnen. Abies cephalonica-Wälder zeigen dadurch keine synsoziologische Verwandtschaft zu Fagion-Gesellschaften mehr.
Unter den mediterranen Tannen steht Abies cephalonica in einer ökologischen Zwischenstellung, da hier sowohl Fagus-Arten als auch Cedrus-Arten ausfallen. Daneben bauen Griechischen Tannen auch weitgehend geschlossene, nahezu reine Bestände, meist plenterartiger Struktur auf. Die Art bildet meist Reinbestände aus, allerdings kann es in niedrigeren Höhenlagen auch zur Mischwaldbildung mit der Edelkastanie (Castanea sativa), der Ungarischen Eiche (Quercus frainetto) sowie mit der Schwarz-Kiefer (Pinus nigra) kommen. In höheren Lagen werden diese Arten häufig vom Stech-Wacholder (Juniperus oxycedrus) abgelöst. In geschlossenen Reinbeständen wächst kaum eine Bodenflora, und es kommt zur Moderbildung. In Mischbeständen wird vor allem Mull gebildet.
Krankheiten und Schädlinge
Die Griechische Tanne wird sowohl von pflanzlichen als auch von tierischen Schädlingen sowie Pilzen befallen. Insekten treten dabei häufiger auf als Pilze.
Pflanzliche Schädlinge
Unter den pflanzlichen Schädlingen ist vor allem die als Halbparasit auftretende Tannenmistel (Viscum album subsp. abietis) zu nennen. Sie tritt besonders häufig an älteren Bäumen auf.
Schadpilze
In Christbaumkulturen spielt der Tannennadelrost (Pucciniastrum epilobii) eine wirtschaftliche Rolle. Er befällt die Nadeln, welche sich dann gelb verfärben. Bei starkem Befall können auch junge Triebe verkümmern oder absterben. Ein bedeutender Verursacher von Stamm- und Wurzelfäule ist der Tannen-Wurzelschwamm (Heterobasidion abietinum). Bei jungen Bäumen kann ein Befall zum Absterben führen. Berichte über durch den Gemeinen Hallimasch (Armillaria mellea) verursachte Bestandsausfälle gibt es vor allem aus dem südlichen und zentralen Griechenland, meist aus Gebieten, in denen es häufig zu einer länger anhaltenden Trockenheit kommt. Kleinere Bäume, die von anderen Arten unterdrückt unterhalb der Kronenschicht wachsen, können vom Fleischfarbenen Hallimasch (Armillaria gallica) befallen werden.
Schadinsekten
Unter den Insekten haben sich Vertreter der Borkenkäfer wie der Kleine Tannenborkenkäfer (Cryphalus picae), der Mittlere Tannenborkenkäfer (Pityokteines vorontzowi), der Krummzähnige Tannenborkenkäfer, der Westliche Tannenborkenkäfer (Pityokteines spinidens), der Gestreifte Nutzholzborkenkäfer (Trypodendron lineatum) sowie der Prachtkäfer Phaenops knoteki als besonders gefährlich erwiesen. Bäume, die unter ungünstigen Boden- und Klimabedingungen wachsen, sind besonders anfällig für einen Befall durch diese Arten. Vor allem während der alle vier bis sieben Jahre auftretenden Dürreperioden kommt es zu einer besonders hohen Vermehrung dieser Schädlinge. So kam es im Jahr 1988 aufgrund der geringen Niederschläge und der niedrigen Lufttemperatur im Parnass-Gebirge zu Befällen, die bei bis zu 40 Prozent der Altbestände zu Abgängen führten.
Der Käfer Ernobius abietis und der Zünsler Dioryctria abietella gehören zu den bedeutendsten Zapfenschädlingen der Griechischen Tanne und können bei starkem Befall alle Zapfen eines ganzen Jahrganges zerstören und dadurch einen großen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Möglicherweise ist auch die Käferart Ernobius kailidisi dazu in der Lage. Der Wickler Evetria margorotana und die Fliege Lonchaea viridana befallen die Samen. Die in Griechenland nur die Samen bewohnende Erzwespe Megastigmus suspectus trat bei Anbauten in Frankreich auch als Zapfenschädling auf. Es wird angenommen, dass im Durchschnitt jedes Jahr durch samen- und zapfenfressende Insekten zwischen 30 und 50 % der Saatgutproduktion vernichtet werden.
Weiters finden sich auch die Weiß-Tanne (Abies alba) befallende Arten wie die Wickler Choristoneura murinana und Epinotia nigricana, die Spanner Pungeleria capreolaria und Thera variata sowie die Braunschwarze Tannenrindenlaus (Cinara confinis) an der Griechischen Tanne.
Abiotische Schadfaktoren
Obwohl Anbauten in der ehemaligen Sowjetunion eine mittlere Resistenz gegenüber Luftverunreinigungen zeigten, ist dennoch davon auszugehen, dass Immissionen ein Grund für Wachstumseinbußen sind. So zeigten Flechten, die von unter Wuchsdepression leidenden Beständen am nördlich von Athen gelegenen Berg Parnitha gesammelt wurden, einen hohen Gehalt an Schwermetallen. Diese Bestände zeichnen sich auch durch einen seit Jahren anhaltenden, starken Borkenkäferbefall aus.
Weitere wichtige Schadfaktoren sind Dürren. Nach sehr trockenen Jahren kommt es häufig zu starken Bestandsrückgängen, welche auch auf Waldbrände zurückzuführen sind. Auch drei Jahre nach den Bränden konnten keine Jungpflanzen an den Standorten gefunden werden, was darauf hinweist, dass die Griechische Tanne nicht in der Lage ist, verbrannte Gebiete sofort erneut zu besiedeln. Ein Grund dafür ist, dass die Samen die Feuer nicht überleben und es zur Naturverjüngung aus benachbarten Gebieten kommen muss. Bei der Art treten dem Tannensterben der Weiß-Tanne (Abies alba) ähnliche Symptome auf, deren Ursache vermutlich das Zusammenwirken von verschiedenen Stressfaktoren ist. Es kommt zur Verfärbung und dem späteren Abfallen der Nadeln, zum Absterben von Trieben und Ästen sowie später zum Absterben des ganzen Baumes. Kranke Bäume haben meist auch ein geschädigtes Wurzelsystem mit wenigen Feinwurzeln. Die Sterblichkeitsrate bei diesen Symptomen liegt bei fünf bis zehn Prozent, kann in manchen Beständen aber auch bis zu 50 Prozent betragen.
Systematik
Taxonomische Einordnung
Die Griechische Tanne wird innerhalb der Gattung der Tannen (Abies) der Sektion Abies zugeordnet. Einige Autoren weisen sie zusammen mit der Weiß-Tanne (Abies alba), der Nebrodi-Tanne (Abies nebrodensis) und den in der Türkei heimischen Tannenarten der Reihe Septentrionales zu, welche durch hervorragende Deckschuppen gekennzeichnet sind.
Die Erstbeschreibung erfolgte 1838 durch John Claudius Loudon anhand von Material von der Insel Kefalonia unter dem auch heute gültigen Namen Abies cephalonica in Gardener’s Magazine and Register of Rural and Domestic Improvement 14, S. 81. Synonyme für Abies cephalonica sind unter anderem Abies alba var. cephalonica , Picea cephalonica , Pinus abies var. cephalonica und Pinus cephalonica
Im südlichen Griechenland wurden eine Vielzahl an weiteren Taxa wie Abies apollinis , Abies heterophylla , Abies panachaica , Abies pectinata var. graeca und Abies reginae-amaliae beschrieben, welche heute als verschiedene Varietäten der recht formenreichen Art Abies cephalonica angesehen werden. Diese Varietäten werden jedoch nicht von allen Autoren anerkannt.
Artentstehung und genetische Diversität
Aufgrund der leichten Bildung von Hybriden und der genetischen Variabilität wird angenommen, dass alle im Mittelmeerraum heimischen Tannenarten eine zusammengehörende, taxonomische Einheit bilden und sich damit klar von den asiatischen und amerikanischen Tannen unterscheiden. Untersuchungen der Terpene und der Isoenzyme der Tannen des östlichen Mittelmeerraumes zeigten, dass sie vermutlich von einer einzigen, im Pliozän aufgetretenen Tannenart abstammen. Aus dieser entstanden nach dem Pliozän aufgrund der Trennung durch den Ägäischen Graben und der damit einhergehenden Isolation drei unterschiedliche Arten: eine griechische, eine pontische und eine europäische. Aus diesen drei Arten entstanden durch weitere Isolation während der Eiszeit und den damit einhergehenden spärlichen genetischen Austausch zwischen den einzelnen Populationen die heutigen Arten. Durch die Erwärmung im Holozän und die lang andauernde Einwirkung des Menschen wurde die Griechische Tanne in ihr heutiges Verbreitungsgebiet, das aus voneinander isolierten Gebirgsstandorten besteht, verdrängt.
Analysen der Isoenzyme zeigten, dass die Griechische Tanne mit 80 bis 90 Prozent eine hohe genetische Diversität aufweist. Dieser Wert ist innerhalb einzelner Populationen höher als zwischen ihnen. In einigen Beständen gibt es einen geringen Grad an Heterozygotie, der wahrscheinlich auf Inzucht durch wiederholte Geschwisterkreuzungen zurückzuführen ist.
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 24.
Hybride
Die Griechische Tanne bildet mit den anderen europäischen Tannenarten leicht Hybride aus. Nördlich des Isthmus von Korinth kommt es zur natürlichen, introgressiven Hybridenbildung mit der Weiß-Tanne (Abies alba). Bestände sind oft heterogen und mosaikartig aus Bäumen mit intermediären Merkmalen zusammengesetzt. Bei genauer Betrachtung morphologischer und chemischer Merkmale wie der Terpene, lassen sich Gradienten ausmachen, die Nordgriechenland und die Gebirge Bulgariens umfassen. Genetische Analysen zeigen aber auch Introgression von Abies alba-Genen in Individuen, die morphologisch reinen Abies cephalonica nahekommen. Dieser nicht stabilisierte Hybridschwarm wird of als Bulgarische Tanne (Abies borisii-regis) bezeichnet, deren Hybridnatur, schon bei der Erstbeschreibung vermutet, inzwischen jedoch klar nachgewiesen ist.
Erfolgreiche Kreuzungsversuche fanden mit der Weiß-Tanne (Abies alba), der Kilikischen Tanne (Abies cilicica), der Nordmann-Tanne (Abies nordmanniana), der Numidischen Tanne (Abies numidica) sowie mit der Spanischen Tanne (Abies pinsapo) statt. Die Kreuzungen mit der Weiß-Tanne und der Nordmann-Tanne sind in der Jugend heterotisch und die Bastardwüchsigkeit lässt sich bis in ein Alter von 25 Jahren nachweisen. Einer natürlichen Kreuzung mit der Nordmann-Tanne entstammt vermutlich auch die in der Türkei beheimatete Troja-Tanne (Abies nordmanniana subsp. equi-trojani). Kreuzungsversuche mit amerikanischen und asiatischen Tannenarten schlugen fehl.
Nutzung
Das relativ weiche, fast weiße Holz der Griechischen Tanne findet als Bau-, Konstruktions- und Brennholz Verwendung. Es wird auch für Tischlerarbeiten und zur Herstellung von Masten genutzt. Die Holzqualität gleicht jener der Weiß-Tanne (Abies alba), kann aber auch etwas darüber liegen (→ Hauptartikel: Tannenholz).
Die Art wird auch als Zierbaum gepflanzt, und junge Bäume werden als Christbäume verkauft.
In der Forstwirtschaft werden die Bestände der Griechischen Tanne am häufigsten mittels Schirmschlag verjüngt. In Kulturbeständen ist auch die Vermehrung mittels Stecklingen und die Heranzucht in Containern möglich. Der Spitzenwert des jährlichen Höhenwachstums lag dabei zwischen 60 und 80 Zentimetern. Der jährliche Holzzuwachs liegt bei etwa 7 Kubikmetern pro Hektar Waldfläche. Bei Versuchsanbauten in Frankreich zeigte sich, dass das jährliche Höhenwachstum höchstens zwei Monate lang anhält und in die Zeit mit dem maximalen Gehalt an Bodenwasser fällt. Die Umtriebszeit beträgt 110 bis 150 Jahre.
Aus den Nadeln, den Zweigen, der Rinde sowie dem Balsam können ätherische Öle gewonnen werden. Das Nadelöl, auch als Abietis cephalonicae aetheroleum bekannt, wird mittels Wasserdampfdestillation gewonnen und besteht zu 85 Prozent aus Monoterpen-Kohlenwasserstoffen, von denen α-Pinen rund 20 Prozent und β-Pinen etwa 35 Prozent ausmachen. Den restlichen Teil der 85 Prozent machen Camphen mit rund 9 Prozent und Limonen mit circa 12 Prozent aus. Weiters findet man auch α-Terpineol, Bornylacetat und verschiedene Sesquiterpene im Nadelöl. Es hat eine schleimlösende und schwach antiseptische Wirkung. Es kann sowohl äußerlich durch Einreiben als auch innerlich durch Einnahme in Tropfenform oder durch Inhalieren gegen Schleimhautentzündungen der Atemwege eingesetzt werden. Eine äußerliche Anwendung ist weiters zur Behandlung von neuralgischen Schmerzen, Rheuma sowie Verspannungen möglich. Das Öl der Zweige enthält α-Pinen, Camphen, Borneol und Isoborneol. Im aus der Rinde gewonnenen Öl findet man α- und β-Pinen sowie Limonen. Das Balsamöl ähnelt dem Pinus-Terpentinöl und enthält neben α- und β-Pinen sowie Limonen auch Phellandren und 3-Caren.
Die abgekochten Blätter fanden in der Volksmedizin Verwendung als Blutreinigungsmittel. Das Harz der Rinde und der Zapfen wurde als Abführmittel in Pillenform eingenommen. Weiters wurde es als Salbe verarbeitet zur Behandlung von Hautverletzungen, Verstauchungen und Blutergüssen sowie bei Magenbeschwerden und Atemwegserkrankungen sowohl bei Menschen als auch bei Tieren genutzt. Eindeutige Belege über die Wirkung fehlen jedoch.
Gefährdung und Schutz
Die Griechische Tanne wird in der Roten Liste der IUCN seit 2011 als „nicht gefährdet“ geführt. Zuvor wurde sie als „gering gefährdet“ eingestuft. Diese Bewertung wurde aber aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der Häufigkeit der Art geändert. Der Gesamtbestand wird als stabil angesehen, obwohl es vor allem im Sommer häufig zu Waldbränden kommen kann. Neben den Waldbränden werden die Bestände auch durch Überweidung, den Tourismus sowie durch Luftverschmutzung gefährdet. Es liegen jedoch auch Berichte vor, wonach die Bestände seit fünf Jahrzehnten rückläufig sind. Vor allem nach sehr trockenen Jahren kommt es zu Bestandsrückgängen.
Auf der Insel Kefalonia sowie in den im zentralen Griechenland gelegenen Iti-Bergen gibt es Reservate, in denen die Griechische Tanne geschützt wird. Des Weiteren wurde sie in einigen griechischen Nationalparks unter Schutz gestellt.
Literatur
Weblinks
Abies Cephalonica auf europeana.eu
Einzelnachweise
Tannen
Baum
Kefalonia |
1648322 | https://de.wikipedia.org/wiki/Essex-Klasse%20%281942%29 | Essex-Klasse (1942) | Die Essex-Klasse ist eine Klasse von Flottenflugzeugträgern, die von 1943 bis 1991 von der United States Navy eingesetzt wurden. Zusammen mit den Schiffen der Ticonderoga-Unterklasse, deren Schiffsrümpfe um einige Meter länger sind, wurden 17 Flugzeugträger bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fertiggestellt, sieben weitere folgten bis 1950, zwei Träger wurden halbfertig verschrottet. Die Flugzeugträger der Essex-Klasse spielten ab 1943 eine wichtige Rolle auf dem pazifischen Kriegsschauplatz, im Koreakrieg und im Vietnamkrieg. Die meisten Schiffe der Klasse wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren ausgemustert, das letzte Schiff, die USS Lexington, die als Schulträger der Marine gedient hatte, wurde im November 1991 – nach 48 Einsatzjahren – außer Dienst gestellt. Vier Träger sind heute als Museumsschiffe erhalten.
Geschichte
Entwicklung
Mit dem Fortfall der Tonnagebegrenzungen des Washingtoner Flottenabkommens von 1922 im Jahr 1938 begann die US-Marine mit Planungen, ihre Flugzeugträgerflotte zu vergrößern. Im Naval Expansion Act von 1938, auch als zweiter Vinson-Trammell-Act bezeichnet, wurde am 17. Mai der Bau von neuen Trägern mit insgesamt 40.000 Tonnen Tonnage beschlossen und genehmigt. Der erste der neuen Flugzeugträger, die USS Hornet, wurde im März 1939 bestellt und im September des Jahres auf Kiel gelegt. Da die Marine dringend neue Flugzeugträger benötigte, eine Neukonstruktion aber zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte, wurde die Hornet weitestgehend nach den vorhandenen Plänen der Yorktown-Klasse von 1934 gebaut.
Zeitgleich mit dem Bau der Hornet wurde Anfang 1939 mit der Ausarbeitung der Konstruktionspläne für die neuen Träger begonnen. Der Entwurf des neuen Flugzeugträgers war vor allem für den Einsatz im Pazifik ausgelegt. Mit ihm sollten die kurzen, aber lehrreichen Erfahrungen aus dem Betrieb der älteren Trägerklassen umgesetzt werden. Zudem sollte die Luftgruppe gegenüber den älteren Trägern um ein Geschwader Jagdflugzeuge vergrößert werden, was ein größeres Flug- und Hangardeck erforderte. Außerdem sollten die Träger in der Lage sein, Ersatzteile und Reserven für ein Viertel der Luftgruppe mitzuführen, da in den Weiten des Pazifiks eine Ersatzteilversorgung schwierig war.
Zwischen Juli 1939 und Januar 1940 wurden die sechs eingereichten Entwurfsstudien geprüft und ausgewertet. Die Marine entschloss sich schließlich zur Umsetzung des letzten Entwurfs, CV-9F. Als Anfang 1940 deutlich wurde, dass die Marine mehr Flugzeugträger benötigte, wurden im Mai 1940 drei Schiffe des neuen Typs (CV-9 bis CV-11) genehmigt, nach dem Fall Frankreichs im Sommer 1940 im „Two-Ocean Navy Act“ weitere acht Träger (CV-12 bis CV-19). Am 13. Dezember 1941, sechs Tage nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, wurden die Träger CV-20 und CV-21 autorisiert, CV-31 bis CV-40 im August 1942 und CV-45 bis CV-47 im Juni 1943, als die ersten Schiffe der Klasse gerade zum Einsatz kamen. 1945 wurde der Bau weiterer sechs Schiffe (CV-50 bis CV-55) vorgeschlagen, dieser Vorschlag wurde jedoch von Präsident Franklin D. Roosevelt abgelehnt.
Bau
Die Bauaufträge für die 26 genehmigten Flugzeugträger dieser Klasse ergingen an fünf Werften, allesamt an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Zehn Träger wurden bei Newport News Shipbuilding in Newport News, Virginia gebaut, fünf Schiffe wurden durch Bethlehem Steel im Fore River Shipyard in Quincy, Massachusetts auf Kiel gelegt. Ebenfalls wurden fünf Träger im New York Navy Yard in Brooklyn, jeweils drei im Norfolk Navy Yard in Portsmouth und im Philadelphia Navy Yard gebaut.
Die USS Essex, das Typschiff der Klasse, wurde am 28. April 1941 bei Newport News auf Kiel gelegt, die Fertigstellung erfolgte am 31. Dezember 1942, 15 Monate vor dem ursprünglich geplanten Termin. Während des Krieges betrug die Bauzeit eines Trägers der Essex-Klasse zwischen 13 und 20 Monaten, dies wurde unter anderem durch Dreischichtarbeit auf den Werften erreicht. 17 Flugzeugträger wurden noch vor der Kapitulation Japans fertiggestellt, 14 Schiffe kamen im Pazifik zum Einsatz. Sieben weitere Träger wurden nach dem Kriegsende noch zu Ende gebaut, als letztes Schiff wurde die USS Oriskany 1950 bei der US-Marine in Dienst gestellt. Die Arbeiten an zwei weiteren Trägern – der Reprisal und der Iwo Jima – deren Bau bereits begonnen worden war, wurden 1945 noch vor dem Kriegsende eingestellt und die teilweise vollendeten Rümpfe in der Folgezeit abgewrackt.
Die US-Regierung hat die genauen Baukosten für die Träger der Klasse nie veröffentlicht, inoffiziell wird von einem Stückpreis zwischen 68 und 76 Millionen US-Dollar ausgegangen. Mit etwa 1,7 bis 2 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten war die Essex-Klasse damit ungefähr genauso teuer wie das Manhattan-Projekt.
Konstruktionsänderungen
Schon während des Krieges wurden aufgrund erster Einsatzerfahrungen Änderungen am ursprünglichen Entwurf vorgenommen. Die markanteste Änderung war die Neugestaltung der Bugpartie, um auf dem Bugsteven mehr Platz für Flugabwehrkanonen zu erhalten. Die 13 Schiffe, die den neuen Bug erhielten und damit auch einige Meter länger wurden, wurden nach dem ersten modifizierten Schiff Ticonderoga als Ticonderoga-Klasse benannt.
Umbauten
Die USS Antietam erhielt 1952 ohne weitere Umbauten zu Erprobungszwecken ein Schräglandedeck und wurde bis 1963 als Schulträger eingesetzt. Sie war der erste amerikanische Flugzeugträger mit abgewinkeltem Landedeck.
Die Boxer, die Princeton und die Valley Forge wurden gegen 1960 zu Hubschrauberträgern umgebaut und nun als LPH-4, -5 und -8 klassifiziert. Die Hälfte der Antriebsanlage wurde stillgelegt und Platz für 330 Soldaten des Marine Corps geschaffen.
SCB-27
Der SCB-27A-Umbau, der zwischen 1948 und 1953 stattfand, beinhaltete den Einbau stärkerer hydraulischer Katapulte vom Typ H-8, den umfassenden Umbau der Insel, die Installation von Bereitschaftsräumen für die Flugzeugbesatzungen unter dem Flugdeck und den Bau einer Fahrtreppe von diesen Räumen zum Flugdeck sowie die generelle Umrüstung zum Einsatz von Strahlflugzeugen. Die vier 127-mm-Doppeltürme wurden entfernt und an ihrer Stelle vier 127-mm-Einzelgeschütze an Steuerbord unterhalb des Flugdecks angebracht, entsprechend der Anordnung an Backbord. Die 40-mm-Flak wurde durch 14 76-mm-Zwillingsgeschütze ersetzt. Hierbei wurde bei den „short hull“-Schiffen der Bug verlängert, um dort zwei 76-mm-Doppellafetten unterbringen zu können. Die im Zweiten Weltkrieg in großer Anzahl angebrachten 20-mm-Flak wurden nicht mehr installiert, da sie gegen moderne Flugzeugtypen keine ausreichende Wirkung zeigten.
Nach SCB-27A umgebaute Schiffe waren USS Essex, Yorktown, Hornet, Randolph, Wasp, Bennington, Kearsarge und die Lake Champlain. Die Oriskany wurde 1950 nach dem SCB-27A-Standard fertiggestellt.
Da sich die hydraulischen Katapulte als zu schwach herausgestellt hatten, wurden während des SCB-27C-Programms zwischen 1951 und 1954 neben allen SCB-27A-Maßnahmen Dampfkatapulte des Typs C-11 eingebaut. Ferner wurde der hintere Mittelaufzug durch einen Deckskantenaufzug an Steuerbord ersetzt. So umgebaut wurden die Intrepid, die Ticonderoga und die Hancock. Bei diesen drei Trägern befand sich der Steuerbord-Aufzug weiter achtern als bei den später nach SCB-125 umgebauten Trägern.
SCB-125
Das SCB-125-Programm, das zwischen 1954 und 1957 ablief, beinhaltete im Wesentlichen die Installation eines Schräglandedecks und eines geschlossenen Bugs sowie nochmals verbesserter Anlagen für die moderneren (und vor allem schwereren) Flugzeuge. Bis auf die Lake Champlain wurden alle SCB-27A-Schiffe umgebaut und erhielten auch den zweiten Deckskantenaufzug, jedoch keine Dampfkatapulte. Bei den SCB-27C-Schiffen wurde ferner der vordere Aufzug vergrößert. Die Lexington, Bon Homme Richard und Shangri-La erhielten SCB-27C und SCB-125 in einem Umbau. Bei allen Trägern wurde die Bewaffnung bis in die 1960er-Jahre auf zwei bis vier 127-mm-Geschütze reduziert. Damit einher ging auch der Ausbau des achteren Feuerleitradars auf der Insel.
Die Oriskany erhielt beim SCB-125A-Umbau bis 1959 Dampfkatapulte des Typs C-11 und alle SCB-125-Umbauten.
SCB-144 (FRAM II)
1962 bis 1965 erhielten die zur U-Boot-Jagd eingesetzten Träger (CVS) Essex, Yorktown, Intrepid, Hornet, Randolph, Wasp, Bennington und Kearsarge im Rahmen des „Fleet Rehabilitation and Modernization Program“ (FRAM) das Bugsonar, eine Stevenklüse mit Buganker und eine modifizierte Operationszentrale.
Einheiten
Zahlreiche Schiffe wurden während des Baus umbenannt – zumeist, um den Namen versenkter Flugzeugträger weiterzuführen (Yorktown, Hornet, Lexington, Wasp, Princeton) oder um die Namen von Orten bedeutender Schlachten des Pazifikkrieges zu führen (Leyte, Iwo Jima, Philippine Sea).
Die mit * gekennzeichneten Schiffe gehören zur Ticonderoga-Unterklasse.
Einsatzprofil
Zu Beginn des Pazifikkriegs ließ die US-Marine ihre Flugzeugträger allein oder zu zweit operieren; im Falle eines Angriffs sollten sich die Schiffe trennen und so die Angreifer ebenfalls zur Zersplitterung der Kräfte zwingen. Erste Erfahrungen zeigten aber die Verwundbarkeit einzeln operierender Träger, so dass die US-Marine ab 1942 dazu überging, ihre Flugzeugträger in größeren Verbänden operieren zu lassen. Diese „Carrier Task Forces“ bestanden aus vier bis fünf Flugzeugträgern (darunter auch Leichte Flugzeugträger der Independence-Klasse), die von Schlachtschiffen, Kreuzern, besonders Luftabwehrkreuzern, und Zerstörern begleitet wurden. Die Begleitschiffe bildeten einen Schirm mit etwa 6,4 Kilometern (4 Meilen) Durchmesser um den Träger, der so vor Luftangriffen geschützt werden sollte. Operierten mehrere Trägergruppen zusammen, betrug der Abstand zwischen den einzelnen Flugzeugträgern etwa 20 Kilometer. Dieser Abstand begünstigte die Radarüberwachung des Luftraums und sicherte den Verbänden gegenseitigen Feuerschutz durch die schweren Luftabwehrgeschütze der Begleitschiffe.
In der Zeit des Kalten Kriegs operierten die Flugzeugträger dann jeweils entsprechend ihrem Einsatzzweck als U-Jagdträger (CVS) oder Angriffsträger (CVA) einzeln mit einer Begleiteskorte aus mit Lenkwaffen und U-Jagdwaffen ausgestatteten Kreuzern und Zerstörern.
Dienstzeit
Die ersten Schiffe der Essex-Klasse kamen im Winter/Frühjahr 1943 zum Einsatz, 1943 und 1944 wurden jeweils sieben Flugzeugträger in Dienst gestellt, 1945 folgten fünf und 1946 noch einmal vier. Nachzügler war die Oriskany, die erst 1950 ihren Dienst antrat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben nur die Boxer, Leyte, Kearsarge, Tarawa, Valley Forge und Philippine Sea im aktiven Dienst, die übrigen Flugzeugträger wurden 1947 der Reserveflotte überstellt und dort für eine spätere Nutzung konserviert. Mit dem Beginn des Koreakriegs stieg jedoch der Bedarf an Flugzeugträgern wieder, so dass etliche Schiffe wieder aus der Reserve geholt und aktiv eingesetzt wurden. Diese zweite Dienstzeit dauerte bis Ende der 1960er respektive Anfang der 1970er Jahre. Lediglich die Lexington blieb bis 1991 als Schulflugzeugträger im Einsatz, bis sie von der Forrestal abgelöst wurde.
Unfälle und Beschädigungen
Kein Träger der Essex-Klasse ging verloren, weder durch Feindeinwirkung noch durch Unglücke. Allerdings gab es, besonders im Zweiten Weltkrieg, zum Teil erhebliche Beschädigungen, die teils lange Werftaufenthalte zur Behebung benötigten. Am schwersten getroffen wurde die Franklin: Bei einem Bombenangriff am 19. März 1945 kam es zu schweren Explosionen an Bord; mehr als 700 amerikanische Seeleute starben. Bereits drei Monate zuvor war die Franklin von einem japanischen Tokkōtai-Flieger getroffen worden, die Schäden hatten sich aber in Grenzen gehalten. Ebenfalls durch zwei Tokkōtai-Flieger schwer beschädigt wurde die Bunker Hill am 11. Mai 1945; 372 Besatzungsmitglieder des Trägers starben. Sechs weitere Flugzeugträger wurden während des Pazifikkriegs von Kamikaze-Fliegern getroffen, die Intrepid sogar zweimal im Abstand von fünf Monaten. Sie erlitt zudem am 17. Februar 1944 einen Torpedotreffer, ebenso die Yorktown am 4. Dezember 1944.
Schwere Unfälle verzeichneten zudem die Hancock, die am 21. Januar 1956 durch die Explosion eines bei der Landung verunglückten Flugzeuges schwer beschädigt wurde, sowie die Oriskany, bei der am 26. Oktober 1966 vor der Küste Vietnams im Hangar ein schweres Feuer ausbrach. Die Hornet und die Bennington wurden am 5. Juni 1945 in einem Taifun schwer beschädigt; große Brecher zerstörten die Vorderkante der Flugdecks der Flugzeugträger. Diese Schäden führten später zur Einführung des geschlossenen „hurricane bow“, den die Schiffe während des SCB-125-Umbaus erhielten.
Außerdem kam es häufiger zu Feuern in den Maschinenanlagen, Lande- und Startunfällen sowie Grundberührungen, die aber zumeist ohne größere Schäden überstanden wurden.
Verbleib
Bis auf vier Träger wurden alle Schiffe der Essex-Klasse zwischen 1970 und 1993 verschrottet, die Oriskany wurde 2006 vor der Küste Floridas als künstliches Riff versenkt. Die erhaltenen Schiffe können in den Vereinigten Staaten als Museumsschiffe besichtigt werden:
Yorktown in Charleston, South Carolina
Intrepid im Intrepid Sea-Air-Space Museum in New York City
Hornet in Alameda, Kalifornien
Lexington in Corpus Christi, Texas
Technik
Rumpf
Außenrumpf
Die Essex-Klasse lässt sich in zwei Unterklassen unterteilen, die sich in der Länge des Rumpfs unterscheiden. Die „short hull“-Schiffe der ursprünglichen Konstruktion waren mit 265,6 Metern Länge über alles knapp 5 Meter kürzer als die Schiffe der „long hull“- oder Ticonderoga-Klasse mit 270,6 Metern Länge. Die unterschiedliche Länge wurde durch die Veränderung der Bugform der Schiffe bewirkt, die „long hull“-Schiffe erhielten einen weit ausladenden Klipperbug, auf dem zusätzliche Flugabwehrgeschütze untergebracht werden konnten. Die geänderte Bugform wirkte sich aber negativ auf die Seegängigkeit der Schiffe aus, bei hohem Wellengang kam es zu schweren Schlägen gegen den Bug. Nach den SCB-125-Umbauten waren alle Schiffe dann 272,6 Meter lang. Die Schiffe beider Gruppen waren in der Konstruktionswasserlinie mit 250,1 Metern gleich lang.
Die Breite in der Wasserlinie betrug bei Indienststellung 28,4 Meter, bei den SCB-Umbauten wurde zur Erhöhung der Stabilität der Rumpf durch Wülste auf 30,4 Meter verbreitert. Mit einer maximalen Breite von 45 Metern auf Höhe des Flugdecks waren die Träger bei Indienststellung knapp zehn Meter breiter als die Schiffe der Vorgängerklassen. Trotz der großen Breite des Flugdecks war der Rumpf der Schiffe so konstruiert, dass die Flugzeugträger noch den Panamax-Spezifikationen entsprachen und die Schleusen des Panamakanals durchqueren konnten. Nach den Umbauten in den 1950er-Jahren stieg die maximale Breite durch das neue, abgewinkelten Flugdeck auf 58,5 Meter an.
Die Konstruktionsverdrängung lag 1944 bei 27.100 ts, die Einsatzverdrängung bei etwa 33.000 ts. Der Tiefgang lag zwischen 7,0 und 8,7 Metern. Nach den Umbauten erhöhte sich die Leerverdrängung auf 33.000 ts, die Einsatzverdrängung auf 40.000 bis 45.000 ts. Der Tiefgang stieg auf 9,4 Meter.
Panzerung
Die obere Hauptpanzerung der Flugzeugträger befand sich auf Höhe des Hangardecks, mit 64 mm Stärke war es ausgelegt, einer aus 3000 Metern Höhe abgeworfenen 1000-lb-(454-kg)-Bombe standzuhalten. Das Flugdeck selbst war ungepanzert. Die Rumpfpanzerung mit einer maximalen Stärke von 102 mm sollte Geschosse aus 152-mm-Geschützen widerstehen, was im Falle eines Angriffs von Kreuzern als ausreichend galt. Die Gürtelpanzerung erstreckte sich über 154,8 Meter der mittleren Schiffslänge und schützte die Antriebsanlagen, die Magazine sowie die Treibstofftanks. Die Seitenpanzerung der übrigen Abteilungen war 64 mm stark. Besonderes Augenmerk wurde auf die Panzerung der Ruderanlage gelegt, die durch 114 mm Seiten-, 64 mm Decks- und 102 mm Heckpanzerung geschützt war. Zusätzlich zu den Oberdeckpanzerungen war die Antriebsabteilung noch einmal mit einer eigenen 38 mm starken Panzerung geschützt.
Gegen Torpedoangriffe wurden die Flugzeugträger durch ein System flüssigkeitsgefüllter Hohlräume an den Bordwänden geschützt, die im Fall eines Treffers die Explosionsenergie sowie Splitter absorbieren sollten. Dieser Torpedoschützgürtel erstreckte sich über dieselben Bereiche wie der Panzergürtel und sollte einer Sprengkraft von 500 lb (227 kg) TNT widerstehen.
Flugdeck und Hangar
Das Flugdeck eines Trägers der Essex-Klasse lag bei Indienststellung 17,4 Meter über der Wasserlinie und war 262,7 Meter lang und 32,9 Meter breit, die Decksfläche betrug über 8500 Quadratmeter. Nach den positiven Erfahrungen, die an Bord der USS Wasp mit dem hochklappbaren Deckskantenaufzug auf der Backbordseite gemacht worden waren, wurde dieses Konzept auch für die Essex-Klasse übernommen. Zusammen mit den beiden Aufzügen, die sich auf dem Flugdeck vor und hinter der Insel befanden, verband er das Deck mit dem darunter liegenden Hangardeck. Die beiden Aufzüge auf dem Flugdeck hatten eine Tragkraft von 12.700 kg, der Deckskantenaufzug von 8165 kg. Die Aufzüge konnten alle 45 Sekunden Flugzeuge aus dem Hangar nach oben auf das Flugdeck befördern.
Für den Start der Trägerflugzeuge gab es einen, später zwei hydraulische Flugzeugkatapulte vom Typ H4B mit einer Kapazität von 8165 kg. Die ersten sechs Schiffe hatten zusätzlich zwei Katapulte auf dem Hangardeck, mit dem Flugzeuge quer zur Fahrtrichtung beschleunigt werden konnten. Diese wurden jedoch für unpraktisch befunden und später entfernt. Zudem gab es eine Fangseilanlage mit maximal 16 Stahlseilen achtern sowie eine zweite Fangseilanlage mit sechs bis acht Seilen am Bug, um Flugzeuge auch rückwärts laufend wieder aufnehmen zu können. Diese Praxis, ursprünglich eingeführt für den Fall der Zerstörung der achteren Fangseile, wurde jedoch während des Kriegs ebenfalls als zu unpraktisch aufgegeben, die Fangseilanlagen 1944 entfernt.
Mit dem SCB-125-Umbau wurde das Flugdeck auf 58 Meter verbreitert und ein abgewinkeltes Landedeck eingeführt, das gleichzeitige Starts und Landungen ermöglichte. Der achtere Decksaufzug wurde an die Steuerbordkante des Flugdecks verlegt, dieser Aufzug konnte fast aufrecht geklappt werden, während der Aufzug mittschiffs, der nun quasi in das Flugdeck integriert war, keinen Faltmechanismus mehr aufwies. Das Konzept des Schräglandedecks war zuvor durch einen entsprechenden provisorischen Umbau auf der Antietam erprobt worden. Die Träger der Essex-Klasse erhielten ab 1948 zunächst H8-Katapulte mit 20 Tonnen Kapazität, ab 1951 wurden dann C11-Dampfkatapulte an Bord eingebaut.
Das Hangardeck der Essex-Klasse war 199,3 Meter lang und 21,3 Meter breit, die lichte Höhe des Decks betrug 5,5 Meter. Der Hangar, der sich über die mittleren zwei Drittel der Schiffslänge erstreckte, wurde durch Feuerschutzvorhänge in drei Abteilungen unterteilt, diese Vorhänge wurden später durch Stahlrolltore ersetzt. Das Hangardeck hatte sehr viele Öffnungen nach außen, die mittels Rolltoren verschlossen werden konnten. Diese Öffnungen sorgten für eine gute Belüftung, die nötig war, um die Flugzeugmotoren unter Deck warmlaufen lassen zu können. Diese Praxis erhöhte die Einsatzbereitschaft der Flugzeuge und verringerte die Vorbereitungszeiten für Flugoperationen. Umlaufend unter der Decke des Hangardecks befand sich eine Galerie, auf der sich die Ruhe- und Bereitschaftsräume der Piloten befanden. Dies erhöhte zwar ebenfalls die Einsatzbereitschaft der Luftgruppe, im Fall eines Angriffs führte es jedoch aufgrund der fehlenden Flugdeckpanzerung zu hohen Verlusten unter den Flugzeugbesatzungen.
Für die Bordflugzeuge wurden an Bord zwischen 851.717 und 878.215 Liter („short hull“) beziehungsweise 878.216 und 916.069 Liter („long hull“) Flugbenzin mitgeführt. Die Tanks, die sich im Achterschiff befanden, konnten im Notfall mit Seewasser geflutet werden. In zwei Magazinen wurden insgesamt 625,5 Tonnen Munition für die Flugzeuge gelagert.
Antrieb
Die Antriebsanlage der Flugzeugträger bestand aus Dampfturbinen und befand sich mittschiffs, unterteilt in sechs unabhängige, gepanzerte Abteilungen. Die vier Getriebeturbinen von Westinghouse waren in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Turbinen, die die beiden inneren der vier Schrauben antrieben, befanden sich, getrennt durch zwei Kesselräume und drei Schotts, achtern der Turbinen für die äußeren Schrauben. Die acht ölgefeuerten Wasserrohrkessel von Babcock & Wilcox befanden sich jeweils in Zweiergruppen vor und hinter den Maschinenräumen in separaten „fire rooms“ (Kesselräumen). Der Dampf für die Turbinen wurde mit 39 bar Druck und 455 °C Dampftemperatur erzeugt und in die Turbinen geleitet, die eine Gesamtleistung von 152.000 PS haben sollten. Bei ersten Probefahrten wurde jedoch eine Gesamtleistung von 156.194 PS gemessen, was knapp 3 Prozent mehr Leistung als geplant bedeutete. Die Höchstgeschwindigkeit der Träger lag bei 32,93 Knoten (61 km/h) (geplant waren 33 Knoten). Die Antriebsanlage war außerdem dazu ausgelegt, mit einer maximalen Geschwindigkeit von 20 Knoten (37 km/h) rückwärts zu laufen, um über den Bug landende Flugzeuge aufzunehmen.
Der Treibstoffvorrat betrug 6.161 Tonnen („short hull“) beziehungsweise 6.331 Tonnen („long hull“) Schweröl, mit denen eine maximale Reichweite von 16.900 Seemeilen bei 15 Knoten möglich war. Bei Höchstgeschwindigkeit schrumpfte die Reichweite auf 4.100 Seemeilen.
Für den elektrischen Energiebedarf des Schiffes befanden sich zudem vier turbinengetriebene Generatoren mit je 1.250 kW Leistung an Bord, bei Ausfall der Kesselanlage konnten auch zwei dieselgetriebene 250-kW-Notstromgeneratoren die Versorgung übernehmen.
Bewaffnung
127-mm-Geschütze
Die Hauptbewaffnung gegen Luftangriffe bestand aus zwölf Geschützen im Kaliber 5 Zoll (127 mm), Kaliberlänge 38, von denen acht in vier Zwillingstürmen Mark 32, je zwei vor und hinter der Insel, untergebracht waren. Die übrigen vier 127-mm-Geschütze waren in offenen Einzellafetten unterhalb der Backbordflugdeckkante montiert, zwei auf Höhe des vorderen Decksaufzuges, die anderen beiden achtern. Die Doppeltürme wurden im Rahmen der SCB-27A-Umbauten zwischen 1948 und 1953 entfernt und durch vier weitere Einzellafetten unterhalb der Steuerborddeckskante ersetzt. In der Folgezeit wurde dann die Zahl der schweren Luftabwehrgeschütze reduziert, da sie für die Abwehr schneller, düsengetriebener Flugzeuge zu langsam waren. Die Luftabwehr wurde dann durch die lenkwaffenbestückten Begleitschiffe übernommen.
Die Granaten der Geschütze, deren Mündungsgeschwindigkeit bei 762 Metern pro Sekunde lag, hatten eine Gipfelhöhe von 11.887 Metern und konnten entweder radargesteuert (Variable Time Fuse, Annäherungszünder) oder zeitverzögert (Mechanical Time Fuse, Zeitzünder) gezündet werden. Die Kadenz der Geschütze lag zwischen 15 und 22 Schuss pro Minute, dieser Wert war stark vom Tempo der Bedienmannschaft abhängig. Auch gegen Land- und Seeziele hätten die Geschütze eingesetzt werden können.
Mittlere und leichte Flak
Die leichte Flugabwehr sollte nach ersten Planungen aus sechs Vierlingsgeschützen im Kaliber 28 mm (1,1 Zoll) bestehen, dieses Kaliber erwies sich jedoch als nicht durchschlagskräftig genug, daher wurden 40-mm-Bofors-Geschütze, Kaliberlänge 70 mit erhöhter Durchschlagskraft verwendet. Ursprünglich in acht Vierlingslafetten untergebracht (eine am Bug, eine am Heck, zwei backbordseitig neben den 127-mm-Geschützen, vier auf der Insel), wurde die Anzahl der 40-mm-Geschütze im Laufe des Krieges beträchtlich erhöht. So wurden auf den Auslegern der ehemaligen Hangarkatapulte zusätzliche Vierlingslafetten montiert, ebenso am Heck. Auf der Steuerbordseite wurden auf Höhe des Hangardecks zwei weitere Geschütze montiert; zuerst in zurückgesetzten Nischen, um die Passage des Panama-Kanals nicht zu behindern, später wurden dann demontierbare Schwalbennester angebracht, die den Feuerbereich der Geschütze verbesserten. Insgesamt wurde die Anzahl der Vierlingsgeschütze auf maximal 17 bei den „short hull“-Schiffen, die nicht mit einem zweiten Geschütz auf dem Bugsteven ausgestattet werden konnten, und 18 bei den „long hull“-Schiffen erhöht, wobei allerdings sowohl frühe Schiffe (Essex) und die zuletzt noch in den Kriegseinsatz gekommenen Einheiten eine geringere Ausstattung aufwiesen.
Die 900 Gramm schweren Granaten der 40-mm-Geschütze hatten eine Gipfelhöhe von 6797 Metern, die maximale Reichweite bei 45° Rohrüberhöhung betrug 10.180 Meter. Die Kadenz betrug etwa 120 Schuss pro Minute, abhängig vom Tempo der Bedienmannschaft, die Mündungsgeschwindigkeit lag bei 881 Metern pro Sekunde.
Zusätzlich waren die Träger mit 46 20-mm-Oerlikon-Maschinenkanonen in Einzellafetten ausgestattet, deren Zahl wurde bis 1943 auf 58 erhöht. Da diese Kanonen aufgrund des geringen Geschossgewichts von nur 120 Gramm aber nicht in der Lage waren, Kamikaze-Flugzeuge zu zerstören und somit aufzuhalten, wurden Zwillingslafetten eingeführt, die einige der Einzellafetten ersetzten. Versuchsweise wurden auf der Wasp und der Lexington ab 1945 12,7-mm-Vierfach-MG der Army erprobt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die 40-mm-Geschütze durch Zwillingsgeschütze im Kaliber 3 Zoll (76,2 mm) ersetzt, während der SCB-27-Umbauten wurden bis zu 14 Doppellafetten an Bord der Essex-Träger eingebaut. Die Anzahl der Geschütze wurde jedoch schon in den folgenden Jahren wieder reduziert, da die Geschütze zur Abwehr schneller Flugzeuge nicht mehr ausreichend waren.
Aufklärung und Feuerleitung
Radar-Ortungsgeräte
Bei den Radar-Ortungsgeräten gab es auf den Trägern der Essex-Klasse nie einen einheitlichen Stand, die Schiffe wurden bei den Werftliegezeiten mit den gerade aktuellen und besten Radaranlagen ausgestattet. Die wichtigsten hierbei waren:
SK/SK-2-Radar
Wegen seiner quadratischen Form (5,2 m × 5,2 m) und der offenliegenden Drähte als „bedspring“ (Bettfeder) bezeichnet, konnte die Radaranlage einen anfliegenden Bomber in 3000 Metern Höhe auf 185 Kilometer orten. Beim 1944 eingeführten Nachfolger SK-2 verbesserte eine 5,2 Meter messende, runde Antenne das seitliche Erfassungsfeld.
SC-2-Radar
Als Reservesystem für das SK-Radar vorgesehen, konnte das SC-2-Radar mit seiner 4,6 Meter mal 1,4 Meter messenden Antenne Flugzeuge in 3000 Metern Höhe auf 150 Kilometer orten, große Schiffe auf knapp 40 Kilometer. Das Radar blieb bis weit nach dem Kriegsende auf den Trägern im Einsatz.
SX-Radar
Ab 1945 auf den Flugzeugträgern eingeführt, verwendete das SX-Radar zwei Antennen, die Rücken an Rücken und um 90° gedreht am selben Mast montiert waren. Die etwas größere Antenne, die für die Luftortung zuständig war, pulsierte zehnmal pro Sekunde auf und ab, drehte sich aber zusammen mit der kleineren Oberflächenantenne viermal pro Minute um die Achse. Die Ortungsreichweite für Flugzeuge jeder Art lag bei 12.200 Metern Höhe und 150 Kilometern.
SPS-6-Radar
Ab 1948 im Rahmen der SCB-27-Umbauten eingeführt, erreichte das neue SPS-6-Radar mit seiner 5,5 m × 1,5 m großen Parabolantenne eine Aufklärungsreichweite von bis zu 260 Kilometern, abhängig von der Größe des Ziels.
SPS-8-Radar
Eingeführt ab 1952, die Ortungsreichweite betrug bis zu 305 Kilometer. Die elektrische Leistungsaufnahme betrug 650 kW.
SPS-30-Radar
Zuerst 1962 eingeführt, hatte dieses Radargerät eine Reichweite von 400 km bei einer Leistungsaufnahme von 2,5 MW. Erkennbar war SPS-30 vor allem an der 3,7 m × 4,6 m großen Parabolantenne. Meist wurde sie zusammen mit SPS-37/43 eingebaut.
SPS-37/43
Einführung ab 1960, die Ortungsreichweite lag zwischen 430 und 555 Kilometern, abhängig vom Antennentyp. Die Anlagen mit der größeren Ortungsreichweite wurden ab 1962 als SPS-43 bezeichnet.
Feuerleitung
Die 127-mm-Geschütze wurden durch zwei Feuerleitanlagen vom Typ Mark 37 gesteuert, die sich auf den Inselaufbauten befanden, je eines vor und hinter dem Schornstein. Die Anlagen konnten Flugzeuge im Horizontalflug bis zu einer Geschwindigkeit von 400 Knoten und im Sturzflug bis zu einer Geschwindigkeit von 250 Knoten verfolgen. Da immer nur ein Geschützturm von jedem Feuerleitgerät gesteuert werden konnte, gab es Pläne, auf der Backbordseite des Flugdecks eine weitere Mark-37-Feuerleitanlage zu installieren, diese wurden jedoch nicht umgesetzt. Die Feuerleitung der 40-mm-Flaks wurde durch Mark-51-Geräte übernommen, von denen sich anfangs acht, später bis zu zwölf Stück an Bord befanden, teils direkt an den Lafetten, was die Zielgenauigkeit erhöhte.
Mit der Einführung der 76-mm-Geschütze kamen auch neue Feuerleitgeräte vom Typ Mk 56 an Bord der Träger, die eine maximale Zielgeschwindigkeit von bis zu 630 Knoten erreichten und damit auch Düsenflugzeuge erfassen und verfolgen konnten.
Sonstige Elektronik
In den 1960er-Jahren wurden die modernisierten Träger mit Antennen für Tactical Air Navigation, elektronische Gegenmaßnahmen sowie einem Präzisionsanflugradar ausgerüstet. Die U-Jagdflugzeugträger erhielten zudem beim SCB-144-Umbau ein Bugsonar vom Typ SQS-23, das mit Frequenzen zwischen 4,5 und 5,5 Kilohertz arbeitete.
Luftgruppe
Das Bordgeschwader (Carrier Air Group/Carrier Air Wing) eines Flugzeugträgers der Essex-Klasse bestand aus etwa 80 bis 100 Flugzeugen. Zu Beginn der Einsatzzeit bestand der Carrier Air Wing aus Grumman F6F- und Chance Vought F4U-Jagdflugzeugen (ab 1944) und Curtiss SB2C-Sturzkampfbombern sowie Grumman TBM-Torpedobombern. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Luftgruppe dann aus Grumman-F8F-Jägern und SB2C-Sturzkampfbombern. Nach der Wiederindienststellung in den 1950er-Jahren wurden die ersten strahlgetriebenen Flugzeuge an Bord eingesetzt, so die Grumman F9F, die Grumman F11F und die McDonnell F3H. In der Angriffsrolle wurde die propellergetriebene Douglas A-1 eingesetzt. Ende der 1950er-Jahre kam die Douglas A-4 und die Douglas F4D an Bord, als Jäger wurde ab Anfang der 1960er-Jahre die Vought F-8 verwendet, diese wurde ab 1969 durch Vought A-7-Jagdbomber ergänzt.
Besatzung
Die ursprüngliche Besatzungsstärke betrug 268 Offiziere und 2363 Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade. Durch die Vergrößerung der Luftgruppe und die Verstärkung der Flugabwehrbewaffnung stieg die Zahl im Laufe des Zweiten Weltkriegs auf bis zu 3448 Mann an. Dies führte zu sehr beengten Wohnverhältnissen an Bord, aufgrund der tropischen Temperaturen im Einsatzgebiet Pazifik und der fehlenden Klimatisierung kam es zu hygienischen und medizinischen Problemen an Bord. Auch die Verpflegung bereitete teilweise Schwierigkeiten.
Nach den Umbaumaßnahmen sank die Besatzungsstärke auf etwa 2300, der Einbau von Klimaanlagen und die Verbesserung der Wassergewinnungsanlagen führten zu einer erheblichen Verbesserung des Lebensstandards an Bord der Träger.
Weiterführende Informationen
Literatur
Stefan Terzibaschitsch: Flugzeugträger der U.S. Navy. Bernard & Graefe Verlag, Bonn 2001, ISBN 3-7637-6200-0.
Mark Stille: US Navy Aircraft Carriers 1942–1945. WWII-built ships. Osprey Publishing, Oxford 2007, ISBN 978-1-84603-037-6.
Michael C. Smith: Essex Class Carriers in action. (Warships 10) Squadron/signal publications, Carrollton (Texas) 1997, ISBN 0-89747-373-6.
Andrew Faltum: The Essex Class Aircraft Carriers. Nautical & Aviation Publishing, Mount Pleasant (South Carolina) 1996, ISBN 1-877853-26-7.
Weblinks
Essex-Klasse bei globalsecurity.org (englisch)
Essex-Klasse bei hazegray.org (englisch)
Fußnoten
Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten)
Flugzeugträgerklasse |
1697589 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schulprogramm%20%28historisch%29 | Schulprogramm (historisch) | Ein Schulprogramm war im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine von einer höheren Schule jährlich herausgegebene gedruckte Veröffentlichung, die den Jahresbericht der Anstalt in der Regel mit einer wissenschaftlichen Abhandlung verband und durch Austausch unter den Schulen verbreitet wurde. Die Schulprogramme stellen in Deutschland, Österreich und im Baltikum eine einzigartige und herausragende Quelle für die Erforschung der Entwicklung des Schulwesens dar.
Entstehung
Die Schulprogramme gingen aus den Einladungen von Lehranstalten zu den alljährlichen Prüfungen und Vorträgen, den Vorläufern des Abiturs, hervor. Solche gedruckten Einladungsschriften sind bereits aus dem Ende des 16. Jahrhunderts bekannt, hervorgegangen aus den sogenannten Thesenblättern. Im 18. Jahrhundert wurde es darüber hinaus zunehmend üblich, dass ein Gymnasium Academicum auch zu einzelnen besonderen Lehrveranstaltungen Einladungen drucken ließ, da diese nicht selten öffentlich waren. Das Lehrprogramm des jeweiligen Schuljahres wurde in gedruckten Heften tabellarisch aufgeführt und mit Erläuterungen versehen. Oft wurden diese Veranstaltungskalender auch durch lateinisch abgefasste Abhandlungen ergänzt, in denen die Professoren sich mit den Gegenständen ihrer Lehre befassten und ihre wissenschaftliche Exzellenz zu zeigen trachteten. Diese Publikationen wurden zuweilen gesammelt und, in chronologischer Folge gebunden, zum Beispiel als Opuscula Professorum aufbewahrt.
1824 machte ein Erlass des Kultusministeriums vom 23. August, die Gymnasial-Prüfungsprogramme betreffend, für alle preußischen Gymnasien zur Pflicht, regelmäßig Rechenschaft über die geleistete Arbeit, die Inhalte der Lehre und die Prüfungen abzulegen in Form von Programmen, die einmal im Jahr veröffentlicht werden sollten. Kurz darauf folgten andere Länder diesem Beispiel, so Bayern (1825), Sachsen (1833), Baden (1836), und ein landesweiter Austausch wurde organisiert, dem sich schon 1831 die Freien Städte Frankfurt am Main und Lübeck, 1836 Sachsen und weitere Staaten anschlossen.
Die Programme dienten dem gegenseitigen Wissens- und Erfahrungsaustausch und der Fortbildung. Außerdem waren sie ein Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Daneben konnte die preußische Schulaufsicht durch sie eine gewisse Vereinheitlichung erreichen.
Nach dem preußischen Vorbild wurden im 19. Jahrhundert auch in Österreich Jahresberichte eingeführt. Dort hat man im Gegensatz zu Deutschland auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges an dieser Tradition festgehalten und weiterhin Jahresberichte herausgegeben.
Aufbau
In den folgenden Jahrzehnten erhielten die Schulprogramme einen einheitlichen Aufbau, der für Preußen folgendermaßen vorgegeben war:
Abhandlung über ein wissenschaftliches Thema vom Direktor oder einem Mitglied des Lehrkörpers (bis 1872 verpflichtend, dann fakultativ als Beilage)
Schulnachrichten
I. Lehrverfassung;
A. Lehrplan für das Schuljahr;
a. Allgemeiner Lehrplan;
b. Verteilung der Fächer auf die einzelnen Lehrer
c. Spezieller Lehrplan der Klassen
B. Übersicht über die erlassenen Verfügungen von allgemeinem Interesse
II. Chronik des verflossenen Schuljahres
III. Statistische Nachrichten
A. Curatorium und Lehrer-Kollegium der Anstalt
B. Frequenz der Anstalt / Namen der Abiturienten
C. Stand des Lehrapparates
D. Etat der Anstalt
IV. Stiftungen der Schule
V. Besondere Mitteilungen an die Eltern
Im Gegensatz zum heutigen so genannten Schulprogramm waren die Programme des 19. Jahrhunderts nicht Zielvorstellungen und Profilbeschreibungen für die zukünftige Entwicklung einer Schule, sondern Rechenschaftsberichte über das zurückliegende Schuljahr; allerdings ist auch auf diese Weise das jeweilige Schulprofil deutlich erkennbar. Am ehesten sind die Schulprogramme noch mit den Yearbooks amerikanischer Schulen und Colleges vergleichbar.
Seit 1899 hießen die Programme offiziell nur noch Jahresberichte, eine Namensänderung, die sich nur langsam durchsetzte, allerdings den Begriff Schulprogramm für diese Berichte bis heute nicht hat verdrängen können. Auch die weit älteren Vorlesungsanzeigen werden in der Literatur längst als Schulprogramme geführt.
Erfolg und Krise
Die Idee zur Vereinheitlichung und zum Austausch der Schulprogramme wirkte sich sowohl positiv als auch negativ aus.
Schon 1860 nahmen 350 Anstalten am Austausch teil; 1869 verfügten manche Schulen schon über 10.000 Exemplare. Obwohl 1872 die bis dahin geltende Pflicht zur Aufnahme einer Abhandlung in die Möglichkeit ihrer Beigabe umgewandelt wurde, waren die Behörden mit dem Austausch zunehmend überfordert. Daher wurde der Austausch 1876 dem Verlag Teubner in Leipzig übergeben, der ihn mit großem logistischen Einsatz bis 1916 weiterführen konnte. Um diese Zeit waren, so schätzt C. Struckmann, bei kontinuierlicher Sammeltätigkeit „an einer preußischen Schule maximal 50000 Programme vorhanden“.
Der ursprüngliche Ansatz, nämlich eine Plattform für Fortbildung und pädagogischen Austausch zu schaffen, ging in dieser gewaltigen Menge unter. Hinzu kamen Probleme bei der Archivierung und Katalogisierung. Während diese in einigen Schulen nach den Schulorten (Provenienzprinzip) erfolgte, geschah dies andernorts nach den Themen der Abhandlungen (Pertinenzprinzip), was die Geschlossenheit der Überlieferung zerstörte. Einige Schulen verzichteten ganz auf eine Katalogisierung, was das gesamte Material unzugänglich machte. In vielen Fällen wurde dieser Altbestand zunehmend als Belastung empfunden. Eine Verordnung von 1943 erklärte die Schulprogramme für „zweifellos meistens entbehrlich“ und ordnete die Überweisung in die Altmaterialsammlung an.
Was diese Aussonderung überlebte, landete in den 1960er Jahren nicht selten im Müll oder im antiquarischen Buchhandel. Die Sammlung der Schulprogrammschriften in der Justus-Liebig-Universität Gießen entstand durch den Ankauf von 12.000 Exemplaren zum Stückpreis von 0,66 DM aus dem Antiquariatshandel im Jahr 1969. Dieser Bestand wurde durch Schenkungen von Schulen, durch die im Laufe des Jahres 1970 weitere 35.000 Exemplare zusammenkamen, und den Ankauf von 34.000 Schulprogrammen, die in den Jahren 1974 bis 1978 zum Stückpreis von 0,40 DM aus Wien erworben wurden, noch beträchtlich vermehrt.
Bedeutung
Bedingt auch durch die zeitweise schlechte bibliografische Zugänglichkeit, setzte sich die Einsicht in den Quellenwert der Schulprogramme erst nach und nach durch. Im Vorwort zum Katalog der Sammlung in der Lübecker Stadtbibliothek heißt es dazu, Schulprogramme seien „eine der vornehmsten Quellengattungen für Forschungen auf den Gebieten Schulgeschichte, Geschichte der Pädagogik, historische Bildungssoziologie, Schulvolkskunde und Ideologiegeschichte“.
Die Abhandlungen geben einen reichen Einblick in die weitgestreuten wissenschaftlichen Interessen des Lehrpersonals. Sie machen deutlich, welchen hohen Anspruch vor allem die Gymnasien vertraten. Doch boten sie ebenso oft – vor allem, bevor es entsprechende Zeitschriften gab – eine Plattform z. B. für lokalhistorische und pädagogische Abhandlungen und spiegeln zeitgemäße Bewegungen in der Wissenschaftslandschaft wider, so etwa die Einführung moderner Fremdsprachen wie Französisch und Englisch oder den rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Einige Schulprogramm-Abhandlungen haben unterdessen sogar besondere wissenschaftliche Bedeutung erlangt, etwa wenn sie zwischenzeitlich nicht ersetzte Editionen entlegener, auch literarischer Texte enthalten. So edierte zum Beispiel Alfred Puls 1898 ein Niederdeutsches Gebetbuch aus dem 14. Jahrhundert im Rahmen der wissenschaftlichen Beilage, und Johann Claußen gab 1904 und 1906 in Schulprogrammen die Briefe des Philologen Johannes Caselius, geschrieben 1589, heraus. Christian Heinrich Postels und Jacob von Melles Beschreibung einer Reise … nach den Niederlanden und England im Jahre 1683 wurde erstmals 1891 in einem Lübecker Schulprogramm ediert.
Die eigentlichen Jahresberichte sind eine Fundgrube für sonst nur schwer erhebbare Daten und Fakten und stellen für einige Schulen, beispielsweise für die der deutschen Ostgebiete, nach Kriegszerstörung deren einzige Überlieferung dar, insbesondere durch die von den preußischen Instrukteuren in den Schulprogrammen geforderten chronistischen Anteile. Die Listen der Schüler und Lehrer sind oft wichtige Quellen aus denen sich z. B. der gemeinsame Schulbesuch bekannter Personen oder Lehrer-Schüler-Verhältnisse rekonstruieren lassen.
In einigen glücklichen Fällen, die indes im Wesentlichen westdeutsche Anstalten betreffen, konnten nach dem Ende der Rechenschaftspflicht die Chroniken der Schulen und die Berichte über das Geleistete in anderen Publikationen weitergeführt werden; manche Schulen geben auch heute noch offizielle Jahrbücher heraus, die etwa über besondere Aktivitäten der Schüler, Projekte, neue Unterrichtsfächer, pensionierte und neu eingestellte Lehrer usw. informieren. Der Inhalt ist hierbei aber recht unterschiedlich und hängt oftmals vom Interesse und besonderen Engagement einzelner Lehrer ab. Daneben gibt es mitunter auch halboffizielle Publikationen z. B. Veröffentlichungen von Ehemaligen-, Freundes- oder Fördervereinen der Gymnasien.
Überlieferung
Umfangreiche Bestände an Schulprogrammen finden sich neben den schon erwähnten Sammlungen in Gießen und Lübeck vor allem in der zentralen preußischen Sammlung der früheren Reichsstelle für Schulwesen in Berlin, seit 1997 in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, sowie in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) und (gesammelt seit 1836 bis 1918) im Hamburger Christianeum.
Die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf besitzt eine Sammlung von ca. 40.000 Schulprogrammen, die sie seit 2009 – unter anderem in der Zeitschriftendatenbank (ZDB) – erschlossen, digitalisiert und im Internet bereitgestellt hat. 2014 hat die ULB Düsseldorf damit begonnen, die Schulprogramm-Sammlung des Görres-Gymnasiums Düsseldorf analog zu den eigenen Beständen zu erschließen und zu digitalisieren. Damit soll eine digitale Sammlung entstehen, in der fast der gesamte Bestand an Schulprogrammen in Deutschland in einer tiefenerschlossenen Form zugänglich gemacht wird.
In den USA besitzt die Bibliothek der University of Pennsylvania einen größeren Bestand, basierend auf 16.555 deutschen und österreichischen Programmen des Zeitraums 1850 bis 1918, die aus dem Staatsgymnasium in Graz stammten und 1954 über ein Schweizer Antiquariat angeschafft wurden. 1961 erschien ein gedruckter Katalog, der alphabetisch nach Verfassern geordnet ist. Die etwa ein Drittel der Sammlung umfassenden geisteswissenschaftlichen Titel, die gegenüber den naturwissenschaftlichen Titeln als inhaltlich bedeutender angesehen wurden, sind zusätzlich über ein englischsprachiges Schlagwortregister erschlossen.
Bibliografien
Die ersten Bibliografien von Schulprogrammschriften erschienen in Schulprogrammen. Zu erwähnen sind die Zusammenstellungen von Wilhelm Vetter (Geordnetes Verzeichniß der Abhandlungen, welche in den Schulschriften sämmtlicher an dem Programmentausche Theil nehmenden Lehranstalten vom J. 1851 bis 1863 erschienen sind. 2 Teile, Programm des Gymnasiums Luckau, 1864 und 1865) und Joseph Terbeck (Geordnetes Verzeichniß der Abhandlungen, welche in den Schulschriften sämmtlicher an dem Programmentausche Theil nehmenden Lehranstalten vom Jahre 1864 bis 1868 erschienen sind. Programm des Gymnasium Dionysianum, Rheine 1868). Eine Fortsetzung bildet das von Franz Hübl 1874 in Wien veröffentlichte Systematisch-geordnete Verzeichnis derjenigen Abhandlungen, Reden und Gedichte, welche in den Mittelschulprogrammen Österreichs seit 1870–1873 und in jenen von Preußen und Bayern seit 1869–1872 enthalten sind.
Für den Zeitraum 1876 bis 1910 gibt es das von Rudolf Klussmann für den Verlag Teubner erarbeitete und in fünf Bänden erschienene Werk Systematisches Verzeichnis der Abhandlungen, welche in den Schulschriften sämtlicher an dem Programmtausche teilnehmenden Lehranstalten erschienen sind. Die Programme werden darin in 13 thematisch untergliederten Hauptgruppen sowie durch ein Orts- und Verfasserregister erschlossen.
Von 1890 bis 1931 erschien das von der Königlichen Bibliothek (später Staatsbibliothek) erstellte Jahresverzeichnis der an den deutschen Schulanstalten erschienenen Abhandlungen, geordnet nach Verfasseralphabet mit Sach- und Ortsregister.
Umfangreichste Bibliografie ist mit etwa 55.000 verzeichneten Titeln das von Franz Kössler auf der Basis der Gießener Bestände erstellte Verzeichnis der Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen der Jahre 1825–1918 (4 Bände 1987 nebst Ergänzungsband 1991, ISBN 3-598-10665-3). Es ist alphabetisch nach Verfassern geordnet und enthält ein Orts- und Schulverzeichnis.
Schulprogramme wurden auch in der pädagogischen Fachpresse besprochen. So enthält beispielsweise die Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1847–1912 (Liste der Digitalisate) unzählige Rezensionen preußischer Schulprogramme.
Literatur
Norman Ächtler (Hrsg.): Schulprogramme Höherer Lehranstalten. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wiederentdeckte bildungs- und kulturwissenschaftliche Quellengattung. Wehrhahn Verlag, Hannover 2020, ISBN 978-3-86525-820-5
Dietmar Haubfleisch, Christian Ritzi: Schulprogramme – zu ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die Historiographie des Erziehungs- und Bildungswesens. In: Irmgard Siebert (Hrsg.): Bibliothek und Forschung. Die Bedeutung von Sammlungen für die Wissenschaft (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderband 102). Klostermann, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-465-03685-2, S. 165–205 und S. 251 f.
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Felicitas Noeske: Die Schulprogramme. In: Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer. 61 (2006) Heft 2, Dezember 2006, S. 107ff. (online).
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Katrin Wieckhorst: Schulschriften und ihre Erschließung in Bibliotheken. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2013, ISBN 978-3-86829-568-9.
Weblinks
Schulprogrammschriften im Internet, umfassende kommentierte Linkliste der Universitätsbibliothek Gießen; siehe dazu auch den Artikel Schulprogramme der Universitätsbibliothek Gießen
Datenbank der Schulprogramme
Schulschriften-Sammlung, Bestandsnachweis der Forschungsbibliothek Gotha
Schulschriftenkatalog der Universitätsbibliothek Marburg
Lothar Kalok: Schulprogramme : Eine fast vergessene Literaturgattung, 2007, (Volltext)
Schulprogramme/Jahresberichte. Zur Geschichte einer wenig beachteten Publikationsform (PDF; 146 kB) bei: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung
Digitalisierte Schulprogramme/Jahresberichte bei Scripta Paedagogica Online
Digitalisierte Schulprogramme der ULB Düsseldorf
Digitalisierte Volltexte von ausgewählten Schulprogrammen der Universitätsbibliothek Gießen
Digitalisierte Jahresberichte österreichischer Schulen bei Austrian Literature Online
Digitalisierte Schulschriften aus rheinland-pfälzischen Bibliotheken in dilibri Rheinland-Pfalz
Schulprogramm der Warendorfer Lateinschule von 1594 (heute: Gymnasium Laurentianum)
Anmerkungen
Schulwesen (Österreich)
Publikation
Schulgeschichte (Deutschland)
Österreichische Bildungsgeschichte |
1850419 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzes%20Moor | Schwarzes Moor | Das Schwarze Moor liegt in der Bayerischen Rhön am Dreiländereck von Hessen, Thüringen und Bayern und gehört zum Biosphärenreservat Rhön. Das Feuchtgebiet ist mit 66,4 Hektar der größte Moorkomplex aus Niedermooren und einem weitgehend unberührten und intakten Regenmoor in der Rhön. Es ist Bestandteil des europaweiten Schutzgebietssystems Natura 2000 und eines der bedeutendsten Hochmoore in Mitteleuropa. Das Schwarze Moor liegt auf der Wasserscheide zwischen Rhein und Weser. 2007 wurde das Moor in die Liste der 100 schönsten Geotope Bayerns aufgenommen.
Das Schwarze Moor ist ein exzentrisches, kuppelförmig aufgewölbtes Regenmoor. Seine Oberflächengestalt entspricht den nordischen Kermimooren. Von der zum oberen Rand im Norden verschobenen zentralen Hochfläche mit einer Torfmächtigkeit von teilweise über acht Metern fällt die Oberfläche nach allen Seiten ab. Die zentrale Hochfläche bildet eine annähernd rechteckige Fläche, mit einer Länge von etwa 800 Metern in nordwest-südöstlicher Richtung und einer Breite von etwa 400 Metern. Auf den am stärksten geneigten Flächen treten höhenlinienparallel angeordnete Flarken, das sind langgestreckte, scharf begrenzte Schlenken, auf. Diese werden bis zu 50 Meter lang und sind zwischen einem und drei Metern tief.
Lage
Das Schwarze Moor liegt in der Gemarkung der unterfränkischen Gemeinde Hausen, sechs Kilometer von Fladungen entfernt an der Hochrhönstraße und an der von Seiferts kommenden Staatsstraße (ST 2287), einen Kilometer südöstlich der Grenze zu Thüringen und zwei Kilometer östlich der Grenze zu Hessen. Es liegt 770 bis 782 Meter über Normalnull in einer flachen Hangmulde des leicht nach Südosten geneigten oberen Hanges des 805 Meter hohen Querenberges, dessen Gipfel etwa einen Kilometer westlich entfernt ist.
Das Moor entwässert überwiegend über den zwölf Meter tiefer liegenden Eisgraben im Süden. Er fließt in die sechs Kilometer östlich und 400 Meter tiefer gelegene Streu und damit in das Flusssystem des Rheines. Ein weiterer Abfluss gelangt in die hessische Ulster, die drei Kilometer westlich und knapp 300 Meter tiefer vorbeifließt und zum Flusssystem der Weser gehört.
Namen
Das Schwarze Moor ist neben dem Roten Moor eines der großen Moore der Hochrhön, deren Namen sich der Überlieferung nach von der Farbe der ursprünglichen Pflanzendecke ableiten. Der Pfarrkooperator von Simmershausen, Franz Anton Jäger, ein eifriger Naturforscher, schrieb in seinen 1803 erschienenen Schriften Briefe über die Hohe Rhoene Frankens, dass das Schwarze Moor viel feuchter als das Rote Moor sei. Deshalb würde das auch im Schwarzen Moor wachsende rote Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum), das dem Roten Moor den Namen gab, schon beim Keimen wieder verderben, schimmeln, um dann schwarz zu werden, weshalb das Moor Schwarzes Moor genannt wird. Man kann sich in der heutigen Zeit wohl noch mit dieser Erklärung der Namensgebung zufriedengeben.
Entstehung
Das Schwarze Moor entstand, wie auch die anderen Hochmoore der Rhön, vor etwa 12.000 Jahren nach der letzten Eiszeit.
In der heutigen Rhön kam es im Miozän zur Ablagerung toniger Sedimente. Vulkane förderten vor 25 bis 18 Millionen Jahren ausgedehnte Lavaströme zu Tage, die zu verwitterungsresistentem Basalt erstarrten. Während der letzten Eiszeit lag die Rhön im Periglazialbereich, sie war also nicht von Gletschern bedeckt. Es entstanden durch Firnerosion und Bodenfließen große Hangmulden. In Gebieten, in denen diese durch wasserstauende Sedimente wie Tone oder lehmige Verwitterungsrückstände der Basalte die Mulden abdichteten, konnten sich über Niedermoorstadien Regenmoore bilden. Die klimatischen Bedingungen mit hohen Niederschlagsmengen sowie niedrigen Bodentemperaturen begünstigten das Moorwachstum. Die weiteren Hochmoore der Rhön sind das Rote Moor (50 Hektar), das Große Moor (acht Hektar) und Kleine Moor (zwei Hektar) am Stirnberg, sowie das Moorlein am Rasenberg. Durch die Pollenanalysen konnte die Entwicklung bis zur La-Tène-Zeit zurückverfolgt werden.
Für das Schwarze Moor sind Vertiefungen wie Flarken und Kolke, die das Torfgebiet durchziehen, charakteristisch. Dabei handelt es sich um Wasseransammlungen, die teilweise bis zu zwei Meter tief sind und ihre Form und Größe ändern. Die Flarken – Risse in der Moorvegetation – bilden sich durch die Bewegung des Moorkörpers, vergleichbar mit dem Eis eines Gletschers. Diese Häufigkeit von Flarken kommt weder im zweitgrößten Moor in der Rhön, dem Roten Moor, noch in anderen Mooren in Mitteleuropa vor. Die Vertiefungen wechseln sich mit Bulte ab, was als Bult-Schlenken-Komplex bezeichnet wird. Die Kolke, auch Mooraugen oder Blänke genannt, gelten als eine Besonderheit des Schwarzen Moores. In anderen Hochmooren liegen diese Mooraugen häufig in den zentralen Teilen des Hochmoores, im Schwarzen Moor liegen diese jedoch am Rande der zentralen Hochfläche. Die Entstehung dieser Mooraugen ist noch nicht restlos erforscht. Der größte der drei Kolke in der Nähe des Bohlensteges hat eine Fläche von fast 500 Quadratmetern und eine Wassertiefe von etwa 2,5 Metern. Darunter schließt sich eine etwa 1,5 Meter mächtige Torfschlammschicht an, die in vier Meter Tiefe auf die Tonunterlage stößt. Im Moorauge ist das Wasser nährstoffarm und sauer. Die dunkle Braunfärbung ergibt sich durch gelöste Humusstoffe.
Klima
Das Klima um das Schwarze Moor und die Lange Rhön ist rau und kalt. Das Rhönvorland, welches 300 bis 500 Meter tiefer liegt, hatte 1961 bis 1990 Jahresmitteltemperaturen von sieben bis acht °C. Die Hochrhön bildet eine Kälteinsel und weist Jahresmitteltemperaturen von 4,8 °C (Wasserkuppe) auf. Das drei Kilometer nördlich gelegene Frankenheim hatte bei etwas geringerer Höhenlage als das Schwarze Moor eine Jahresmitteltemperatur von 5,3 °C bei einem Jahresniederschlag von 938 Millimeter (Liter pro Quadratmeter). Der einen Kilometer östlich gelegene Rhönhof in gleicher Höhenlage verzeichnete Jahresniederschläge von über 1000 Millimetern.
Die Hochrhön ist durch eine Schneebedeckung von bis zu 110 Tagen und eine kurze sommerliche Vegetationsperiode von Mai bis Oktober geprägt. Die Hauptwachstumsperiode dauert nur von Juli bis Mitte September. Die Temperaturverhältnisse schränken das Pflanzenwachstum erheblich ein. Hinzu kommen bis zu 200 Nebeltage und eine hohe Zahl an Tagen mit Raureifbildung. Die Lange Rhön und das Schwarze Moor weisen gegenüber ihrer Umgebung mit teilweise über 1000 Millimeter Niederschlag hohe Werte auf. Das Schwarze Moor stellt innerhalb dieser hochgelegenen Fläche eine weitere Kälteinsel dar. In der Nacht kann sich auf den Freiflächen dieser Höhenlage zu jeder Jahreszeit Kaltluft bilden und Frost auftreten.
Flora und Vegetation
In Abhängigkeit von der Oberflächengestalt ist das Moor in verschiedene Vegetationszonen gegliedert. Jede verfügt über besondere Nährstoff- und Wasserverhältnisse und besitzt eine eigene typische Pflanzengesellschaft, die zu großen Teilen gefährdet oder vom Aussterben bedroht ist. Am Rand des Schwarzen Moores befindet sich ein Fichtenforst, der vom Reichsarbeitsdienst gepflanzt wurde. Nach den Plänen des Vereins Naturpark und Biosphärenreservat Bayerische Rhön e. V. in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Umweltministerium soll dieser Wald nach und nach auf natürliche Weichlaubwaldvegetation, wie die Karpaten-Birke, zurückgeführt werden. Die Karpaten-Birke, eine besondere Gebirgs-Unterart der Moor-Birke, zählt zu den markantesten Baumarten der Moorlandschaft und bildet am Moorrand einen Wald. Diese Baumart fällt durch ihren bizarren Wuchs auf.
Als nächste Vegetationszone schließt sich das Niedermoor an, ein das Moor in wechselnder Breite umgebender Sumpfgürtel mit charakteristischer Grasvegetation. Kleinseggenriede (Scheiden-Wollgras, Schmalblättriges Wollgras, Grau-Segge, Hunds-Straußgras, Sumpf-Blutauge, Sumpf-Labkraut, Sumpf-Kratzdistel, Fieberklee) gedeihen dort, weil sich das vom Moor ablaufende Wasser mit dem Oberflächenwasser und dem hochanstehenden Grundwasser der mineralischen Böden der Umgebung vermischt. Dadurch ist das Nährstoffangebot gegenüber der zentralen Moorfläche erhöht. Weiter nach innen folgt das Moor-Randgehänge mit kleinwüchsigen Bäumen und Sträuchern (Moor-Birke, Kiefer, Rauschbeere, Heidelbeere, Besenheide, Schwarze Krähenbeere, Gewöhnliche Moosbeere). Dieser Bereich ist, bedingt durch das deutliche Gefälle, im Vergleich zur nahezu ebenen Hochfläche, der trockenste Bereich innerhalb des Moores.
Im Zentrum liegt das Hochmoor, die Heimat der Torfmoose wie des Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum) mit seiner rötlichen Farbe und auffällig großen Blättern und des Spieß-Torfmooses (Sphagnum cuspidatum) mit seiner grünlichen Farbe, die auf stark saurem, nährstoffarmem und wassergesättigtem Boden gedeihen. Dieser Bereich erhält nur nährstoffarmes Regenwasser und kein nährstoffangereichertes Grundwasser. Vereinzelt wachsen dort kümmerlich ausgebildete Kiefern. Hier wächst der Rundblättrige Sonnentau und das Fettkraut, beide sind insektenfangende Pflanzen, sowie Rosmarinheide, Glocken-Heide und Graue Heide. Im Schwarzen Moor wachsen noch weitere zum Teil seltene Pflanzen wie Siebenstern, Sumpf-Farn, Torfgränke und Straußblütiger Gilbweiderich. Von 30 Torfmoosarten, die es in Mitteleuropa gibt, kommen elf im Schwarzen Moor vor, sieben davon überwiegend im Hochmoorbereich und die übrigen im Niedermoorbereich.
Tierwelt
Das Schwarze Moor ist relativ arm an Tierarten. Dort lebende Wirbeltierarten sind zudem meist sehr scheu und meiden die Nähe der Besucher. Zu den im Moor beheimateten Säugetierarten zählt der Baummarder, die versteckt lebende Sumpfspitzmaus und der Iltis. Hinzu kommen die für die Rhön typischen Raubtiere wie der teilweise tagaktive Hermelin, das Mauswiesel und der Fuchs, der aufgrund seiner Tollwutimmunisierung zahlreicher auftritt. Der Steinmarder, der Dachs und der 1970 in die Rhön zugewanderte Waschbär sind in der Dunkelheit aktiv. Diese nachtaktiven Tiere lassen sich anhand von Spuren, Fraßresten und Losung indirekt nachweisen. In der Region hält sich ganzjährig Rotwild auf. Weitere dort anzutreffende Tiere sind Feldhasen, Eichhörnchen und Siebenschläfer.
Im Schwarzen Moor und in der gesamten Hochrhön haben Birkhühner, die außerhalb der Alpen vom Aussterben bedroht sind, eines ihrer letzten Rückzugsgebiete. Die Zahlen bewegen sich seit Jahren auf niedrigem Niveau, in den letzten Jahren wurden mehrfach aus Schweden stammende Exemplare ausgewildert. Dort leben auch Bekassine, Zwergschnepfen, Gemeine Binsenjungfern, Baumpieper, Wiesenpieper, Feldschwirle und vereinzelt der Auerhahn. In den Fichtenforsten am Rand des Moores halten sich der Fichtenkreuzschnabel, der Raufußkauz und der Tannenhäher auf. Als gelegentlicher Gast ist der in Europa seltene und gefährdete Wachtelkönig anzutreffen. In den trockeneren Bereichen des Moores leben die Kreuzotter, der Feuersalamander, Blindschleichen und die Bergeidechse. Diese tritt oft in einer dunkel gefärbten Variante auf, die Mooreidechse genannt wird. Die häufigsten Greifvögel sind der Turmfalke, der Rotmilan und der Mäusebussard. Die Waldschnepfe, die in der Hochrhön häufig anzutreffen ist, ist auch im Schwarzen Moor zu sehen.
Die Larven der Moorlibellen sind auf Moortümpel angewiesen. In der zentralen Moorfläche finden die Arktische Smaragdlibelle, die Torf-Mosaikjungfer, die Sumpf-Heidelibelle und die Große und die Kleine Moosjungfer ausreichend gute Lebensbedingungen. Moorlibellen sind empfindlich für kleinste Änderungen im Lebensumfeld. Das Aussterben der sehr seltenen Hochmoor-Mosaikjungfer im Schwarzen Moor ist wahrscheinlich auf die seit den 1970er Jahren sich verändernde Wasserqualität der Mooraugen zurückzuführen. Andere häufig vorkommende Libellenarten haben stattdessen zugenommen.
In den Flarken und Kolken leben Amphibien, wie Berg- und Teichmolch, Grasfrosch und Erdkröte. Fische und höhere Wasserpflanzen gibt es wegen des nährstoffarmen und sauren Wassers in den Mooraugen nicht. Auch liegen die Temperaturen des Wassers bis in den Hochsommer hinein sehr niedrig. Es siedeln sich dort nur Planktongesellschaften mit Kieselalgen, Zieralgen und Mikroorganismen an. Zehn verschiedene Arten von Heuschrecken wurden im Schwarzen Moor nachgewiesen. Die Raupen der moorspezifischen Schmetterlinge wie des Hochmoorgelblings, des Hochmoor-Perlmuttfalters und des Dukatenfalters finden in den Rausch- und Moosbeeren ihre Futterpflanzen. Im Moor kommt auch ein endemischer Kurzflügler vor.
Torfabbau
Im Schwarzen Moor wurde von 1770 bis 1939 unregelmäßig Torf abgebaut, es lieferte aber nur geringe Mengen. Der Mensch griff dabei in den Wasserhaushalt des Moores ein, indem an verschiedenen Stellen Gräben zur Entwässerung angelegt wurden. In diesen Bereichen sank der Wasserstand im Moorkörper ab und die Torfmoose stellten ihr Wachstum ein oder starben ab. Unter anderem versuchte die Würzburger Hofkammer im Schwarzen Moor Torf stechen zu lassen, was sich allerdings nicht lohnte. Im Jahr 1802 wurde im Moor Steinpflaster gefunden, was nicht auf ein lange Zeit dort vermutetes Dorf hinweist, sondern eher auf den Torfstich der Hofkammer um 1770. Das versunkene Dorf, das man im Schwarzen Moor vermutete und das auf das Jahr 827 zurückgehen soll, ordnet man inzwischen dem Köhlersmoor bei Hünfeld zu. Im Roten Moor hingegen fand ein stärkerer Torfabbau statt. 1905 wurde nochmals für kurze Zeit Badetorf vom Schwarzen Moor nach Bad Kissingen geliefert. Dies wurde jedoch bald wieder aufgegeben, da die Qualität beanstandet wurde, unbefestigte Feldwege den Abtransport erschwerten und die Entwässerungskosten hoch waren.
Die zentrale Hochfläche wurde noch bis etwa 1924 als nahezu baumfrei beschrieben. Danach breitete sich die Kiefer aus, vermutlich begünstigt durch die Entwässerungsarbeiten des Reichsarbeitsdienstes zur Zeit des Dritten Reiches. Das Gebiet wurde am 6. Januar 1939 unter Naturschutz gestellt. Danach durfte kein Torf mehr abgebaut werden. In den 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre wurde das noch nicht erschlossene Moor zunehmend von Ausflüglern begangen. Dabei bildeten sich im Moor mehrere Trampelpfade. Dies führte vorwiegend an Wochenenden und zu den Ferienzeiten zu einer systematischen Zerstörung großer Teile des Moores. Dabei wurden die Uferbereiche einiger Mooraugen zertrampelt, die dort vorhandene Pflanzendecke teilweise zerstört und Tiere verscheucht. Manche Besucher badeten in den Mooraugen und es befand sich dort ein Sprungbrett.
Moorlehrpfad
Als Schutzmaßnahme zur Erhaltung des Naturschutzgebietes umgab die Pflegetruppe des Naturparks 1976 das Schwarze Moor mit einem zwei Meter hohen und 4,8 Kilometer langen Zaun. Diese Arbeiten geschahen in enger Arbeits- und Fördergemeinschaft mit der Regierung von Unterfranken, der Flurbereinigungsdirektion Würzburg und der Oberforstdirektion. Um der Bevölkerung weiterhin den Zugang zum Moor zu ermöglichen, wurde 1976 innerhalb des Schutzgebietes ein erster befestigter Weg errichtet. Anfang der 1980er Jahre wurde ein 1,8 Kilometer langer Knüppeldamm gebaut, der zu den interessantesten Bereichen des Moores führte. Die Schutzmaßnahmen haben sich positiv auf die Regenerierung des Moores ausgewirkt. Einige Tiere und Pflanzen sind jedoch verschwunden, bevor die Schutzmaßnahmen umgesetzt worden sind. Darunter befand sich die zuvor im Moor großflächig gewachsene Blumenbinse, die zuletzt 1960 gesehen worden ist.
In der Folgezeit wurde der Steg durch Verwitterung und starke Belastung beschädigt, so dass aus Sicherheitsgründen eine umgehende Erneuerung notwendig wurde. Zum Schutz des vom Aussterben bedrohten Birkwildes wurde die Lange Rhön, in der auch das Schwarze Moor liegt, am 28. Mai 1982 mit der heutigen Fläche von 3245 Hektar (32,45 km²) als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Bei der Planung des neuen Steges, der mit einer neuen Trasse durch das Moor verlaufen sollte, wurden die im Moor gefährdeten Einstände berücksichtigt. Im Mai 1987 wurde der neue Moorweg als erster Moorlehrpfad in Bayern mit einem 2,2 Kilometer langen Eichen-Bohlensteg eröffnet. Entlang des Steges stellen 22 Informationstafeln die Tier- und Pflanzenwelt des Moores vor. Verlandende Wasserflächen sind zu Schwingrasen mutiert; seit 2000 sind Wiederbewässerungsmaßnahmen im Gange. Ehemalige Entwässerungsgräben wurden zu diesem Zweck durch kleine Stauwehre verschlossen, um das Wasser im Moor zu halten.
2001 wurden die Informationstafeln des Lehrpfades als gemeinsame Initiative der Regierung von Unterfranken, der Bayerischen Verwaltungsstelle Biosphärenreservat Rhön und des Naturparks Rhön im Zuge der Umsetzung des länderübergreifenden EU-Projektes LIFE neu gestaltet und deren Zahl auf 23 erhöht. Diplom-Biologin Ursula Schneider hatte hierbei die Koordination und fachliche Gesamtleitung inne. In den vergangenen Jahren wurde der Moorlehrpfad erweitert. Im letzten Teil des Rundweges zweigt ein weiterer Bohlensteg vom Lehrpfad ab und führt direkt zum Ein- und Ausgang des Moores. Im Jahr 2007 wurde am nördlichen Rand des Moores neben dem Bohlensteg für 225.000 Euro ein 17 Meter hoher Aussichtsturm mit einer 56 Quadratmeter großen überdachten Aussichtsplattform errichtet. Der Turm befindet sich in der Nähe des abzweigenden erweiterten Abschnittes und ist auch direkt vom Eingang des Schwarzen Moores aus zu erreichen.
Der erste Abschnitt des Lehrpfades wird doppelt – als Hin- und Rückweg – und der weitere Verlauf als Rundweg begangen. Die gesamte Wegstrecke beträgt 2,7 Kilometer und führt an den verschiedenen Bereichen des Moores vorbei. Der Eingang des Moores befindet sich im Norden und führt von dort aus zunächst nach Süden am Rand eines Karpatenbirkenwaldes vorbei. Der Weg führt weiter zum Niedermoor, das sich als Sumpfgürtel um das intakte Hochmoor zieht. Der Lehrpfad verläuft im großen Bogen und führt dann in nördlicher Richtung auf die zentrale Hochfläche. Er führt an einem Moorauge, an Flarken und Schlenken vorbei. Von diesem Bereich des Weges ist die komplette zentrale Hochfläche zu überblicken. Der Weg führt von der zentralen Fläche weiter durch das Niedermoor, dann zum Aussichtsturm und von dort mit zwei verschiedenen Wegvarianten zum Ausgang zurück. Der Weg von der zentralen Moorfläche zum Turm führt an einem Wasserloch, einem ehemaligen kleinen verlandeten Torfstich, vorbei.
Im April 2011 wurde der Lehrpfad nach entsprechender Neugestaltung speziell für die Zielgruppe Kinder als vierter seiner Art in Deutschland von der ZDF-Sendung Löwenzahn und dem Verband Deutscher Naturparke als Löwenzahnpfad ausgezeichnet. Solche Pfade sollen Kindern Anreiz und die Möglichkeit bieten, Natur zu erleben und sich darin selbstständig und aktiv auszuprobieren.
Geotop
Das Schwarze Moor wird im Umweltobjektkatalog (UOK) Bayern als Geotop mit dem Prädikat wertvoll geführt. In Bayern werden vom Geologischen Landesamt (jetzt: Bayerisches Landesamt für Umwelt) etwa 2800 Geotope detailliert beschrieben. Aus diesen wählt ein Gremium von Fachleuten der obersten Fachbehörde für Geologie, Natur, Wasser und Umwelt seit 2001 die 100 Geotope aus, die als die wichtigsten angesehen werden. Das Schwarze Moor wurde von diesem Gremium am 20. Juli 2007 als 56. Objekt von Bayerns schönsten Geotopen gewählt. Das Schwarze Moor wird als Torfgemeinschaft mit der Geotop-Nummer 47 und als Geotop 673R008 ausgewiesen. Siehe hierzu auch die Liste der Geotope im Landkreis Rhön-Grabfeld.
Tourismus
Das Schwarze Moor ist touristisch gut erschlossen und ein beliebtes Ausflugsziel in der Rhön. Jährlich wird das frei zugängliche, rollstuhlgerecht ausgebaute Schwarze Moor von 100.000 bis 150.000 Personen besucht; es liegt damit hinter dem Kreuzberg an zweiter Stelle in der bayerischen Rhön. Von Mai bis Oktober werden mehrmals in der Woche geführte Wanderungen durch das Moor angeboten. 300 Meter nordöstlich des Schwarzen Moores, an der Straße nach Seiferts, befindet sich ein großer Parkplatz und das 2005 neu erbaute Haus zum Schwarzen Moor, mit Sanitäranlagen, Kiosk und Imbissbereich und dem Informationszentrum. Am östlichen Rand des Schwarzen Moores hat die 2005 eröffnete Umweltbildungsstation des Biosphärenreservates Bayerische Rhön ihren Sitz, mit einem Schulungsraum für Schulklassen und einem überdachten Arbeitsbereich im Freien.
Der Fernwanderweg Hochrhöner sowie verschiedene Extratouren wie der Museumsweg führen am Moor vorbei.
Reichsarbeitsdienstlager
Das ehemalige Reichsarbeitsdienstlager Hochrhön, auch als Dr.-Hellmuth-Lager bezeichnet, lag am östlichen Rand des Schwarzen Moores. Das 1936 errichtete steinerne Tor im Eingangsbereich erinnert heute als Mahnmal daran. Das Lager wurde zwischen August 1934 und Frühjahr 1936 errichtet und beherbergte etwa 300 Personen. Mainfrankens Gauleiter Dr. Otto Hellmuth wollte mit seinem „Rhönaufbauplan“ die wirtschaftlich schwache Region kultivieren und für die Landwirtschaft öffnen (der sogenannte Dr.-Hellmuth-Plan zur Neuordnung des Gaues Mainfranken). Die Rhön war als Notstandsgebiet, aus dem ein Wohlstandsgebiet werden sollte, definiert. Aufgaben des Reichsarbeitsdienstes (RAD) waren: Drainagen legen, Entfernung von Steinen, Fichtenanpflanzungen und Kartoffelanbau. Die Maßnahmen brachten nicht das gewünschte Ergebnis. 1945 wurde das Lager aufgegeben und bis auf die Fundamente, die noch zu erkennen sind, abgetragen. Von den RAD-Männern wurde bis 1938 der Rhönhof (Ludwig-Siebert-Hof) als Musterhof fertiggestellt. Während dieser Zeit wurden etwa 500 Hektar Jungwald aufgeforstet. Die Aufforstungen um das Schwarze Moor rühren von diesen Maßnahmen her.
Sagen und Legenden
Über das Schwarze Moor gibt es verschiedene Sagen und Legenden, die sich bis in die heutige Zeit erhalten haben:
Das versunkene Dorf im schwarzen Moor
Die Rhönmoore
Seevögelchen
Eine weitere Geschichte über das Moor handelt vom Seevögelchen. Es wird erzählt, dass im Schwarzen Moor in lauen Sommernächten manchmal ein Vogel singt, ein seltsames Lied, um jedes Mal zu verschwinden, wenn in der Morgendämmerung die Aveglocke aus der Tiefe des Sumpfes klingt.
Gebet gegen Überschwemmung
In der Gemeinde Rüdenschwinden wurde bis etwa 1780 seit alters her jeden Freitag eine Betstunde abgehalten, um eine befürchtete Überschwemmung des Dorfes und die Vernichtung der Fluren abzuwenden. Die Gemeinde befürchtete, dass das Moor in einer stürmischen Nacht rauscht und tobt, um dann auszubrechen und die ganze Gegend zu überschwemmen.
Das Moor als Wetterprophet
Für die umliegenden Dörfer dient das Schwarze Moor als Wetterprophet: Wenn am Morgen leichter Dunst auf dem Moor liegt, gibt es keinen schönen Tag. Trübes, regnerisches Wetter wird am Morgen durch dichten Dunst prophezeit. Raucht das Moor am Morgen, so ist mit Sturm und Gewitter zu rechnen. Mit dem schlimmsten Unwetter ist zu rechnen, wenn frühmorgens schon ein Sturm über das Moor fegt, dass die Mooraugen hohe Wellen schlagen. Das Tosen des Moorwassers könne sogar Erdbeben, die in weiter Ferne stattfinden, anzeigen.
Literatur
Naturpark und Biosphärenreservat Bayerische Rhön e. V. (Hrsg.): Naturlehrpfad Schwarzes Moor. 2003.
Zweckverband Naturpark Bayerische Rhön (Hrsg.): Naturlehrpfad Schwarzes Moor. Rötter Druck und Verlag GmbH, Bad Neustadt, 1988.
Willy Kiefer: Die Moore der Rhön. Verlag Parzeller GmbH & Co. KG, Fulda 1996, ISBN 3-7900-0269-0.
Joachim S. Hohmann: Landvolk unterm Hakenkreuz. Agrar- und Rassenpolitik in der Rhön. Ein Beitrag zur Landesgeschichte Bayerns, Hessens und Thüringens. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1992, ISBN 978-3-631-45093-2.
Max Mölter: Die Hochrhönstraße. Verlag Parzeller Fulda, 5. Auflage 1986, ISBN 3-7900-0149-X.
Heribert Kramm: Die Hochrhön. Verlag Parzeller GmbH & Co. KG, Fulda 2006, ISBN 3-7900-0305-0.
Theodor Gies: Vegetation und Ökologie des Schwarzen Moores (Rhön) unter besonderer Berücksichtigung des Kationengehaltes. Dissertationes Botanicae, 1972; ISBN 978-3-7682-0857-4.
Udo Bohn: Die Vegetation der Hohen Rhön – Gesellschaftsinventar, Bewertung, aktuelle Gefährdungen, Erhaltungsmaßnahmen. Natur und Landschaft. Bonn-Bad Godesberg 1981.
Gisbert Große-Brauckmann: Moore in der Rhön als Beispiele für Entstehung, Entwicklung und Ausbildungsformen von Mooren und ihre Probleme heute. Beitrag in Naturkunde Osthessen. Fulda 1996.
LIFE-Projekt Rhön der EU (Hrsg.): Naturschätze der Rhön: Hochmoore. Kaltensundheim 1997.
Jürgen Holzhausen, Ernst Hettche: Hochmoore im Biosphärenreservat Rhön. Verlag Richard Mack, Mellrichstadt 1996, ISBN 3-9802436-2-1.
Weblinks
Schwarzes Moor. In: Biosphaerenreservat-Rhoen.de
Schwarzes Moor – Geotop Nummer 47. In: lfu.bayern.de (Bayerisches Landesamt für Umwelt)
Infostelle Schwarzes Moor
Schwarzes Moor. In: Rhoenline.de
Fotos vom Schwarzen Moor. In: Rhoenpixel.de
Einzelnachweise
Moor in Bayern
Stillgewässer in der Rhön
FSchwarzesmoor
FSchwarzesmoor
Geotop im Landkreis Rhön-Grabfeld
Natura-2000-Gebiet
Gewässer im Landkreis Rhön-Grabfeld
Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Deutschland
Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa |
1914664 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander%20L.%20Kielland%20%28Bohrinsel%29 | Alexander L. Kielland (Bohrinsel) | Die Alexander L. Kielland war eine nach dem norwegischen Schriftsteller Alexander Lange Kielland benannte und als Wohnunterkunft eingesetzte Halbtaucherbohrinsel, die nach einem Unfall am 27. März 1980 in der Nordsee kenterte. Dabei starben 123 der 212 Besatzungsmitglieder. Ursache für den Unfall waren Ermüdungserscheinungen am Tragwerk der Bohrinsel. Der Verlust der Alexander L. Kielland führte zu einer Reihe von einschneidenden Änderungen in der Konstruktion, Prüfung und Sicherheitsausstattung von Bohrinseln.
Entwicklung
Das Institut Français du Pétrole ging 1963 eine Kooperation mit der zur Schlumberger Gruppe gehörenden Explorationsfirma Neptune ein, bei der eine auf fünf Auftriebskörpern ruhende Ölbohrinsel entworfen werden sollte. Die erste Plattform, P81, wurde 1969 abgeliefert. 1970 wurde das Design in Zusammenarbeit mit mehreren anderen Firmen überarbeitet und P82 in Brownsville (Texas) gebaut. Dieses war die Basis für neun weitere Plattformen, von denen drei in Finnland und sechs bei der französischen Firma Compagnie Française d’Entreprises Métalliques (CFEM) in Dünkirchen gebaut wurden. Alexander L. Kielland war die siebte Plattform des modifizierten Grundtyps, wurde in Frankreich gebaut und als Pentagone 89 bezeichnet.
Beschreibung der Alexander L. Kielland
Bei der Ölbohrinsel handelte es sich um einen Halbtaucher des Pentagone-Typs. Die Plattform mit den Aufbauten ruhte also auf fünf teilweise in das Meer eingetauchten Säulen, die von unter Wasser befindlichen Auftriebskörpern getragen wurden. Die Auftriebskörper hatten einen Durchmesser von 22 m und eine Höhe von 7,5 m. Die Säulen besaßen einen Durchmesser von 8,5 m und waren, einschließlich des Auftriebskörpers, 35,6 m hoch. Sie waren miteinander und mit der Plattform durch eine Reihe von Streben verbunden. Die horizontalen Streben hatten Durchmesser von 2,6 m und Wandstärken von 25 mm, die diagonalen Streben besaßen Durchmesser von 2,2 m.
Sie waren aus C-Mn-Strukturstahl (entsprechend Lloyds’ Schiffsstahl „Grade EH“) mit einer Streckgrenze von mindestens 355 N/mm² (vergleichbar mit Baustahl Werkstoffnummer 1.0570 S355J2+N (lt. EN 10025-2:2004-10)).
In den Säulen und Auftriebskörpern waren Tanks für Ballast- und Trinkwasser, Treibstoffe und weitere Betriebsstoffe untergebracht. Drei der Säulen enthielten zudem Maschinenräume, die über mittig in den Säulen angebrachte Aufzüge erreicht werden konnten. Propeller an diesen drei Säulen konnten die Ölbohrinsel bewegen. Insgesamt fünf Dieselgeneratoren, davon einer für Notfälle, stellten die Energieversorgung der Alexander L. Kielland sicher. Sie konnten bis zu einer Schräglage von 20° betrieben werden. In den Säulen befanden sich zudem Pumpenräume zum Lenzen bei Wassereinbruch.
Die eigentliche Plattform hatte Abmessungen von 103 m × 99 m und eine Masse von 10.105 t. Sie befand sich im Normalbetrieb etwa 15 m über der Wasseroberfläche. Auf ihr befand sich ein 40 m hoher Bohrturm. Da die Alexander L. Kielland in absehbarer Zeit auch als Bohrplattform eingesetzt werden sollte, befand sich zudem alle für Bohrungen notwendige Ausrüstung an Bord. Seit Indienststellung war die Alexander L. Kielland als Wohnplattform genutzt worden. Dafür waren auf der Plattform in mehreren Etagen übereinander Wohncontainer aufgebaut. Diese Container waren jeweils für vier Personen eingerichtet. So war die Kapazität von 80 Personen auf 348 Personen gesteigert worden.
Ein System aus zehn Ankern hielt die Alexander L. Kielland auf Position. Die Ankerseile liefen dabei paarweise über an den Säulen angeordnete Mooringwinden. Diese Winden wurden durch drei Hydrophone gesteuert, die sich an horizontalen Streben der Alexander L. Kielland befanden. Ihre Signale erhielten die Hydrophone von einem auf dem Meeresboden installierten Schallwellensender. Dieses System hielt die Alexander L. Kielland stets an gleicher Position.
Einsatz und Zertifizierung
Am 5. Juli 1976 wurde die Bohrinsel nach Norwegen an die Firma Stavanger Drilling geliefert. Sie wurde anschließend von der US-amerikanischen Phillips Petroleum Company gechartert. Ihr Einsatzgebiet war das in der geographischen Mitte der Nordsee liegende Ölfeld Ekofisk. In diesem Gebiet war 1980 ein Großteil der damals etwa 80 in der Nordsee befindlichen Bohrinseln und Förderplattformen angesiedelt.
Schon bei ihrem ersten Einsatz im Juli 1976 wurde die Bohrinsel als Wohnunterkunft (sogenanntes Flotel, eine Wortzusammensetzung aus „floating hotel“, engl. für „schwimmendes Hotel“) für die Kompressorplattform H-7 eingesetzt. Vom 15. Juli 1976 bis zum 1. August 1979 wurde die Alexander L. Kielland unter anderem als Wohnunterkunft für die Henrik Ibsen und die Dyvi Alpha eingesetzt. Am 1. August 1979 wurde die Plattform von Albuskjell 2/4 F zur Edda 2/7 C verbracht. Hier diente sie als Wohnplattform für die Arbeiter der Edda 2/7 C und war die meiste Zeit durch eine bewegliche Brücke mit dieser Plattform verbunden.
Aussteller des Sicherheitszertifikates war Det Norske Veritas, das norwegische Pendant zu Lloyd’s Register of Shipping. Bei der Abnahme wurden nur wenige kleine Fehler gefunden. Die letzte jährliche Inspektion fand im September 1979 auf See statt. Die große 4-Jahres-Inspektion war auf Antrag der Besitzer von April 1980 auf Juni 1981 verschoben worden.
Unglück am 27. März 1980
Ausgangslage
Die Alexander L. Kielland lag neben der Plattform Edda 2/7 C, die sich auf der Position befand. Der Standort entsprach etwa der Höhe von Edinburgh und lag 385 km vor der norwegischen Küste. Die Entfernung zur niederländischen Küste war etwa gleich weit. Die Alexander L. Kielland war seit neun Monaten der Produktionsplattform Edda 2/7 C als Wohnplattform zugeordnet und mit ihr über eine etwa 25 Meter lange bewegliche Brücke verbunden.
Am 27. März 1980 hatte sich das Wetter im Laufe des Tages verschlechtert. Es herrschten Windgeschwindigkeiten von 16 bis 20 m/s mit Windböen in Stärke 10. Die Wellenhöhe betrug 6 bis 8 m. Die Lufttemperatur lag zwischen 4 und 6 Grad und die Wassertemperatur betrug etwas mehr als 6 Grad. Bei Schichtende auf der Edda 2/7 C kehrten die Arbeiter nach 18 Uhr auf die Alexander L. Kielland zurück. Die Verbindung zwischen der Edda 2/7 C und der Alexander L. Kielland war aufgrund des schlechten Wetters entfernt worden. Etwa 50 bis 80 Personen befanden sich in den zwei Kinoräumen, etwa 50 in der Messe sowie weitere in ihren Wohnunterkünften. Insgesamt befanden sich 212 Personen auf der Alexander L. Kielland.
Für das Ölfeld Ekofisk gab es einen Notfallplan, der die Anwesenheit dreier Bereitschaftsschiffe vorsah, damit jede Plattform in maximal 25 Minuten erreicht werden konnte. Das Motorschiff Silver Pit, ein umgebauter Trawler, der neben einem schnellen Rettungsbeiboot auch ein Rettungsboot mit Wasserstrahlantrieb für bis zu drei Retter und zwölf zu bergende Personen mitführte, sollte die Plattformen Edda 2/7 C, Alexander L. Kielland sowie Eldfisk Alpha und Eldfisk Bravo sichern. Dazu war der Kapitän angewiesen worden, in „Area 3“ in der Mitte zwischen Eldfisk Alpha und Edda 2/7 C zu bleiben. Das Schiff hielt sich jedoch mehrere Monate nur in der Nähe von Eldfisk Bravo auf. Im März übernahm ein neuer Kapitän das Schiff. Dieser erhielt nur unzureichende Informationen über die Aufgaben der Silver Pit. In seiner Aussage vor der Untersuchungskommission sagte er, dass er davon ausgegangen war, nur für Eldfisk Bravo zuständig zu sein. Zum Zeitpunkt des Unglücks befand sich die Silver Pit eine Seemeile südöstlich von Eldfisk Bravo und damit etwa 6 Seemeilen von der Alexander L. Kielland entfernt. Somit erreichte die Silver Pit die Unglücksstelle erst nach 19:15 Uhr und konnte niemanden retten.
Unfallablauf
Kurz vor 18:30 Uhr wurde auf der Alexander L. Kielland ein starker Stoß wahrgenommen, dem Vibrationen folgten. Die meisten Personen sollen ihn aber für Wellenschlag gehalten und nicht beachtet haben. Nach einem zweiten Stoß „schüttelte“ sich die Bohrinsel und neigte sich nach Steuerbord, bis sie eine Schräglage von 30 bis 35° erreichte. Der Arbeiter Tony Sylvester beschrieb die Situation: „Alle glaubten jetzt ist es zu Ende. […] Es krachte fürchterlich, und kurz darauf noch einmal, und dann kippte das ganze Ding um 45 Grad auf die Seite.“
Wie später ermittelt wurde, brach zu diesem Zeitpunkt die Horizontalstrebe D-6. Dadurch wurden die anderen Streben im unteren Bereich von Säule D überlastet und brachen ebenfalls. Der Auftriebskörper hob die Säule an und drehte sie dabei, so dass auch die restlichen Streben brachen. Die Säule D löste sich vollständig von der Bohrinsel und trieb ab. Da im Bereich der Säule D nun kein Auftrieb mehr gegeben war, krängte die Bohrinsel nach dieser Seite. Die eigentliche Plattform wurde teilweise von Wasser überspült und die Säulen C und E sanken so tief ab, dass sie fast vollständig in das Wasser eintauchten. Dafür hob sich die Backbordseite stark an.
Auf der gesamten Bohrinsel verrutschten Gegenstände nach Steuerbord. Im provisorischen Kinosaal auf dem Bohrdeck durchbrachen Teile der Bohrausrüstung die Wand und verletzten mehrere Männer. In den Wohnunterkünften fielen lose Schränke um und versperrten Türen. Wenig später gingen Licht und Alarmsignale aus, da die Dieselgeneratoren bei der zu starken Krängung nicht mehr arbeiteten.
Für eine kurze Zeit lag die Bohrinsel stabil. In dieser Zeit lief Wasser in Räume und Tanks in den Aufbauten und in die Säulen C und E. Das Wasser drang durch sonst weit über der Wasseroberfläche liegende Türen, Luken und Lüftungsöffnungen ein. Etwa 20 Minuten lang nahm die Schräglage stetig zu, bis die Bohrinsel gegen 19 Uhr kenterte und kieloben schwamm.
Rettungsaktion
An den Rettungsstationen der Alexander L. Kielland standen acht Motorrettungsboote für je 50 Personen, vier aussetzbare und sechs abwerfbare Rettungsflöße für insgesamt 400 Personen sowie acht Behälter mit zusammen 125 Rettungswesten zur Verfügung. Insgesamt befanden sich 541 Rettungswesten auf der Alexander L. Kielland. Die Stammbesatzung der Alexander L. Kielland besaß zudem Rettungsanzüge. Von den anderen Personen an Bord besaß nur ein Teil Rettungsanzüge; diese waren nicht allgemein vorgeschrieben. Die meisten dieser Anzüge befanden sich zudem auf Edda 2/7 C, da es sich um sehr sperrige Ausrüstung handelte, die von den Arbeitern nicht ständig mitgeführt wurde.
Die Kinobesucher versuchten, durch eine Luke auf der Backbordseite des Kinoraums den höchsten Punkt der Plattform, die Säule B, zu erreichen. Da im Wohnbereich viele Wege durch lose Möbel versperrt waren, sprangen dort einige Menschen aus den Fenstern. Laut Berichten erreichten viele Personen die Rettungsmittel nicht.
An Säule B hatten sich relativ viele Personen versammelt. Dort befanden sich die Boote 5 und 7. Boot 5 konnte nur von 14 Personen bestiegen werden. Das vollgeschlossene Boot riss sich los und schwamm kieloben im Meer, bis es durch die Insassen und durch Schwimmer im Wasser wieder aufgerichtet werden konnte. Es wurden anschließend noch 19 Personen aus dem Wasser an Bord geholt. Da bei Startversuchen des Motors Rauch austrat, ließ man das Boot antriebslos abtreiben. Eine nicht genannte Anzahl von Personen konnte sich in Boot 7 retten.
Das Rettungsboot 1 im Heck der Alexander L. Kielland konnte von 26 Personen bestiegen werden. Durch die Krängung brauchte es nur maximal zwei Meter gefiert zu werden. Da die Heißhaken unter Belastung nicht ausgeklinkt werden konnten, musste eine Axt eingesetzt werden, um das Boot frei zu bekommen. In der dafür nötigen Zeit wurde das Boot gegen die Bohrinsel geschleudert und beschädigt. Es konnte sich jedoch mit Motorkraft von der Bohrinsel entfernen.
Die Rettungsboote 2, 3 und 4 wurden nicht zu Wasser gebracht und durch Wellengang gegen Säulen geschlagen und zerstört. Boot 6 war zusammen mit Säule D abgebrochen. Somit wurde nur die Hälfte der Rettungsboote genutzt.
Die Rettungsflöße wurden wahrscheinlich nicht ausgesetzt, sondern rissen sich beim Kentern los und bliesen sich selbsttätig auf. Durch sie sowie durch von der Edda 2/7 C ausgesetzte Rettungsflöße konnten weitere 16 Personen gerettet werden.
Der Funker der Alexander L. Kielland hatte unmittelbar nach der ersten Krängung über UKW-Sprechfunk einen „Mayday“-Ruf abgesetzt und sich anschließend in Rettungsboot 5 begeben, von wo aus er Edda 2/7 C mit dem Funkgerät des Bootes über das weitere Geschehen informierte.
Der erste Mayday-Ruf wurde von Baste Fanebust, dem Schiffskoordinator für den Ekofisk-Komplex, auf einem Handfunkgerät empfangen. „Charly Transport“, so der Funkrufname, entsandte daraufhin die meisten Schiffe im Ekofisk-Feld zur Unglücksstelle.
Auch die Rettungsleitstelle Südnorwegen wurde benachrichtigt. Bis 18:42 Uhr waren Schiffe in der Nordsee und Rettungsstationen in Norwegen, Schottland, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland alarmiert. Der erste norwegische Rettungshubschrauber startete gegen 19:30 Uhr. Gleichzeitig starteten in Großbritannien zwei Hubschrauber und ein Aufklärungsflugzeug. Weitere Flugzeuge folgten; Nebel erschwerte ihnen den Einsatz.
Ein im Ölfeld befindlicher Transporthubschrauber startete, hatte jedoch keine Rettungsausrüstung an Bord und konnte nicht auf der schräg stehenden Landefläche landen.
Rettungsboot Nr. 5 nahm seine Notfunkboje in Betrieb und wurde um 19:30 Uhr von der Normand Skipper, einem nicht für Rettungseinsätze ausgerüsteten Versorgungsschiff, geortet. Zwölf Insassen konnten über ein Netz auf die Normand Skipper übersteigen, dann wurde die Aktion als zu gefährlich abgebrochen. Die restlichen 21 Personen wurden zwischen 2:30 Uhr und 4:00 Uhr durch zwei Hubschrauber aufgenommen.
Rettungsboot Nr. 1 hatte Funkkontakt mit der Silver Pit und dem Versorgungsschiff Normand Skipper. Die Silver Pit konnte das Boot jedoch nicht finden. Die Normand Skipper erreichte am 29. März gegen 1:20 Uhr zusammen mit der Normand Vibran das Rettungsboot, konnte wegen des Wellengangs jedoch keine Personen übernehmen. Die 26 Männer wurden in der Zeit bis 3:00 Uhr durch zwei norwegische Hubschrauber abgeborgen.
Die Plattform Edda 2/7 C rettete mit einem ihrer zwei Kräne sieben Schwimmer aus der Nordsee. Weitere Personen wurden durch andere Schiffe und weitere Hubschrauber gerettet.
Von den 89 geretteten Personen trugen nur 59 eine Rettungsweste. Es hatten nur acht Personen einen Rettungsanzug angezogen, wovon sieben Personen den Anzug nicht richtig geschlossen hatten. Vier Personen in Rettungsanzügen wurden tot geborgen. Christian Naess, der Kapitän der Normand Skipper, berichtete, dass man eine Person in einem Rettungsanzug nicht an Bord holen konnte, da der Anzug nass und glitschig war. Zu dieser Zeit verfügten die Anzüge noch nicht über Schlaufen zum Festhalten.
An den Rettungsmaßnahmen beteiligten sich bis zur Einstellung der Maßnahmen am 29. März um 19:00 Uhr 71 zivile Schiffe, neun Militärschiffe, 19 Rettungshubschrauber und sieben Flugzeuge.
Verletzte wurden in das Rogaland-Hospital gebracht. Obwohl das Krankenhaus nicht auf einen solchen Notfall vorbereitet war, richtete es zusätzlich am Flughafen von Sola eine medizinische Notfallstation ein und entsandte ein Team zum Ekofisk-Feld.
Eine neun Monate später durchgeführte Befragung von an der Rettungsaktion beteiligten Kräften ergab, dass 67 % sich während der Rettungsaktion erheblichen Gefahren ausgesetzt sahen; viele erlitten ein Posttraumatisches Stresssyndrom.
Bergung der Bohrinsel
Das Wrack der Bohrinsel wurde in den Gandsfjord vor Stavanger geschleppt. Etwa dreieinhalb Jahre nach dem Unglück wurde sie dort wieder aufgerichtet. Diese Aktion diente sowohl weiteren Ermittlungen als auch vor allem der Bergung von Leichen, so dass diese von ihren Familien an Land beigesetzt werden konnten. Das Aufrichten wurde mehrere Monate vorbereitet, unter anderem wurde eine spezielle Software für die Berechnungen geschrieben. Des Weiteren wurde durch Sichtprüfungen und das Anbohren der Säulen ermittelt, wie viel Wasser in die Säulen eingedrungen war. Es wurden Auftriebskörper angeschweißt und die Wohncontainer mit zusätzlichen Stahlseilen gesichert.
Die Bohrinsel wurde später im Nedstrandsfjord (zwischen den Kommunen Tysvær und Finnøy) in einer Tiefe von etwa 700 m versenkt.
Unfallursachen
Das Unglück wurde durch den Bruch der Strebe D-6 ausgelöst. In diese Strebe war eine Entwässerungsöffnung eingeschnitten, die durch einen Flansch verstärkt wurde. Außerdem war ein nach unten gerichtetes Rohrstück als Träger für eines der drei zur Positionierung der Bohrinsel benötigten Hydrophone eingeschweißt.
Das Rohrstück für das Hydrophon hatte einen Durchmesser von 325 mm, war 228 mm lang und hatte eine Wandstärke von 26 mm. Das Metall war von geringer Qualität, da der Hersteller der Plattform es nicht als statisch wirksames Bauteil betrachtete. Um es einzusetzen, war mit einem Schneidbrenner ein Loch in die Strebe geschnitten worden. Danach wurde es durch eine Kehlnahtschweißung mit der Strebe verbunden. Das Material der Strebe war damit zweimal erhitzt worden und stand unter Spannung. Die Schweißnaht gehörte zur untersten der drei beim Bau der Bohrinsel verwendeten Schweißklassen und war sehr dünn ausgeführt. Diese Stelle war der Ausgangspunkt des Strebenbruchs.
Farbreste auf Rissen deuteten darauf hin, dass diese Risse bereits beim Bau der Bohrinsel entstanden sein müssen. Weitere Risse entstanden durch eine mangelhafte Qualität der Schweißnähte und hohe Spannungen an der Strebe. Von hochbelasteten Stellen dehnten sich Ermüdungsrisse auf den Umfang der Strebe aus. Nachdem sich die Risse auf zwei Drittel des Umfangs ausgedehnt hatten, erfolgte im Sturm der Bruch der Strebe. Die anderen Streben an Säule D wurden nunmehr auch überlastet und brachen ebenfalls.
Die Bohrinsel wäre nicht so schnell gekentert, wenn Öffnungen an den Säulen C und E sowie auf der Plattform ordnungsgemäß und dem Wetter angemessen geschlossen gewesen wären. So konnten die Säulen schneller volllaufen.
Konsequenzen
Det Norske Veritas
Am Ostersonntag nach dem Unglück bekam die aus der gleichen Produktionsserie wie die Alexander L. Kielland stammende und als Flotel mit 625 Betten dienende Henrik Ibsen bei einer Absenkübung eine Schlagseite von 20°, die nur deswegen nicht größer wurde, da ein Bein der Insel im Flachwasser den Meeresgrund berührte. Det Norske Veritas hatte daraufhin den Einsatz der Henrik Ibsen untersagt. Im Anschluss wurde geplant, alle etwa 40 schwimmenden Bohrinseln und Flotels einer vierwöchigen Inspektion an der Küste zu unterziehen. Man ging dabei von Produktionsausfällen in Höhe von etwa 7,5 Millionen Kronen (1,5 Millionen Euro) zuzüglich Inspektionskosten je Plattform aus. Bei der detaillierten Untersuchung anderer Halbtaucher stellte sich heraus, dass mehrere Halbtaucher ähnliche Risse aufwiesen, wie die Alexander L. Kielland sie gehabt hatte. Bei einer Sichtprüfung auf See wären diese nicht aufgefallen, lediglich bei einer großen 4-Jahres-Inspektion. Plattformen mit Rissen waren sowohl von Det Norske Veritas als auch von Lloyds zertifiziert worden.
Staatliche Untersuchungskommission
Bereits am Tag nach dem Unglück wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die 1981 ihren Bericht vorlegte. Bis dahin wurden vor allem die Stahlkonstruktion sowie die Rettungseinrichtungen detailliert untersucht.
Die Kommission sprach eine große Zahl von Empfehlungen aus. So sollte der Staat zwar weiterhin die Gesamtverantwortung für Bohrplattformen tragen. Die Überwachung bei Planung, Bau und Betrieb sollte jedoch durch Klassifikationsgesellschaften erfolgen, da hier mehr unterschiedliche Spezialisten zur Verfügung stehen würden. Hierfür seien auch Handbücher zu erstellen.
Plattformen müssten zukünftig so gebaut werden, dass Fehler bei Bau und Betrieb minimiert würden, Inspektionen einfach auszuführen wären und relativ kleine Beschädigungen nicht zu einem vollständigen Versagen der Stahlkonstruktion führen können.
Um 1970 beschäftigten sich Fachleute generell mehr damit, inwieweit Schweißnähte sich auf Ermüdungserscheinungen an Stahlkonstruktionen auswirken können. 1976, also im Ablieferungsjahr der Alexander L. Kielland, erschienen neue Designrichtlinien des British Welding Institute. Zu diesem Zeitpunkt hatte keine Klassifikationsgesellschaft Richtlinien bezüglich Ermüdungserscheinungen niedergelegt. Man machte sich keine Gedanken darüber, wie sich das Einfügen eines so kleinen Teils, wie es das Hydrophon war, auswirken konnte. Erst nach dem Unglück wurden hier Regelungen geschaffen.
Ebenso war es nicht üblich, redundante Systeme einzusetzen. Die Alexander L. Kielland hatte beim Abbruch der Stütze D keinen Reserveauftrieb auf dieser Seite mehr. Die Untersuchungskommission forderte daraufhin, dass zukünftige Plattformen so gebaut sein müssen, dass das Versagen einer Stütze keine kritische Situation auslöst und Reserveauftrieb vorhanden ist.
Es wurde festgestellt, dass nur wenige Personen an Bord der Alexander L. Kielland eine Rettungsausbildung besaßen. Von den etwa 4000 auf beweglichen Plattformen arbeitenden Personen hatten im Jahr 1980 nur rund 1000 eine entsprechende Ausbildung. Für 75 % des Personals waren Ausnahmegenehmigungen beantragt und vom staatlichen Seefahrtsdirektorat bewilligt worden. Ein Grund waren fehlende Geldmittel für die Ausbildung. Dazu befragt, nannte Ivar Sandvig, der Leiter des Direktorats, dieses Vorgehen „Realitätssinn“.
Internationale Seeschifffahrts-Organisation
Auf der 46. Maritime Safety Convention der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation schlug die norwegische Delegation eine Überprüfung der Stabilitäts-Anforderungen des MODU-Codes (Code for the Construction and Equipment of Mobile Offshore Drilling Units) vor. Die MSC entschied sich für eine periodische Überprüfung, um die fortschreitende Entwicklung und die Erfahrungen aus den Unglücken der Alexander L. Kielland und der Ocean Ranger einzubringen. Auf der 28. Sitzung des Unterausschusses für Schiffsdesign und -ausrüstung entschied man sich zu Änderungen im allgemeinen Teil des MODU-Codes und zur Einsetzung von Ad-hoc-Arbeitsgruppen zur Regelung der Installation von Maschinen und Elektroanlagen. Man kam ebenfalls überein, dass die Richtlinien für Rettungsausrüstung dringend zu überarbeiten wären.
So wurden Rettungsbootplätze für 200 % der Personen an Bord gefordert, da sich immer wieder herausgestellt hatte, dass bei Unglücken ein Teil der Boote wegen Feuers, Schlagseite oder Beschädigung nicht benutzt werden konnte.
Es wurde zudem gefordert, dass jede Person an Bord einen persönlichen Rettungsanzug in der Kabine haben soll. Auf den möglichen Evakuierungswegen und an den Rettungsstationen sollten zudem Rettungsanzüge für 200 % der Personen an Bord vorgehalten werden. In den Folgejahren wurden Rettungsanzüge zudem stark überarbeitet. So erhielten sie beispielsweise Schlaufen am Rückenteil, mit Hilfe derer eine im Wasser treibende Person besser gepackt und an Bord gezogen werden kann.
Es sollte weiterhin jeder Plattform ein Bereitschaftsschiff in weniger als einer Seemeile Entfernung zugeordnet werden.
Weitere Konsequenzen
Eines der Probleme bei der Evakuierung war, dass sich ein Rettungsboot nicht löste, da in dem auf und ab schwankenden Boot eine der Auslösevorrichtungen immer unter Spannung stand. Man kam zuerst zu keiner Entscheidung bezüglich einer Änderung, da es einige Zeit vorher einen Unfall mit einem Rettungsboot gegeben hatte, bei dem sich der Auslösemechanismus zu früh öffnete und das Boot so aus großer Höhe auf das Wasser prallte. Dabei starben drei Personen. Schließlich entschied sich Norwegen zu einer extremen Lösung in Form von Freifallrettungsbooten. Die Personen an Bord müssen hierfür jedoch noch intensiver ausgebildet werden. Andere Länder haben zu Systemen gegriffen, bei denen das Rettungsboot durch eine von innen zu betätigende, meist hydraulische, Verriegelung des Heißhakens gelöst werden kann.
Weblinks
Norwegisches Erdölmuseum (norwegisch, nur Teile in deutsch)
Website des norwegischen Senders NRK mit Fotos und Videos (norwegisch)
(alternativ auch auf Exponent.com)
Rezension zu „Die wahre Geschichte vom Untergang der Alexander Kielland“ von David Schraven und Vincent Burmeister
Belege
Stig S. Kvendseth: Giant Discovery – A history of Ekofisk through the first 20 years, Phillips Petroleum Company Norway, Tanager (Norway), ISBN 82-991771-1-1
Victor Bignell, Joyce Fortune: Understanding systems failures, Manchester University Press ND, 1984, ISBN 0-7190-0973-1
Von diesen Texten lagen nur Auszüge, Zitate und Zeichnungen vor:
The „Alexander L. Kielland“-accident: From a Commission Appointed by Royal Decree of 28th March, 1980: Report Presented to Ministry of Justice and Police, March 1981 (NOU 1981:11)
A. Hobbacher: Schadenuntersuchungen zum Unglück des Halbtauchers „Alexander L. Kielland“, Maschinenschaden, München 56 (1983) 2
J. Hoefeld: Alexander L. Kielland – Ursachen und Folgen eines Bohrinselunfalls, HANSA, Hamburg 1982
Einzelnachweise
Bohr- oder Förderplattform in der Nordsee
Katastrophe 1980
Geschichte (Nordsee)
Unglück auf Bohr- oder Förderplattform |
1979473 | https://de.wikipedia.org/wiki/Tijuana%20No%21 | Tijuana No! | Tijuana No! (oft ohne Ausrufungszeichen Tijuana No) ist eine mexikanische Ska-Punk-Band aus der Grenzstadt Tijuana.
Die 1989 als NO gegründete Musikgruppe veröffentlichte in den 1990er-Jahren drei Studioalben. In ihren vorwiegend spanischen Texten beschäftigte sich die Band vor allem mit der Politik Mexikos und der Vereinigten Staaten. Tijuana No! solidarisierte sich mit indigenen und unterdrückten Gesellschaften und übte Kritik an rassistischen Strukturen in vielen Teilen der Welt. Die Band trennte sich im Jahr 2002, gab aber bis 2006 vereinzelt Konzerte und vereinigte sich 2010 erneut.
Der musikalische Stil Tijuana No!s umfasst Elemente zahlreicher traditioneller und moderner Genres; Inspiration erfuhr das Sextett von Bands beiderseits der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze.
Bandgeschichte
Vorgeschichte
Bevor die Band Tijuana No! entstand, organisierte Luis Güereña in den 1980er-Jahren Shows von mexikanischen und US-amerikanischen Gruppen in Tijuana. Bereits als Kind interessierte sich Güereña für Musik, die zu jener Zeit in den USA und in Europa populär war. Er besuchte in seiner Jugend Konzerte von Genesis, Peter Gabriel, Black Sabbath und Led Zeppelin und lernte später Jazz und Punkrock kennen. Seine ersten eigenen Auftritte hatte Güereña in einer Band namens Solución Mortal (deutsch: „tödliche Lösung“), wobei er den Bassisten der Gruppe zu Auftritten in den nahegelegenen Städten Los Angeles und San Diego über die Grenze schmuggeln musste, da dieser keine Reisepapiere hatte.
Güereña gilt als Pionier und Förderer des Ska und Punk in Nordmexiko. Er stellte dem mexikanischen Publikum in den 1980er-Jahren den neuen Musikstil vor, indem er Punkbands aus Kalifornien nach Tijuana brachte. Auf diese Weise gelangten reputable aber auch umstrittene Bands wie die Adolescents, Black Flag, X, Bad Manners und die Dead Kennedys zu Auftritten in Güereñas Heimatstadt. Die von ihm organisierten Konzerte standen jedoch immer im Zusammenhang mit seiner Unterstützung von Bewegungen wie den Sandinistas und dem FMLN sowie später den Zapatisten; Güereña selbst unterstützte prosowjetische Bewegungen in Mittelamerika, respektierte den Maoismus und war von der 1984 gegründeten Revolutionären Internationalistischen Bewegung inspiriert.
Das Entstehen der Band
1988 gründete sich die Band Radio Chantaje („Radio Erpressung“), welche sich im Lauf der Jahre zu Tijuana No! entwickelte. Gründer und Schlagzeuger dieser Band war Alex Zúñiga, der Julieta Venegas einlud, seinem Projekt als Vokalistin beizutreten. Radio Chantaje zeigte hauptsächlich Einflüsse von The Clash, The English Beat, den Sex Pistols, Bob Marley, Iggy Pop, The Damned, den Red Hot Chili Peppers und The Specials.
Alejandro Zúñiga begegnete wenig später Luis Güereña, als er bei einer von Güereña organisierten Veranstaltung Geld für linkspolitische Rebellen in El Salvador und Nicaragua sammelte. Zúñiga schlug Güereña vor, der Musikgruppe beizutreten. Aus Alex Zúñiga, Julieta Venegas, Jesús „Chuy“ González (Gitarre), Omar Veytia, Luis Güereña und Mahuiztecatl „Teca“ García entstand somit eine neue Formation, welche sich den Namen Chantaje gab. In dieser Besetzung war die Band etwa eineinhalb Jahre aktiv. Chantaje hatte ihren ersten Auftritt Ende des Jahres 1988. Eine Demoplatte aus dieser Zeit, die dem Musikstil Ska und Punk zugeordnet wird, gilt als Basis der späteren Band Tijuana No!
Als das Medieninteresse an Chantaje zunahm, kam es in der Band zu einem Richtungsstreit: Güereña wollte Chantaje ein politischeres Image verpassen und sprach in Interviews über seine Pläne, ohne diese mit seinen Bandkollegen abgesprochen zu haben. Chantaje löste sich wenig später auf. Güereña ging nach Los Angeles, um mit John Doe zu arbeiten, konnte jedoch von Zúñiga, der seine Forderungen unterstützte, überredet werden zurückzukommen. Güereña und Zúñiga gründeten 1989 die Band NO, die sich Zeit ihrer Existenz gesellschaftlichen und politischen Themen widmen sollte.
In der Gründungsphase waren El Kilo Múzquiz und César Ortega weitere Mitglieder der Gruppe. Wenig später schloss sich die fünfzehnjährige Cecilia Bastida der Band zuerst als neue Schlagzeugerin an, wechselte nach kurzer Zeit zum Keyboard und erlangte als eine der ersten Frauen im Latin Rock Bedeutung. Unterdessen verließ Venegas die Band, um eine erfolgreiche Solokarriere zu starten. Sie gab an, nie vorgehabt zu haben für immer Teil der Band zu bleiben, und dass sie sich durch die Neuausrichtung der Gruppe eingeschränkt fühlte. Dennoch verließ sie die Formation im Guten. Für kurze Zeit waren auch die Geschwister Zamudio bei der Band. Als diese NO verlassen hatten, bestand die Gruppe aus Cecilia Bastida, Teca García und Luis Güereña sowie aus Jorge Velásquez, Jorge Jiménez und Alejandro Zúñiga. Aus diesem Sextett stammten je drei Musiker aus Mexiko-Stadt und aus Tijuana.
Der Weg zu einem Namen und Plattenvertrag
Die neue Formation probte 1989 zunächst im Haus von Zúñigas Eltern. Anfangs spielte sie rein für sich selbst und dachte nicht daran, ihre Musik zu kommerzialisieren, da keines der Mitglieder von finanziellen Erfolg dieses Projektes abhängig war. Anfang der 1990er erlangte die Band durch provokative Live-Auftritte zunehmend Aufmerksamkeit, von Beginn ihrer Live-Auftritte an fesselten und beherrschten sie ihr Publikum. Enrique Lopetequi, ein uruguayischer Journalist in Diensten der Los Angeles Times, beschrieb die Gruppe in dieser Zeit folgendermaßen:
1990 traten sie als Vorgruppe der Fabulosos Cadillacs und der Maldita Vecindad y los Hijos del Quinto Patio auf. Beim binationalen Bandwettbewerb Duelo de Rebeldes setzten sie sich gegen alle Konkurrenzbands aus Mexiko und den USA durch und gewannen damit 5.000 US-Dollar, welche die Band in erste eigene Aufnahmen investierte.
Gegen Ende des Jahres 1992 machte sich die Gruppe auf den Weg nach Mexiko-Stadt, um dem Label Rock and Roll Circus (heute MEISA) eine Demoplatte vorzustellen. Das Label, das als eines der ersten des Landes den nuevo rock mexicano unterstützte, nahm NO unter Vertrag und produzierte für sie das Album NO.
Durch die Live-Auftritte der Band wurde das Label Culebra, ein unabhängiges Unterlabel von BMG, auf sie aufmerksam und kaufte Rock and Roll Circus sämtliche Rechte an der Vermarktung der Platte ab. Culebra schloss mit der Gruppe einen Vertrag für drei CD-Produktionen ab. In dieser Phase erfuhr die Formation, dass es in Ciudad Satélite (bei Mexiko-Stadt) schon eine Coverband mit genau diesem Namen gab. Die Band wollte jedoch am NO festhalten, da sie unter diesem Namen bereits bekannt geworden war. Als Alternative kam der Name ihrer Heimatstadt ins Spiel, der dem No hinzugefügt wurde (No! de Tijuana); als endgültiger Name wurde schließlich Tijuana No! festgelegt.
Mit dem Wort Tijuana im Bandnamen wollte Tijuana No! nicht nur auf ihre geografische Herkunft aufmerksam machen, sondern noch viel mehr auf die Probleme der Stadt. Tijuana sei eine Stadt von Drogendealern, der Migration und der Maquila-Industrie. Das No! sollte ausdrücken, dass die Gruppe alles ablehne, was nicht mit den politischen, sozialen und existentiellen Bedürfnissen der Bevölkerung übereinstimmt.
Jorge Velásquez fügte dem hinzu, dass beide Wörter eine internationale Bedeutung hätten: Es gebe nur ein Tijuana und jeder auf der Welt kenne das Wort „No“.
Von „Pobre de Ti“ bis „Transgresores de la Ley“
Maßgebenden Anteil am plötzlichen Erfolg hatte das Lied Pobre de Ti („Du armer“), welches noch gemeinsam von Venegas und Zúñiga verfasst wurde. Laut Venegas entstand das Lied und auch dessen Text sehr spontan und schnell. Obwohl Venegas die Band verließ als diese gerade Material für ein Album sammelte und die Gesangsstimme inzwischen Bastida übernommen hatte, identifizierten manche Fans Venegas mit diesem Lied und verlangen es von ihr bei ihren Solo-Auftritten. Noch 1992 wurde die erste Single auf der Plaza de Santo Domingo präsentiert und dabei Material für das Video zum Lied gesammelt. 1992 traf die Band beim Festival Rola 92 in Mexiko-Stadt, Guadalajara und Hermosillo erstmals auf Fermin Muguruza und Negu Gorriak.
Den ersten Erfolgen mit Pobre de Ti folgte im Jahr 1994 die Veröffentlichung des Albums Tijuana No!, welches inhaltlich mit dem Album NO aus Rock-and-Roll-Circus-Zeiten identisch ist, jedoch in Los Angeles neu gemastert wurde. Dieses Ska-lastige Werk enthält neben Pobre de Ti zwölf weitere Lieder, worunter sich erste Songs mit sehr kritischen Texten befinden, wie etwa La Migra, Niños de la Calle („Straßenkinder“) und Soweto, während das erste Lied Cowboys ein Instrumentalthema darstellt. Mit Manu Chao und Mitgliedern von Maldita Vecindad y los Hijos del Quinto Patio – Roco und Sax werden als musikalische Ratgeber angegeben – hatte Tijuana No! namhafte Unterstützung bei der Realisierung ihres Erstlingswerkes. Manu Chao hatte bei einem Mexiko-Aufenthalt mehrere einheimische Bands kennen gelernt, wobei Tijuana No! eine der Formationen war, die ihn am meisten überraschten.
Dem Sextett gelang es schnell Fans des Latin Rock und der alternativen Musik um sich zu scharen. In dem Jahr zwischen der Veröffentlichung ihres Debütalbums und ihres Zweitwerks tourten Tijuana No! durch Mittel- und Nordamerika. Dennoch blieben die Bandmitglieder ihren ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln treu und traten weiterhin bei politisch motivierten Fundraising-Veranstaltungen auf, so zum Beispiel 1994 und 1995 bei den Big Top Locos in Los Angeles neben Bands wie Rage Against the Machine und Youth Brigade.
Mitte der 1990er-Jahre richtete die Gruppe ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die Situation im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, in dem das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) Anfang 1994 erstmals in Erscheinung trat. In der Folge widmeten sie ihr zweites Album, Transgresores de la Ley („Überschreiter des Gesetzes“, 1995), den zapatistischen Rebellen. Nennenswerte Lieder aus diesem Album sind neben dem Titelsong, in dem der Sprecher des EZLN in Form einer Grußbotschaft auftritt, das von Bastida gesungene Clash-Cover Spanish Bombs und das gemeinsam mit Manu Chao aufgenommene Borregos Kamikazes. Die Aufnahme dieses Albums erfolgte in San Sebastián im Baskenland bei Fermin Muguruza. Der Zeit im Studio folgten weitere Touren durch Lateinamerika und die Vereinigten Staaten.
„Contra-Revolución Avenue“, Rekompilationen und Trennung
Culebra zerbrach 1995 an einer teuren Produktion mit desaströsen Verkaufszahlen und kündigte daraufhin alle Verträge mit alternativen Bands. Tijuana No! litt unterdessen unter der räumlichen Distanz zwischen Tijuana und der mexikanischen Hauptstadt, wo das Label seinen Sitz hatte, weswegen die Band beschloss, ihr Hauptaugenmerk auf den kalifornischen Markt und die Latinos in den USA zu richten. Im Anschluss an ein gemeinsames Konzert mit der Band La Castañeda zeigte BMG U.S. Latin Interesse an einer CD-Produktion in den USA. Tijuana No! schloss daraufhin einen Vertrag mit diesem Label ab.
Mit dem 1998 erschienenen dritten Album versuchte die Gruppe in den US-amerikanischen Musikmarkt einzusteigen. Luis Güereña meinte dazu, es sei wichtig, dass möglichst viele Menschen ihre Musik hörten und dass ihre politischen Forderungen dadurch nicht mehr nur in ihrer Heimat Gehör finden würden. Um dies zu erreichen luden Tijuana No! zu Contra-Revolución Avenue Künstler aus aller Welt als Gastmusiker ein, wodurch das Album das Überschreiten von Grenzen wie Sprache, Genre und Staatsangehörigkeit symbolisieren sollte. Unter den 13 Liedern der CD finden sich Kollaborationen mit Rasta-Punker H.R. von den Bad Brains, Chicano-Rapper Kid Frost, Kid Caviar von Horny Toad und Fermin Muguruza von der baskischen Underground-Band Negu Gorriak. Auch der Manager von Tijuana No!, John Pantle, nahm als Posaunist an den Aufnahmen teil.
Tijuana No! fokussierte sich auch auf diesem Album auf das Aufzeigen von Unterdrückung und Heuchelei in Lateinamerika. Der Albumtitel Contra-Revolución Avenue stellt eine Anspielung an die Avenida Revolución dar, der touristischen Hauptstraße Tijuanas, in der Massentourismus, Sexgewerbe und Armut gleichermaßen offensichtlich sind. Teca García erklärte dazu, dass sich die Band als „Verlängerung“ der Stimme der Armen und Unterdrückten verstehe. Das Album-Cover zu Contra-Revolución Avenue gestaltete der Künstler Winston Smith, der stereotype Bilder von Mexiko mit gewaltbetonenden Bildern von dem, „was tatsächlich geschieht“, zu einer Collage verarbeitete.
In der Vorbereitungsphase zu diesem letzten Studioalbum ließen verschiedene Ereignisse erahnen, dass die Band ihren Zenit bereits erreicht hatte: So verließ Bastida 1997 die Gruppe, kehrte jedoch 2000 wieder zurück. Sie wurde in der Zwischenzeit von der japanischstämmigen Punk-Sängerin Mayumi Hideyoshi ersetzt. Zúñiga hatte in der Zwischenzeit die Formation Los Alex ins Leben gerufen.
Da Contra-Revolución Avenue in Mexiko nicht auf den Markt kam, kam es zu Zerwürfnissen zwischen der Band und BMG. Um eine neue CD der Band herauszubringen veröffentlichte BMG im Jahr 2000 den Konzertmitschnitt Live at Bilbao, Spain, der bereits im Mai 1996 aufgenommen worden war. Die Band setzte sich erfolglos dafür ein, dass in ihrer Heimat ein Set aus der Liveaufnahme und ihrem dritten Studioalbum angeboten werde. Schon 1999 war Rock milenium erschienen und 2001 Rock en Español – Lo mejor de: Tijuana No („Spanischsprachige Rockmusik: das Beste von Tijuana No“). Auf diesen beiden Best-Of-CDs, die beide Teil einer Kompilationsreihe sind, wurde auf sämtliche Werke von Contra-Revolución Avenue verzichtet. Juntos, eine 2002 veröffentlichte CD, besteht je zur Hälfte aus Liedern von Tijuana No! und Maldita Vecindad y los Hijos del Quinto Patio.
Nachdem Tijuana No! 2002 ihre baldige Auflösung bekannt gaben, führte sie eine Abschiedstournee durch Mexiko und Europa. Im Dezember 2002 erfolgte im Rahmen des Festival Extremo de Guadalajara die offizielle Trennung der Band. Zuvor hatte Güereña (am 25. Oktober 2002) in einem Interview erklärt, die Gruppe wäre innerlich gespalten, die anderen Bandmitglieder würden das Projekt nicht mehr ernst nehmen, Zúñiga wollte nur mehr Bastidas Lieder spielen und er hätte der Band seinen Ausstieg aus dem Projekt bekanntgegeben.
Nach der offiziellen Auflösung
Trotz der offiziellen Trennung 2002 konzertierte Tijuana No! im November 2003 in Mexiko-Stadt und in Berlin. Ein Auftritt im KTS Freiburg war geplant, wurde jedoch abgesagt. Zu diesem Zeitpunkt war Güereña nicht Mitglied der Gruppe. Weil seine Äußerungen „zu extrem“ geworden waren, musste er laut dem Manager der Band die Gruppe verlassen.
Am 11. Januar 2004 starb Luis Güereña 45-jährig im Norden Tijuanas an einem Herzinfarkt. Aus diesem Anlass spielten Zúñiga, García, Bastida, Velásquez und Jiménez ihm zur Ehre einige Konzerte in Tijuana, Mexiko-Stadt und Los Angeles. Einige der Bands, die sich zu diesen Tribut-Veranstaltungen einfanden, wurden früher von Güereña gefördert oder hatten mit Tijuana No! gemeinsame Gigs. Tijuana No! gingen jedoch nicht, wie Fans erhofften, auf Tournee und traten zudem nicht bei jedem Konzert mit allen fünf verbleibenden Mitgliedern auf. Am 14. April 2006 fand im Multikulti ein vorerst letztes Konzert in der verbliebenen Originalbesetzung statt. Den Gesangspart von Güereña übernahm Luis Sandez, Mitglied der Band Samadhi und langjähriger Freund Güereñas.
2006 wurde die Band mit Pobre de Ti in den Paseo del Rock Mexicano in Mexiko-Stadt aufgenommen.
Weitere Karriere der Musiker
Cecilia Bastida wurde bereits 2000 Hintergrundsängerin und Keyboarderin in der Band von Julieta Venegas und blieb ihr in dieser Funktion bis 2007 erhalten. Sie lebt mittlerweile in Los Angeles und arbeitet seit 2005 an ihrem Einstieg in eine Karriere als Solokünstlerin. Mithilfe des Produzenten Jason Roberts (Control Machete, Plastilina Mosh), Joselo von Café Tacuba und Ozomatli-Bassisten und Grammy-Gewinner Wil-Dog Abers nahm Bastida erste Demos auf, im Mai 2010 erschien ihr Debütalbum Veo la marea.
Alex Zúñiga fungiert als Leiter des Kulturforums und Veranstaltungszentrums Multikulti in Tijuana. Jorge Jiménez ist Gitarrist der 2004 gegründeten Band Agresores, welche als Ehrerbietung an Güereña entstand und mit Tixuanarkía eine CD veröffentlicht hat. Teca García lebt heute in Nord-Hollywood und gründete Ende 2006 mit einigen Freunden die Indie-Reggae-Rock-Band Tijuanos, welche sich wie Tijuana No! aus zapatistischer Sichtweise soziopolitischen Themen widmet. García ist Sänger und Gitarrist dieser Formation. Aus Mitgliedern von Mercado Negro und Tijuana No! entstand die Gruppe Mercado No Identificado, der Zúñiga und Jiménez angehören und bei der Bastida bereits als Gastmusikerin tätig war. Jene Formation tourte 2004 unter dem Namen Tijuana No! auch durch Deutschland.
Wiedervereinigung
Anlässlich der 11. Ausgabe des Festival Iberoamericano de Cultura Musical Vive Latino, vom 23. bis 25. April 2010 in Mexiko-Stadt, vereinigte sich Tijuana No! erneut. Bei ihrem etwa einstündigen Auftritt am Schlusstag des Festivals erhielt die Band Unterstützung von Julieta Venegas, mit der sie Pobre de Ti aufführte. In einer Pressekonferenz nach dem Konzert bestätigten Teca García, Jorge Velázquez, Jorge Jiménez und Alejandro Zúñiga die Möglichkeit einer „offiziellen Rückkehr“ auf die Bühne. Zúñiga bemerkte, die Band fühle sich nun angetrieben ein neues Album aufzunehmen und auf Tour zu gehen, sie habe jedoch beim ersten gemeinsamen Auftritt nach langer Zeit Probleme auf der Bühne gehabt.
Am 31. Juli 2010 gaben Tijuana No! anlässlich ihres 20-Jahr-Jubiläums ein Konzert im Auditorio Municipal zu Tijuana. Seither kommt es zu gelegentlichen Auftritten der Band. 2015 wurde mit Tijuana No: Transgresión y fronteras (Regie: Pável Valenzuela Arámburo) eine Dokumentation über Tijuana No! veröffentlicht.
Musik
Einflüsse
Tijuana No! selbst gaben an, dass die prägendsten Einflüsse auf ihr Schaffen die Werke von Jello Biafra (Sänger der Dead Kennedys), John Doe von X, The Clash und die X-Ray Spex waren. Laut Josh Kun, Associate Professor an der University of Southern California, sei die Band musikalisch genauso von US-Punk-Bands inspiriert gewesen wie von Gruppen aus Tijuana, weswegen die Band nicht als nationales (mexikanisches) Konstrukt zu verstehen sei. Stark geprägt zeigen sich ihre Alben von den an ihnen beteiligten musikalischen Ratgebern und Produzenten: So wird Tijuana No! als stilistisch nahe an Maldita Vecindad beschrieben und Transgresores de la ley als vom baskischen Radikalrock Fermin Muguruzas durchzogen.
Anfänglich sei die Band, so Güereña, vor allem vom britischen Ska (The Specials) geprägt gewesen. Für ihn selbst sei immer der Punkrock essenziell gewesen, wohingegen Velásquez vom Classic Rock, Pink Floyd und Paul McCartney beeinflusst gewesen sei. Zúñiga wiederum sei vor allem von New Wave geprägt gewesen.
Genre und Stilmerkmale
Charakteristisch für die Musik von Tijuana No! sind die zahlreichen Stil-Einflüsse, die von modernen Genres wie Ska-Punk, Latin Rock, Reggae, Metal, Drum and Bass und Hip-Hop bis hin zu Weltmusik und traditionellen Stilen aus aller Welt reichen. Laut Luis Güereña achtete die Band jedoch nicht darauf in bestimmtes musikalisches Genre zu passen. Ihr Sound sei eine Fusion dessen, was jeder in die Gruppe bringe, das wesentlichste Merkmal ihrer Musik sei ihre Vielfalt.
All diese stilistischen Einflüsse gelten als Grundstein des „explosiven, tanzbaren Sounds“ Tijuana No!s. Manche Lieder zeigen stärkere Einflüsse eines Genres als andere. Cowboys und Teile von Fantasma (beide vom Album Tijuana No!) und Sin Tierra aus Contra-Revolución Avenue sind dem Ska sehr nahe; von Reggae geprägt sind Niños de la Calle, der Rest des Liedes Fantasma, Fiesta de Barrio (alle Tijuana No!) und ein Teil von Sin Tierra. Kill Steal, Sí, Ali Baba (y sus 40 mil ladrones), La Migra (alle Tijuana No!), Transgresores de la ley vom gleichnamigen Album und Travel Trouble und Killing Brothers aus Contra-Revolución Avenue sind aufgrund ihrer E-Gitarren-Riffs verschiedenen Rockgenres zuzuordnen. Pobre Frida (Transgresores de la ley) kennzeichnet sich durch ein Baritonsaxophon-Thema; auf Contra-Revolución Avenue findet sich mit Stolen at Gunpoint auch eine Hardcore-Rap-betonte Nummer.
Neben Percussion-Instrumenten, Schlagzeug, E-Gitarren, E-Bass und Blasinstrumenten verwendeten Tijuana No! in ihren Werken verschiedene traditionelle lateinamerikanische Instrumente wie präkolumbianische Flöten und ein Schneckenhorn in der Einleitung zu Transgresores de la ley oder eine Panflöte für die Melodie von El Cóndor Pasa, mit welcher das Lied Renace en la montaña beginnt. Diese Vermischung traditioneller und populärer Musikelemente betont einerseits die Legitimität, dass die Band die Gefühle und Interessen des Publikums vertritt, und andererseits fördert sie die Identifikation zwischen Musikern und Publikum.
Ein anderes wesentliches Element in der Musik Tijuana No!s ist die Tatsache, dass der Band mit Güereña, García und Bastida drei Sänger zur Verfügung hatte, deren Stimmen eigene Funktionen einnahmen; in einigen Liedern sind zusätzlich Stimmen von Gastmusikern wie Manu Chao, Fermin Muguruza, Kid Frost und Kim Deal zu hören. Güereñas knurrend-heulender Gesang wurde in erster Linie für die satirischen Punk-Texte eingesetzt. Bastida sang mit herzlicher Stimme die melodiösen Popmelodien und Teca García, dessen Gesang Einflüsse von Folk, Funk, Rock und Ska verbindet, übernahm zusätzlich die Rap-Passagen. Güereña verstand sich selbst jedoch nicht als Sänger der Gruppe, sondern als ihr wichtigster Texteschreiber und „Schreier“.
Inhalte, Aussagen und Programm
In seinem Beitrag (“The Sun Never Sets on MTV”: Tijuana NO! and the Border of Music Video) zum Sammelband Latino/a Popular Culture schreibt Josh Kun über die Band:
Tijuana No! verstanden sich als Sprachrohr der Unterdrückten auf beiden Seiten der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko sowie des zentral- und südamerikanischen Raumes. Laut Luis Güereña würde die Band so lange über politisches Bewusstsein singen, bis sich die Lebensqualität der Unterschicht weltweit verbessert habe. Aus Sicht der Gegner der mexikanischen Regierung sagten Güereña und die Band lediglich die Wahrheit über alltägliche Ungerechtigkeit; die Band repräsentierte den Teil der mexikanischen Bevölkerung, die das alte System satt hatte, und die glaubte, es zerstören und durch etwas Besseres ersetzen zu können. Sich selbst bezeichnete die Band nicht als politisch; Jorge Velásquez sagte über die Motivation der Band:
Für ihre Ideale trat die Gruppe nicht nur in ihren Texten ein, sondern auch bei Benefizveranstaltungen wie Rock por Chiapas, Gira por la Libertad und Vibra Votán por las 3 señales oder bei antirassistischen Veranstaltungen in Grenzcamps nahe Tijuana. Die zahlreichen Kollaborationen mit Musikern aus allen Teilen der Welt symbolisieren das Überschreiten von Grenzen und dienen der Bündelung des musikalischen und geistigen Potentials der Künstler, wodurch Sprachbarrieren, Schubladisierungen und Nationalismen durchbrochen werden sollten.
Dass die Band beim multinationalen Label BMG unter Vertrag stand und ihre Musikvideos auf MTV gespielt wurden, sich auf ihren Konzerten und in ihren Liedtexten jedoch gegen den Unternehmensexpansionismus und Kontrolle aussprach, die ihr Label und MTV verkörperten, sei, so Josh Kun, aus marxistischer Sicht höchst widersprüchlich und ungereimt. Kun selbst sieht dies jedoch als eine Strategie: Tijuana No! nutze die Technologie und die kapitalistische Produktionsweise zur Verbreitung ihrer Botschaften.
Entstehen der Liedtexte
Die Liedtexte der Band sind in den Sprachen Spanisch, Englisch und Spanglish verfasst und großteils von den Bandmitgliedern gemeinsam erarbeitet: Nachdem ein Lied fertig komponiert wurde, verfassten die Mitglieder individuelle Texte, verglichen diese Vorschläge und verarbeiteten sie schließlich zu den fertigen Letras. Einige Ausnahmen davon sind die Lieder Pobre de Ti (Text von Julieta Venegas), Spanish Bombs (Cover von The Clash), El Sordo und Sí (César Ortega), Pobre Frida und La Esquina del Mundo (Fermin Muguruza) und das aus Zusammenarbeit mit zahlreichen Musikern aus anderen Ländern entstandene Album Contra-Revolución Avenue.
Themen
Die mexikanisch-US-amerikanische Grenze
Enrique Lavin definiert Tijuana No! nicht nach ihrem Herkunftsland, sondern als . Die geographische Lage Tijuanas an der Grenze zu den Vereinigten Staaten beschrieben Tijuana No! in La Esquina del Mundo („die Ecke der Welt“) als ; inspiriert von Eduardo Galeanos Werk Die offenen Adern Lateinamerikas, dessen Titel sie leicht abgewandelt im Refrain erwähnen (Originaltitel: Las venas abiertas de América Latina; im Liedtext: Venas abiertas de Latinoamérica), sprechen sich Tijuana No! für die Öffnung der Grenzen aus.
Das Lied und das Video dazu entstanden 1994, im selben Jahr wie die California Proposition 187, welche die Rechte der illegal Eingewanderten jenseits der Grenze stark minderte. Im von Angel Flores-Torres gedrehten Musikvideo spielt die Band live am Strand nahe Tijuana vor dem Grenzzaun. Laut Josh Kun vereint der Song Lyrics über die politische und künstlerische Realität an der Grenze und verschiedene Musikstile, die in beiden Amerikas erfunden und entwickelt wurden; das Lied sei nicht lediglich eines an oder von der Grenze oder über die Grenze, sondern ein Lied, das die Grenze ist (). Teile des Videos zu Pobre de Ti wurden ebenso im unmittelbaren Grenzgebiet gedreht; in der Einleitung dazu erinnert ein Graffiti an der Grenzbarriere an die Teilung Berlins:
Güereña entsagte der Grenze jegliche Existenzberechtigung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit in Mexiko führte er auf die Dominanz der „Yankees“ zurück. Travel-Trouble aus dem Album Contra-Revolución Avenue spricht von der „Scheinheiligkeit“ des kapitalistischen Systems, in dem es für Umweltverschmutzung und Geldverkehr keine Grenzen gebe, während Menschen ohne Papiere der Grenzübertritt verweigert werde, obwohl sie zum Sichern ihrer Subsistenz die Grenze überschreiten müssten.
Kritik an den USA
Im Intro zu La Migra sind ein hektisches Gespräch zweier mexikanischer Flüchtlinge an der US-mexikanischen Grenze und das Rauschen der Rotorblätter eines Helikopters der US Border Patrol zu hören. Anschließend parodiert Güereña in gebrochenem Spanisch einen INS-Officer, der durch ein Megaphon die Mexikaner auffordert zurück nach Mexiko zu gehen, weil sie ihm zu hässlich sind. Das Lied endet mit dem Ausruf „Fuck the USA!“.
La Migra und Gringos Ku Klux Klanes zielten auf den kalifornischen Gouverneur Pete Wilson und rassistische anti-immigrantische Stimmung ab. Bei Liveaufführungen verkleidete sich Güereña als Uncle Sam, Freiheitsstatue oder Pete Wilson mit Hitlerbart, zeigte den Hitlergruß und rief „Heil a California! Heil a Pete Wilson! Heil a [California Proposition] 187!“. Er beschimpfte das Publikum, bis dieses verärgert darauf reagierte. Diese Provokationen sollten dazu führen, dass sich das Publikum Gedanken über den Ursprung von Rassismus, Diskriminierung und Migration macht. Güereña trug häufig T-Shirts mit dem Aufdruck Beaner, einem englischsprachigen exonymischen Ethnonym für Mexikaner.
Imperialistische Geschichte
In Stolen at Gunpoint nahmen Tijuana No! und Kid Frost zusätzlich zu weiterer Kritik an der US-amerikanischen Migrationspolitik auch zu einer historischen Komponente der US-amerikanisch-mexikanischen Beziehungen Stellung: dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, der in massiven Gebietsverlusten Mexikos endete. Die Musiker präsentieren sich im Video als Neorevolutionäre auf der Jagd nach Gouverneur Wilson; durch die Kollaboration mit einem Chicano entlarven sie die „Lüge“ der Grenze als Trennlinie, so Josh Kun. Hauptziel des Liedes sei die Wiederbesiedlung des ehemals mexikanischen Territoriums durch mexikanische Migranten.
Tijuana No! beschränkten sich in ihrer Kritik an Imperialismus und Rassismus nicht lediglich auf das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA. Sie behandelten auch in anderen Regionen der Welt grassierende Formen des Rassismus, wie zum Beispiel im Lied Soweto, in dem Nelson Mandela als Hoffnung für die jahrzehntelang unterdrückte schwarze Bevölkerung Südafrikas und als ihr Führer gepriesen wurde.
Revolutionen und Solidarität mit Untergrundbewegungen
In den Danksagungen auf der Platte Transgresores de la Ley erwähnte Güereña das EZLN „und niemand anderen“. Das Album, der Titelsong und das Video dazu stellen ein Tribut an die „Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung“ dar, die als Reaktion auf das am 1. Januar 1994 in Kraft getretene Nordamerikanische Freihandelsabkommen entstand und der mexikanischen Regierung den Krieg erklärte. Ebenso bekannten sich andere Vertreter der mexikanischen Rockmusikszene zu der indigenen Guerillaorganisation – auch Resorte, Maldita Vecindad, Santa Sabina und José de Molina schrieben Lieder über die Ereignisse in Chiapas; das Verhältnis zwischen dem EZLN und dem mexikanischen Rock gilt grundsätzlich als sehr eng. Neben dem EZLN unterstützten Tijuana No! auch die peruanische „Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru“ (MRTA), die ebenfalls stark in der indigenen Bevölkerung des Landes verwurzelt ist.
Am Lied Transgresores de la Ley – übersetzt „Gesetzesübertreter“, so bezeichnete die mexikanische Regierung das EZLN – ließ die Band den EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos selbst zu Wort kommen. Das Video, gedreht von Leonardo Bondani, beginnt und endet wie das Lied selbst mit einer Grußbotschaft des Subcomandante, der die Bandmitglieder gebannt lauschen. Im Rest des Videos werden Bilder eines Benefiz-Konzerts zugunsten der Zapatisten vor dem Nationalpalast am Zócalo und eines Protestmarsches indigener Bauern gezeigt. Güereña merkte an, dass dieses Lied geschrieben worden sei, um die Bevölkerung Chiapas’ und die zapatistischen Kämpfer moralisch zu unterstützen. Dieses Lied sei für ihn sehr emotional und ein Signal zum Aufstehen und Kriegführen.
Im Refrain dieses Liedes verknüpften Tijuana No! zwei Slogans aus der Mexikanischen Revolution und dem Spanischen Bürgerkrieg. ¡No pasarán! („Kein Durchkommen!“) war der Schlachtruf der antifaschistisch-republikanischen Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, denen Tijuana No! mit ihrer Coverversion des Liedes Spanish Bombs gedenken. Bei der mexikanischen Revolution verwendeten die Anhänger des Rebellionsführers Emiliano Zapata den Wahlspruch ¡Tierra y Libertad! („Land und Freiheit!“), den Zapata von der magonistischen Bewegung übernommen hatte. Josh Kun beschreibt das Lied Transgresores de la Ley als Hommage an Zapata, der im Liedtext in Form der Parole ¡Zapata vive! („Zapata lebt!“) namentlich erwähnt wird. Signalwörter wie dignidad („Würde“), libertad („Freiheit“) und democracia („Demokratie“), die ebenfalls im Songtext vorkommen, sind weitere zapatistische Parolen, die mittlerweile von sozialen Bewegungen in vielen Teilen der Welt aufgegriffen worden sind.
System- und Gesellschaftskritik
Mit Patético Cuadro formulierten Tijuana No! ihr Misstrauen gegenüber den mexikanischen Medien, insbesondere dem Fernsehen, und stellten den Informationsmangel als einen ausschlaggebenden Faktor im Chiapas-Konflikt dar.
Liedtexte über soziale Probleme waren in der mexikanischen Rockmusik der 1990er-Jahre häufig zu finden. Meistens solidarisierten sich die Künstler in diesen Liedern mit gesellschaftlichen Unterschichten, wie Tijuana No! in Sin Tierra mit den Landlosen und in Niños de la Calle mit den Straßenkindern.
Tijuana No! prangerten weiters die Korruption in der mexikanischen Politik an. Güereña trat bei Konzerten häufig gegen Abbildungen Carlos Salinas de Gortaris, des mexikanischen Präsidenten von 1988 bis 1994, in dessen Amtszeit mehrere Korruptionsfälle bekannt wurden und in welche auch die Unterzeichnung des NAFTA-Vertrags und damit der Aufstand der Zapatisten fällt. In Borregos Kamikazes sang Manu Chao als Gastmusiker . Um auch der Allgemeinheit die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Mexiko öffentlich zu verkünden, übergab Güereña das Mikrophon bei Auftritten gelegentlich dem Publikum.
Die mexikanische De-facto-Einheitspartei PRI und das mexikanische Militär bezeichnete Güereña als , die dem Land, das „buchstäblich alles“ habe, alles wegnehme. Als die PRI um die Jahrtausendwende nach und nach an Einfluss verlor, meinte er:
Nicht durch Lieder aber durch T-Shirts kritisierte Güereña auch die Katholische Kirche. Mit einer Fotomontage, die den Papst mit schwangerem Bauch zeigt, karikiert er die ablehnende Haltung der Kirche gegenüber der Empfängnisverhütung.
Tribute
Mit ihren Liedern zollten Tijuana No! nicht nur den modernen Bewegungen MRTA und EZLN ihren Tribut. Neben mexikanischen Nationalhelden wie Emiliano Zapata oder Pancho Villa (zum Beispiel in Somos Más, Stolen at Gunpoint) werden auch der Indigenenanführer Tupaq Amaru II. aus dem heutigen Peru (in Renace en la Montaña) und der Südafrikaner Nelson Mandela (Soweto) in Songtexten erwähnt.
In Sin Tierra erwähnen sie die Madres de Plaza de Mayo, die seit 1977 gegen das „Verschwindenlassen“ von Regimekritikern in Argentinien protestierten. Porträts von Che Guevara waren mitunter Teil des Bühnenbildes; Frida Kahlo, eine vom Marxismus überzeugte mexikanische Malerin, rühmten Tijuana No! im Lied Pobre Frida:
Stimmen über Tijuana No!
Musikalische Kritiken
In seinen CD-Rezensionen für den All Music Guide bemängelt Don Snowden wiederholt die zu starken Einflüsse ihrer Mentoren und das Fehlen einer eigenen klanglichen Identität. Das Erstlingswerk der Band zeige allzu starke Einflüsse von Manu Chao und Maldita Vecindad y los Hijos del Quinto Patio; die Gruppe spiele ihre Einflüsse vor, ohne dass die Musik je eine eigene Gestalt annehme. In seiner Kritik zum Nachfolgewerk Transgresores de la ley betont Snowden noch einmal, dass das Album Tijuana No! ziellos und unzusammenhängend wirke . Letztendlich, so Snowden, bleibe die Frage nach der musikalischen Identität der Band unbeantwortet; die jamaikanischen Rhythmen aus dem Debütalbum seien vom baskischen Radikal-Rock des Produzenten Fermin Muguruza überschwemmt worden. Bei diesem Urteil bleibt Snowden auch nach der Veröffentlichung von Contra-Revolución Avenue, indem er abermals betont, dass Tijuana No! weiterhin eine klangliche Identität fehle. Die Band zeige echte Musikalität nur, wenn Ceci Bastida die Lead-Vocals übernimmt. Das Bemerkenswerteste sei neben der weiter ungelösten Frage nach ihrer Identität, dass stets Gäste mit großen Namen bei ihren Aufnahmen mitmachen.
„Bedauerlicherweise“ wurde Cecilia Bastida, die als eine der wenigen herausragenden weiblichen Sänger des spanischsprachigen Rocks (rock en español) neben Andrea Echeverri von den Aterciopelados bezeichnet wird, auf den ersten beiden Alben nur selten die Leadstimme überlassen, schrieb das US-amerikanische Musikmagazin Frontera.
Andere Stimmen behaupten, Tijuana No! hätten innerhalb der mexikanischen Szene einen großen Vorsprung in ihrem Musikstil gehabt, Luis Güereña wurde nach seinem Tod gar als Pionier der Rock-, Ska- und Punkmusik in Nordmexiko bezeichnet. Einer von vielen Bandbeschreibungen zufolge vermenge die „legendäre“ Band „Elemente aus Ska, Pop, Rock und traditioneller mexikanischer Musik miteinander zu einer energiegeladenen Synthese […], die ihnen, gepaart mit ihren konsequent politischen Texten, eine wirklich einzigartige Vitalität verleiht“ und sie sei die einflussreichste Punkband Mexikos, wenn nicht gar Südamerikas.
Programmatische Vorreiterrolle
Laut The Rough Guide to Rock unterscheidet sich Tijuana No! von anderen sozialkritischen Bands in Mexiko zum einen dadurch, dass sich unter ihren Werken Lieder mit klar revolutionärem Charakter finden. Zum anderen zeigen ihre Titel stilistisch keine eindeutig mexikanische Prägung, da sie härtere Genres als frühere Bands in Mexiko verwendeten. Laura Hightower nannte die Band die eindringlichste und streitlustigste einer neuen Rockmusikbewegung. In anderen Bandbeschreibungen wird Tijuana No! als erste mexikanische Skaband mit einem politischen Hintergrund beschrieben, Enrique Lavin nannte Tijuana No! im Juli 1998 im CMJ New Music Monthly die politischste aller mexikanischen Bands. Serge Dedina bezeichnete Tijuana No! als Wegbereiter einer „ganzen alternativen Musik- und Kunst-Szene“.
Josh Kun schrieb, die Musikvideos der Band würden zu einer „Entwicklung einer neuen Grammatik der Globalisierung“ drängen:
Antisemitismus-Vorwurf
Bei einem Auftritt in Mexiko-Stadt sagte Luis Güereña, es sei kein Zufall, dass während der Terroranschläge am 11. September 2001 keine Juden im World Trade Center gewesen seien. Deswegen und wegen des Hitlergrußes in den Bühnenshows wurden der Band antisemitische Tendenzen vorgeworfen. Ein Auftritt in Deutschland wurde abgesagt, da sich die Band von dieser Aussage Güereñas aus Sicht der Veranstalter nicht ausreichend distanzierte. Alex Zúñiga bekräftigte, dass die Band weder antisemitisch noch antijüdisch sei und dass Güereña, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Teil der Band war, alleine für seine Äußerungen verantwortlich sei.
Der Politikwissenschaftler John Holloway beschrieb diese Äußerungen und antiamerikanistische Parolen angesichts der Rolle, welche die USA in Lateinamerika gespielt hätten, als „kaum überraschend“ und „mehr als verständlich“: Macht werde mit den Vereinigten Staaten gleichgesetzt und Antiamerikanismus zunehmend hoffähig. In diesen Kreisen wäre Antinordamerikanismus „fast per definitionem“ mit Antizionismus und nicht selten auch mit Antisemitismus verbunden, sprach hingegen die mexikanische jüdische Kolumnistin Esther Shabot.
Werkverzeichnis
Literatur
Roberto D. Hernández: Sonic Geographies and Anti-Border Musics: “We Didn’t Cross the Border, the Borders Crossed Us”. In: Arturo J. Aldama, Chela Sandoval, Peter J. García (Hrsg.): Performing the US Latina and Latino Borderlands. Indiana University Press, Bloomington 2012, ISBN 978-0-253-00295-2, S. 235–257 (englisch)
Josh Kun: “The Sun Never Sets on MTV”: Tijuana NO! and the Border of Music Video. In: Michelle Habell-Pallán und Mary Romero (Hrsg.): Latino/a Popular Culture. New York University Press, New York / London 2002, ISBN 0-8147-3624-6; S. 102–116 (englisch)
Josh Kun: Audiotopia. Music, Race, and America. University of California Press, Berkeley / Los Angeles / London 2005, ISBN 0-520-24424-9 (englisch)
Weblinks
Tijuana No! auf last.fm: auf Spanisch, auf Deutsch
Winston Smith: Cover-Art zum Album Contra-Revolución Avenue bzw. Live at Bilbao, Spain
Einzelnachweise
Rockband
Mexikanische Band
Skaband
Antirassismus |
2351558 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schanzen%20Einsiedeln | Schanzen Einsiedeln | Die Schanzen Einsiedeln, früherer Name Nationale Skisprunganlage Eschbach Einsiedeln, gelegentlich auch als Einsiedlerschanzen bezeichnet, sind eine Skisprungschanzen-Anlage im Ortsteil Eschbach von Einsiedeln im Kanton Schwyz. Die Anlage besteht aus vier Schanzen, der Andreas Küttel-Schanze (ehemals AKAD-Schanze), der Simon Ammann-Schanze (ehemals Swisscom-Schanze), der Grossen KPT-Schanze und der Kleinen KPT-Schanze. Die Namen der beiden grössten Schanzen erinnern an die beiden Schweizer Skispringer Andreas Küttel und Simon Ammann. Die Schanzen sind das wichtigste Trainingszentrum der Schweiz und regelmässige Austragungsorte des FIS Sommer Grand Prix.
Standort
Die Schanzen liegen etwa einen Kilometer Luftlinie nordwestlich des Ortskerns Einsiedelns, oberhalb des Ortsteils Eschbach. Der Schanzentisch der Andreas-Küttel-Schanze, der grössten der Schanzen, befindet sich auf einer Höhe von 950 Metern über Meer.
Beschreibung
Die Schanzen Einsiedeln bestehen gegenwärtig aus vier Schanzen, der Andreas Küttel-Schanze (ehemals AKAD-Schanze, nach einem Sponsor), der Simon-Ammann-Schanze (ehemals Swisscom-Schanze) sowie aus der Grossen und der Kleinen KPT-Schanze. Die grösste der Schanzen ist die Andreas Küttel-Schanze mit einem Konstruktionspunkt (K) von 105 Metern und einer Hillsize (HS) von 117 Metern. Damit ist sie die grösste Mattenschanze der Schweiz. Vom Tal aus links neben dieser gibt es einen Sessellift, mit dem Springer nach oben fahren können. Daran schliesst sich die Simon Ammann-Schanze mit einem Konstruktionspunkt von 70 Metern und einer Hillsize von 77 Metern an. Unmittelbar neben dieser befindet sich die Grosse KPT-Schanze (K45, HS50). Vom Tal aus rechts neben der Andreas Küttel-Schanze liegt freies Gelände, auf dem später eine K120-Schanze errichtet werden soll. An diese Fläche schliesst noch die Kleine KPT-Schanze mit einem K-Punkt von 25 Metern und HS28 an. Alle Schanzen verfügen über Anlaufspuren aus Keramik und haben mit Matten belegte Aufsprunghänge, so dass Springen im Sommer möglich ist. Ebenso ist die Anlage mit Beschneiungsanlagen ausgestattet. Im Boden unter dem Auslauf der Andreas Küttel-Schanze sind Umkleiden und Duschen für die Athleten eingerichtet. Der Kampfrichterturm steht vom Tal gesehen links neben der Grossen KPT-Schanze. Die HS117 und die HS50 sind mit Flutlicht ausgerüstet, so dass auch Springen am Abend möglich sind.
Der Anlaufturm der Andreas Küttel-Schanze ist 44 Meter hoch. In ihm befindet sich ein Aufzug und eine Treppe. Auf der Spitze des Turmes gibt es einen sogenannten Panoramaraum, der sieben Meter in Richtung Tal auskragt. An dem quadratischen Turm ist die Anlaufbahn verankert. Sie überspannt frei 69 Meter und ist um 35° geneigt. Für den Aufsprunghang wurde eine bis zu 15 Meter hohe Aufständerung aus Stahl errichtet, auf der eine Holzkonstruktion ruht. Dies ist notwendig, um das natürliche Hangprofil auszugleichen. Auf Höhe des Schanzentisches steht neben der Schanze ein Betonturm mit einer Plattform für die Trainer an der Spitze.
Bei der Simon Ammann-Schanze verläuft ein grosser Teil des Anlaufs entlang des natürlichen Hangprofils. Lediglich das oberste Drittel im Bereich der Startluken verläuft auf einer Betonkonstruktion. Auch bei dieser Schanze wurde der Aufsprunghang mit einer Aufständerung an das erforderliche Profil angepasst. Ebenso wie bei der HS117 ist auch hier die Trainerplattform auf einem neben dem Schanzentisch stehenden Betonturm angebracht.
Die beiden KPT-Schanzen sind Naturschanzen, bei denen sowohl für die Anlaufbahn als auch für den Aufsprunghang dem Gelände entsprechend modelliert wurde. Hochbauten sind nicht erforderlich.
Im Sprungrichterturm ist neben einem Auswertungsraum auch ein VIP-Bereich untergebracht, auf dem Dach gibt es eine Dachterrasse.
Nutzung
Die Schanzenanlage gehört der Betreibergesellschaft Schanzen Einsiedeln AG und wird von dieser sowohl dem örtlichen Skiverein, dem SC Einsiedeln, als auch dem Schweizer Skiverband Swiss-Ski zur Verfügung gestellt. Die Nutzungsvereinbarung berücksichtigt Trainings der Swiss-Ski-Nationalkader, der Regionalverbände und von Skiclubs. Daneben können auch Athleten ausländischer Teams die Anlage gegen Gebühr nutzen. Die Schanzen bilden so das wichtigste Skisprung-Trainingszentrum der Schweiz. Im Jahr 2008 führten Sportler aus 14 Nationen in rund 1.000 Trainingseinheiten über 20.000 Sprünge durch.
Um neben Trainings und nationalen Wettkämpfen auf den Schanzen auch internationale Wettbewerbe veranstalten zu können, verfügen die HS117 und die HS77 über gültige Schanzenprofilbestätigungen des internationalen Skiverbandes FIS. Wichtigste Veranstaltung ist der seit 2005 jährlich auf der HS117 ausgetragene FIS Sommer Grand Prix, daneben werden auch Wettbewerbe des Skisprung-Continental-Cups, des FIS-Cups und des Alpencups auf der Schanze ausgetragen. Ausrichter dieser Springen ist der Verein Sportveranstaltungen Einsiedeln. 2006, 2008 und 2009 fanden auf den Schanzen auch die Schweizer Meisterschaft im Skispringen statt.
Der Panorama-Raum im Turm der Andreas Küttel-Schanze kann für Gruppen bis zu 40 Personen zu verschiedenen Anlässen gemietet werden. Der Sprungrichterturm wird für House-Running genutzt, der Aufsprunghang der HS117 kann mit Luftkissen-Schlitten (Airboards) befahren werden. Auf der Kleinen KPT-Schanze wird Skispringen für Jedermann angeboten.
Geschichte
In Einsiedeln wurde bereits seit 1912 auf dem Fryherrenberg Skispringen betrieben. Mitte der 1980er-Jahre baute Werner Küttel, Vater von Andreas Küttel, gemeinsam mit Pater Kassian Etter im Umfeld von Klosterschule und Internat Einsiedeln einen als air'sport Einsiedeln bezeichneten Trainingsstützpunkt für Spezialspringer und Kombinierer auf. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es die Idee, in der Nähe eine Sprunganlage mit mehreren Schanzen zu errichten. Schliesslich gründete sich 1994 eine Kommission um in Einsiedeln ein neues Schweizer Trainingszentrum für das Skispringen zu planen. Sie prüfte mehrere Varianten, bis schliesslich der Ortsteil Eschbach als Standort der neuen Skisprungschanzen feststand. Daraufhin wurde 1999 die Genossenschaft Nationale Skisprunganlage Eschbach Einsiedeln (NaSE) gegründet. 2001 entstand am geplanten Standort zunächst eine als Probeschanze bezeichnete K20, die drei Jahre später wieder abgerissen wurde. Im Sommer 2002 wurde ein Ingenieurwettbewerb durchgeführt, an dem sich sechs Ingenieurbüros beteiligten. Vorgabe der Planungskommission war, dass die neue Anlage fünf Schanzen mit Konstruktionspunkten von 25, 45, 70, 105 und 120 Metern umfassen sollte. Der Entwurf des Zürcher Planungsbüros Henauer Gugler AG und der Architekten Burkhard & Lüthi konnte sich in diesem Wettbewerb durchsetzen, veranschlagt war eine Bausumme von 8.5 Millionen Franken für alle fünf Schanzen. Zur Finanzierung des Projekts sollten neben Geldern aus dem Nationalen Sportanlagen-Konzept des Bundes (NASAK) und Darlehen auch Spenden dienen. Für Aufsehen sorgte dabei die Schenkung von einer Million aus dem Nachlass eines anonymen Engländers.
2003 begann der Bau der Schanzenanlage. Es wurden zunächst nur die vier kleineren Schanzen errichtet, die im Entwurf vorgesehene K120 soll erst später folgen. Während der Bauarbeiten kam es zu einem Erdrutsch am Aufsprunghang, was zu Verzögerungen und geringen Mehrkosten führte. Ausserdem musste der Sprungrichterturm nachträglich modifiziert werden, da die Sicht auf die Schanzen eingeschränkt war. 2005 waren die Schanzen schliesslich fertiggestellt. Die Baukosten beliefen sich auf 14,5 Millionen Franken, somit waren die Schanzen etwa sechs Millionen Franken teurer als veranschlagt. Die Schanzen wurden zunächst nach Sponsoren als AKAD-Schanze (HS117), Swisscom-Schanze (HS77) und als Grosse und Kleine KPT-Schanze (HS50 und HS28) bezeichnet. Zur Einweihung fanden am ersten Juliwochenende 2005 Tage der offenen Tür statt. In deren Rahmen führten die Einsiedelner Skispringer Andreas Schuler (HS28), Salome Fuchs (HS50), Adrian Schuler (HS 78) und Andreas Küttel (HS117) die Jungfernsprünge von den Schanzen durch. Guido Landert erzielte bereits an diesem Wochenende von der HS117 eine Weite von 120,5 m. Unter Wettbewerbsbedingungen, die für einen Schanzenrekord Voraussetzung sind, wurde diese Weite erst drei Jahre später erreicht. Ende Juli 2005 fanden mit zwei Continental Cups auf der AKAD-Schanze die ersten internationalen Wettkämpfe statt. Das unter Flutlicht ausgetragene erste Springen am 23. Juli 2005 gewann Andreas Küttel vor dem Deutschen Michael Neumayer und dem Schweizer Simon Ammann. Am Folgetag konnte der Pole Marcin Bachleda das Springen für sich entscheiden, gefolgt von den beiden Schweizern Ammann und Michael Möllinger. Drei Wochen später wurde mit einem Sommer Grand Prix erstmals ein erstklassiges internationales Springen auf der Schanze veranstaltet, das der Slowene Robert Kranjec für sich entscheiden konnte. Seither wird jährlich ein Springen des Sommer-Grand-Prix auf der Schanze veranstaltet, weniger regelmässig finden auch Springen des FIS-Cups und des Alpencups statt.
Durch die erhöhten Kosten beim Schanzenbau hatte die Betreibergenossenschaft NaSE von Beginn an finanzielle Schwierigkeiten. Im Mai 2007 war die Situation so bedrohlich geworden, dass nur eine aus dem Lotteriefonds entnommene Finanzhilfe durch den Kanton Schwyz einen Konkurs der Genossenschaft abwenden konnte. Trotz eines Sanierungsplanes des Wirtschaftsanwalts Karl Heinrich Wüthrich und einer auch von den Springern Küttel und Ammann unterstützten Spendenaktion konnte die Gesellschaft nicht stabilisiert werden und musste schliesslich im September 2007 Konkurs anmelden. Ende Mai 2008 wurde die Schanze zwangsversteigert. Das Konkursamt schätzte den Wert der Anlage auf 5,2 Millionen Franken. Bei der Versteigerung ging sie jedoch für nur 120.000 Franken an die Bauunternehmung Aufdermaur Söhne AG, die bereits eine der Hauptgläubigerinnen der ehemaligen Betreibergenossenschaft war. Nach dem Konkurs wurde der Betrieb auf der Schanze übergangsweise von Swiss-Ski geführt. Am 1. August 2008 fand erstmals zusätzlich zum jährlichen Grand Prix im Spezialspringen auch ein Sommer-GP in der Nordischen Kombination statt, den der Schweizer Ronny Heer für sich entscheiden konnte. Zum 1. Januar 2009 übernahm eine neu gegründete Betreibergesellschaft, die Schanzen Einsiedeln GmbH, den Betrieb der Schanzen. Neben der Aufdermaur Söhne AG werden die Anteile an dieser auch von am Skisprungsport interessierten Organisationen und Privatpersonen gehalten, darunter auch der Einsiedler Springer Küttel.
Am 12. Mai 2009 wurden schliesslich die bisherige AKAD-Schanze in Andreas Küttel-Schanze umbenannt, die bisherige Swisscom-Schanze erhielt den Namen Simon Ammann-Schanze.
Am 19. Mai 2019 haben die Stimmbürger des Bezirks Einsiedeln einen Kredit für den Ausbau der Schanzen auf einen Winterbetrieb mit 70,7 % abgelehnt. Die Zukunft der Schanzen ist mit dieser Entscheidung ungewiss.
Schanzendaten
Schanzenprofil
Entwicklung des Schanzenrekords
Andreas Küttel-Schanze
Internationale Wettbewerbe
Genannt werden alle von der FIS organisierten Sprung- und Kombinationswettbewerbe, nicht berücksichtigt sind Juniorenwettbewerbe.
Spezialspringen
Nordische Kombination
Siehe auch
Liste der Grossschanzen
Weblinks
Offizielle Homepage der Betreibergesellschaft
Einzelnachweise
Einsiedeln
Bauwerk im Kanton Schwyz
Sport (Einsiedeln)
Erbaut in den 2000er Jahren |
2359036 | https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20Homosexualit%C3%A4t%20in%20den%20Vereinigten%20Staaten | Geschichte der Homosexualität in den Vereinigten Staaten | Die Geschichte der Homosexualität in den Vereinigten Staaten war bis ins 20. Jahrhundert eine Geschichte von Menschen, die ihre sexuelle Orientierung angesichts drohender Strafverfolgung, gesellschaftlicher Ächtung und Diskriminierung oft nur im Verborgenen ausleben konnten. Aufgrund dieser Verborgenheit, für die sich in der englischen Sprache der Ausdruck „in the closet“ (Deutsch: im Wandschrank) eingebürgert hat, ist die Geschichtsforschung heute mit einer meist unbefriedigenden Quellenlage konfrontiert. Besonders unzureichend dokumentiert ist bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Leben homosexueller Frauen. Dabei bestanden subkulturelle Nischen, in denen Homosexuelle durchaus ihren eigenen Lebensstil entfalten konnten, nachgewiesenermaßen schon im frühen 20. Jahrhundert.
Wie in vielen anderen Ländern hat sich auch in den USA das kulturelle Verständnis der Homosexualität im Laufe der Geschichte von „Sünde“ über „Verbrechen“ und „Krankheit“ bis hin zu „natürliche Gegebenheit“ gewandelt. Da die amerikanischen Bundesstaaten jeweils eigene Strafgesetze haben, vollzog sich die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen in den USA in vielen Einzelschritten. Illinois war 1962 der erste Bundesstaat, der sein Gesetz gegen sexuelle Perversionen (engl. sodomy) abschaffte, zu denen auch die Homosexualität gezählt wurde. In anderen Bundesstaaten konnten homosexuelle Handlungen bis ins Jahr 2003 bestraft werden.
Die Anpassung der Gesetzeslage hinkte der sozio-kulturellen Entwicklung weit hinterher. Die Gleichstellung der Homosexuellen war Teil und Folge einer allgemeinen Befreiung der Sexualität aus kulturellen Traditionen, die im 20. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung verloren und dem Konzept der sexuellen Selbstbestimmung wichen. In den USA begann die Emanzipation der Homosexuellen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Wichtige Stationen waren Alfred Kinseys Studie Das sexuelle Verhalten des Mannes (1948), die Gründung der Mattachine Society (1950), die Mitwirkung späterer homosexueller Aktivisten im Civil Rights Movement (1955–1968), der Stonewall-Aufstand (1969), die Gründung von Kampforganisationen wie der Gay Liberation Front (1969), die Streichung der Homosexualität aus dem Krankheitskatalog der American Psychiatric Association (1973), die Neuorientierung der Schwulenbewegung während der Aids-Krise (seit 1981), die Einbeziehung von weiteren Personengruppen wie z. B. Bisexuellen und Transgender (seit den 1990er Jahren) und im 21. Jahrhundert der politische Kampf um die gleichgeschlechtliche Ehe.
Homosexualität in den indigenen Kulturen
Mehr als 130 verschiedene indigene Völker Nordamerikas besaßen eine spezielle Kategorie für Männer, die Frauenkleidung trugen, „Frauenarbeit“ wie Korbflechterei und Töpferei verrichteten, sexuellen Umgang mit Männern hatten und innerhalb der Gemeinschaft eine besondere spirituelle Funktion übernahmen. Diese sogenannten Two-Spirits wurden nicht als homosexuell eingestuft, sondern einem dritten oder vierten Geschlecht zugeordnet, dessen Besonderheit darin bestand, dass ein und demselben Körper zwei Seelen innewohnten. Unter den ersten Weißen, die auf dem Gebiet der späteren USA Two-Spirits beobachteten und beschrieben, waren christliche Missionare und Entdecker wie Álvar Núñez Cabeza de Vaca, Jacques Marquette, Pierre Liette und Pierre François Xavier de Charlevoix. Selbst ethnologisch interessierte Weiße wie der Künstler George Catlin, der Two-Spirits noch in den 1830er Jahren beobachtete, beschrieb und malte, befürworteten deren Ausrottung. Obwohl im Rahmen der Wiederbelebung indigener Kulturgüter sich auch heute vereinzelt Angehörige indigene Völker als Two-Spirits bezeichnen, ist dieser Bestandteil der indigenen Kultur mit ihrer Unterwerfung durch die Europäer jedoch weitgehend verloren gegangen.
Kolonialzeit
Vom Beginn der weißen Kolonialisierung Nordamerikas bis weit ins 20. Jahrhundert war die Wahrnehmung von Homosexualität von der biblischen Tradition geprägt, die das Phänomen untrennbar mit der Sündhaftigkeit von Sodom und Gomorra in Verbindung brachte. Besonders die Puritaner, die von 1620 an in großer Zahl nach Neuengland auswanderten, verabscheuten sexuelle Unzucht (engl. sodomy) und empfanden sie neben bestiality (deutsch: Zoophilie) als die schlimmste der Sünden überhaupt.
Außer in Georgia, wo eine gesetzliche Regelung für homosexuelle Handlungen fehlte, war „Sodomie“ in allen britischen Kolonien, die 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten, strafbar. In New York, New Jersey, Delaware, Maryland und North Carolina wurde sie über lange Zeit hinweg nach dem britischen Common Law behandelt, das ohne Ansehen des Tätergeschlechtes jede sexuelle Handlung kriminalisierte, die nicht der Fortpflanzung diente. In New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut, Virginia und South Carolina galten eigene Gesetze, deren Wortlaut meist an das Sodomieverbot des 3. Buch Mose angelehnt war. In Pennsylvania änderte sich die Rechtslage wiederholt; solange die Quäker in dieser Kolonie den Ton angaben (1681–1693), war Pennsylvania auch die einzige Kolonie, in der männliche homosexuelle Handlungen nicht mit dem Tode bestraft wurde. Außer in Massachusetts unterlagen Frauen den Sodomiegesetzen grundsätzlich ebenso wie Männer; Strafverfolgungen wegen lesbischer Handlungen waren in der Kolonialzeit jedoch äußerst selten.
(Siehe auch: Chronologie der Sodomiegesetze in den Vereinigten Staaten.)
Der erste überlieferte Fall eines Weißen, der auf dem späteren Staatsgebiet der USA wegen „Sodomie“ hingerichtet wurde, ist der des französischen Übersetzers Guillermo, der sein Leben 1566 in der neuspanischen Kolonie Florida verlor. Der erste bekannte Sodomiefall in einer der britischen Kolonien war der von Richard Cornish, der 1625 in Virginia gehängt wurde, nachdem er angeblich einen anderen Mann vergewaltigt hatte. 1629 wurden fünf junge Männer, die an Bord der Talbot in die Massachusetts Bay Colony einreisten, homosexueller Handlungen beschuldigt; die lokalen Autoritäten fühlten sich der Aburteilung eines so schrecklichen Verbrechens nicht gewachsen und schickten die Jungen zur Bestrafung nach England zurück. Die erste Frau auf dem Boden der britischen Kolonien, die sich wegen einer lesbischen Beziehung zu verantworten hatte, war 1648 eine Einwohnerin der Massachusetts Bay Colony, Elizabeth Johnson. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden nur wenige Sodomiefälle bekannt, sodass sie als Ausnahmeereignisse mit hohem Seltenheitscharakter galten.
18. und 19. Jahrhundert
Liberalisierung des Strafrechts
Nach der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten im Jahre 1776 behielten die Gründungsstaaten ihre Sodomieregelungen aus der Kolonialzeit bei, die für homosexuelle Handlungen zwischen Männern im Regelfall die Todesstrafe vorsahen. Gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen waren in den meisten Bundesstaaten grundsätzlich ebenso strafbar, wurden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts jedoch nur sehr selten verfolgt und meist milder bestraft als entsprechende Handlungen zwischen Männern. Im Zuge einer allgemeinen Liberalisierung, die ihre Anregungen aus der Aufklärung und der Französischen Revolution empfangen hatte, war Pennsylvania 1786 der erste der damals 13 US-Bundesstaaten, der die Todesstrafe für „Sodomie“ abschaffte. An die Stelle der Todesstrafe trat dort eine 10-jährige Gefängnisstrafe und die Einziehung des gesamten Vermögens. Andere amerikanische Bundesstaaten zogen nach; in South Carolina konnten überführte „Sodomiten“ jedoch noch bis ins Jahr 1873 zum Tode verurteilt werden.
Beginnende Psychiatrisierung der Homosexualität
Die Psychiatrisierung der Homosexualität, d. h. die Auffassung, Homosexualität sei eine Geistesstörung, fand ihren Höhepunkt erst mit der Begründung der Psychoanalyse (1896). Ihre Wurzeln liegen jedoch bereits im frühen 19. Jahrhundert. In sexualpädagogischen Publikationen wie The Young Man’s Guide (William Andrus Alcott, 1833) und Lecture to Young Men on Chastity (Sylvester Graham, 1834) wurden unerwünschtem Sexualverhalten wie Masturbation oder Homosexualität erstmals dramatische gesundheitliche Folgen wie Wahnsinn, Veitstanz, Epilepsie, Idiotie, Lähmung, Schlaganfall, Erblindung, Hypochondrie und Schwindsucht zugeschrieben.
Geduldete Grenzformen
Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Verfolgung von Homosexuellen durch das Entstehen des auch in den USA verbreiteten Freundschaftskultes erschwert. In den gebildeten Bevölkerungsschichten gewannen gleichgeschlechtliche Freundschaften damals häufig einen exklusiven und emotional stark aufgeladenen, bisweilen erotischen Charakter. Dennoch fanden sie gesellschaftliche Billigung, da man – nach Meinung vieler neuerer Literaturhistoriker zu Unrecht – annahm, dass es dabei nicht zu wirklichen sexuellen Kontakten kam. Aufschlussreiche Dokumente finden sich etwa in den Arbeiten und Nachlässen der Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803–1882), Henry David Thoreau (1817–1862), Bayard Taylor (1825–1878) und Walt Whitman (1819–1892).
Eine sozio-kulturelle Besonderheit des 19. Jahrhunderts war die sogenannte Boston Marriage (deutsch: „Bostoner Ehe“), eine emotional intensive und exklusive Langzeit-Freundschaft zwischen zwei – oft dem Feminismus zugewandten – Frauen, die in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebten und dieser Lebensform größere Freiheit für ein soziales oder politisches Engagement verdankten, als wenn ihnen die Beschränkungen auferlegt gewesen wären, die für Ehefrauen damals normal waren. Anwenden lässt sich der Begriff zum Beispiel auf die Schriftstellerinnen Sarah Orne Jewett und Annie Adams Fields sowie auf die Frauenrechtsaktivistinnen Susan B. Anthony und Anna Howard Shaw. Dass eine Frau das Zusammenleben mit einer anderen Frau der Ehe mit einem Mann vorzog, wurde in der viktorianischen Zeit deshalb akzeptiert, weil man annahm, dass diese Frauen nicht durch erotische Interessen verbunden waren. Ob diese Frauen als frühe Lesben reklamiert werden dürfen, ist in der feministischen Forschung heute umstritten.
1900–1940
Strafverfolgung
Wie John Loughery beschrieben hat, führte nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg (1917) die Massenrekrutierung amerikanischer Soldaten zu einer Häufung von Fällen homosexueller Handlungen. Zu einer ausgedehnten Verfolgung homosexueller Männer kam es zum Beispiel während des Newport Sex Scandal, der sich 1919 in der Navy-Basis in Newport, Rhode Island ereignete. Im Verlaufe der Untersuchungen wurden dort mehrere Dutzend Zivilisten und Militärangehörige verhaftet, darunter auch ein Militärgeistlicher der Episkopalkirche.
Die erste Organisation
Ende 1924 gründete Henry Gerber in Chicago die Society for Human Rights. Obwohl diese Organisation sich pro forma als Interessenvertretung von Menschen mit „geistigen Anomalien“ präsentierte, war es de facto die erste Schwulenrechtsorganisation der Vereinigten Staaten. Sie veröffentlichte auch die erste Homosexuellenzeitschrift der USA, die – nach einem deutschen Vorbild gestaltete – Friendship and Freedom. Nur wenige Monate nach ihrer Gründung wurde die Society for Human Rights von der Chicagoer Polizei wieder aufgelöst.
Frühe subkulturelle Nischen und Treffpunkte
Die Industrialisierung hatte der Mittelschicht im 19. Jahrhundert einen zunehmenden Wohlstand beschert, der zu einem weitreichenden Wandel der Lebensformen führte. Homosexuelle Männer profitierten davon besonders, denn sie konnten ihre Herkunftsfamilien nun leicht verlassen, um Arbeits- und Lebensgemeinschaften mit anderen Männern zu bilden. Mit der Bowery besaß New York City bereits in den 1890er Jahren einen schwulen Distrikt. Lokale wie die Columbia Hall, die Manilla Hall, das Little Bucks und das Slide waren bevorzugte Treffpunkte männlicher Homosexueller, die aufgrund ihrer extravaganten modischen Erscheinung damals oft als fairies (deutsch: Feen) bezeichnet wurden.
Im schwarzen New Yorker Stadtteil Harlem, der seit dem Ende des Ersten Weltkrieges den Rang der „Kulturhauptstadt“ des schwarzen Amerika beanspruchen durfte, gab es in den 1920er Jahren Lokale, in denen Männer miteinander tanzen konnten und in denen Drag-Bälle veranstaltet wurden. In dieser Zeit bot die von Liberalität und Offenheit geprägte Harlem Renaissance besonders günstige Bedingungen für die Entstehung einer homosexuellen Szene. Homosexuelle und bisexuelle Künstler wie Langston Hughes, Richard Bruce Nugent, Countee Cullen, Ma Rainey, Bessie Smith, Gladys Bentley, Alberta Hunter und Ethel Waters entfalteten hier eine nicht unbedingt nach außen hin sichtbare, aber doch blühende Subkultur.
In Downtown Manhattan beheimatete der Stadtteil Greenwich Village eine homosexuelle Szene, in der weibliche und männliche Cross-Dresser auf Maskenbällen auftreten konnten, etwa in der Webster Hall. Empfangen wurden Homosexuelle auch in Privatclubs wie dem von Polly Holladay. In den frühen 1930er Jahren entwickelte sich der Times Square zum schwulen Distrikt, in dem homosexuelle Männer in Boarding Houses (deutsch etwa: Pensionen) häufig unbehelligt zusammenlebten. Einschlägige Cruising-Bereiche waren unter anderem die Hafendocks, wo Einheimische mit Seeleuten in Kontakt kommen konnten. Öffentliche Toiletten wurden bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert zur Aufnahme homosexueller Kontakte genutzt. Auch in anderen amerikanischen Großstädten entstanden erste Treffpunkte, etwa in San Francisco, wo 1933 die Black Cat Bar eröffnet wurde. Für die meisten Amerikaner waren diese Subkulturen weitgehend unsichtbar; wie der Historiker George Chauncey aufgewiesen hat, bestanden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch zahlreichere und vielfältigere homosexuelle soziale Welten als etwa in der Mitte des Jahrhunderts. Generell gilt, dass Homosexuelle und Bisexuelle im frühen 20. Jahrhundert weniger als in späteren Zeiten unter dem Druck standen, sich hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung festzulegen und als schwul zu bekennen, und mehr Freiheit besaßen, zwischen unterschiedlichen Welten zu „pendeln“.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert konnten erstmals auch lesbische Frauen ihren eigenen Lebensentwürfen folgen. Seit in den USA die ersten Frauen-Colleges gegründet wurden, konnten sie studieren, und da das Studium und die sich damit ergebende Möglichkeit selbständiger Erwerbsarbeit für Frauen oftmals eine Entscheidung gegen die Ehe war, bildeten viele von ihnen Arbeits- und Lebensgemeinschaften mit anderen Frauen, die weit über das Studium hinaus reichten. In Settlement Houses (deutsch etwa: Wohnheime) konnten Lesben unbehelligt zusammen wohnen, oftmals ihr ganzes erwachsenes Leben lang. Wie viele der frühen Akademikerinnen lesbisch waren, ist schwer zu bestimmen und in der Forschung umstritten. Eine soziale und kulturelle Nische konnten Lesben auf jeden Fall auch in Organisationen wie der Young Women’s Christian Association (YWCA) oder in dem 1912 in Greenwich Village gegründeten radikal feministischen Club Heterodoxy finden. Eine frühe Identifikationsfigur der lesbischen Subkultur war die Schriftstellerin Willa Cather (1873–1947), die mit ihrer Lebensgefährtin in Greenwich Village 40 Jahre lang zusammenlebte und in deren Romanwerk viele Interpreten homosexuellen Subtext zu finden meinen.
Manche homosexuellen Amerikaner zogen dennoch ein Leben im Ausland vor. Eine der berühmtesten von ihnen ist die Schriftstellerin Gertrude Stein, die mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas fast vier Jahrzehnte lang in Paris lebte. Bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert lebten dort auch die offen bisexuelle Tänzerin Isadora Duncan sowie die Dichterin Natalie Clifford Barney, die intim mit Renée Vivien verbunden war. In Rom hatten Mitte des 19. Jahrhunderts die lesbische amerikanische Bildhauerin Harriet Hosmer und die Schauspielerin Charlotte Saunders Cushman gelebt, letztere gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Matilda Hays.
Weder ausreisen noch eigenen homosexuellen Lebensentwürfen folgen konnten die meisten amerikanischen Schwarzen und Angehörigen der Unterschicht, da sie unter subsistenzwirtschaftlichen Bedingungen lebten, in denen junge Menschen einerseits nicht auf das Familiennetzwerk verzichten konnten und die Familien andererseits nicht ohne die Mitarbeit der Jungen auskamen. Frauen, auch lesbische Frauen, konnten es sich unter solchen Verhältnissen insbesondere nicht leisten, kinderlos zu bleiben, da Kinder als Arbeitskräfte überlebensnotwendig waren. Subkulturelle homosexuelle Nischen konnten unter derartigen Bedingungen kaum entstehen und blieben darum vorerst ein Privileg der besser Verdienenden.
Auf die Weltwirtschaftskrise folgte in den 1930er Jahren in vielerlei Hinsicht eine Renaissance der Prüderie. Auch das schwule öffentliche Leben wurde zurückgedrängt. Die New Yorker Bühnen waren bereits seit 1927 durch das Wales Theatrical Padlock Bill daran gehindert, homosexuelle und andere als pervers geltende Inhalte darzustellen. In einem Akt der vorauseilenden Selbstzensur unterwarf sich die nationale Filmproduktionsindustrie 1934 dem Production Code (auch: Hays Code), der festschrieb, welche Filminhalte für das Kinopublikum moralisch akzeptabel seien. Punkt 2–4 des Code – Sex perversion or any inference to it is forbidden. (deutsch: Sexuelle Perversion oder jeder Rückschluss darauf ist verboten) – schloss auch die Darstellung homosexueller Inhalte aus. Da auch Presse und Hörfunk das Thema aussparten und – mit der Ausnahme medizinischer Fachliteratur – auch Bücher sich mit Homosexualität nicht beschäftigten, konnte man in der gesamten Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in den USA aufwachsen, ohne jemals auch nur einem Hinweis darauf zu begegnen, dass es so etwas wie Homosexualität überhaupt gab.
Auch in den 1930er und frühen 1940er Jahren konnten Homosexuelle sich in Städten wie New York jedoch weiterhin treffen – vorausgesetzt, sie gehörten der Oberschicht an. Berühmte schwule Treffpunkte dieser Zeit waren die Metropolitan Opera, das Sutton Theater und elegante Bars wie der Oak Room des Plaza-Hotels und die Bar im Astor Hotel. In anderen amerikanischen Großstädten gab es ähnliche Orte. Im Gegensatz zu den Treffpunkten der weniger Reichen waren diese diskreten Lokale vor Polizeirazzien weitgehend geschützt. New Yorker Lesben trafen sich in den 1930er und 1940er Jahren im Howdy Club.
Mit Monty Woolley, Clifton Webb, William Haines und dem Latin-Lover-Darsteller Cesar Romero gab es in Hollywood bereits in den 1920er und 1930er Jahren einige Filmstars, die aus ihrer Homosexualität kaum einen Hehl machten.
Der Zweite Weltkrieg
Zu den Ereignissen, die auf die Entstehung einer Gruppenidentität der amerikanischen Homosexuellen den größten Einfluss hatten, zählt der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg (1941). 13 % der amerikanischen Bevölkerung traten während des Krieges den Streitkräften bei. Eine größere Konzentration homosexueller Männer hatte keine andere Einrichtung in den USA jemals hervorgebracht, und die Paradoxie der Situation bestand darin, dass die Militärführung Homosexualität zwar zu unterdrücken und zu stigmatisieren suchte, die Homosexuellen selbst jedoch überwältigt waren vom Eindruck ihrer eigenen Zahl. Da in der Truppenbetreuung nicht genügend weibliche Kräfte zur Verfügung standen, förderte die militärische Leitung Drag Shows, die von vielen Homosexuellen genutzt wurden, um auf verdeckte Weise eine schwule Kultur zu etablieren und zu pflegen.
In den weiblichen Organisationen – wie Women’s Army Corps (WAC) und Women Accepted for Volunteer Emergency Service (WAVES) –, in denen während des Zweiten Weltkrieges 275.000 Frauen dienten, entstand eine blühende lesbische Subkultur. Doch auch den lesbischen Zivilistinnen kamen die Kriegsverhältnisse insofern entgegen, als es in dieser männerlosen Zeit kaum Aufsehen erregte, wenn Frauen mit Frauen ausgingen.
Bis in die frühen 1940er Jahre hatten die amerikanischen Streitkräfte sich nur vereinzelt mit homosexuellen Vorkommnissen auseinandersetzen müssen, denen mit den Mitteln der Militärgerichtsbarkeit begegnet werden konnte. Als diese Fälle sich während des Zweiten Weltkrieges häuften, unternahm die Militärführung erstmals Anstrengungen, Homosexuelle durch psychiatrische Tests von vornherein am Eintritt in die Armee zu hindern. Diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch als wenig erfolgreich, da weder die Tests zuverlässig waren noch die homosexuellen Rekruten ein Interesse daran hatten, mit dem Stigma der Homosexualität, das sie auch im Zivilleben nicht wieder losgeworden wären, ausgemustert zu werden. Von den 18 Millionen gemusterten Männern wurden weniger als 5.000 wegen Homosexualität nicht in die Streitkräfte aufgenommen. Viele Homosexuelle suchten beim Militär auch Gelegenheit, unter Beweis zu stellen, dass sie nicht dem Klischee der Effeminiertheit entsprachen, und traten vorzugsweise besonders „maskulinen“ Organisationen wie dem Marine Corps bei. Die Zahl der Männer und Frauen, die während des Krieges wegen ihrer Homosexualität aus den Streitkräften entlassen wurde („blue discharge“), betrug jedoch fast 10.000. Für die Betroffenen war die Rückkehr ins Zivilleben oft schwierig, da sie nicht nur unfreiwillig „geoutet“ waren, sondern auch die Sozialleistungen nicht erhielten, auf die entlassene Militärmitglieder normalerweise Anspruch hatten.
1945–1968
Ent-Psychiatrisierung der Homosexualität
Mit dem Aufstieg der Psychoanalyse (ab 1896) setzte sich auch in der amerikanischen Psychiatrie die Auffassung durch, Homosexualität sei eine neurotische Störung. Diese Meinung wurde auch von Institutionen mit humanitären Anliegen wie den Quäkern unterstützt, die in den 1940er Jahren den sogenannten Quaker Emergency Service betrieben, dessen Readjustment Centers als Rehabilitationseinrichtungen vor allem auf männliche Homosexuelle zugeschnitten waren. Die Ursache für Homosexualität vermuteten die Psychiater bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges meist in einem „hormonellen Ungleichgewicht“, das häufig medikamentös „behandelt“ wurde. Andere zeittypische Behandlungsformen, mit denen versucht wurde, Homosexuelle zu „kurieren“, waren die traditionelle Psychoanalyse, Aversionstherapie, Schockbehandlung und Lobotomie (letztere bis 1951). Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden homosexuelle Frauen und Männer zwangsweise in Krankenhäuser eingeliefert, manche suchten psychologische Behandlung auch aus eigenem Antrieb. Insgesamt galt Homosexualität bis zum Zweiten Weltkrieg als sehr seltenes Phänomen.
1941 veröffentlichte der New Yorker Psychiater George Henry seine auf Hunderten von Interviews basierende Studie Sex Variants. Die methodisch strittige Untersuchung war die erste in den USA, die einen repräsentativen Querschnitt der weiblichen und männlichen Homosexualität der Zeit bot.
Generell wurde die Sexualmoral in dieser Zeit liberalisiert. Ein wichtiger Faktor war das Verfügbarwerden von Antibiotika. Sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis und Gonorrhoe wurden heilbar, und die Angst vor ihnen stand einer Ausweitung der sexuellen Freizügigkeit nicht länger im Wege. Während für die heterosexuellen Amerikaner die Sexuelle Revolution erst nach der Einführung der Antibabypille (1960) beginnen konnte, genossen die Homosexuellen entsprechende Bedingungen bereits seit den 1930er Jahren.
Mitglieder der amerikanischen Streitkräfte waren, wenn der Verdacht der Homosexualität auf sie fiel, in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges noch inhaftiert worden. 1944 ordnete die Militärführung an, dass solche Personen stattdessen zwangshospitalisiert wurden. Die Militärpsychiater erhielten auf diese Weise Gelegenheit, Homosexuelle in einer Zahl und Repräsentativität zu studieren, wie dies in den USA noch niemals vorgekommen war. Eine kleine Anzahl von Psychiatern – darunter Clements Fry und Edna Rostow – zog aus diesen Untersuchungen Rückschlüsse, die sich mit der verbreiteten Lehrmeinung, nach der Homosexualität eine Störung sei, nicht mehr vereinbaren ließen, fanden jedoch nur wenig Gehör.
1948 folgte Alfred Kinseys Studie Das sexuelle Verhalten des Mannes. Diese ebenfalls auf Interviews basierende Untersuchung erregte weites Aufsehen, weil sie die amerikanische Öffentlichkeit erstmals mit der Tatsache konfrontierte, dass Homosexualität und Bisexualität keine „Randgruppen“-Phänomene waren, sondern in mehr oder weniger starker Ausprägung die Mehrheit der Bevölkerung betrafen. Kinseys Arbeit trug beträchtlich dazu bei, den gesellschaftlichen Diskurs über Sexualität von religiös-moralischen Deutungen zu befreien und zu verwissenschaftlichen. Das von Kinsey 1947 gegründete Kinsey-Institut veröffentlichte später viele weitere wichtige Studien zur Homosexualität.
1951 erschien Edward Sagarins unter dem Pseudonym Donald Webster Cory veröffentlichter Bericht The Homosexual in America. Das Buch, das aus homosexueller, sympathisierender Sicht geschrieben war und eine weite Leserschaft fand, lieferte ein umfassendes Porträt der männlichen homosexuellen Subkultur.
1957 veröffentlichte Evelyn Hooker ihre viel beachtete Studie The Adjustment of the Male Overt Homosexual, in der erstmals nachgewiesen wurde, dass homosexuelle Männer sich im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit von heterosexuellen Männern nicht unterscheiden. 1965 folgte Judd Marmors Buch Sexual Inversion: The Multiple Roots of Homosexuality, dessen Autor argumentierte, dass die Einstellung gegenüber Homosexualität kulturell determiniert sei. Die American Psychiatric Association (APA) folgte dieser Auffassung und beschloss am 15. Dezember 1973, Homosexualität aus ihrer Liste der Geisteskrankheiten zu streichen. Einzelne namhafte Psychiater wie Charles Socarides und Irving Bieber hielten an ihrer Auffassung, Homosexualität sei eine neurotische Störung, jedoch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fest.
Homosexuelle Kultur in New York
Während des Zweiten Weltkrieges strömten Hunderttausende von Militärangehörigen, die auf dem Wege nach Europa waren oder von dort heimkehrten, durch New York. In den 1950er Jahren lebten hier mehr Künstler und Bilderstürmer jeglicher sexueller Orientierung als in irgendeiner anderen amerikanischen Stadt. Bereits vor dem Krieg war die homosexuelle Community von New York die größte des Landes gewesen, von 1940 an wurde dieser Rang jedoch weiter gefestigt. Viele homosexuelle Kriegsheimkehrer ließen sich in New York nieder. Neue Lokale mit homoerotischen Untertönen entstanden, darunter die Bar im Savoy-Plaza Hotel. 1944 erreichte der seit den frühen 1930er Jahren alljährlich in Harlem veranstaltete Drag Ball seinen Höhepunkt. 1945 entstand die Veterans Benevolent Association (VBA), eine Hilfsorganisation, deren Angebote vor allem an solche ehemaligen Soldaten adressiert waren, die aus den Streitkräften wegen ihrer Homosexualität unehrenhaft entlassen worden waren. Nach dem Krieg wurde das Kulturleben der Stadt auch von den Dichtern der Beat Generation geprägt, unter denen sich besonders viele Homosexuelle befanden. In Harlem florierte seit den 1950er Jahren die Mount Morris Baths, eines der ersten inoffiziell schwulen Badehäuser in New York. Badehäuser wurden vom Homosexuellen im selben Umfang als Treffpunkte entdeckt, wie diese ihren ursprünglichen Zweck verloren, da immer mehr Wohnungen mit Badezimmer ausgestattet wurden. In den 1960er Jahren hatte die Stadt eine blühende homosexuelle Szene mit mehr als 40 schwulen Bars und Clubs und auch drei oder vier lesbischen Bars. Für die Entwicklung einer lesbischen Subkultur spielten Bars eine noch viel größere Rolle als für homosexuelle Männer, da für Lesben andere Treffpunkte gar nicht zur Verfügung standen.
Ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges entstand in New York eine homosexuelle Intellektuellenszene, in deren Mittelpunkt der Kunstförderer Lincoln Kirstein stand, in dessen Salon u. a. die Schriftsteller W. H. Auden, Glenway Wescott und Monroe Wheeler und der Maler Paul Cadmus verkehrten. In New York lebten auch homosexuelle Nonkonformisten wie die Dichter Allen Ginsberg, John Ashbery, Frank O’Hara und Audre Lorde, die Schriftsteller Gore Vidal, Truman Capote, Christopher Isherwood, W. H. Auden, William Inge, Arthur Laurents, Edward Albee und Tennessee Williams, die Maler Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Ellsworth Kelly, der Fotograf George Platt Lynes, der Architekt Philip Johnson, der Tänzer Rudolf Nurejew und die Komponisten Leonard Bernstein, Ned Rorem, John Cage, Aaron Copland und Cole Porter. Die meisten dieser Persönlichkeiten zogen es freilich vor, ihre sexuelle Orientierung nicht publik werden zu lassen.
McCarthy-Ära
In der McCarthy-Ära begann in den USA eine Jagd auf so genannte „Subversive“, die nach Überzeugung von Joseph McCarthy und vieler anderer Rechter die amerikanische Regierung auf allen Ebenen infiltriert hatten, um das Land dem Kommunismus auszuliefern. Den „Subversiven“ wurden, ebenso wie andere „Randgruppen“, bald auch „die Homosexuellen“ pauschal zugerechnet. McCarthy und der Staatssekretär John Peurifoy erklärten, es gebe einen „homosexuellen Untergrund“, der der „kommunistischen Konspiration“ Vorschub leiste. Dieser Verschwörungstheorie lag das in Washington kursierende Gerücht zugrunde, dass Hitler zu Erpressungszwecken eine Liste mit homosexuellen ausländischen – auch amerikanischen – Politikern angelegt habe, die 1945 der stalinistischen Sowjetunion in die Hände gefallen sei. Planer der anti-homosexuellen Kampagne war McCarthys Berater Roy Cohn; unterstützt wurde sie jedoch auch vom Chairman des Nationalen Komitees der Republikanischen Partei, Guy Gabrielson. Die Presse prägte die Schlagworte „pervert peril“ (deutsch: perverse Gefahr) und „lavender scare“ (deutsch: lavendelfarbener Schrecken), und vom Frühjahr 1950 an wurde landesweit gegen Homosexuelle ermittelt, was dazu führte, dass homosexuelle Mitarbeiter in großer Zahl aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden. 1954 begann das FBI damit, auch homosexuelle Organisationen zu infiltrieren und zu überwachen.
Zu den weithin wahrgenommenen Kritikern der Diffamierungskampagne zählte der Journalist Max Lerner, der für die Washington Post 1950 eine Artikelserie Washington Sex Story schrieb. Das Beschäftigungsverbot für Homosexuelle im öffentlichen Dienst blieb dennoch bis 1975 bestehen. 1953 unterzeichnete US-Präsident Dwight D. Eisenhower die Executive Order Nr. 10450, die unter anderem bestimmte, dass die Regierung im Interesse der nationalen Sicherheit keine homosexuellen Mitarbeiter beschäftigen dürfe.
Zur größten anti-homosexuellen Hysterie in der amerikanischen Geschichte kam es im Herbst 1955 in Boise, Idaho, wo nach Übergriffen auf angeblich Hunderte von Jungen die Polizei fast 15.000 Einwohner nach den möglichen Mitgliedern eines vermeintlichen homosexuellen Täterringes befragte. Die Ermittlungen erbrachten die Namen von Hunderten von Personen, die der Homosexualität verdächtigt wurden. Schließlich wurden 16 Männer verhaftet, 9 davon wurden verurteilt.
Homosexuelle im Civil Rights Movement (1955–1968)
Bereits 1951 hatte Edward Sagarin festgestellt, dass die Diskriminierung von Homosexuellen – ebenso wie die von Juden und Afroamerikanern – in dieser Zeit eines der bedeutendsten Probleme im Umgang mit Minderheiten in den USA ausmachte. Da Homosexualität in den 1950er und frühen 1960er Jahren viel stärker mit Tabus behaftet war als die gesellschaftliche Benachteiligung der Schwarzen, und Homosexuelle sich in dieser Zeit nur sehr selten „outeten“, waren ihre Rechte auf der Agenda der Bürgerrechtskämpfer gänzlich ausgespart. Aktivisten wie Jack Nichols und Franklin E. Kameny, der 1968 den Slogan „Gay is good“ (deutsch: schwul ist gut) prägte, nahmen an Bürgerrechtsdemonstrationen wie dem Marsch auf Washington zwar teil, traten dort jedoch nicht als Vertreter der Homosexuellenbewegung auf.
Einer der prominentesten Aktivisten des amerikanischen Bürgerrechtsbewegung war der offen bisexuelle Schriftsteller James Baldwin, dessen Romane immer wieder den besonderen Druck ausgelotet haben, der auf Menschen liegt, die schwarz und bisexuell sind. Ein anderer offen homosexueller Bürgerrechtsaktivist war Bayard Rustin, der Martin Luther King, Jr. in den 1960er Jahren als Berater diente, sich später aber verstärkt für die Rechte der Homosexuellen einsetzte. Das Civil Rights Movement wurde später zum Modell der homosexuellen Emanzipationsbewegung.
Organisation der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung
Bereits im November 1950 hatte Harry Hay in Los Angeles die erste homosexuelle Organisation der Vereinigten Staaten gegründet, die Bestand haben sollte: die Mattachine Society. Offiziell wurde diese Gründung jedoch erst 1954 und unter einem anderen Leitungsteam. Vorrangiges Ziel der Vereinigung, die bald Niederlassungen in anderen amerikanischen Städten gründete und eine Zeitschrift, den Mattachine Review (1955–1966), herausgab, war die Werbung um gesellschaftliche Anerkennung für Homosexuelle. Ebenfalls 1950 entstanden in Los Angeles die Knights of the Clock, eine Organisation, die gleichgeschlechtliche Paare ungleicher Hautfarbe unterstützte.
1952 gründete eine Gruppe ehemaliger Mitglieder der Mattachine Society ONE, Inc., eine ebenfalls in Los Angeles niedergelassene Homosexuellenrechtsorganisation. ONE, Inc. gab von 1953 an das sehr erfolgreiche ONE Magazine heraus und gründete 1956 das ONE Institute, eine Bildungseinrichtung, die von 1957 an Veranstaltungen zur Geschichte der Homosexualität anbot. Das One Institute wiederum wurde Herausgeber des landesweit ersten wissenschaftlichen Journals zum Thema Homosexualität, des One Institute Quarterly. ONE, Inc. schloss sich 1996 mit dem Institute for the Study of Human Resources (ISHR) zusammen.
1955 wurde in San Francisco die erste lesbische Bürgerrechtsorganisation gegründet. Mit der Organisation Daughters of Bilitis (DOB), die bald Gruppen auch in anderen amerikanischen Städten bildete und die von 1956 an eine Zeitschrift, The Ladder, herausgab, sollte ein soziales Forum geschaffen werden, das im Gegensatz zu Lesbenbars legal und vor Razzien sicher war.
Kameny und Nichols gründeten 1961 die Mattachine Society of Washington, die im Gegensatz zur gleichnamigen New Yorker Organisation politische Veränderungen anstrebte und eine Lobbyarbeit begann, die vor allem darauf abzielte, den Ausschluss von Homosexuellen aus dem öffentlichen Dienst zu beenden. 1962 wurde in Philadelphia die Janus Society gegründet, die das in hoher Auflage gedruckte und viel gelesene Drum Magazine herausgab. 1963 schlossen einige der größten homosexuellen Organisationen in den East Coast Homophile Organizations (ECHO) zusammen.
Am 19. September 1964 gingen erstmals in der amerikanischen Geschichte Menschen für die Rechte der Homosexuellen auf die Straße; eine Gruppe von etwa 10 Demonstranten protestierte an diesem Tag in der Whitehall Street in New York City gegen die Diskriminierung Homosexueller in der Armee. Im Sommer 1965 fanden ähnliche Demonstrationen erstmals auch in der Hauptstadt Washington statt. 1966/67 entstand die North American Conference of Homophile Organizations (NACHO), die erste politische Dachorganisation der Homosexuellenbewegung, die mehr als 6.000 Mitglieder hatte, sich jedoch schon 1970 wieder auflöste. Die erste amerikanische Hochschule, die eine homosexuelle Studentenvereinigung anerkannte, war 1967 die New Yorker Columbia University. Im Januar 1967 protestierten auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles mehrere Hundert Menschen gegen vorausgegangene Polizeirazzien in schwulen Bars; es war dies die bisher größte schwule Demonstrationsveranstaltung. In Greenwich Village in New York eröffnete der Aktivist Craig Rodwell im selben Jahr den ersten schwulen Buchladen des Landes, den Oscar Wilde Memorial Bookshop.
Homosexuelle Kultur außerhalb von New York City
Homosexuelle Subkulturen bestanden schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in vielen amerikanischen Städten, etwa in Chicago, Los Angeles und San Francisco. San Francisco erhielt, seit in den 1950er Jahren die Dichter der Beat Generation dorthin übersiedelt waren, besonders großen Zustrom von Homosexuellen. Der schwule Aktivist José Sarria kandidierte dort bereits im Jahr 1961 für das Amt eines Stadtrats. Die Zeitschrift Life erklärte die Stadt 1964 zur „schwulen Hauptstadt Amerikas“. Im selben Jahr entstand in San Francisco auch die Society of Individual Rights (SIR), die stärker politisch orientiert war als die Mattachine Society und damit vielen später gegründeten Organisationen als Modell diente.
Wie Brett Beemyn gemeinsam mit einem Autorenteam dargestellt hat, gediehen homosexuelle Subkulturen jedoch nicht nur im vermeintlich fortschrittlichen und liberalen Klima großer Städte, sondern auch in ungezählten kleineren Orten.
Religion und Homosexualität
Als in den 1950er und 1960er Jahren Religion in den USA allgemein an Bedeutung verlor und besonders die puritanischen Tabus mehr und mehr fielen, begannen einige religiöse Gemeinschaften, ihre Standpunkte gegenüber der Homosexualität zu überdenken. Die Episkopaldiözese von New York unterstützte bereits 1964 die Entkriminalisierung homosexueller Akte. Ebenfalls 1964 gründeten Reverend Ted McIlvenna und andere Geistliche in San Francisco das Council on Religion and the Homosexual, das mit seiner Werbung um Sympathien für Homosexuelle großen Einfluss insbesondere auf liberale Heterosexuelle nahm. 1967 beschloss eine Versammlung von Vertretern episkopaler Kirchen, dass Homosexualität nicht länger verdammt werden solle. 1968 entstand in Los Angeles die von Homosexuellen getragene Metropolitan Community Church, eine Freikirche, die rapide wuchs und heute Dachorganisation eines ganzen Kirchennetzwerkes ist. Andere Glaubensgemeinschaften wie die Römisch-katholische Kirche und die konservativen protestantischen Kirchen, die oft unter der Bezeichnung Evangelikale zusammengefasst werden, halten an ihrer Verwerfung der Homosexualität hingegen bis in die Gegenwart fest.
Zunehmend gehen die protestantischen mainline-Kirchen, die Mitglied der Organisation Churches Uniting in Christ sind, zur Akzeptanz homosexueller Paare über und ermöglichen Segnungsgottesdienste. Mit den Bischöfen Gene Robinson, Mary Douglas Glasspool und Guy Erwin erfolgten in den letzten Jahren die ersten Weihen von offen homosexuellen Bischöfen in diesen Kirchen.
Innerhalb des amerikanischen Judentums waren der Rekonstruktionismus und das Reformjudentum diejenigen Strömungen, die sich Homosexuellen zuerst öffneten. Mit Beit Chaim wurde 1972 in Los Angeles erstmals eine von Schwulen und Lesben getragene homosexuelle jüdische Kongregation gegründet; ein Jahr später entstand die Beit Simchat Thora-Kongregation in New York City. Bereits 1969 hatten homosexuelle Katholiken die Organisation DignityUSA gegründet; 1974 folgte IntegrityUSA (Episkopalkirche) und 1977 Affirmation: Gay & Lesbian Mormons (Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage).
Homosexualität in den Medien
Nachdem 1963 A. M. Rosenthal Herausgeber der New York Times geworden war, war diese die erste unter den großen amerikanischen Tageszeitungen, die umfangreiche Artikel über Homosexualität veröffentlichte. Leitartikel wie Growth of Overt Homosexuality in City Provokes Wide Concern (17. Dezember 1963; deutsch: Anwachsen offener Homosexualität in der Stadt ruft breite Besorgnis hervor) waren nicht unbedingt homosexuellenfreundlich, beendeten jedoch die lange Verdrängung des Themas aus dem öffentlichen Diskurs und verschaffte ihm landesweite Aufmerksamkeit. Zu den prominentesten Persönlichkeiten, deren – unfreiwilliges – Coming-out Schlagzeilen machte, gehörten der Tennis-Champion William Tilden (1947) und Lyndon B. Johnsons Wahlkampfberater Walter Jenkins (1964).
Die Abschaffung des Hays Code in den 1960er Jahren markiert auch das Ende des unmittelbaren Einflusses, den die katholische Kirche bis dahin auf die amerikanische Filmindustrie ausgeübt hatte. Seit Ende der 1950er Jahre entstanden in Hollywood Filme wie Plötzlich im letzten Sommer (1959), Infam (1961), Sturm über Washington (1962), Spiegelbild im goldenen Auge, Tanz der Vampire (beide 1967), Flesh (1968), Die Volltrottel (The Gay Deceivers), Asphalt-Cowboy (beide 1969) und Die Harten und die Zarten (1970), in denen Homosexualität zunehmend explizit dargestellt wurde.
1969–1980
Stonewall-Aufstand (1969)
Da die New Yorker Alkoholbehörde Bars, die von Homosexuellen besucht wurden, oftmals keine Lizenz zum Ausschank von Alkohol gewährte, in diesen Bars aber dennoch Alkohol ausgeschenkt wurde, kam es in den New Yorker Schwulenlokalen in den 1960er Jahren immer wieder zu Polizeirazzien. Am 28. Juni 1969 mündete eine solche Razzia im Stonewall Inn spontan in eine gewaltsame Vertreibung der Polizisten und eine mehrtägige Belagerung. Da Homosexuelle in den USA bis dahin niemals durch physischen Widerstand in Erscheinung getreten waren, wurde dieser Vorfall in der schwulen Öffentlichkeit weithin wahrgenommen und führte nicht nur zu einer kurzfristigen Solidarisierung, sondern gab auch das Stichwort zur Entstehung der internationalen Gay-Pride-Kampagne. In der Retrospektive schrieben viele homosexuelle Aktivisten den Stonewall-Riots eine mythische Größe zu, die vor allem dem Bedürfnis entsprang, dem schwulen Emanzipationskampf einen symbolischen Auftakt, vergleichbar der Erstürmung der Bastille, zuzuweisen.
Die Razzien nahmen mit dem Stonewall-Aufstand keineswegs ein Ende. Am 8. März 1970 nahm die Polizei im Snake Pit, einer anderen schwulen Bar in Greenwich Village, 167 Gäste fest. Der Vorfall erregte vor allem deshalb Aufsehen, weil einer der Verhafteten, ein junger Argentinier, anschließend aus Angst vor einem Verlust seines Visums aus einem Fenster der Polizeiwache sprang und sich dabei schwer verletzte.
Allgemeine Tendenzen der schwul-lesbischen Kultur nach Stonewall
Einen Teil seiner Sprengkraft verdankte der Stonewall-Aufstand der Tatsache, dass er in eine Zeit fiel, die ohnehin überreich an sozialer und kultureller Veränderung war. Er war eingebettet in einen allgemeinen Wertewandel und eine Liberalisierung der Sexualität, die ebenso in der sexuellen Revolution und in der Hippiebewegung sichtbar wurden.
In großer Zahl verließen Lesben und Schwule die ländlichen Regionen und Kleinstädte, in denen sie aufgewachsen waren und zogen in Städte wie San Francisco, New York City, West Hollywood, Chicago, New Orleans, Atlanta und Houston, die einen steilen Aufstieg als Zentren der offen homosexuellen Kultur erlebten. Diese zerfiel bald in viele kleinere Subkulturen, die jeweils ihre eigenen Treffpunkte hatten. In einer Zeit, in der die heterosexuelle Welt sich der Unisex-Mode und androgynen Leitbildern wie z. B. David Bowie zuwendete, kam es beim schwulen Leitbild jedoch auch zu einer drastischen „Vermännlichung“. In den frühen 1970er Jahren breitete sich weithin der Sozialtypus des so genannten Castro Street Clone aus, der Lederstiefel, eine enge Levi’s 501, eine Lederjacke und ein Oberlippenbärtchen trug und der seinen Körper regelmäßig im Fitnessstudio stählte. Die Leder- und Levi’s-Szene war hochgradig promisk, eine Tatsache, der die Betreiber schwuler Bars und Clubs seit den 1970er Jahren durch die Einrichtung von Darkrooms Rechnung trugen. Überhaupt übernahmen kommerzielle Einrichtungen wie Bars, Kinos und Badehäuser im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zunehmend die Funktionen, die bis dahin Cruising Spots wie Parks und öffentlichen Toiletten erfüllt hatten. Im Laufe der 1970er Jahre entstand daneben eine schwule Partyszene, die auf professionell organisierten Tanzveranstaltungen zusammenkam. Ihren Höhepunkt erlangten diese zweitägigen Circuit Partys, die oft mehr als 10.000 Teilnehmer hatten, jedoch erst in den 1990er Jahren.
Der aufgrund der Psychiatriegeschichte belastete Begriff „homosexuell“ wurde von den schwulen Aktivisten seit den 1970er Jahren ebenso abgelehnt wie der Euphemismus „homophil“; stattdessen wurde der bis dahin nur von Homosexuellengegnern verwendete Begriff gay (deutsch: schwul) zurückbeansprucht und – wertneutral – erneut der Hochsprache einverleibt.
Die Lesben- und Schwulenbewegung seit Stonewall
Die Ereignisse der Stonewall-Zeit kennzeichnen eine Zäsur in der Geschichte der Homosexuellen in den Vereinigten Staaten. So bildeten sie den Ausgangspunkt für eine beschleunigte Vernetzung und Selbstorganisation der in ihrem Selbstbewusstsein erstarkten Subkultur, die sich auch in ihrem politischen Programm grundlegend veränderte. Während die Aktivisten der älteren Generation, wie die Vertreter der Mattachine Society, vor allem um mehr Akzeptanz für Homosexuelle gekämpft hatten, forderten die auf Stonewall folgenden Generationen volle gesellschaftliche Anerkennung und Integration. Auf eine radikale, an Utopien orientierte Phase, die bereits in den frühen 1970er Jahren wieder verebbte, folgte ein zunehmend realpolitisches und auf Reformen abgestelltes Engagement, das die Sicherung von schwul-lesbischen Bürger- und Mitspracherechten zum Mittelpunkt hatte.
Selbstorganisation
Bereits seit 1969 verwendeten amerikanische Homosexuelle vereinzelt die Regenbogenfahne, die von Judy Garlands Song Over the Rainbow aus dem Film Der Zauberer von Oz inspiriert ist und ein Symbol einerseits für lesbischen und schwulen Stolz und andererseits für die Vielfalt ihrer Lebensweise darstellt. Ihre endgültige Gestalt erhielt die Fahne 1978 durch den in San Francisco lebenden Künstler Gilbert Baker.
Die Politisierung, die die homosexuelle Gemeinschaft in der Zeit des Stonewall-Aufstandes erlebte, ging einher mit der Entstehung von Organisationen wie der radikalen Gay Liberation Front (GLF), die in New York City unmittelbar nach dem Aufstand gegründet wurde. Anders als die Mattachine Society kämpfte die GLF für einen umfassenden gesellschaftlichen Umbau. Zum ersten Jahrestag der Stonewall-Ereignisse organisierte die GLF die größte homosexuelle Demonstration, die das Land bis dahin erlebt hatte: eine schwul-lesbische Parade von Greenwich Village zum Central Park mit mehreren Tausend Teilnehmern, das gleichzeitig die erste Gay Pride Parade war. Die Methoden des politischen Kampfes waren seit den späten 1960er Jahren außerordentlich vielfältig und einfallsreich und umfassten neben Demonstrationen (picketings), Flugblattaktionen und Boykotts z. B. auch Gay-ins und Kiss-ins. 1969 gewann der GLF-Aktivist Don Jackson viel Medienaufmerksamkeit, als er versuchte, im kalifornischen Alpine County eine schwule Kolonie zu gründen, die den Namen Stonewall Nation tragen sollte.
Im Dezember 1969 entstand die Gay Activist's Alliance (GAA), die als Symbol den griechischen Kleinbuchstaben Lambda wählten. Die GAA, die im Gegensatz zur GLF eine straffe Binnenorganisation besaß, distanzierte sich von der Gewaltbereitschaft und der radikalen Agenda der GLF, wählte bei ihrem Kampf um die Gleichberechtigung der Homosexuellen jedoch ebenfalls militante Mittel: um Medienaufmerksamkeit zu gewinnen, führten die Mitglieder der GAA so genannte zaps durch, friedliche, aber ungebetene öffentliche Konfrontationen mit Politikern und Fernsehleuten, die bei diesen bald gefürchtet waren.
Da viele Cross-Dresser und Transgender ihre Interessen in der Gay Liberation Front schlecht vertreten sahen, gründeten sie 1970 eine eigene Organisation, die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR). 1971 wurde der Lambda Legal Defense and Education Fund (kurz: Lambda Legal) gegründet, eine Non-Profit-Organisation, die ausgewählte Rechtsfälle durch den Instanzenweg der Gerichte zu bringen versuchte, um in dem an Präzedenzfällen ausgerichteten amerikanischen Rechtssystem Entscheidungen herbeizuführen, von denen auch andere Homosexuelle profitieren würden. 1973 gründeten ehemalige Mitglieder der Gay Activist’s Alliance die National Gay Task Force (NGTF), die bald in National Gay and Lesbian Task Force umbenannt wurde und deren Ziel es war, die Gleichberechtigung der Homosexuellen mit den Mitteln des parlamentarischen Systems durchzusetzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen, die sich für Minderheitenrechte einsetzen, wurden diese Organisationen von Mitgliedern getragen, die häufig über gutes Einkommen verfügten, sodass für ihre Lobbyarbeit und den Wahlkampf ihrer Kandidaten oftmals beträchtliche Geldmengen zur Verfügung standen, wodurch sie zu einer potenten politischen Größe wurden.
Als Alternative zu den schwulen Bars, deren Publikum mit überhöhten Getränkepreisen oft ausbeutet wurde, entstanden in den 1970er Jahren in vielen großen Städten schwule Cafés, die als Non-Profit-Unternehmen betrieben wurden. Daneben richteten viele homosexuelle Organisationen Community Centers ein, in denen Tanz- und Kulturveranstaltungen angeboten wurden.
Im Oktober 1979 organisierten homosexuelle Aktivisten erstmals einen nationalen March on Washington for Lesbian and Gay Rights, eine Demonstrationsveranstaltung in der Landeshauptstadt mit mehr als 100.000 Teilnehmern. 1980 wurde die Human Rights Campaign gegründet, die als heute mitgliederstärkste LGBT-Bürgerrechtsorganisation der USA im Kongress Lobbyarbeit leistet und Kandidaten fördert, die LGBT-Anliegen unterstützen.
Schwuler BDSM
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich aus der amerikanischen Motorradfahrer-Subkultur in Städten wie New York, Los Angeles und Chicago die männliche homosexuelle Lederszene, auf die sich weite Teile der heutigen BDSM-Bewegung zurückführen lassen.
1972 veröffentlichte Larry Townsend ein Leatherman’s Handbook, in dem die Ideen einer Lederbewegung zusammengefasst waren, die später als Old Guard (deutsch: „Alte Garde“) bezeichnet wurde. In den 1990er Jahren entstand als Reaktion auf die Old Guard, die sich durch strenge Verhaltens- und Rollenvorschriften auszeichnete und Lesben und Heterosexuelle weitgehend ausschloss, eine so genannte New-Guard-Lederbewegung, die ein breiteres Spektrum an sexuellen Ausdrucksformen zuließ.
Entwicklungen in der Lesbenkultur
Die einflussreichste amerikanische Lesbenorganisation der 1950er und 1960er Jahre, Daughters of Bilitis (DOB), zerfiel, als ihre Mitglieder in den 1970er Jahren in Streit darüber gerieten, ob ihre Unterstützung der Homosexuellenrechtsbewegung oder dem Feminismus zu gelten habe.
Lesbischer Feminismus
Viele Lesben standen unter dem Eindruck, dass ihre Interessen in den gemischtgeschlechtlichen Organisationen nicht hinreichend vertreten würden. Im April 1970 scherten Rita Mae Brown und andere Frauen aus der Gay Liberation Front aus und gründeten die kurzlebigen Radicalesbians (auch: Lavender Menace), in deren Manifest der frauenidentifizierten Frau erstmals das für die Frauenbewegung einflussreiche Konzept des Lesbischen Feminismus (auch: politischer Lesbianismus) formuliert war. Im Spätsommer 1970 entstanden als weitere Abspaltung die Gay Liberation Front Women. Auch aus der Gay Activist’s Alliance scherte 1971 eine Gruppe von Frauen aus, die sich als Women’s Subcommittee organisierten und 1972 den Namen Lesbian Liberation Committee (LLC) annahmen.
Die lesbischen Feministinnen sahen sich mit einer doppelten Unterdrückung (durch Sexismus und durch Homophobie) konfrontiert und waren davon überzeugt, dass ihre Interessen denen der Männer – auch den Interessen schwuler Männer – diametral entgegengesetzt seien. Sie definierten den Lesbianismus als ein politisches Bekenntnis und gerieten darum mit vielen heterosexuellen Feministinnen in bitteren Gegensatz. Dennoch entstand in den frühen 1970er Jahren eine Frauen- und Lesbenkultur, die sich von patriarchalen und kapitalistischen Strukturen bewusst abgrenzte und die eine Infrastruktur aus Cafés, Buchläden, Restaurants, Zeitungen, Banken, Wohnkollektiven und Konzertveranstaltungen pflegte. Diese Frauengemeinschaft war als autonom, oft sogar als separatistisch konzipiert. Viele lesbischen Frauen gaben dieser Art von Frauenkultur schon deshalb den Vorzug, weil sie ökonomisch weniger stark waren, als dies bei homosexuellen Männer im Durchschnitt der Fall ist.
Während schwule Männer ihren Lebensmittelpunkt vorzugsweise in den „befreiten Zonen“ amerikanischer Großstädte fanden, zogen lesbische Feministinnen in den 1970er Jahren in großer Zahl in kleine Collegeorte wie Ann Arbor, Northampton, Ithaca oder Boulder oder in ländliche Regionen, wo lesbische Lebens- und Arbeitskommunen entstanden, die oftmals stark separatistischen Charakter hatten. Hohe Bekanntheit erlangte z. B. das 1971 gegründete The Furies Collective in Washington, D. C.
Eine Besonderheit des lesbisch-feministischen Kulturlebens, die in der schwulen Community kaum eine Entsprechung fand, waren die zahllosen Musikveranstaltungen und Open-Air-Festivals, zu denen Frauen in den 1970er Jahren zusammenkamen. 1976 entstand z. B. das – seitdem alljährlich organisierte – Michigan Womyn’s Music Festival. Singer-Songwriter, deren Songs das lesbische Lebensgefühl dieser Zeit zum Ausdruck brachten, waren unter anderem Holly Near, Meg Christian, Maxine Feldman, Alix Dobkin und Cris Williamson.
Schwarze Lesben
Lesben mit außereuropäischen Vorfahren fanden ihre besonderen Interessen in keiner der bis dahin entstandenen Vereinigungen angemessen vertreten und gründeten darum eigene Organisationen. Bereits 1976 wurden in New York City die Salsa Soul Sisters gegründet, eine Organisation schwarzer Lesben, die später den Namen African Ancestral Lesbians United for Societal Change annahm. Es folgten die Lesbian and Gay Asian Alliance (1979), die Lesbianas Unidas (1983) und die United Lesbians of African Heritage (Uloah) (1989).
Lesbischer BDSM
Im Juni 1978 entstand mit der Gruppe Samois, die unter dem Slogan The Leather Menace (deutsch: „Die Leder-Bedrohung“) auftrat, erstmals eine Organisation feministischer Lesben, die sich politisch für die Interessen lesbischer Sadomasochistinnen einsetzten. Ihr 1981 veröffentlichtes Handbuch Coming to Power warb innerhalb der lesbischen Öffentlichkeit um Akzeptanz für BDSM. Von Anfang an befanden die Sadomasochistinnen sich jedoch in einem erbittert geführten Streit mit vielen Frauen aus dem Lager des lesbischen Feminismus, die BDSM – ebenso wie Gewaltpornografie und die Butch-und-Femme-Rollenverteilung in vielen lesbischen Beziehungen – für einen besonders frauenfeindlichen Auswuchs der patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse hielten. Die Debatte um BDSM und Pornografie mündete in die so genannten Feminist Sex Wars (deutsch: feministische Sex-Kriege), in denen Samois von Anti-Porno-Gruppen wie Women Against Violence in Pornography and Media (WAVPM) und Women Against Pornography scharf angegriffen wurden. Als Gegenentwurf zum Sexualitätsmodell der lesbischen Feministinnen entwickelten Pat Califia, Gayle Rubin und andere Sadomasochistinnen das Konzept des Sexpositiven Feminismus, der davon ausging, dass sexuelle Freiheit nur dann bestehe, wenn wirklich jede sexuelle Ausdrucksform gewählt werden dürfe.
Outingbewegung
Seit den 1970er Jahren vertraten viele Gay-Libbers (von Gay Liberation, deutsch: schwule Befreiung) den Slogan „Out of the closets, Into the streets!“ (deutsch: Raus aus dem Wandschrank, raus auf die Straße) und beriefen sich einerseits auf die Auffassung, dass das Persönliche politisch sei und sichtbar gemacht werden müsse, und andererseits auf neue Studien wie die von Martin S. Weinberg und Colin J. Williams (Male Homosexuals, 1974), die nachwiesen, dass es Homosexuellen, die ein Coming-out hatten, besser gehe als Männern, die ihre Homosexualität geheim halten. In der homosexuellen Community wuchs jedoch auch der Druck, sich als ausschließlich schwul bzw. lesbisch zu bekennen; Personen, die sich selbst als bisexuell bezeichneten, liefen Gefahr, der Homophobie bezichtigt zu werden. Ausgegrenzt wurden auch Cross-Dresser, Transgender und andere, die nicht ins Bild passten.
Viele Gay-Libbers befürworteten auch das „Outing“ von Personen des öffentlichen Lebens, die selbst ihre Homosexualität nicht öffentlich eingestehen wollten. Da andere diese Praxis für einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre hielten, entstand innerhalb der homosexuellen Öffentlichkeit eine lebhafte Kontroverse. Zu einem politisch-taktischen Outing kam es erstmals 1989, als schwule Aktivisten den republikanischen Senator von Oregon, Mark Hatfield, während einer öffentlichen Veranstaltung mit der Aussage konfrontierten, er sei homosexuell. Später folgten Persönlichkeiten wie der NBC-Nachrichtenkorrespondent Pete Williams, der Verleger Malcolm Forbes, der Schauspieler Richard Chamberlain, die Popsängerin Chastity Bono und der Kongressabgeordnete Edward Schrock. Gestützt wurde die Outing-Bewegung auch durch den Enthüllungsjournalismus von neuen schwulen Zeitschriften wie OutWeek. Um einem in Vorbereitung befindlichen Outing zuvorzukommen, machte der Gouverneur von New Jersey, James McGreevey, 2004 den Medien selbst Mitteilung von seiner Homosexualität.
Viele andere bekannte Persönlichkeiten „outeten“ sich aus eigenem Antrieb, darunter der ehemalige New Yorker Gesundheitsdezernent, Howard Brown (1973), der populäre American-Football-Spieler David Kopay (1977), die Tennisspielerin Martina Navrátilová (1980), der Baseball-Spieler Glenn Burke (1982) und der Fundraising-Pionier Marvin Liebman (1990). Seit 1988 wird in den USA alljährlich der Coming Out Day begangen.
Politik und Rechtsprechung
Unterstützung durch Mainstream-Politiker
Anfang der 1970er Jahre fand die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung erstmals die Unterstützung etablierter Politiker, darunter vor allem Edward I. Koch, Arthur Goldberg, Charles Goodell, Richard Ottinger, Robert Abrams und Bella Abzug. In dieser Zeit erkannten Politiker erstmals, dass schwule Wählerstimmen eine Größe waren, die künftig nicht mehr ignoriert werden konnte. Tatsächlich wahlentscheidend waren diese Stimmen jedoch erstmals 1992 bei der Präsidentschaftskandidatur von Bill Clinton; nach seiner Wahl berief Clinton außerdem fast 100 offen Homosexuelle in seine Regierung, darunter Roberta Achtenberg und den an Aids erkrankten Bob Hattoy.
Aufhebung der Sodomiegesetze
Homosexuelle Sexualpraktiken wie analer und oraler Sex, die in der englischen Gesetzessprache traditionell als „Sodomie“ bezeichnet wurden, waren bis 1962 in allen amerikanischen Bundesstaaten strafbar und wurden mit Geldbußen und oftmals langen Haftstrafen geahndet. Obwohl diese Gesetze vor allem auf Homosexuelle zugeschnitten waren, waren Heterosexuelle ihnen grundsätzlich ebenso unterworfen. Illinois war 1962 der erste amerikanische Bundesstaat, der sein Sodomiegesetz außer Kraft setzte. Nach der Entstehung der Schwulenrechtsbewegung folgten in den 1970er Jahren zahlreiche weitere Staaten: Connecticut (1971), Colorado, Oregon (1972), Delaware, Hawaii (1973), Massachusetts, Ohio (1974), New Hampshire, New Mexico, North Dakota (1975), Kalifornien, Maine, Washington, West Virginia (1976), Indiana, South Dakota, Vermont, Wyoming (1977), Iowa, Nebraska (1978) und New Jersey (1979). Fast immer war es die Legislative, die das Sodomiegesetz abschaffte; nur in Massachusetts kam die Aufhebung durch eine Entscheidung des obersten US-Gerichtshofes zustande.
Strafverfolgung
Bis zur Abschaffung der Sodomiegesetze gehörte es zur Routine der Polizei, Homosexuelle durch Lockspitzel auf öffentlichen Toiletten und ähnlichen Orten in die Falle zu locken und unter dem Vorwurf der lewdness (deutsch: Unanständigkeit) festnehmen zu lassen. Gelegentlich waren von dieser demütigenden Praxis auch bekannte Persönlichkeiten betroffen wie z. B. der Mathematiker und spätere Nobelpreisträger John Forbes Nash Jr., der 1965 in Santa Monica verhaftet wurde. Die New Yorker Polizei beendete diese Praxis, die ihren Höhepunkt in den 1950er Jahren hatte, auf Druck der Mattachine Society im Jahre 1966. In anderen Bundesstaaten wurde das so genannte entrapment auf öffentlichen Toiletten bis zur Aufhebung der Sodomiegesetze praktiziert. Aufsehen erregten z. B. die Festnahmen des Politikers Gaylord Parkinson (Republikaner) in San Diego (1974), des stellvertretenden Bürgermeisters von Los Angeles, Maurice Weiner, in Los Angeles (1976), des Major General Edwin A. Walker in Dallas (1976), des Kongressabgeordneten Jon Hinson in Washington, D. C. (1981) und des britischen Popsängers George Michael in Los Angeles (1998). Der Kongressabgeordnete Robert Bauman wurde 1980 bei einem Kontakt zu einem minderjährigen Strichjungen verhaftet.
Weitere diskriminierende Gesetze und Praktiken
Die Sodomieverbote waren keineswegs die einzigen Gesetze, durch die Homosexuelle in den USA diskriminiert wurden. Zahllose föderale, bundesstaatliche und lokale Gesetze und Verordnungen führten dazu, dass Homosexuelle aus bestimmten Berufen und dem Militärdienst ausgeschlossen waren und keine Unbedenklichkeitsbescheinigung (security clearance) erhalten konnte, die in den USA für viele berufliche Tätigkeiten vorausgesetzt wird. Homosexuelle waren im Arbeits- und Mietrecht und beim Erwerb von Versicherungspolicen benachteiligt; das erste amerikanische Versicherungsunternehmen, das gleichgeschlechtliche Paare bei Lebensversicherungen wie verheiratete Paare behandelte, war 1976 die MetLife. Auf Schwierigkeiten stießen gleichgeschlechtliche Paare oft, wenn sie sich in einem gemeinsamen Grab beisetzen lassen wollten. Auch Küsse, Umarmungen und enges Tanzen waren in der Öffentlichkeit meist undenkbar. In vielen amerikanischen Städten bestanden lokale Verordnungen, die öffentliches Cross-Dressing verboten. Bis 1990 konnte die amerikanische Immigrationsbehörde INS homosexuellen Ausländern auch die Einreise in die USA verweigern. Schwierigkeiten hatten auch Ausländer, die zu ihrem amerikanischen Partner in die USA umziehen wollten.
Sorgerecht und Adoption
Bis in die 1970er Jahre Zeit konnten Homosexuelle, deren Partner pflegebedürftig wurde, für diesen in der Regel nicht das Pflegerecht erlangen. Ebenso wenig durften sie Kinder adoptieren oder als Pflegekinder aufziehen; oftmals wurde ihnen sogar das Sorge- und Umgangsrecht für ihre leiblichen Kinder entzogen. Im Juni 1972 gab ein Gericht in San José erstmals der Klage einer lesbischen Frau statt, die das Sorgerecht für ihre drei Kinder beansprucht hatte. Im Mai 1974 wurde in Philadelphia einem lesbischen Paar zum ersten Mal das Sorgerecht für ein Kind zugesprochen, das mit keiner der beiden Frauen biologisch verwandt war.
In den 1990er Jahren erstritten in einigen Bundesstaaten (z. B. New York, 1992) erstmals auch Männer das Recht, leibliche Kinder ihres Lebensgefährten zu adoptieren („second parent adoption“). Bereits 1990 hatte der oberste Gerichtshof in Ohio einem homosexuellen Mann erlaubt, ein schwer behindertes Pflegekind zu adoptieren. Im Oktober 1997 sprach ein Gericht in New Jersey erstmals einem schwulen Paar das Recht zu, gemeinsam ein Kind zu adoptieren, das mit keinem der Männer biologisch verwandt war („joint adoption“).
Homosexuelle in politischen Ämtern
Die erste Inhaberin eines politischen Amtes in den USA, die ihre Homosexualität öffentlich bekannt werden ließ, war Nancy Wechsler, die von 1972 bis 1974 gewähltes Mitglied des Stadtrats von Ann Arbor, Michigan war. Ihre Amtsnachfolgerin, Kathy Kozachenko, war die erste Politikerin, die als bekennende Lesbe in ihr Amt gewählt wurde. Kozachenko gehörte dem Stadtrat von Ann Arbor von 1974 bis 1976 an. Beide Politikerinnen waren Mitglieder der Human Rights Party.
Elaine Noble hatte ihr Coming-out während ihrer ersten Amtszeit im Repräsentantenhaus von Massachusetts, die sie 1974 angetreten hatte. Ihre Wiederwahl im Jahre 1976 gewann sie, geriet jedoch unter Druck, nachdem 1977 die Sängerin Anita Bryant ihre anti-homosexuelle Kampagne begann. Ebenfalls 1974 bekannte Allan Spear, ein Abgeordneter im Senat von Minnesota, seine Homosexualität; 1976 gewann er problemlos seine Wiederwahl.
Einer der bekanntesten offen schwulen Politiker war Harvey Milk, der seit 1977 Stadtrat in San Francisco war. Gemeinsam mit Bürgermeister George Moscone wurde Milk im November 1978 von Dan White, einem ehemaligen Stadtrat, erschossen. Nachdem White im darauf folgenden Strafverfahren nur des Totschlags schuldig befunden wurde, kam es im Mai 1979 zu den so genannten White Night Riots, einem gewalttätigen Aufstand eines Teils der schwulen Bevölkerung von San Francisco.
1979 berief Präsident Jimmy Carter die lesbische Politikerin Jill Schropp in den National Advisory Council on Women. 1980 wurde Melvin Boozer (1945–1987), ein schwarzer schwuler Aktivist aus Washington, D. C., auf dem demokratischen Parteitag in New York City als Kandidat für das Amt des US-Vizepräsidenten nominiert; er unterlag aber dem demokratischen Kandidaten Walter Mondale. Da bei den anschließenden Wahlen jedoch der Republikaner Ronald Reagan Präsident wurde, besetzte dessen Gefolgsmann George H. W. Bush das Amt des Vizepräsidenten.
Die höchsten politischen Positionen, die offen homosexuelle Politiker in den USA je erringen bzw. auch nach ihrem Coming-out halten konnten, waren Sitze im Repräsentantenhaus und im Senat. Gerry Studds (Demokraten) gehörte dem „Haus“ von 1973 bis 1997 an; Barney Frank (Demokraten) gehörte ihm von 1981 bis 2013 an, Steve Gunderson (Republikaner) war von 1980 bis 1996 Abgeordneter im Repräsentantenhaus und James Thomas Kolbe (Republikaner) war von 1985 bis 2006 Abgeordneter. Im Jahre 1960 hatte sich der homosexuelle Schriftsteller und Aktivist Gore Vidal noch vergeblich für ein solches Mandat beworben.
Seit 2011 sind mit David Cicilline, Mark Pocan, Sean Patrick Maloney, Jared Polis und Mark Takano weitere offen homosexuelle Abgeordnete in das Repräsentantenhaus gewählt worden. Mit Tammy Baldwin gelangte 2012 die erste offen homosexuelle Senatorin in den Senat der Vereinigten Staaten.
Homosexualität in den Medien
Presse
Obwohl es in den 1970er Jahren bei den überregionalen amerikanischen Zeitungen noch keine offen homosexuellen Reporter gab, erschienen in der Presse weiterhin Artikel zum Thema, die der Öffentlichkeit eine Fülle von Diskussionsstoff lieferten, darunter z. B. Joseph Epsteins umstrittene Abrechnung Homo/Hetero: The Struggle For Sexual Identity (Harper’s, September 1970) und Merle Millers Essay What it Means to Be a Homosexual (New York Times Sunday Magazine, Januar 1971). Miller wurde mit dieser Veröffentlichung gleichzeitig die erste offen homosexuelle Persönlichkeit in der amerikanischen Mainstream-Presse. Ende der 1970er Jahre folgte Joe Nicholson von der New York Post. 1981 wurde Randy Shilts Korrespondent des San Francisco Chronicle; Shilts gilt als der erste offen schwule Journalist einer amerikanischen Mainstream-Zeitung, der über schwule Themen schrieb.
Bereits seit 1967 erschien in Los Angeles die schwule Zeitschrift The Advocate, die heute die am längsten ununterbrochen bestehende LGBT-Zeitschrift der USA ist. Unmittelbar nach dem Stonewall-Aufstand begann die Publikation der Zeitschriften Gay Sunshine (San Francisco), Fag Rag (Boston), Gay Insurgent (Philadelphia), Gay Power (New York) und Gay Liberator (Detroit). In den 1970er Jahren folgten weitere, wie Gay Community News (GCN) (Boston), Christopher Street und The Lesbian Feminist (beide in New York City), RFD (Liberty, Tennessee), The Amazon Quarterly (Oakland), The Furies (Washington, D. C.), Lesbian Tide (Los Angeles), Womanspirit (Wolf Creek) und Lavender Woman (Chicago). Die Gay Liberation Front publizierte bis 1972 ein Blatt mit dem Titel Come Out!.
Fernsehen
Im Fernsehen wurde Homosexualität erstmals in den späten 1960er Jahren sichtbar, unter anderem mit dem CBS-Dokumentarfilm The Homosexuals. Der Film, der 1967 erstmals ausgestrahlt wurde, erreichte 40 Millionen Prime-Time-Zuschauer und versorgte damit mehr Amerikaner mit Informationen über Homosexualität als irgendeine frühere journalistische oder künstlerische Einzelbemühung. Vom selben Zeitpunkt an verschaffte Phil Donahue Homosexuellen Medienpräsenz, indem er sie als erster Fernsehgastgeber immer wieder in seine landesweit ausgestrahlte Talkshow (1967–1997) einlud. 1972 strahlte ABC den Fernsehfilm That Certain Summer aus, der erstmals in diesem Genre einen Homosexuellen sympathisch porträtierte. 1973 sendete PBS im Hauptabendprogramm den von Publikum und Kritik stark beachteten zwölfstündigen Dokumentarfilm An American Family, der das Alltagsleben der Familie eines jungen Homosexuellen zeigte. Im Oktober 1976 ging mit Blueboy Forum erstmals in der amerikanischen Fernsehgeschichte ein regelmäßiges schwules Programm auf Sendung.
1981 entstand mit der Comedy-Show Love, Sidney (mit Tony Randall) erstmals eine fiktionale Fernsehserie mit einer homosexuellen Hauptfigur. Zur selben Zeit traten homosexuelle Nebenfiguren auch in ersten amerikanischen Mainstream-Fernsehserien auf, etwa in Der Denver-Clan (1981–1989), Brothers & Sisters (1984–1989), Doctor Doctor (1989–1991) und Melrose Place (1992–1999). Im Sommer und Herbst 1994 strahlte MTV seine dokumentarische Serie The Real World: San Francisco aus. Gleichzeitig wurden erstmals Fernsehserien mit offen homosexuellen Hauptfiguren produziert, wie Ellen (1994–1998), Will & Grace (1998–2006), Normal, Ohio (2000–2001), Queer as Folk (2000–2005) und The L Word – Wenn Frauen Frauen lieben (2004–2009).
Gegenbewegung
Das Eintreten von Lesben und Schwulen in den politischen Diskurs führte in den 1970er Jahren zu einer Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Homosexualität wurde nur von einer Minderheit akzeptiert; bei Meinungsumfragen lehnten 70 % der Befragten gleichgeschlechtliche Beziehungen ab.
1973 setzte eine Reihe von Gewaltakten gegen homosexuelle Einrichtungen ein. Am 27. Juli 1973 fiel das Gotteshaus der Metropolitan Community Church in San Francisco einer Brandstiftung zum Opfer. Am 24. Juni 1973 kamen bei einem Brandanschlag auf die schwule Bar Upstairs Lounge in New Orleans 32 Menschen ums Leben. Im Oktober 1974 brannte das Hauptquartier der Gay Activist’s Alliance in New York City ab. Am 11. Dezember 1977 wurden bei einem Brandanschlag die Castro Steam Baths in San Francisco zerstört. Ungezählt sind die körperlichen und verbalen Angriffe auf homosexuelle Einzelpersonen, für die im Englischen die Bezeichnung Gay bashing (deutsch: Schwulen-Beschimpfung) üblich geworden ist. Wiederholt kamen Homosexuelle bei solchen Angriffen ums Leben; internationale Aufmerksamkeit erregte 1998 der Mord an Matthew Shepard. Das FBI berichtet noch im Jahre 2005, dass 14,2 % aller Hassdelikte gegen Homosexuelle gerichtet waren.
Seit den frühen 1970er Jahren erhielten auch Organisationen und Bewegungen regen Zulauf, die Homosexualität aus verschiedenen Gründen ablehnten. In der Ex-Gay-Bewegung sammelten sich viele – meist dem Evangelikalismus nahestehende – Menschen, die Homosexualität weiterhin für eine Krankheit hielten und auf die so genannte Reparative Therapie bzw. Konversionstherapie bauen. Institutionen, die diese Bewegung hervorgebracht hat, sind unter anderem die Glaubensgemeinschaft Love in Action (seit 1973), die interdenominationale christliche Organisation Exodus International (1976), die am Vorbild der Anonymen Alkoholiker orientierten Homosexuals Anonymous, die katholische Organisation Courage International (beide 1980), Richard Cohens International Healing Foundation (1990), die Angehörigenorganisation PFOX (1998), die jüdische Organisation JONAH (1999; 2015 wegen betrügerischer und sittenwidriger Geschäftspraktiken zu hohen Schadensersatzzahlungen an die Opfer der von der Organisation angebotenen „Therapien“ verurteilt und auf gerichtliche Anweisung aufgelöst) und die nicht-konfessionelle Organisation PeopleCanChange (2000).
1977 begann die populäre Sängerin Anita Bryant ihre Kampagne zur Rücknahme eines in Miami-Dade County, Florida verabschiedeten Diskriminierungsverbots. Bryant, die überzeugt war, dass Homosexualität sündhaft sei, organisierte auch die von den Medien landesweit unterstützte politische Gruppe Save Our Children (deutsch: Rettet unsere Kinder), die sich dem Kampf gegen die angebliche „Rekrutierung“ von Kindern durch Homosexuelle verschrieb und damit an stereotype Ängste appellierte, die unter Heterosexuellen weit verbreitet waren. Zu Bryants Unterstützern zählte – neben dem Gouverneur von Florida, dem römisch-katholischen Erzbischof von Miami und dem Präsidenten von B’nai B’rith in Miami Beach – auch der fundamentalistisch-baptistische Fernsehprediger Jerry Falwell, der 1979 die Moral Majority gründete, eine Organisation, die der Homosexualität „den Krieg erklären“ sollte. Der Vorsitzende von Moral Majority in Santa Clara, Kalifornien, Dean Wycoff, erklärte 1982, er unterstütze die Wiedereinführung der Todesstrafe für Homosexuelle. Ähnliche anti-homosexuelle Kampagnen führten auch der Fernsehprediger Pat Robertson und der Gründer der American Family Association, Donald Wildmon. Unter fundamentalistischen Christen fanden beide eine breite Anhängerschaft; etwa 200.000 von ihnen kamen im April 1980 auf einer in Washington, D. C. unter dem Titel Washington for Jesus veranstalteten Demonstration zusammen.
In den 1990er Jahren wurden anti-homosexuelle Kampagnen auch von konservativen Mainstream-Politikern unterstützt. Auf ihrem Parteitag 1992 beschlossen die Republikaner eine anti-homosexuelle Agenda, die sie gemeinsam mit anderen Programmpunkten unter dem Titel Family Values (deutsch: Familien-Werte) zusammenfassten. Patrick Buchanan, der sich 1992 und 1996 für eine Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat bewarb, rief zu einem „kulturellen Krieg“ gegen die Befürworter schwul-lesbischer Bürgerrechte auf. Präsident George H. W. Bush, sein Vizepräsident Dan Quayle, der Kongressabgeordnete Newt Gingrich und andere führende Republikaner vertraten in weniger scharfem Tonfall ähnliche Positionen. Durch anti-homosexuelle Initiativen in Erscheinung getreten ist auch US-Senator Jesse Helms.
Zu den Gegnern der homosexuellen Emanzipation zählen von jeher auch Organisationen der White-Supremacy-Bewegung wie der Ku-Klux-Klan.
1981–2000
Aids
1981 erkrankten in den USA viele Schwule an einem Leiden, das in diesen Fällen zunächst als Kaposi-Sarkom diagnostiziert wurde. Das U. S. Center for Disease Control (CDC) führte die Bezeichnung gay cancer (deutsch: Schwulen-Krebs) und später gay-related immune deficiency (GRID) (deutsch: schwulenbezogene Immunschwäche) ein. Erst 1982 gelangte der Terminus AIDS in Umlauf. Weil die Krankheit unter homosexuellen Männern entdeckt worden war, galt sie bis in die späten 1980er Jahre als Homosexuellenkrankheit und wurde als solche auch stigmatisiert. Bei einigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – z. B. dem Schauspieler Rock Hudson, dem Entertainer Liberace, dem Football-Spieler Jerry Smith und dem McCarthy-Berater Roy Cohn – führte das Bekanntwerden der Krankheit zu einem unfreiwilligen Coming-out. Einige fundamentalistischen Christen wie Jerry Falwell bezeichneten Aids als God’s punishment for homosexuals (deutsch: Gottes Strafe für Homosexuelle). US-Präsident Ronald Reagan, dessen Regierungszeit mit einem allgemeinen Rechtsruck in der Politik und einer Zunahme des Einflusses der Evangelikalen zusammenfiel, begann erst 1987 öffentlich über Aids zu sprechen.
Die homosexuelle Öffentlichkeit der USA reagierte auf die Krankheit mit einem tiefen Schock, auf den jedoch bald eine Solidarisierungsbewegung folgte. Bereits im August 1981 entstand in New York die Hilfsorganisation Gay Men’s Health Crisis (GMHC). Obwohl die Gesundheitsbehörden anfangs keine hinreichende Aufklärungsarbeit über die Ansteckungswege der Krankheit leisteten, begannen Homosexuelle 1983, ihre sexuellen Gewohnheiten grundlegend umzustellen. Die erste Broschüre mit Informationen über Safer Sex erschien 1982 in San Francisco. Da Regierung und Kongress für die Erforschung der Krankheit zunächst kaum Geld zur Verfügung stellten, gründete die Medizinforscherin Mathilde Krim 1983 die AIDS Medical Foundation, aus der 1985 die American Foundation for AIDS Research entstand, die später von Prominenten wie Elizabeth Taylor, Barbra Streisand, Woody Allen und Warren Beatty öffentlichkeitswirksam unterstützt wurde.
1985 wurde in New York City das Hilfsprogramm People With AIDS Coalition (PWAC) gegründet. 1987 formierte sich die Aktivistengruppe AIDS Coalition to Unleash Power (Act Up), die unter anderem für eine angemessene Darstellung des Themas Aids in den Medien kämpfte. Ebenfalls 1987 begann in San Francisco die NAMES Project Foundation mit der Organisation des AIDS Memorial Quilt, mit dem Tausende von Amerikanern ihrer an Aids verstorbenen Angehörigen gedachten und das 1989 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde.
Viele schwule Treffpunkte – vor allem Badehäuser – schlossen im Verlaufe der Aids-Krise; gleichzeitig entstand jedoch eine Kontroverse, ob nicht gerade diese Treffpunkte aufrechterhalten und zur Verbreitung von Informationen über die Ansteckungswege von HIV und Safer Sex genutzt werden sollten. Einen Aufschwung erlebten zur selben Zeit Unternehmen, die Telefonsex anboten; mit der Ausbreitung des World Wide Web erlangten in den 1990er Jahren auch Cybersex-Foren zunehmende Bedeutung.
Ab 1996 ging die Zahl der an AIDS verstorbenen Menschen in den Vereinigten Staaten aufgrund neuer Medikamente und Wirkstoffe, HAART-Therapie, massiv zurück.
Politik und Rechtsprechung
Die Abschaffung der Sodomiegesetze war bereits Ende der 1970er Jahre ins Stocken geraten. Zwar hoben 1980 auch Alaska, New York und Pennsylvania ihre Sodomiegesetze auf und 1983 folgte Wisconsin, ausgerechnet in den bevölkerungsreichen Staaten New York und Pennsylvania lag der Aufhebung jedoch keine Entscheidung der Legislative zugrunde, sondern ein Gerichtsurteil.
Mitte der 1980er Jahre waren homosexuelle Handlungen in der Hälfte der Bundesstaaten immer noch strafbar, und durch die Aids-Krise waren die Kräfte der homosexuellen Aktivisten so gebunden, dass die Entkriminalisierung der Homosexualität vorübergehend an Priorität verlor und erst zu Beginn der 1990er Jahre wieder verfolgt wurde. Der erste Bundesstaat, der sein Sodomiegesetz nach dem Beginn der Aids-Epidemie aufhob, war 1992 Kentucky. 1993 folgte Nevada, 1995 der District of Columbia, 1996 Tennessee, 1997 Montana, 1998 Georgia und Rhode Island, 1999 Maryland, 2001 Arizona und Minnesota, und 2002 Arkansas. Durch eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes der USA (Lawrence v. Texas) verloren am 26. Juni 2003 auch die Sodomiegesetze der bis dahin noch verbliebenen Bundesstaaten ihre Rechtswirksamkeit: Alabama, Florida, Idaho, Kansas, Louisiana, Michigan, Mississippi, Missouri, North Carolina, Oklahoma, South Carolina, Texas, Utah und Virginia. Das Urteil hatte auch zur Folge, dass die Bundesstaaten für homosexuelle Handlungen nicht mehr ein spezifisches Schutzalter festsetzen konnten, das sich vom Schutzalter für heterosexuelle Handlungen unterschied.
Neben der Entkriminalisierung homosexueller Handlungen kämpften die politischen Organisationen auch gegen Diskriminierung in den verschiedensten anderen Lebensbereichen. 1984 wurde die kalifornische Universitätsstadt Berkeley die erste Gemeinde der USA, die homosexuellen Stadtangestellten, die in festen Partnerschaften lebten, dieselben Sozialleistungen gewährte wie Verheirateten. 1986 gelang es, in New York City eine Verordnung durchzusetzen, die Arbeitgebern und Vermietern eine Diskriminierung Homosexueller verbot. 1992 folgten ähnliche Gesetze auf bundesstaatlicher Ebene in Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Massachusetts, New Jersey, Vermont und Wisconsin.
Weite Aufmerksamkeit fand das 1992 in Colorado verabschiedete Amendment 2. Dieses Gesetz bestimmte, dass in Colorado keine Gesetze oder anderen Bestimmungen beschlossen werden durften, durch welche Personen auf der Grundlage ihrer sexuellen Orientierung Minderheitenschutz, Quotenregelungen, einen Schutzstatus oder Diskriminierungsschutz erlangt hätten. Antidiskriminierungsbestimmungen, wie sie in Aspen, Denver und Boulder bereits bestanden, wurden durch dieses Gesetz nichtig. Die schwul-lesbische Öffentlichkeit reagierte auf das Amendment mit einem Boykott des Bundesstaates, der erst beendet wurde, als der oberste US-Gerichtshof das umstrittene Gesetz 1996 wieder aufhob.
Organisationen
Seit den 1980er Jahren entstanden in den USA viele weitere LGBT-Organisationen. Seit 1985 setzt sich die Gay and Lesbian Alliance Against Defamation (GLAAD) gegen eine diffamierende Darstellung der Homosexualität in den Medien ein. 1987 wurde die International Foundation for Gender Education (ifge) gegründet, die sich für die Rechte von Transgender einsetzt. 1990 bildeten einige ehemalige Act-up-Aktivisten die Queer Nation, eine lose Organisation, die den Slogan „We’re here. We’re queer. Get used to it“ (deutsch: Wir sind hier. Wir sind queer. Gewöhnt euch dran) erfand und mit militanten Einzelaktionen die Sichtbarkeit von Homosexuellen im Alltag zu erhöhen suchte. Seit 1992 vertraten die Lesbian Avengers ein ähnliches Programm. Charakteristisch für die Zeit seit 1990 ist die Entstehung von Spezialorganisation, die die Interessen von Personengruppen mit immer spezifischeren Identitäten Rechnung trugen. Im 21. Jahrhundert befanden sich darunter zum Beispiel Transgender-Organisationen wie das Sylvia Rivera Law Project, das Transgender Law Center (beide 2002) und das National Center for Transgender Equality (2003).
Homosexuelle Publizistik
Über Aids schrieb in den 1980er Jahren Randy Shilts (And the Band Played On, Reportage, 1987). Seit den 1980er Jahren entstand eine Fülle neuer Zeitschriften, die an homosexuelle Leser adressiert waren, wie Frontiers (1981), das Lesbenmagazin Curve (1991), Out (1992) und Instinct (1997).
Seit den 1990er Jahren wurden in weiten Teilen der homosexuellen Öffentlichkeit die Bezeichnungen gay (deutsch: schwul) und lesbian (deutsch: lesbisch) zugunsten des unübersetzbaren Begriffes „queer“ zurückgedrängt, der weiter gefasst ist als „gay“ und auch Lesben, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle sowie Personen umfasst, die auf sonstige Weise von der Heteronormativität abweichen.
Wehrdienst
Seit den 1940er Jahren bis zum Jahre 1993 war es Homosexuellen verboten, in den Streitkräften des Landes zu dienen. Das Militär war damit der letzte große Arbeitgeber in den USA, der Homosexuelle immer noch explizit diskriminierte. Aktivisten wie Leonard Matlovich hatten bereits in den 1970er Jahren darum gekämpft, den Streitkräften auch als offen Homosexuelle angehören zu dürfen. Seit 1988 hatte sich für dieses Ziel auch das Military Freedom Project der National Gay and Lesbian Task Force eingesetzt. Nachdem Bill Clinton im vorangehenden Präsidentschaftswahlkampf versprochen hatte, den Wehrdienst auch für Homosexuelle zugänglich zu machen, einigte er sich mit der Militärführung nach langen Verhandlungen auf die Don’t-ask,-don’t-tell-Richtlinie (1993). Danach durften Homosexuelle in den Streitkräften dienen, solange sie ihre sexuelle Orientierung verborgen hielten. Im Gegenzug waren sie vor Repressalien und vor Fragen nach ihrer sexuellen Orientierung geschützt. Viele homosexuelle Aktivisten, die sich für die Freiheit zum offenen Schwulsein eingesetzt hatten, empfanden diesen Kompromiss als Rückschlag. Im Mai 2010 befürwortete das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten die Aufhebung der Regel „Don’t ask, don’t tell“. Seit dem 20. September 2011 können homosexuelle Soldaten offen im US-Militär dienen.
Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft und Ehe
Siehe auch: Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Vereinigten Staaten
Unter dem Eindruck, dass die homosexuelle Kultur langfristig nur mit dem Leitbild stabiler Partnerschaften gedeihen könne, begannen homosexuelle Aktivsten in den späten 1980er Jahren, sich für die rechtlich anerkannte Partnerschaft (domestic partnership), die eingetragene Lebenspartnerschaft (civil union, registered partnership) und die gleichgeschlechtliche Ehe (same-sex marriage) einzusetzen.
Berkeley war 1984 die erste amerikanische Stadt, in der sich gleichgeschlechtliche Paare registrieren lassen konnten. In der Bundeshauptstadt Washington wurden domestic partnerships, in denen gleichgeschlechtliche Paare ähnliche Rechte genießen wie Verheiratete, 1992 legal. Später folgten Kalifornien (1999), Maine (2004), der Bundesstaat Washington (2006) und Oregon (2008). Der erste Bundesstaat, in dem gleichgeschlechtliche Paare eine civil union eingehen können, war Vermont. Es folgten die Bundesstaaten Connecticut (2005), New Jersey (2006) und New Hampshire (2008).
Die Vorkämpfer für die gleichgeschlechtliche Ehe konnten einen ersten Erfolg verbuchen, als 1993 der oberste Gerichtshof von Hawaii in der Rechtssache Baehr v. Lewin entschied, dass die Weigerung, einem gleichgeschlechtlichen Paar eine Heiratslizenz auszustellen, unter der Verfassung von Hawaii einen Fall von Geschlechterdiskriminierung darstelle. 1996 unterzeichnete Präsident Bill Clinton allerdings den „Defense of Marriage Act“, der festschrieb, dass weder die amerikanische Bundesregierung noch einzelne Bundesstaaten eine gleichgeschlechtliche Ehe anzuerkennen brauchen, die in einem einzelnen bzw. in einem anderen Bundesstaat geschlossen worden ist. Auch Hawaii verabschiedete 1998 ein Constitutional Amendment 2, das gleichgeschlechtliche Ehen in diesem Bundesstaat verhinderte.
Im Frühjahr 2004 erregte der neu gewählte Bürgermeister von San Francisco, Gavin Newsom, internationale Aufmerksamkeit, als er den county clerk anwies, Heiratslizenzen auch an gleichgeschlechtliche Bewerber auszustellen. Vom 12. Februar an schlossen in San Francisco ca. 4.000 gleichgeschlechtliche Paare die Ehe, bis am 11. März 2004 der oberste Gerichtshof in Kalifornien entschied, dass diese Trauungen nicht rechtswirksam seien. Der erste Bundesstaat, in dem gleichgeschlechtliche Ehen legal geschlossen werden können, wurde am 17. Mai 2004 Massachusetts, wo am 18. November 2003 der Supreme Judical Court in der Rechtssache Goodridge v. Department of Public Health entschieden hatte, dass die Rechtsvorteile, die verheiratete heterosexuelle Paare genießen, gleichgeschlechtlichen Paaren nicht vorenthalten werden dürfen.
2013 wurden gleichgeschlechtliche Ehepaare nach höchstgerichtlicher Aufhebung des Defense of Marriage Actes auf Bundesebene in der gesamten Steuergesetzgebung gleichgestellt. Künftig ist die Abgabe einer gemeinsamen Steuererklärung erlaubt und die gleichen steuerlichen Vergünstigungen werden gewährt.
Gegenwart
Der Anteil der Amerikaner, die Homosexualität ablehnen, ist seit dem Stonewall-Aufstand erkennbar gesunken. 1970 betrug er 70 %, 2007 nur noch 50 % (gegenüber männlicher Homosexualität) bzw. 48 % (gegenüber weiblicher Homosexualität). Rund 38 % der Amerikaner haben heute eine positive Meinung von Homosexuellen. In vielen amerikanischen Städten, Gemeinden und US-Bundesstaaten genießen Schwule und Lesben zumindest dem Gesetzestext nach weitgehenden Schutz vor Diskriminierung. Eine große Zahl von Unternehmen gewährt homosexuellen Mitarbeitern, die in einer festen Partnerschaft leben, dieselben finanziellen Vorteile, die auch Verheiratete erhalten. In mehr als der Hälfte der Bundesstaaten können gleichgeschlechtliche Paare heiraten, in einer Reihe weiterer Bundesstaaten bestehen Gesetze, die homosexuellen Paaren unter bestimmten Voraussetzungen einen ähnlichen Rechtsstatus verleihen wie verheirateten heterosexuellen Paaren. In einigen Bundesstaaten haben gleichgeschlechtliche Paare das Recht, Kinder zu adoptieren oder als Pflegekinder aufzuziehen. Vielen bundesstaatlichen Parlamenten liegen derzeit Gesetzesvorschläge vor, mit denen die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen weiter verankert werden soll.
Im Juni 2016 wurden bei einem Attentat in einer Schwulenbar in Florida 49 Menschen getötet.
Forschungseinrichtungen und Forschungsprobleme
Die größte Forschungsbibliothek zum Thema ist die New York Public Library. Über erhebliche Dokumentenbestände verfügen auch das Bisexual Resource Center in Boston, die Lesbian Herstory Archives in New York City, die Bibliothek der Cornell University in Ithaca, New York, die Gerber/Hart Library in Chicago, das James C. Hormel Gay & Lesbian Center der San Francisco Public Library, die One National Gay & Lesbian Archives in Los Angeles und die June L. Mazer Lesbian Archives in West Hollywood. Nachdem amerikanische Universitäten wie die Sacramento State University bereits 1972 erste LGBT-Studienprogramme eingerichtet hatten, entstand 1991 an der City University of New York als landesweit erstes universitäres Forschungsinstitut mit dem Arbeitsschwerpunkt homosexueller Geschichte, Kultur und Politik das Center for Lesbian and Gay Studies (CLAGS). Im frühen 21. Jahrhundert haben viele weitere Hochschulen – darunter z. B. die Yale University, die Hobart and William Smith Colleges in Geneva, New York, die University of Maryland, die Brown University, die University of Illinois at Chicago, die University of California, Berkeley, die San Francisco State University und das San Francisco City College – den Studiengang LGBT Studies eingerichtet. An der University of California, Santa Barbara besteht seit 2006 das Michael D. Palm Center, eine Studien- und Forschungseinrichtung, die sich vor allem mit den sexuellen Minderheiten im amerikanischen Militär beschäftigt.
Historiker, die die Geschichte der Homosexuellen in den USA erforschen wollen, sind – wie in anderen Ländern auch – mit dem besonderen Problem konfrontiert, dass viele Quellen und Dokumente, die zur Rekonstruktion dieser Geschichte herangezogen werden könnten, systematisch vernichtet worden sind: zum Teil von Zensoren und anderen zeitgenössischen Sittenwächtern, die hier Obszönität zu bekämpfen meinten, zum Teil von Angehörigen der homosexuellen Autoren, die nach dem Tode der Betroffenen deren Ansehen zu schützen versuchten. Die Unterdrückung von forschungsrelevanten Materialien war kein Phänomen der viktorianischen Zeit, sondern reicht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. So wurden zum Beispiel im Falle von Horatio Alger (1832–1899), einem Vielschreiber populärer Jugendromane, erst 1971 Dokumente wiederentdeckt, die belegten, dass Alger einen homoerotischen und pädophilen Hintergrund hatte. Noch 1978 versuchte die South Caroliniana Library in Columbia, South Carolina, den Historiker Martin Duberman an der Veröffentlichung der Liebesbriefe zu hindern, die 1826 der bedeutende Südstaatenpolitiker Thomas Jefferson Withers (1804–1866) an einen Mann geschrieben hatte. Der Englischprofessorin Lillian Faderman wurde die Erlaubnis verweigert, in ihre 1994 erschienene Anthologie Chloe Plus Olivia, eine Sammlung lesbischer Lyrik, Gedichte von Edna St. Vincent Millay aufzunehmen.
Viele homosexuelle Autoren benutzten beim Schreiben elaborierte Verschlüsselungssysteme. So schrieb etwa Countee Cullen, der führende Dichter der Harlem Renaissance, in seinen Briefen, die er stets mit einem Pseudonym unterzeichnete, über seine sexuellen Beziehungen nur in kodierter Form.
Siehe auch
Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung
Folsom Street Fair
Liste von literarischen Werken mit homosexuellem Inhalt
Camp (Kunst)
Literatur
Allgemeine Darstellungen
Brett Beemyn (Hrsg.): Creating a Place for Ourselves: Lesbian, Gay, and Bisexual Community Histories, New York (Routledge), 1997. ISBN 0-415-91389-6
Allida M. Black (Hrsg.): Modern American Queer History, Temple University Press, 2001. ISBN 1-56639-872-X
Jonathan Katz: Gay American History: Lesbians and Gay Men in the U. S. A. A Documentary, Thomas Y. Crowell Company, 1976. ISBN 0-690-01164-4
Molly McGarry, Fred Wasserman: Becoming Visible: An Illustrated History of Lesbian and Gay Life in Twentieth-Century America, New York (Penguin Studio), 1998. ISBN 0-670-86401-3
Neil Miller: Out of the Past: Gay and Lesbian History from 1869 to the Present, Advocate Books, 2005. ISBN 1-55583-870-7
Neil Miller: In Search of Gay America. Women and Men in a Time of Change, New York, The Atlantic Monthly Press, 1989. ISBN 0-87113-304-0
Henry L. Minton: Departing from Deviance: A History of Homosexual Rights and Emancipatory Science in America, University of Chicago Press, 2001. ISBN 0-226-53044-2
Leila J. Rupp: A Desired Past: A Short History of Same-Sex Love in America, University of Chicago Press, 2002. ISBN 0-226-73156-1
Lesbische Geschichte
Lillian Faderman: Odd Girls and Twilight Lovers: A History of Lesbian Life in the Twentieth-Century America, New York (Columbia University Press), 1991. ISBN 0-14-017122-3
Lillian Faderman: To Believe in Women. What Lesbians Have Done for America – History, Boston, New York (Houghton Mifflin Company) 1999. ISBN 0-395-85010-X
Elizabeth Kennedy, Madeline Davis: Boots of Leather, Slippers of Gold: The History of a Lesbian Community, Penguin, 1993. ISBN 0-14-023550-7
Pat Califia: Sapphistry: The book of lesbian sexuality, Naiad Press, 1988, ISBN 0-941483-24-X
Einzelne Zeitabschnitte
Allan Bérubé: Coming Out Under Fire: The History of Gay Men and Women in World War Two, Free Press, 2000. ISBN 0-7432-1071-9
Lester B. Brown (Hrsg.): Two Spirit People: American Indian Lesbian Women and Gay Men, Haworth Press, 1997. ISBN 0-7890-0003-2
David Carter: Stonewall: The Riots That Sparked the Gay Revolution, St. Martin’s Griffin, 2005. ISBN 0-312-34269-1
George Chauncey: Gay New York: Gender, Urban Culture and the Making of the Gay Male World, 1890–1940, New York (Basic Books), 1994. ISBN 0-465-02621-4
Robert J. Corber: Homosexuality in Cold War America: Resistance and the Crisis of Masculinity, Duke University Press, 1997. ISBN 0-8223-1964-0
Martin Duberman: Stonewall, Plume, 1994. ISBN 0-452-27206-8
John D’Emilio: Sexual Politics, Sexual Communities. The Making of a Homosexual Minority in the United States, 1940–1970, University of Chicago Press, 1998. ISBN 0-226-14267-1
John G. Gerassi, Peter Boag: The Boys of Boise. Furor, Vice, and Folly in an American City, University of Washington Press, Reprint 2001. ISBN 0-295-98167-9
John Loughery: The Other Side of Silence: Men’s Lives & Gay Identities – A Twentieth-Century History, Henry Holt and Co., 1998. ISBN 0-8050-3896-5
Randy Shilts: And the Band Played On: Politics, People, and the AIDS Epidemic, Stonewall Inn Editions, 2000. ISBN 0-312-24135-6
Mark Thompson: Long Road to Freedom: The Advocate. History of the Gay and Lesbian Movement, New York (St. Martin’s Press), 1995. ISBN 0-312-09536-8 (über den Zeitraum 1967–1992)
Walter L. Williams: Spirit and the Flesh: Sexual Diversity in American Indian Culture, Beacon Press, 1992. ISBN 0-8070-4615-9
Einzelne Städte und Regionen
Elizabeth A. Armstrong: Forging Gay Identities: Organizing Sexuality in San Francisco, 1950–1994, University of Chicago Press, 2002. ISBN 0-226-02694-9
John Howard: Men Like That: A Southern Queer History, University of Chicago Press, 2001. ISBN 0-226-35470-9
Charles Kaiser: The Gay Metropolis: 1940–1996, Boston, New York (Houghton Mifflin) 1997. ISBN 0-395-65781-4. Lose Sammlung einzelner Episoden
Geschichte der Leder- und BDSM-Szene
Gayle Rubin: The Valley of the Kings: Leathermen in San Francisco, 1960–1990., 1994, Dissertation Abstracts International, 56 (01A), 0249. (UMI No. 9513472).
Gayle Rubin: The Miracle Mile: South of Market and Gay Male Leather in San Francisco 1962–1996, in James Brook, Chris Carlsson, and Nancy Peters (Hrsg.): Reclaiming San Francisco: History, Politics, Culture, San Francisco, City Lights Books, 1998, ISBN 0-87286-335-2
Gayle Rubin: From the Past: The Outcasts aus dem Newsletter des Leather Archives & Museum No. 4, April 1998
Gayle Rubin: Sites, Settlements, and Urban Sex: Archaeology And The Study of Gay Leathermen in San Francisco 1955–1995, in Robert Schmidt and Barbara Voss (Hrsg.): Archaeologies of Sexuality, London, Routledge, 2000, ISBN 0-415-22365-2
Larry Townsend: The Leatherman’s Handbook: Silver Jubilee Edition, (erweiterte Neuauflage), L.T. Publications 2000, ISBN 1-881684-19-9
Weitere Spezialthemen
Byrne Fone: Homophobia: A History, New York (Picador), 2001. ISBN 0-312-42030-7
Vito Russo: The Celluloid Closet: Homosexuality in the Movies, New York (Harper & Row), 1987. ISBN 0-06-096132-5
Rodger Streitmatter: Unspeakable: The Rise of the Gay and Lesbian Press in America, Boston (Faber and Faber), 1995. ISBN 0-571-19873-2
Pat Califia: Speaking Sex to Power: The Politics of Queer Sex (Essays), Cleis Press, 2001, ISBN 1-57344-132-5
Eric Marcus: Making History: The Struggle for Gay and Lesbian Equal Rights. 1945–1990. An Oral History, New York, Harper Collins Publishers, 1992. ISBN 0-06-016708-4 (Sammlung von Biografien)
Gayle Rubin: Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality. In: Henry Abelove u. a. (Hrsg.): The Lesbian and Gay Studies Reader, New York (Routledge). 1993. (Erstveröffentlichung 1984), deutsch: Sex denken. Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik in: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), hg. von Andreas Kraß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 31–79, ISBN 3-518-12248-7
Gayle Rubin: Studying Sexual Subcultures: the Ethnography of Gay Communities in Urban North America, in Ellen Lewin and William Leap (Hrsg.): Out in Theory: The Emergence of Lesbian and Gay Anthropology, Urbana (University of Illinois Press), 2002, ISBN 0-252-07076-3
Stuart Timmons: The Trouble with Harry Hay: Founder of the Modern Gay Movement, Boston (Alyson Books), 1990. ISBN 1-55583-175-3
Dokumentarfilme zum Thema (Auswahl)
Siehe auch: Liste von Filmen mit homosexuellem Inhalt
1983 – Before Stonewall (John Scagliotti, Greta Schiller)
1992 – Changing Our Minds: The Story of Dr. Evelyn Hooker (Richard Schmiechen)
1993 – Last Call at Maud’s (Paris Poirier), über eine 1966 eröffnete Lesbenbar in San Francisco
1994 – Coming Out Under Fire (Arthur Dong), Film über homosexuelle amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg
1999 – After Stonewall (John Scagliotti)
2005 – Gay Sex in the 70s (Joseph F. Lovett), über die schwule Kultur in New York vor Aids
2005 – Original Pride: The Satyrs Motorcycle Club (Scott Bloom), über einen 1954 gegründeten schwulen Motorradclub
Weblinks (englisch)
, A Snapshot of the 20th Century
People with a History An Online Guide to Lesbian, Gay, Bisexual and Trans History
, Informationen zu einer Ausstellung aus dem Jahre 2001
William N. Eskridge Jr.: , (PDF; 754 kB), Florida State University Law Review Vol. 24, S. 703
Coming Out In America – An Historical Perspective – Präsentation
Geschichte der LGBT in einzelnen Städten:
Einzelnachweise
Vereinigte Staaten
Sozialgeschichte (Vereinigte Staaten) |
2674491 | https://de.wikipedia.org/wiki/Paul%20Moder | Paul Moder | Paul Moder (* 1. Oktober 1896 in Neheim, Provinz Westfalen; † 8. Februar 1942 bei Maly Kalinez, Oblast Nowgorod) war ein deutscher nationalsozialistischer Politiker, Freikorps- und SS-Führer. Ab 1932 war er Reichstagsabgeordneter, nach der „Machtergreifung“ in der Stadt Altona Magistratsmitglied und führend an der Umsetzung der NS-Herrschaft beteiligt, schließlich während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg SS- und Polizeiführer in Warschau.
Moder hatte seit 1922/23 an vorderer Stelle am Aufbau der Altonaer NSDAP-Ortsgruppe, ab 1925 an der Organisation der örtlichen SA und ab 1931 am Ausbau der SS mitgewirkt. Auch von daher unterschied sich seine durch einen antibürgerlich-radikalen Aktivismus geprägte Biografie bis zum Januar 1933 von der vieler anderer früher führender Nationalsozialisten in Altona wie Hinrich Lohse und Emil Brix, die bei aller Verbalradikalität eher dem Normalbild des aufstiegsorientierten, kleinbürgerlichen Parteipolitikers entsprachen.
In Kaiserreich und Erstem Weltkrieg
Der Sohn eines Hoteliers aus dem westfälischen Neheim verließ vorzeitig das Realgymnasium in Koblenz, um sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger zu den Waffen zu melden. Er wurde 1916 bei der Schlacht um Verdun verwundet. Im Laufe des Krieges erfolgte die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse. Er wurde zum Leutnant der Reserve befördert und bis Kriegsende als Fliegerbeobachter verwendet. Nach der Entlassung aus dem Heeresdienst trat er in einen kaufmännischen Beruf über. „Kaufmann“ war damals eine verbreitete Berufsbezeichnung, die auch viele ehemalige Offiziere wählten, um dahinter ihre illegalen militärischen Aktivitäten zu verbergen. Paul Moder soll außerdem auch als Versandleiter, Korrespondent und Journalist gearbeitet haben. Über sein Äußeres hieß es, er sei „ein schöner Mann, 1,76 m gross und eine gute Erscheinung, sodass er bei Frauen Erfolg hatte“.
Von der Organisation Roßbach zur NSDAP
Die ersten Nachkriegsjahre in Altona
Im Frühjahr 1922 kam Moder in die holsteinische Großstadt Altona, wo er sich ehemaligen Freikorpskämpfern um Oberleutnant Gerhard Roßbach anschloss. Roßbach hatte mit seinem Freikorps im Rahmen des Grenzschutzes Ost im Baltikum, 1920 gegen die Rote Ruhrarmee sowie 1920/21 – im Vorfeld der Volksabstimmung über dessen staatliche Zugehörigkeit – in Oberschlesien gekämpft und nach der erzwungenen Auflösung des Korps seine Männer in verschiedenen Tarnorganisationen untergebracht.
Bereits seit 1919 hatten sich auch im „roten Altona“ verschiedene paramilitärische Gruppen gebildet, um die Ergebnisse der Revolution rückgängig zu machen und „Ruhe und Ordnung“ herzustellen. Sie rekrutierten sich aus heimgekehrten, demobilisierten Soldaten, ehemaligen Freikorpsangehörigen und zum Teil aus Angehörigen der Altona-Bahrenfelder Polizeiausbildungsschule in der Theodorstraße. Teile von ihnen hatten schon an der Niederschlagung des Spartakistenaufstandes von Bahrenfeld (5. bis 7. Februar 1919) und der „Hungerunruhen“ (24. Juni bis 1. Juli 1919, ausgelöst durch den „Hamburger Sülzeaufstand“) mitgewirkt, bei denen unter anderem das Polizeigefängnis und das Landgericht gestürmt worden waren und es zu Gefangenenbefreiungen gekommen war. Zu den paramilitärischen Gruppen zählte beispielsweise eine Bürgerwehr (Deckname: „Die Wolke“, später „Freiwillige Wachabteilung Bahrenfeld“), die auf Initiative des Hamburger Überseekaufmanns Richard C. Krogmann aus Offizieren und Feldwebeln, aber auch Schülern und Studenten wie dem erst 17-jährigen, späteren SS-General Bruno Streckenbach gegründet worden und für deren Organisation Gustav Noskes vormaliger Adjutant Edouard Becker verantwortlich war. Dieser gut bewaffnete Wehrverband, der von Hamburger Bürgerfamilien finanzielle Zuwendungen erhielt, fand bald darauf mit Unterstützung der dortigen Kommandantur in dem Kasernenkomplex an der Luruper Chaussee in Bahrenfeld seinen festen Stützpunkt.
Ihre Führer fassten diese Gruppen zu militärisch organisierten Kampfverbänden zusammen, die Übungen in Altonas Umland veranstalteten und Putschpläne für Norddeutschland entwickelten. Im März 1920, während des Kapp-Lüttwitz-Putsches, waren einige von ihnen an der Seite von Reichswehrangehörigen zum Altonaer Rathaus gezogen und hatten die Übergabe der politischen Macht gefordert, wurden jedoch von Mitgliedern des SPD-DDP-Magistrats mit Unterstützung republikanischer Heimwehrverbände abgewiesen.
Viele dieser Gruppen standen in Verbindung zur NSDAP, die 1920 in München gegründet worden war und sich bald über das ganze Reich ausbreitete; auch der Roßbach-Bund war bereits 1922 Kollektivmitglied der Partei. Traumatisiert von den Erfahrungen und enttäuscht über den Ausgang des Krieges, den aus ihrer Sicht „unwürdigen Abgang“ des Kaisers und die Erfolglosigkeit der Freikorpsunternehmen, ohne soldatische Zukunft und berufliche Aussichten, hatten sich viele von ihnen vom nationalen Konservatismus ab- und einem aktionistischen, revolutionären Nationalismus zugewandt, in dem häufig auch völkische und antisemitische Motive Platz fanden. Im benachbarten Hamburg existierte bereits im Frühjahr 1921 eine kleine NSDAP-Ortsgruppe, die in der Folgezeit mit den Altonaer Kampfverbänden zusammenarbeitete. Moder trat im Sommer 1922 der Partei auch als Einzelperson bei und gründete 1923 die Altonaer Ortsgruppe mit, als deren Leiter bald Hinrich Lohse fungierte.
Der „Kampfbund Roland“
Paul Moder wurde bereits kurz nach seiner Ankunft in Altona zum Kommandeur der dortigen Organisation Roßbachs ernannt. Noch im Frühjahr 1922 schloss sich eine Gruppe von zunächst 24 Angehörigen der örtlichen Polizei, die während ihrer Ausbildung unter dem Tarnnamen „Vereinigung zur Wahrung der Interessen deutscher Grenzmärker“ zusammengefunden hatten, den Roßbachern an. Neben Moder waren zwei weitere ehemalige Freikorpskämpfer, Alf Krüger und Rittmeister a. D. Raben, für Organisation und Training der Gruppe zuständig; anfangs stellte sie auch den Saalschutz für Zusammenkünfte der Hamburger NSDAP, bevor sich diese 1923 eine eigene Sturmabteilung (SA) schuf. Dieser Veranstaltungsschutz bestand häufig – wie es dann später auch die von Moder befehligte Altonaer SA praktizieren sollte – im gewalttätigen Vorgehen gegen jegliche Kritiker, die aus dem Saal geprügelt und nicht selten krankenhausreif geschlagen wurden.
Im September 1922, nach der Ermordung Walther Rathenaus, reorganisierten Krüger und Moder ihre auf 103 Mitglieder angewachsene Truppe in drei militärischen Zügen, von denen der „Zug Bahrenfeld“ über 30 Polizeianwärter und sechs Angehörige der Polizeikaserne in der Viktoria-, heute Eggerstedtstraße, umfasste. Den Polizisten, die sich zu diesem Zeitpunkt „Turnerschaftlicher Kameradschaftsbund ‚Roland‘“ nannten, war es gelungen, ihre Zugehörigkeit zur Roßbach-Gruppe zu verbergen, so dass sie im November 1922, im Unterschied zu anderen antirepublikanischen Geheimbünden, beim Verbot der NSDAP und verwandter Gruppierungen infolge des Republikschutzgesetzes nicht erwähnt wurden und somit von der Polizeiführung unter Senator Walther Lamp’l (SPD) unbehelligt blieben. Zu den Treffpunkten der Gruppe gehörten mehrere Lokale im Stadtgebiet wie der „Schützenhof“, das „Alte Gasthaus“ und der Wartesaal des Altonaer Hauptbahnhofs.
Infolge der galoppierenden Inflation und des Beginns der Ruhrbesetzung gewann die Organisation um den Jahreswechsel 1922/23 zahlreiche neue Mitglieder in Altona und wurde unter der Bezeichnung „Kampfbund Roland“ analog der SA in mehrere Hundertschaften gegliedert; Ende Januar 1923 nahmen Moder, Krüger und andere Angehörige dieser Gruppe am ersten NSDAP-Reichsparteitag in München teil. Ermutigt durch den Aufruf der Reichsregierung unter Wilhelm Cuno zum passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung, schloss sich der Kampfbund mit anderen Wehrverbänden aus den benachbarten Städten Hamburg und Altona zur „Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Kampfverbände“ zusammen, die ihre Zentrale in Altona hatte und der Verbindungen zur Reichswehrführung nachgesagt wurden. Zu den geheimen Depots, die diese Arbeitsgemeinschaft anlegte, trug der Kampfbund Roland mit aus Polizeibeständen „abgezweigten“ Waffen erheblich bei. Es existierten auch detaillierte Putschpläne, die nach einer Razzia bei dem Altonaer Hauptmann a. D. August Fleck gefunden wurden und am 27. Juni 1923 Gegenstand einer Debatte in der Hamburgischen Bürgerschaft waren.
Bereits in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 1923 war es in Altonas „Hotel Kaiserhof“ zu einem Geheimtreffen führender Vertreter verschiedener politischer und militärischer Organisationen, darunter dem NSDAP-Nachfolger Großdeutsche Arbeiterpartei und der Deutschvölkischen Freiheitspartei, gekommen, an der auch Moder, Raben und, als Redner, Roßbach teilnahmen. Die Polizei hob diese Veranstaltung aus und nahm Raben und Roßbach – nicht jedoch Paul Moder – fest, entließ beide aber 24 Stunden später wieder. Laut Polizeichef Lamp'l waren „die meisten der Versammelten, die im Alter von 19 bis 25 Jahren standen, … bewaffnet, und zwar mit Totschlägern, Stahlruten, … Stich- und einzelne sogar mit Schußwaffen!“. Zu einem Vorgehen gegen den Roland oder die Arbeitsgemeinschaft führten diese Ereignisse allerdings nicht.
Bei der Wahl zur Altonaer Stadtverordnetenversammlung am 4. Mai 1924 erhielt der Völkisch-Soziale Block (VSB), in den etliche Mitglieder der verbotenen NSDAP eingetreten waren, 8005 Stimmen (entsprechend 8,9 %), größtenteils aus den bürgerlichen Wohnvierteln, und zog mit fünf Abgeordneten, darunter Hinrich Lohse, in das Kommunalparlament ein. Die beiden vorher nicht der NSDAP angehörenden Abgeordneten, Schulrektor Johannes Laß und Malermeister Karl Johannsen, wurden kurz darauf zum Mandatsverzicht gedrängt. Der Roland-Bund hatte unter Moders Führung den Schutz der Wahlveranstaltungen des VSB organisiert.
Aufbau der SA und Aufstieg der Altonaer NSDAP
Nach der Haftentlassung Hitlers im Dezember 1924 wurde die NSDAP im Februar 1925 neu gegründet. Auch in Altona bildete sich umgehend eine neue NSDAP-Ortsgruppe – die erste in Schleswig-Holstein – aus dem Völkisch-Sozialen Block und anderen Gruppierungen wie der Deutsch-Völkischen Freiheitsbewegung. Am 1. März 1925 wurde in Neumünster der NSDAP-Gau Schleswig-Holstein gegründet, dessen Leiter der Altonaer Ortsgruppenführer Lohse wurde. Altona selbst war für einige Zeit „Gauhauptstadt der Nordmark“. Währenddessen bauten Wilhelm von Allwörden und Paul Moder, der die NSDAP-Mitgliedsnummer 9.425 besaß, aus dem Kampfbund Roland und jüngeren, männlichen NSDAP-Mitgliedern die ersten SA-Abteilungen auf, die ab Februar 1926 in verschiedenen Gaststätten ihre Treff- und Stützpunkte („Sturmlokale“ oder „SA-Kasernen“) hatten – anfangs nur in den „besseren Wohngegenden“ Altonas, gegen Ende der 1920er aber auch zunehmend in den sozialdemokratisch (Ottensen, Bahrenfeld, Lurup) bzw. kommunistisch (Altstadt) dominierten Stadtteilen, wo es gleichfalls Gastwirte gab, die mit der NSDAP sympathisierten. Meist lagen diese Treffpunkte in Quartieren bzw. Wohnblöcken, in denen die Partei auch relativ gute Wahlergebnisse erzielte. Die SA trat ab September 1925 regelmäßig als Saalschutz bei Parteiversammlungen und öffentlichen Propagandaveranstaltungen in Altona auf. Diese mündeten stets in „nahezu obligatorische Schlägereien [mit] Kommunisten, die das Eingreifen der Polizei erforderlich machten“. Nach einer Goebbels-Hetzrede gegen Republik und Arbeiterparteien am 30. März 1927 kam es zu einer Saalschlacht, die sich auf den umliegenden Straßen fortsetzte und rund 25 Verletzte zur Folge hatte. In deren Folge musste die NSDAP-Ortsgruppe nicht nur für den Sachschaden von weit über 1.000 RM aufkommen, sondern hatte bis 1929 erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt noch einen Veranstaltungsraum in Altona zu finden.
Die Partei hatte bei ihrer Wiedergründung 1925 121 Mitglieder; zwischen Sommer 1929 und Frühjahr 1931 stieg die Zahl von etwa 300 auf 1.300 Personen. Damit gingen aber zunächst keine vergleichbaren Wahlerfolge einher: bei der Stadtverordnetenwahl 1927 zog nur ein einziger Nationalsozialist in das Kommunalparlament ein, 1929 – Altona hatte inzwischen durch Eingemeindungen aufgrund des Groß-Altona-Gesetzes seine Einwohnerzahl auf etwa 240.000 vergrößert, der Sozialdemokrat Max Brauer war neuer Oberbürgermeister – reichten 6.880 Stimmen für drei Sitze. Moder selbst zog im Februar 1927 nach München; zusammen mit mehreren Dutzend anderen SA-Angehörigen um den SA-Führer Edmund Heines, dem Anführer der Münchener Roßbacher, wurde er Anfang Juni 1927 vorübergehend aus Partei und SA ausgeschlossen. Hintergrund dieser Maßnahme war, dass Teile der Münchener SA um Heines im Mai 1927 gegen den Legalitätskurs der Parteiführung um Hitler gemeutert hatten und stattdessen die Einschlagung einer „aktivistischeren“ (d. h. revolutionären) Strategie zur Machtübernahme gefordert hatten. In dem Bestreben, die Münchener SA zu disziplinieren, hatte die Parteiführung für den 25. Mai 1927 einen Generalappell im Hirschbräukeller angesetzt und bekannt gegeben, dass jeder SA-Mann, der diesem fernbleibe, aus der Partei ausgeschlossen werde. Etwa ein Drittel der Münchener SA-Männer, darunter Moder, folgten diesem Appell aus Protest gegen die Linie der Parteiführung dennoch nicht und wurden daraufhin durch den Untersuchungs- und Schlichtungsausschuss der Parteiführung auf Antrag von Franz Pfeffer von Salomon aus der Partei ausgeschlossen. Zu tief kann der Bruch mit der Partei indes nicht gewesen sein: In einem Strafverfahren vor dem Landgericht München wegen des Eindringens in den Bannkreis um den Bayerischen Landtag in einem nicht genehmigte Aufzug, das im Dezember 1927 stattfand, wurden Heines, Moder und einige andere ehemalige SA-Leute bereits wieder von Hitlers persönlichem Anwalt Hans Frank verteidigt.
Von April 1930 bis September 1931 arbeitete Moder als Angestellter der NSDAP-Reichsleitung. 1929/30, nach Beginn der Kampagne gegen den Young-Plan und insbesondere begünstigt durch die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise, erhielt die Altonaer SA starken Zulauf. Für manchen Angehörigen des Stahlhelm waren die Nazis „hoffähig“ und aufgrund ihrer Stärke und ihrer stark zunehmenden Aktivitäten attraktiv geworden; die Präsenz der SA auf Altonas Straßen, aber auch in zahlreichen Propagandaveranstaltungen stieg ab Mitte 1930 sprunghaft an. Darüber hinaus wurden Erwerbslose zur Haupt-Zielgruppe für Anwerbeversuche seitens der Nationalsozialisten, die von den materiellen Sorgen der sozial Deklassierten und deren Unzufriedenheiten mit „dem System“ profitieren konnten. Schließlich versprachen sich manche Bewohner der kommunistischen Hochburgen in der Altstadt („Klein-Moskau“), die selbst nicht zur KPD tendierten, von der SA auch einen gewissen Schutz vor den gleichfalls zunehmenden Aktivitäten der kommunistischen Organisationen. Das Gros der SA-Männer und insbesondere ihrer Führungsebene stammte aber weiterhin aus dem kleinbürgerlichen Milieu oder dem alten Mittelstand – ähnlich der Struktur der NSDAP-Ortsgruppe: von den vor dem 30. Januar 1933 beigetretenen Mitgliedern waren 38,1 % Angestellte oder Beamte, 24,3 % Handwerksmeister, mittlere und Einzelhändler, 17,1 % gelernte und 15,5 % ungelernte Arbeiter.
Im September 1931 kehrte Paul Moder nach Altona zurück, wo die Zeit der Straßenkämpfe zwischen SA, Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund begann, die ihren negativen Höhepunkt nach Aufhebung des zweimonatigen SA-Verbotes (14. Juni 1932) im Altonaer Blutsonntag finden sollte. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen wurde Moder 1931 in die SS aufgenommen (SS-Nr. 11.716), die Heinrich Himmler seit 1929 stark ausbaute, und als Führer der zunächst in Wesselburen, ab September 1932 in Hartenholm und ab April 1933 in Altona stationierten 4. SS-Standarte „Schleswig-Holstein“ hauptberuflich beschäftigt. Obwohl er sich bis dahin immer als ein „Mann der Tat“ und weniger als ein Parteipolitiker verstanden hatte, ließ sich Moder zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 als NSDAP-Kandidat aufstellen und gewann ein Mandat. Ehe er auf die Parteiliste gesetzt wurde, musste Gauleiter Lohse sich allerdings zunächst mit dem damaligen SS-Gruppenführer Dietrich ins Benehmen setzen, weil es einen zweiten gleichrangigen SS-Kandidaten, den Standartenführer Alfred Rodenbücher, gab. Im überwiegend ländlichen Schleswig-Holstein (Wahlkreis 13) konnten die Nationalsozialisten bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr als 50 % der Stimmen auf sich vereinigen; sie gewann acht der 14 Mandate in dieser Provinz. Seinen Wahlkampf hatte er allerdings auf gewohnt brachiale Art geführt: in zehn Orten Schleswig-Holsteins organisierte er, dabei die Tradition des radikalen Flügels der Landvolkbewegung unter Claus Heim fortsetzend, in diesem Sommer Bombenanschläge auf SPD- und KPD-Angehörige. Im November 1932 wurde er deswegen zu sechseinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, kam allerdings, nachdem er am 6. November erneut gewählt wurde und der Reichstag zur Haftverschonung seine Immunität wieder hergestellt hatte, umgehend frei und brauchte diese Strafe nie abzusitzen.
An dem „Werbemarsch“ zahlreicher schleswig-holsteinischer SA-Züge vom 17. Juli 1932 durch Altona war Moder offenbar nicht persönlich – jedenfalls nicht in dienstlicher Funktion – beteiligt: in der Literatur zu diesem „Altonaer Blutsonntag“ findet sich lediglich ein Beleg dafür, dass Hamburger SS-Leute an diesem provokativen Umzug durch „Klein-Moskau“ teilnahmen. Wohl aber standen dabei die Altonaer SA-Züge im Zentrum der Auseinandersetzungen, insbesondere der schon länger berüchtigte 2. Sturm (offiziell: Sturm 31/2), nach seinem Anführer, dem Bäcker und Konditor Hubert Richter, auch als Richter-Sturm bezeichnet. Und kurz vor dem Blutsonntag hatte es am 8., 10. und 11. Juli bereits drei gewalttätige SA-Aufmärsche in Altona gegeben, an denen auch SS-Leute beteiligt waren.
Dennoch gelang der NSDAP bei der Reichstagswahl im November auch hier ein Durchbruch: Die Partei lag nur noch in den Stadtteilen Altstadt (hinter der KPD), Ottensen, Bahrenfeld und Lurup (hinter der SPD) lediglich auf Platz 2, während ihre Hochburgen insbesondere in den erst 1927 und teilweise gegen heftigen örtlichen Widerstand eingemeindeten, großbürgerlichen Vororten Rissen, Sülldorf, Oevelgönne (über 50 %), Blankenese und Othmarschen (über 40 %) lagen.
Im Dritten Reich
„Machtübernahme“ in Altona
Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 errang Paul Moder erneut ein Mandat im Wahlkreis 13.
Am 10. März 1933 um Mitternacht – zwei Tage vor der Stadtverordnetenwahl – besetzte die SS unter seiner Führung das Altonaer Rathaus und erklärte Oberbürgermeister Brauer und den Magistrat für abgesetzt. Der neue Oberbürgermeister Emil Brix, seit 1925 Mitglied der Altonaer Nationalsozialisten und Abgeordneter im preußischen Landtag, berichtete dem preußischen Innenminister am 11. März, er habe
Im Gegensatz zu Zeitungsberichten übernahm Paul Moder nicht die vollziehende Gewalt in Altona. Emil Brix betonte dies in dem oben genannten Schreiben in einem Nachtrag so: „SS-Oberführer Moder ist nicht, wie irrtümlich angegeben, Inhaber der vollziehenden Gewalt, sondern befiehlt über die zum Schutz des Rathauses und der städt. Gebäude eingesetzten Hilfskräfte der SA und SS.“ Entgegen späteren Behauptungen in der regionalgeschichtlichen Literatur wurde Moder auch nicht Polizeisenator von Altona. Seine Macht beschränkte sich bis Ende März 1933 auf die Befehlsgewalt über die ohne Rechtsgrundlage agierenden SA- und SS-Einheiten. Abgesehen davon, dass der Altonaer Polizeisenator nicht für die preußische Schutzpolizei in Altona zuständig war, sondern lediglich ordnungsbehördliche Aufgaben besaß, stimmte sich Moder mit dem zuständigen Polizeipräsident Fritz Diefenbach (DVP) ab. Ende März 1933 wurde Paul Hinkler (NSDAP) Polizeipräsident für Altona-Wandsbek, und somit unterstand die preußische Polizei einem Nationalsozialisten.
Die NSDAP erhielt bei der Kommunalwahl am 12. März zwar nur gut 46 % der Stimmen und 30 der 61 Stadtverordnetensitze, aber da die zehn KPD-Abgeordneten sofort in „Schutzhaft“ genommen wurden und mehrere der 16 sozialdemokratischen Stadtverordneten sich versteckten oder aus der Stadt flüchteten, verfügten die neuen Machthaber auch im kommunalen Parlament über eine solide Mehrheit, erst recht, nachdem die fünf Stadtverordneten des Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot und der Vertreter des Nationalen Bürgertums noch im März zur NSDAP übertraten.
Paul Moder wurde am 10. Oktober zum unbesoldeten Stadtrat ernannt und sollte danach die Nachfolge des nach Berlin versetzten Hinkler als Polizeipräsident für Altona-Wandsbek antreten. Da sich Hinkler in seiner neuen Position als Leiter des reichsweiten Gestapo-Amtes in Berlin nicht gegen interne Konkurrenten durchsetzen konnte, kam es nicht mehr dazu. Hinkler kehrte im November 1933 nach Altona zurück, und Moder wurde Ende 1933 zum SS-Brigadeführer befördert und im Februar 1934 mit der Führung des SS-Abschnittes III (Berlin) entschädigt. Ihm unterstanden somit die drei Berliner SS-Standarten.
Das Hauptinstrument zur Durchsetzung der Volksgemeinschaftsideologie in Altona war die Gleichschaltung, also die Unterordnung der bis dahin auf unterschiedliche, oft private Träger verteilten Kultur-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen bzw. des öffentlichen Lebens insgesamt unter eine zentrale Führung. Der preußischen Polizei (und 1933 auch noch der SA) kamen dabei zwei Aufgaben zu: zum einen das Aufspüren aller tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zu den neuen Machthabern stehenden Personen und Gruppen und zum anderen die Sicherung der Ziele, die von den teilweise miteinander konkurrierenden Inhabern kommunaler und Parteiämter formuliert wurden. Im Rathaus selbst wurden schon vor Inkrafttreten des Berufsbeamtengesetzes zahlreiche Verwaltungsmitarbeiter entlassen und zum großen Teil durch NS-Gefolgsleute bzw. bekannte Gegner des „Weimarer Systems“ ersetzt. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden 1933 insgesamt 223 Bedienstete in Altona entlassen.
Hinsichtlich des ersten Aufgabenkomplexes arbeiteten die dem Polizeipräsidenten in Altona unterstellten Kräfte einschließlich der als Hilfspolizisten eingesetzten SA-Leute mit der gleichen Brutalität und Effizienz wie in anderen Regionen des Reiches. Zwar konnte der abgesetzte Max Brauer rechtzeitig untertauchen, aber Ex-Bausenator Gustav Oelsner wurde am 11. März und Otto Eggerstedt, der im Juli 1932 abgesetzte sozialdemokratische Polizeipräsident, am 27. Mai 1933 verhaftet. Auch in Altona, dessen jüdische Gemeinde gut 2.500 Menschen zählte, kam es am 1. April 1933 zu ersten, von der SA organisierten Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Die Bewohner der örtlichen Hochburgen von SPD und KPD schließlich standen sozusagen unter Generalverdacht und unterlagen gleichfalls den Repressalien der Ordnungskräfte.
Hinsichtlich des zweiten Aufgabenbereiches wurde als eine der ersten Maßnahmen ein „Amt für Kunst und Kultur“ geschaffen, um die verschiedenen staatlichen Aktivitäten zu koordinieren, während private Gesellschaften und Vereine sich zwangsweise dem „Volksbund für Volkstum und Heimat“ anschließen mussten, wenn sie nicht – wie beispielsweise die zahlreichen Altonaer Arbeitersportvereine unmittelbar nach dem Reichstagsbrand (kommunistische) bzw. im Mai 1933 (sozialdemokratische) – gleich ganz verboten wurden. Hinzu kamen 1933/34 öffentlich inszenierte Massenveranstaltungen wie die Geburtstagsfeier der Heimatdichterin Charlotte Niese, eine „Skagerrakfeier“ anlässlich des Besuchs einer Flotteneinheit im Hafen, das sportliche „Jugendfest“ im Städtischen Stadion oder die Eröffnung des Flugplatzes an der Luruper Chaussee.
Diese Maßnahmen verhinderten dennoch nicht, dass es in Altona bis mindestens Ende 1933 eine nennenswerte Ablehnung des neuen Regimes gab: Anlässlich der Volksabstimmung über den deutschen Völkerbundaustritt am 12. November des Jahres stimmten 13,5 % mit Nein (in Schleswig-Holstein insgesamt 10,7 %, im Deutschen Reich nur 6,6 %).
Zum 20. Februar 1934 berief Heinrich Himmler Paul Moder nach Berlin. Auch sein Abschied aus Altona geriet zu einer solchen öffentlichen Demonstration des Gemeinschaftsgedankens, wie die NS-Zeitung Der Angriff schrieb:
SS-Führer in Berlin und Warschau
In Berlin wurde er Anfang November 1938 für ein Jahr, seit 1936 mit dem Dienstgrad SS-Gruppenführer ausgestattet, Stellvertreter des Oberabschnitts Ost/Spree und somit Vertreter des Obergruppenführers Sepp Dietrich. Daneben hat er bis 1939 durchgehend dem machtlosen und zunehmend seltener zusammentretenden NS-Reichstag angehört, nachdem er zuletzt im Dezember 1938 wieder als Abgeordneter für den Berliner Wahlkreis 3 bestätigt worden war. Privat hatte er erhebliche Finanzprobleme; so informierte er Himmler 1937, er habe ein zinsloses Darlehen über 15.000 RM von dem Hamburger Kaufmann Hermann Fürchtegott Reemtsma aufnehmen müssen, um seine Ehefrau im Scheidungsfall abfinden zu können.
Am 1. November 1939, bald nach dem deutschen Überfall auf Polen, kommandierte Himmler Paul Moder in das politisch von Hans Frank geleitete Generalgouvernement als SS- und Polizeiführer Warschau ab, wo er bis Juli 1941 tätig war. Moders unmittelbarer Vorgesetzter im Generalgouvernement war der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich-Wilhelm Krüger.
Während dieser Zeit wurde das Warschauer Ghetto eingerichtet, dessen Bewachung Moders Einheit oblag, und die Zwangsarbeit für jüdische Bewohner eingeführt. Am 30. März 1940 verhaftete die Sicherheitspolizei etwa 1.000 Angehörige des polnischen Widerstandes, die ab Anfang Mai standrechtlich hingerichtet wurden. Im April 1940 erfolgte der Bau einer Mauer um das Ghetto, ab November durfte es nur noch mit einem Erlaubnisschein verlassen werden. Sicherung und Kontrolle dieser Maßnahmen fielen in Moders Zuständigkeitsbereich. Möglicherweise hat er sich – wie sein deswegen später angeklagter Adjutant von Eupen – bei Beschlagnahmungen auch persönlich bereichert.
Von Ende Mai bis Anfang Juni 1940 hatte Moder auch für einige Wochen am Westfeldzug in Frankreich teilgenommen und war für seinen dortigen Einsatz mit der Spange zum EK I ausgezeichnet worden.
In unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (ab Juni 1941) beurlaubte Paul Moder sich zu einem längeren Besuch seiner Familie in Berlin selbst; diese Eigenmächtigkeit wurde von seinem direkten Vorgesetzten Krüger dem SS-Personalhauptamt gemeldet. Moder berief sich darauf, dass Krüger ihm die Aufhebung der Urlaubssperre mitgeteilt habe. Es muss Spekulation bleiben, ob sich dahinter ein tiefergehender Konflikt zwischen den beiden Männern verbarg, ebenso, ob Himmlers folgende Entscheidung – wie von Friedman vermutet – aus einem spontanen Zorn oder aus der Enttäuschung über den von ihm immer geförderten „alten Kämpfer“ heraus erfolgte. Jedenfalls wurde Moder am 19. Juli 1941 vom Reichsführer SS seiner Funktion enthoben, durch Arpad Wigand ersetzt und zur SS-Division Totenkopf an die Ostfront abkommandiert. Offenbar bewährte er sich auch dort: Am 9. November 1941 wurde er zum Sturmbannführer d. R. der Waffen-SS befördert. Im Februar 1942 fiel er zu Beginn der Einkesselung bei Demjansk nahe Maly Kalinez in der Region um Nowgorod.
Himmler kondolierte Moders Witwe persönlich.
Im Dezember 1942 fanden sich u. a. sein goldenes Parteiabzeichen und sein SS-Führerausweis unter dem Diebesgut eines SS-Mannes und Reichsbahnschaffners.
Archivarische Überlieferung
Im Bundesarchiv haben sich eine Reihe von personenbezogenen Unterlagen zu Moder erhalten: So SS-Personalakten (R 9361-III/543787 und R 9361-III/149430), eine Akte mit NSDAP-Parteikorrespondenz zu ihm (R 9361-II/717468), eine Akte des Propagandaministeriums zu ihm (R 55/23682), eine Akte des Obersten Parteigerichts der NSDAP zu ihm (R 9361-I/48972), ein Fragebogen zur Parteistatistischen Erhebung von 1939 (R 9361-I/2334), eine Unterlagensammlung (R 9354/628) sowie eine Strafprozessakte des Justizministerium zu ihm (R 3001/12435).
Literatur
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Verwaltungsbericht der Stadt Altona 1933 und 1934. Altona 1936
Weblinks
Anmerkungen und Einzelnachweise
Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich)
Reichstagsabgeordneter (Weimarer Republik)
Reichstagsabgeordneter (Deutsches Reich, 1933–1945)
SS- und Polizeiführer
Freikorps-Mitglied
NSDAP-Mitglied
Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP
SA-Mitglied
Person (deutsche Besetzung Polens 1939–1945)
Person (Altona)
Deutscher
Geboren 1896
Gestorben 1942
Mann |
2697865 | https://de.wikipedia.org/wiki/Heterodontosaurus | Heterodontosaurus | Heterodontosaurus („Echse mit verschiedenartigen Zähnen“) ist eine Gattung der Vogelbeckensaurier (Ornithischia) und der namensgebende Vertreter der Familie Heterodontosauridae. Die Gattung lebte während des Unterjura (Hettangium bis Sinemurium, vor etwa 200 bis 190 Millionen Jahren) im heutigen Südafrika. Fossilfunde stammen aus der Oberen Elliot-Formation und der Clarens-Formation, deren Ablagerungen auf ein wüstenartiges Klima zu Lebzeiten von Heterodontosaurus deuten. Heterodontosaurus wurde 1962 von Alfred W. Crompton und Alan Charig mit der einzigen Art H. tucki erstmals wissenschaftlich beschrieben.
Es handelte sich um einen kleinen, zweibeinig laufenden Pflanzen- oder Allesfresser mit einer geschätzten Länge von 1 bis 1,75 Metern. Namensgebend ist das charakteristische heterodonte Gebiss, das verschiedene Zahntypen umfasst, einschließlich eines Paars hauerartiger „Eckzähne“ und meißelförmiger Backenzähne. Verschiedene Zahntypen, obwohl typisch für Säugetiere, sind unter Reptilien ungewöhnlich. Das Fehlen eines kontinuierlichen Zahnwechsels, ein für Reptilien ebenfalls sehr ungewöhnliches Merkmal, verleitete frühe Studien zu der Annahme, die Tiere hätten eine Sommerruhe gehalten, in welcher sämtliche Zähne auf einmal gewechselt wurden. Weitere Studien befassten sich mit der Frage, ob die charakteristischen Hauer des Gebisses bei beiden Geschlechtern oder nur bei Männchen vorhanden waren (Sexualdimorphismus), ob die Tiere zweibeinig oder vierbeinig liefen, und ob es sich um Pflanzenfresser oder Allesfresser handelte, die auch Fleisch nicht verschmähten.
Merkmale
Heterodontosaurus war ein graziler, zweibeiniger Vogelbeckensaurier aus der Gruppe der Heterodontosauridae. Diese Gruppe umfasste einige der kleinsten bekannten Vogelbeckensaurier; beispielsweise wird Fruitadens auf eine Körperlänge von nur 65 bis 75 cm geschätzt. Heterodontosaurus ist einer der größten Heterodontosauriden: Die Körperlänge wird auf 1 bis 1,75 Meter geschätzt, das Gewicht lag vermutlich zwischen 1,8 und 10 Kilogramm. Lediglich Lycorhinus könnte noch größer gewesen sein.
Schädel und Gebiss
Der Schädel ist robust gebaut und erscheint in Seitenansicht dreieckig. Die Schnauze endete zu Lebzeiten in einem zahnlosen „Schnabel“ aus Horn. Der obere Teil des „Schnabels“ saß auf dem Prämaxillare, einem dem Hauptknochen des Oberkiefers (Maxillare) üblicherweise vorgelagerten Knochen, während der untere Schnabel dem Prädentale aufsaß, dem vordersten Unterkieferknochen speziell der Vogelbeckendinosaurier. Die Augenhöhlen sind verhältnismäßig groß und annähernd rund, während die externen Nasenöffnungen klein sind. Ein großes Palpebrale, ein für Vogelbeckensaurier typischer spornartiger Knochen, ragt von vorne in die Augenhöhle hinein. Unterhalb der Augenhöhle bildet das Jochbein einen hornartigen, zur Seite gerichteten Fortsatz aus. Zwischen Augenhöhle und externer Nasenöffnung befindet sich ein ausgedehntes Antorbitalfenster, das jedoch eher als Mulde in der Schädelseitenwand erscheint und deshalb auch Antorbitalfossa genannt wird. Diese Mulde beherbergt zwei kleinere Öffnungen, die, je nach Autor, als Foramina oder Fenestrae bezeichnet werden. Der untere Rand der Antorbitalgrube wird durch einen markanten Knochengrat gebildet, der zugleich die obere Begrenzung der nach innen (mediad) zurückweichenden unteren, die „Backenzähne“ tragenden Partie des Maxillare (engl. cheek recess) ist. Das Zurückweichen der zahntragenden Partie des Maxillare ist typisch für Vogelbeckendinosaurier und gilt als Hinweis darauf, dass diese Tiere, analog zu Säugetieren, Backentaschen und folglich relativ kleine Mundöffnungen besaßen. Hinter der Augenöffnung liegt das verhältnismäßig große, annähernd eiförmige, schräggestellte Untere Temporalfenster. Das elliptisch geformte Obere Temporalfenster ist in Seitenansicht nicht erkennbar. Die Oberen Temporalfenster beider Schädelhälften sind durch einen ausgeprägten Scheitelkamm voneinander getrennt, der Ansatzflächen für die Kiefermuskulatur bot.
Das markanteste Merkmal ist die starke Differenzierung des Gebisses die deutlich unterschiedlichen Zahntypen (Heterodontie). Während der vordere Abschnitt des Prämaxillare zahnlos ist und einen hornigen Schnabel trug, sitzen im hinteren Abschnitt des Knochens drei stiftförmige Zähne, von denen der dritte als stark vergrößerter „Hauer“ (englisch tusk) ausgebildet ist. Der Hauer ist durch eine breite Zahnlücke (Diastema) von den sehr engständigen meißelförmigen „Backenzähnen“ des Maxillare getrennt. Das Hauerpaar des Unterkiefers ist deutlich größer als das obere Hauerpaar und griff beim Kieferschluss in eine Einbuchtung im Bereich der Zahnlücke des Maxillare.
Postkraniales Skelett
Der Hals setzte sich aus neun Halswirbeln zusammen und war S-förmig gekrümmt, worauf die Form der Wirbelkörper in Seitenansicht hinweist: So waren die vorderen Wirbelkörper wie ein Parallelogramm geformt, während die der mittleren Halswirbel rechteckig und jene der hinteren Halswirbel trapezförmig waren. Der Rumpf war relativ kurz und bestand aus 12 Rückenwirbeln, an denen sich im Beckenbereich 6 miteinander verschmolzene Kreuzbeinwirbel anschlossen. Der proportional lange Schwanz ist nicht vollständig überliefert, bestand aber wahrscheinlich aus 34 bis 37 Schwanzwirbeln. Die Rückenwirbelsäule war ab dem vierten Rückenwirbel durch verknöcherte Sehnen versteift. Dieses Merkmal findet sich bei vielen Vogelbeckensauriern und wirkte vermutlich Biegekräften entgegen, die während der zweibeinigen Fortbewegung die Wirbelsäule belasteten. Anders als bei anderen Vogelbeckensauriern zeigte der Schwanz von Heterodontosaurus keine verknöcherten Sehnen und war somit vermutlich flexibel.
Die Vordergliedmaßen waren kräftig gebaut und mit über 70 % der Länge der Hintergliedmaßen verhältnismäßig lang. Die Speiche des Unterarms maß 70 % der Länge des Oberarmknochens, während die verhältnismäßig große Hand fast ebenso lang wie der Oberarmknochen war. Die Hand endete in fünf, zum Greifen geeigneten Fingern. Der zweite Finger war der längste der Hand, gefolgt vom dritten und ersten Finger (Daumen). Der vierte und fünfte Finger hingegen waren stark zurückgebildet und möglicherweise funktionslos. Die ersten drei Finger endeten in großen und kräftigen Krallen. Die Phalangenformel, welche die Anzahl der Fingerknochen jedes Fingers angibt, betrug 2-3-4-3-2.
Die Hintergliedmaßen waren lang und grazil und endeten in vier Zehen, von denen jedoch nur die zweite, dritte und vierte den Boden berührte. Ein für Vogelbeckensaurier einzigartiges Merkmal war die Verschmelzung verschiedener Bein- und Fußknochen: Schienbein und Wadenbein waren mit den oberen Fußwurzelknochen (Sprungbein und Fersenbein) zu einem Tibiotarsus verschmolzen, während die unteren Fußwurzelknochen mit den Mittelfußknochen zu einem Tarsometatarsus verschmolzen waren. Diese Konstellation findet sich auch bei heutigen Vögeln und hat sich bei diesen und Heterodontosaurus unabhängig voneinander entwickelt. Der Tibiotarsus war um 30 % länger als der Oberschenkelknochen.
Systematik
Heterodontosaurus ist die namensgebende und am besten bekannte Gattung der Heterodontosauridae, einer Gruppe sehr kleiner, zweibeiniger Vogelbeckensaurier (Ornithischia). Ein Großteil der Funde stammt aus dem Unterjura Südafrikas; jüngere Funde belegen aber eine deutlich breitere geographische und zeitliche Verbreitung. So sind Heterodontosauriden mittlerweile aus Nordamerika, Südamerika, Europa und Asien nachgewiesen; die Gruppe existierte vermutlich von der Obertrias bis zur Unterkreide über einen Zeitraum von annähernd 100 Millionen Jahren. Die systematische Position der Gruppe innerhalb der Vogelbeckensaurier ist umstritten. So weisen sie beispielsweise zahlreiche ursprüngliche Merkmale auf, sodass einige Studien in der Vergangenheit die Heterodontosauriden an die Basis der Vogelbeckensaurier stellten, was auch besser zum vergleichsweise hohen geologischen Alter ihrer Vertreter passt (stärker abgeleitete Ornithischier sind eher typisch für die Kreidezeit als für den Jura).Die meisten Studien legen eine enge Verwandtschaft mit den Ornithopoda (Hadrosauridae und Verwandte) oder den Marginocephalia (gehörnte und Dickschädel-Dinosaurier) nahe. Nach neuesten Studien werden die Heterodontosauridae als Vertreter der Cerapoda und Vorfahren der Pachycephalosauria betrachtet, was sie zu den Ältesten bekannten Vertretern der Cerapoda macht. In derselben Studie wurden die Heterodontosauridae, die Familie, zu der Heterodontosaurus gehört, als paraphyletisch bezeichnet, was bedeutet, dass die Vertreter der Heterodontosauridae zwar einen gemeinsamen Vorfahren haben, aber nicht alle Nachkommen dieses gemeinsamen Vorfahren einschließen.
Über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Heterodontosaurus und anderen Heterodontosauriden ist wenig bekannt, da die meisten bekannten Vertreter nur sehr fragmentarisch überliefert sind. Beispielsweise können Feng-Lu Han und Kollegen in ihrer phylogenetischen Analyse die innere Systematik der Gruppe nicht auflösen; einige andere Studien erreichen eine Auflösung nur durch das Entfernen einiger der nur fragmentarisch überlieferten Vertreter. Einige Analysen betrachten Heterodontosaurus als nächstverwandt mit dem ebenfalls aus Südafrika stammenden Lycorhinus. Außerdem kommen verschiedene Analysen zu dem Ergebnis, dass Fruitadens und Tianyulong näher miteinander verwandt waren als mit anderen Gattungen. Paul Sereno (2012) fasst die südafrikanischen Vertreter (Heterodontosaurus, Lycorhinus, Pegomastax, Abrictosaurus) sowie den südamerikanischen Manidens als Heterodontosaurinae zusammen, während er die aus den nördlichen Landmassen (Laurasia) stammenden Heterodontosauriden Echinodon, Fruitadens und Tianyulong außerhalb dieser Gruppe klassifiziert, wobei er nicht auflösen kann, ob diese Gattungen ihrerseits eine Klade bilden.
Entdeckungsgeschichte
Das erste Heterodontosaurus-Fossil wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Robert Broom entdeckt, allerdings erst kürzlich als solches erkannt. Broom verkaufte das Fossil 1913 zusammen mit zahlreichen anderen südafrikanischen Fossilien an das American Museum of Natural History in New York, wo es seitdem zusammen mit den Synapsiden-Fossilien der Broom-Sammlung archiviert wurde (Exemplarnummer AMNH 24000). Erst ein knappes Jahrhundert später wurde Paul Sereno bei der Durchsicht der Sammlung auf das Fossil aufmerksam, das noch immer größtenteils in einem Gesteinsblock eingeschlossen war. Die anschließende Präparation brachte das Schädelfragment eines noch nicht erwachsenen Heterodontosaurus zum Vorschein. Hinter dem Schädel fanden sich zudem Teile mehrerer Halswirbel, was darauf hindeutet, dass möglicherweise auch Teile des restlichen Skeletts erhalten waren, die jedoch an der Fundstelle im Gestein verblieben. Wie Sereno angibt, stammt das Fossil wahrscheinlich aus der Clarens-Formation. 2012 wurde der Fund erstmals publiziert.
Anfang der 1960er Jahre tauchte schließlich ein teilweises Skelett mit einem nahezu vollständigen Schädel in der Transkei unmittelbar südlich von Lesotho auf. Der Fund (Holotyp, SAM-PK-K337) stammt aus der Clarens-Formation und wurde in den Jahren 1961–1962 von Alfred W. Crompton während einer gemeinsamen paläontologischen Expedition des Iziko South African Museum und des British Museum gemacht; der Fundort ist heute als Tyinindini-Lokalität bekannt. Die von Arthur E. Rixon durchgeführte Präparation des Schädels gestaltete sich schwierig, da ein dünner aber sehr harter Überzug aus Hämatit die Anwendung einer Diamantsäge erforderte; beim Sägen wurde der Schädel leicht beschädigt. Bereits 1962 veröffentlichten Crompton und Alan Charig eine vorläufige Beschreibung des Schädels in der Fachzeitschrift Nature, und benannten Heterodontosaurus tucki als neue Art und Gattung. Dabei weist der Name Heterodontosaurus (gr. hetero – „anders“; odous – „Zahn“; sauros – „Echse“) auf die für einen Vogelbeckensaurier ungewöhnliche heterodonte Bezahnung, während der Name tucki G. C. Tuck ehrt, den Manager des südafrikanischen Ablegers der Austin Motor Company, welcher die Expedition unterstützte. 2011 veröffentlichten David Norman und Kollegen eine umfangreichere Beschreibung des Schädels; das Restskelett wurde jedoch nie beschrieben und scheint heute verloren zu sein. Der Schädel wird heute im Iziko South African Museum in Kapstadt aufbewahrt.
Dasselbe Fundgebiet wurde im Sommer 1966–1967 von einer weiteren gemeinsamen Expedition untersucht; dieses Mal waren neben dem Iziko South African Museum und dem British Museum auch die Yale University und das University College London beteiligt. Aus einer einzigen, als Voyizane bezeichneten Fundlokalität in der Oberen Elliot-Formation kamen fünf Heterodontosaurus-Exemplare zum Vorschein, darunter der bislang vollständigste Fund, ein nahezu komplettes Skelett mit Schädel (SAM-PK-K1332). Dieses Skelett wurde ebenfalls von Crompton entdeckt und fand sich eingebettet in roten Sandsteinen. Der Schädel, der durch Ione Rudner im Iziko South African Museum präpariert wurde, ist besser erhalten als der Holotyp-Schädel und war nicht wie letzterer mit Hämatit bedeckt. Zahlreiche kleine Risse wurden allerdings mit Klebstoff ausgebessert, und die Oberflächen von Knochen und Zähne wurden mit einer Schicht aus Klebstoff stabilisiert, die teilweise feinere anatomische Details unkenntlich macht. Die übrigen Funde aus Voyizane umfassen den vorderen Abschnitt des Schädels eines Jungtiers (SAM-PK-K10487); zwei Oberkiefer-Fragmente (SAM-PK-K1326 und SAM-PK-K1334); sowie ein fragmentarisches, schädelloses Skelett inklusive Teilen der Wirbelsäule, des Beckengürtels und der Vorder- und Hinterextremitäten (SAM-PK-K1328).
Ein relativ großes Schnauzenfragment (NM QR 1788) wurde 1975 auf der Tushielaw-Farm entdeckt, etwa 60 km östlich von Voyizane. Dieses Fossil wurde lange dem Prosauropoden Massospondylus zugeschrieben, bis Porro und Kollegen 2011 zeigten, dass es sich bei dem im National Museum von Südafrika aufbewahrten Exemplar tatsächlich um ein weiteres Heterodontosaurus-Fossil handelt.
Paläohabitat
Heterodontosaurus-Fossilien stammen aus der Oberen Elliot-Formation und der darüberliegenden Clarens-Formation. Dieses Schichtintervall wird auch als Massospondylus range zone bezeichnet, benannt nach dem prosauropoden Dinosaurier Massospondylus, welcher das häufigste Fossil dieser Schichten darstellt. Die Obere Elliot-Formation, welche den Großteil der Fossilien barg, wird aus rötlichen, fluviatil (durch Flüsse) bis äolisch (durch Wind) abgelagerten Sandsteinen aufgebaut. Die etwas jüngere Clarens-Formation enthielt unter anderem das Holotyp-Exemplar von Heterodontosaurus. Die durch creme-farbene Sedimente aufgebaute Formation lagerte teils äolisch, teils innerhalb eines Playasees ab. Die Clarens-Formation ist weniger reich an Fossilien als die Obere Elliot-Formation; zudem bildet sie bevorzugt Kliffs aus, was ihre Zugänglichkeit erschwert.
Heterodontosaurus lebte vermutlich in einem trockenen, wüstenartigen Klima. Aus der Oberen Elliot-Formation sind drei weitere Heterodontosauriden bekannt – Abrictosaurus, Lycorhinus und Pegomastax – damit stellt diese Formation die weltweit größte bekannte Vielfalt dieser Gruppe. In der Clarens-Formation kommt Heterodontosaurus zusammen mit dem Heterodontosauriden Geranosaurus vor. Neben Heterodontosauriden wurden andere Dinosaurier (unter anderem Lesothosaurus, Megapnosaurus und Massospondylus), temnospondyle Amphibien, Schildkröten, Sphenodontier, Rauisuchier, Krokodilverwandte, sowie verschiedene Cynodontier (Säugetier-Vorläufer) gefunden.
Paläobiologie
Ontogenese
Über die individuelle Entwicklungsgeschichte (Ontogenese) von Heterodontosaurus ist wenig bekannt. Der 2006 beschriebene Schädel eines Jungtiers (SAM-PK-K10487) erlaubt erstmals Einblicke in anatomische Veränderungen, die in der Entwicklung vom Jungtier zum ausgewachsenen Tier stattfanden: So werden mit zunehmendem Alter die Augenhöhlen proportional kleiner, während der Abschnitt des Schädels vor den Augenhöhlen länglicher wird. Außerdem verschmelzen Teile des Nasenbeins und des Zwischenkieferbeins. Da es, abgesehen von der Zunahme der Anzahl der Zähne im Oberkiefer, keine Änderungen im Gebiss gibt, wird vermutet, dass sich die Ernährung des Tieres während des Wachstums nicht änderte. Die Gesamtlänge des Schädels wird auf 45 mm rekonstruiert. Hätte das Jungtier dieselben Körperproportionen gezeigt wie ein erwachsenes Tier, würde die Körperlänge 45 cm betragen haben – tatsächlich war das Tier vermutlich kleiner, da Schädel bei Jungtieren generell proportional größer sind als bei erwachsenen Tieren (Kindchenschema).
Sexualdimorphismus
Richard Thulborn vermutete 1974, dass es sich bei den vergrößerten Hauern der Heterodontosauride um ein sekundäres Geschlechtsmerkmal handelte (Sexualdimorphismus). So hätten nur männliche Exemplare Hauer besessen, während es sich bei hauerlosen Exemplaren, wie dem Typexemplar von Abrictosaurus, um Weibchen gehandelt hätte. Richard Butler und Kollegen (2006) zogen die Hypothese jüngst in Zweifel: So zeigt der von ihnen beschriebene, von einem Jungtier stammende Schädel, dass Hauer bereits in einem frühen Entwicklungsstadium ausgeprägt waren – geschlechtsspezifische Unterschiede seien in einem derart frühen Stadium noch nicht zu erwarten. Außerdem seien Hauer in nahezu allen bekannten Schädeln vorhanden; bei einem echten Sexualdimorphismus dagegen sei ein 50:50-Verhältnis zwischen hauertragenden und hauerlosen Exemplaren zu erwarten. Eine Ausnahme bilde lediglich das Typexemplar von Abrictosaurus – das Fehlen der Hauer stellt jedoch vermutlich eine Spezialisierung dieser Gattung dar.
Sommerruhe und Zahnwechsel
Thulborn (1974, 1978) prägte die Hypothese, dass Heterodontosauriden die trockene und nahrungsarme Jahreszeit in einer Sommerruhe verbrachten. Die Hypothese fußte auf Beobachtungen des Gebisses von Heterodontosaurus: So finden sich keine Hinweise auf einen kontinuierlichen Zahnwechsel, wie er für Dinosaurier und andere diapside Reptilien typisch ist. Die Backenzähne waren einheitlich abgenutzt, ohne dass frisch durchgebrochene Zähne vorhanden waren. Die mutmaßlich widerstandsfähige Pflanzennahrung hätte laut Thulborn jedoch zu einem schnellen Abnutzen der Zähne geführt, was einen regelmäßigen Wechsel der Bezahnung unerlässlich macht. Ein Wechsel der gesamten Bezahnung könne nur in den Phasen der Sommerruhe stattgefunden haben, wo die Tiere keine Nahrung aufnahmen. Als weiteres Argument für die Sommerruhen-Hypothese führt Thulborn die Abnutzungs-Fazetten der Zähne auf, die durch Kontakt der oberen mit der unteren Bezahnung entstanden. Bei dem zeitgenössischen Ornithischia Fabrosaurus fänden sich an jedem Zahn eine vordere und eine hintere Abnutzungsfazette, die durch das Ineinandergreifen der oberen und unteren Zähne entstanden. Die Kieferbewegung bei Fabrosaurus sei damit ausschließlich vertikal gewesen. Bei Heterodontosauriden dagegen gingen die Abnutzungs-Fazetten ineinander über und bilden eine Bahn über die gesamte Zahnreihe. Dies weise darauf hin, dass die Tiere ihre Nahrung nicht mit Vertikalbewegungen, sondern mit Vor-Zurück-Bewegungen der Kiefer zerkleinerten. Diese Vor-Zurück-Bewegungen seien nur möglich, wenn die Zähne hinsichtlich ihres Abnutzungsgrads und ihrer Größe einheitlich sind; diese Voraussetzung sei bei einem kontinuierlichen Zahnwechsel nicht gegeben. Dies sei ein Hinweis darauf, dass die gesamte Bezahnung periodisch innerhalb der Sommerruhe als eine Einheit gewechselt wurde.
Eine ausführliche Analyse von James Hopson (1980) stellte Thulborns Ideen in Frage. Hopson zeigte, dass das Muster der Abnutzungs-Fazetten tatsächlich für eine vertikale und seitliche Kieferbewegung spricht, nicht aber für eine Vor-Zurück-Kieferbewegung. Außerdem würde der Abnutzungsgrad der einzelnen Zähne variieren, was einen kontinuierlichen Zahnwechsel anzeigt. Allerdings zeigten Röntgenaufnahmen, dass in den Kiefern des vollständigsten Heterodontosaurus-Skeletts tatsächlich keine Zähne neu gebildet wurden. Hopson folgerte, dass Jungtiere einen kontinuierlichen Zahnwechsel zeigten, welcher bei ausgewachsenen Tieren jedoch zum Stillstand kam. Hopson resümiert, dass für Thulborns Sommerruhe-Hypothese keine Nachweise existieren.
Butler und Kollegen (2008) führten schließlich Computertomographie-Scans an einem juvenilen Schädel durch, die, zur Überraschung dieser Forscher, keine sich in Bildung befindlichen Zähne aufweisen. Die Forscher führen aus, dass es in der Individualentwicklung der Tiere dennoch Zahnwechsel gegeben haben muss: So zeigen die Zähne des Jungtier-Schädels dieselbe Morphologie wie jene ausgewachsener Tiere – diese Merkmale wären nicht erhalten, wäre der Zahn schlicht kontinuierlich gewachsen. Der Zahnwechsel bei Heterodontosaurus sei sporadischer gewesen als bei verwandten Gattungen. Noch nicht durchgebrochene Ersatzzähne konnten erst in einem von Norman und Kollegen (2011) beschriebenen Oberkiefer (SAM-PK-K1334) sowie in einem von Paul Sereno (2012) beschriebenen juvenilen Schädel (AMNH 24000) nachgewiesen werden. Wie diese Funde zeigen, war der Zahnwechsel episodisch und nicht kontinuierlich wie bei anderen Heterodontosauriden. Die Ersatzzähne zeigten die für ursprüngliche Ornithischia typischen in Seitenansicht dreieckigen Zahnkronen. Die durchgebrochenen Backenzähne haben ihre charakteristische meißelartige Form folglich erst durch gegenseitige Abnutzung der oberen und unteren Bezahnung erhalten.
Fortbewegung und Stoffwechsel
Obwohl die meisten Studien Heterodontosaurus als zweibeinigen (bipeden) Läufer darstellen, vermuteten einige Autoren eine teilweise oder vollständige vierbeinige (quadrupede) Fortbewegung. Santa Luca (1980) beschrieb verschiedene Merkmale des Armskeletts, die sich auch bei quadrupeden Tieren finden und eine kräftige Armmuskulatur anzeigen: So war das Olekranon der Elle relativ groß, was den Hebelarm des Unterarms vergrößert. Der große mediale Epikondylus des Oberarmknochens bot eine Ansatzstelle für kräftige Beugermuskeln des Unterarms, während Fortsätze an den Krallen zeigen, dass die Hand zu einem kräftigen nach vorne gerichteten Schub beim Gehen fähig war. Heterodontosaurus hätte sich beim langsamen Gehen vierbeinig fortbewegt, wäre zum Laufen jedoch in eine zweibeinige Fortbewegung gewechselt. Teresa Maryańska und Halszka Osmólska (1985) vermuteten ebenfalls eine quadrupede Fortbewegung; als weiteres Argument führten sie die stark nach unten gekrümmte Rückenwirbelsäule in dem vollständigsten bekannten Exemplar auf. Gregory Paul (1987) vermutete dagegen, dass sich diese Tiere grundsätzlich quadruped fortbewegten – höhere Geschwindigkeiten seien durch Galoppieren erreicht worden. Allerdings gibt Paul keine anatomischen Merkmale zur Unterstützung dieser Hypothese an. David Weishampel und Lawrence Witmer (1990) sowie Norman und Kollegen (2004) argumentierten für eine ausschließlich bipede Fortbewegung, basierend auf der Form der Krallen und der Anatomie des Schultergürtels. Die von Santa Luca beschriebenen Merkmale seien Anpassungen zur Nahrungssuche – so könnten die kräftigen Arme zum Ausgraben von Wurzeln oder zum Aufbrechen von Insektennestern gedient haben.
Die meisten jüngeren Studien betrachten Dinosaurier als endotherme (warmblütige) Tiere mit einem Stoffwechsel, der mit dem heutiger Säugetiere und Vögel vergleichbar ist. Pontzer und Kollegen (2009) berechneten die zur Fortbewegung nötige aerobe Ausdauer bei verschiedenen Dinosauriern und konnten daraus auf Endothermie bei den meisten untersuchten Gattungen schließen. Heterodontosaurus hätte bereits bei moderaten Laufgeschwindigkeiten die maximale aerobe Ausdauer überschritten, die einem gleich großen ektothermen Tier zur Verfügung stünde.
Ernährung und Funktion der Hauer
Ein Großteil der veröffentlichten Studien betrachtet Heterodontosaurus als einen Pflanzenfresser. Wie Molnar (1977) anmerkte, hätten die Hauer keine Funktion in der Ernährung der Tiere gehabt, sondern seien als geschlechtsspezifisches Merkmal möglicherweise in innerartlichen Kämpfen und zur Zurschaustellung verwendet worden. Eine ähnliche Funktion fände sich bei den verlängerten Eckzähnen der heutigen Muntjaks.
Verschiedene jüngere Studien warfen allerdings die Möglichkeit auf, dass die Hauer von Heterodontosaurus tatsächlich zum gelegentlichen Reißen von Beutetieren eingesetzt worden sein könnten. So zeigt Paul Barrett (2000), dass die Schneidekanten der Hauer mit einer feinen Zähnelung (Serration) versehen seien, ähnlich jener, wie sie sich bei Theropoden (fleischfressende Dinosaurier) findet. Bei Muntjaks dagegen sei keine Zähnelung vorhanden. Ein weiterer Hinweis auf eine fakultativ allesfressende Ernährungsweise sei die Form der beiden vor dem oberen Hauer sitzenden Zähne. Richard Butler und Kollegen (2008) argumentieren, dass die Hauer kein geschlechtsspezifisches Merkmal seien und sich schon früh in der Entwicklung der Tiere herausbildeten – somit erschiene es wahrscheinlicher, dass die Hauer in einer allesfressenden Ernährungsweise oder zur Verteidigung eingesetzt wurden als in innerartlichem Konkurrenzverhalten. Forscher um David Norman (2011) betonen, dass die Arme und Hände verhältnismäßig lang und mit großen, gebogenen Krallen ausgestattet gewesen seien, was das Packen kleiner Beutetiere ermöglichte. Dagegen seien die Hinterbeine lang gewesen und hätten ein schnelles Laufen ermöglicht. Als Allesfresser hätte Heterodontosaurus während der vegetationsarmen Trockenzeiten einen deutlichen Selektionsvorteil gehabt.
Paul Sereno (2012) dagegen führt verschiedene Schädel- und Gebissmerkmale auf, die laut diesem Forscher für eine reine oder überwiegend pflanzenfressende Ernährungsweise bei Heterodontosauriden sprechen. So besäßen diese Tiere einen zum Abschneiden geeigneten Schnabel, spezialisierte Backenzähne mit Schneidefunktion, sowie Wangen, welche der oralen Verarbeitung der Nahrung dienten. Die Schließmuskulatur der Kiefer sei vergrößert gewesen, während das Kiefergelenk relativ zur Zahnreihe tiefer gelegt war, was die Effektivität der Kiefermuskeln bei der Verarbeitung von Pflanzenmaterial vergrößerte. Schließlich seien die Unterschiede in Größe und Position der Hauer bei verschiedenen Heterodontosauriden zu groß, als dass sie eine spezifische Funktion in der Ernährung gehabt haben könnten. Sereno vermutet, dass Heterodontosauriden am ehesten mit heutigen Nabelschweinen zu vergleichen seien, welche ähnliche Hauer zeigen und sich von einer Vielzahl verschiedenen Pflanzenmaterials ernähren, darunter Wurzeln, Knollen, Früchte und bodennahe Vegetation.
Literatur
Richard J. Butler, Laura B. Porro, David B. Norman: A Juvenile Skull of the Primitive Ornithischian Dinosaur Heterodontosaurus tucki from the ‚Stormberg‘ of Southern Africa. In: Journal of Vertebrate Paleontology. Bd. 28, Nr. 3, 2008, , S. 702–711, , Digitalisat (PDF; 890,38 kB).
Richard J. Butler, Jin Liyong, Chen Jun, Pascal Godefroit: The postcranial osteology and phylogenetic position of the small ornithischian dinosaur Changchunsaurus parvus from the Quantou Formation (Cretaceous: Aptian–Cenomanian) of Jilin Province, north-eastern China. In: Palaeontology. Bd. 54, Nr. 3, 2011, , S. 667–683, .
Alfred W. Crompton, Alan J. Charig: A new ornithischian from the Upper Triassic of South Africa. In: Nature. Bd. 196, Nr. 4859, 1962, S. 1074–1077, .
James A. Hopson: Tooth function and replacement in early Mesozoic ornithischian dinosaurs: implications for aestivation. In: Lethaia. Bd. 13, Nr. 1, 1980, , S. 93–105, .
Albert P. Santa Luca: The postcranial skeleton of Heterodontosaurus tucki (Reptilia, Ornithischia) from the Stormberg of South Africa. In: Annals of the South African Museum. Bd. 79, Nr. 7, 1980, , S. 159–211, Digitalisat.
David B. Norman, Hans-Dieter Sues, Lawrence M. Witmer, Rodolfo A. Coria: Basal Ornithopoda. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. 2. Ausgabe. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2004, ISBN 0-520-24209-2, S. 393–412, Digitalisat (PDF; 2,66 MB).
David B. Norman, Alfred W. Crompton, Richard J. Butler, Laura B. Porro, Alan J. Charig: The Lower Jurassic ornithischian dinosaur Heterodontosaurus tucki Crompton & Charig, 1962: cranial anatomy, functional morphology, taxonomy, and relationships. In: Zoological Journal of the Linnean Society. Bd. 163, Nr. 1, 2011, , S. 182–276, .
Paul C. Sereno: Taxonomy, morphology, masticatory function and phylogeny of heterodontosaurid dinosaurs (= ZooKeys. Nr. 226, Special ssue). Pensoft, Sofia 2012, ISBN 978-954-642-652-9, S. 1–2, 30, .
Richard A. Thulborn: A new heterodontosaurid dinosaur (Reptilia: Ornithischia) from the Upper Triassic Red Beds of Lesotho. In: Zoological Journal of the Linnean Society. Bd. 55, Nr. 2, 1974, S. 151–175, .
Richard A. Thulborn: Aestivation among ornithopod dinosaurs of the African Trias. In: Lethaia. Bd. 11, Nr. 3, 1978, S. 185–198, .
David B. Weishampel, Lawrence M. Witmer: Heterodontosauridae. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. University of California Press, Berkeley CA u. a. 1990, ISBN 0-520-06726-6, S. 486–497.
Weblinks
University of California Museum of Paleontology (UCMP) (engl.)
Heterodontosaurus tucki im species-id wiki (engl.)
Einzelnachweise
Ornithischia
Vogelbeckensaurier
Wikipedia:Artikel mit Video |
2755592 | https://de.wikipedia.org/wiki/Scum%20%28Album%29 | Scum (Album) | Scum ( für „Abschaum“) ist das Debütalbum der britischen Grindcore-Band Napalm Death aus dem Jahre 1987. Es gilt als eines der bedeutendsten Alben dieses Genres.
Die Aufnahmen zur A-Seite und zur B-Seite der Schallplatte, zwischen denen rund ein Jahr lag, fanden in unterschiedlichen Besetzungen statt. Als einziger Musiker wirkte Schlagzeuger Mick Harris an beiden Seiten mit. Durch die verschiedenen Besetzungen unterscheidet sich die Musik auf beiden Seiten im Gesang und in der Klangfarbe der E-Gitarren. Während sich die Lieder der A-Seite ausschließlich am Hardcore-Punk und Anarcho-Punk orientieren, kamen auf der B-Seite durch die tiefer gestimmten E-Gitarren für den Metal typische Elemente hinzu und der Gesang war stärker verfremdet.
Von dem Album wurden im Jahr der Veröffentlichung mehr als 10.000 Stück verkauft und es erreichte Platz 8 der UK Indie Charts.
Aufnahme und Veröffentlichung
Vorgeschichte
Daz Russell, Promoter des Clubs The Mermaid in Birmingham, hatte Napalm Death zur „Hausband“ des Clubs gemacht. Aufgrund der lokalen Popularität der Band sicherte ihm dieses Arrangement die Besucherzahlen, um genügend Einnahmen für die Gagen auswärtiger Bands zu erzielen. Napalm Death trat daher im Vorprogramm aller Hardcore-Punk-Bands auf, die Russell seit Ende 1984 für den Club buchte, unter anderen Anti-System, Sacrilege, Heresy, Concrete Sox und The Varukers. Nach der Aufnahme des ersten Demos Hatred Surge wurde am Schlagzeug Gründungsmitglied Miles Ratledge im November 1985 durch Mick Harris ersetzt. Dessen Anspruch war es, schneller als alle anderen Schlagzeuger zu spielen. Als Vorbilder nannte er die Perkussion bei Siege und Deep Wound. Der erste Live-Auftritt in dieser Besetzung fand im Januar 1986 mit Amebix und Instigators statt. Durch häufiges Proben verbesserte die Band ihre Fähigkeiten an den Instrumenten. Im März 1986 folgte in den Flick Studios mit From Enslavement to Obliteration die Aufnahme eines weiteren Demos, auf dem die Band den Anarcho-Punk des ersten Demos mit Riffs nach dem Vorbild von Celtic Frost und extrem schnellen Schlagzeugpassagen kombinierte.
Aufnahme der A-Seite
Napalm Death beabsichtigte, 1986 ein weiteres Demo aufzunehmen, da noch kein Plattenlabel Interesse an der Band gezeigt hatte. Daz Russell bot ihnen an, dies als Single oder Split bei seinem neu gegründeten Independent-Label Children of the Revolution zu veröffentlichen. In der Besetzung Nicholas Bullen (Growls, E-Bass), Justin Broadrick (E-Gitarre) und Mick Harris (Schlagzeug) begab sich Napalm Death in das Rich Bitch Studio in Birmingham. Dort nahm die Band auf einem 8-Spur-Rekorder zwölf Stücke auf. Die Aufnahmen fanden an zwei Tagen jeweils über Nacht statt, weil das Studio in dieser Zeit statt der regulären zehn nur fünf Pfund je Stunde kostete. Bei den Aufnahmen waren neben der Band und dem Studiopersonal rund 20 Freunde anwesend. Unter ihnen waren die Bands Head of David und Unseen Terror, die auf der Schallplatte als Produzenten aufgeführt wurden, sowie Damian Thompson von Sacrilege, der Broadrick sein Effektpedal lieh.
Die Stücke stammten aus verschiedenen Phasen der Bandentwicklung. Ein Teil der Lieder ging auf Ideen von Justin Broadrick aus dem Jahr 1983 zurück, ein weiterer Teil wurde von Broadrick und Ratledge für das 1985er Demo Hatred Surge geschrieben. The Kill, You Suffer und Death by Manipulation waren auf dem 1986er Demo From Enslavement to Obliteration enthalten. Für die Aufnahmen wurden die Lieder schneller gespielt als in den ursprünglichen Fassungen, viele Riffs waren Stücken von Chaos UK und Disorder entlehnt. Die Studiokosten von 80 Pfund hatte Russell bezahlt, aber Napalm Death beschloss, ihm die Masterbänder nicht auszuhändigen, weil er sie für ihre Auftritte im The Mermaid nie bezahlt hatte.
Das Demo wurde verschiedenen Plattenlabels zur Veröffentlichung angeboten. Bei Manic Ears Records sollte es als Split-Album mit Atavistic erscheinen, doch der Label-Inhaber Shane Dabinett zog sein Angebot zurück. Von Pushead und dessen Label Pusmort Records erhielt Napalm Death ebenfalls eine Absage.
Besetzungswechsel
Nach den Aufnahmen kam es zu Spannungen in der Band. Nicholas Bullen führte dies darauf zurück, dass jedes Bandmitglied gern die Führungsrolle in der Band übernehmen wollte. Im September 1986 übernahm Jim Whiteley den Bass, Nicholas Bullen trat in der Folge nur noch als Sänger in Erscheinung. Diesen Schritt begründete Bullen mit seinem nachlassenden Interesse an Napalm Death und an der Musik allgemein. Nach einem Konzert in Leeds mit Sacrilege verließ Gitarrist Broadrick die Band, weil er das Angebot bekommen hatte, bei Head of David als Schlagzeuger anzufangen. Außerdem war diese Band zu dem Zeitpunkt erfolgreicher als Napalm Death und hatte bereits ein Album bei Blast First, dem Label von Sonic Youth, veröffentlicht. Ersetzt wurde Broadrick zunächst durch den späteren Benediction-Bassisten Frank Healy, bevor der 16-jährige Bill Steer dessen Platz einnahm. Wenig später verließ auch Nicholas Bullen Napalm Death, neuer Sänger wurde Lee Dorrian. Mit der neuen Besetzung wurde die Musik der Band „metallischer“, ohne dass die Musiker ihre Anarcho-Punk-Attitüde vernachlässigen wollten.
Ende 1986 kam es zu ersten Kontakten mit Digby Pearson, der gerade Earache Records gegründet hatte. Obwohl Broadrick bei Napalm Death kein Mitglied mehr war, hatte er die Masterbänder der Aufnahme von August 1986 an Pearson geschickt.
Aufnahme der B-Seite
Im März 1987 schloss Napalm Death eine Vereinbarung mit Digby Pearson. Er kaufte der Band die Masterbänder der Aufnahmen aus dem Jahr 1986 ab und buchte das Rich Bitch Studio, um die B-Seite aufzunehmen. Mick Harris hatte 16 Lieder geschrieben, die er gemeinsam mit Bill Steer in dessen Elternhaus in Liverpool bei zwei Proben fertigstellte und einstudierte. Zwei Lieder der B-Seite stammen von Bill Steer, Jim Whiteley war bei einigen Stücken am Arrangement beteiligt. Die Stücke von Harris waren nach Meinung von Whiteley ganz offensichtlich von Repulsions Demo von 1985 (damals noch unter dem Namen Genocide) beeinflusst. Harris hatte sie auf einer Gitarre geschrieben, obwohl er nach eigenen Angaben nicht Gitarre spielen konnte. Er stimmte lediglich die A- und die E-Saiten und entfernte die übrigen Saiten, sodass er die Akkorde im Barrégriff ohne zusätzliches Greifen spielen konnte. Um die Ergebnisse nicht zu vergessen, notierte er sie auf Schmierzetteln und nahm sie mit einem einfachen Kassettenrekorder auf. Die Liedtexte schrieb Jim Whiteley, die Gesangspassagen fügte Sänger Lee Dorrian am Abend vor den Aufnahmen in das musikalische Gerüst der Stücke ein. Es gab nur eine rund dreistündige gemeinsame Bandprobe unmittelbar vor dem Beginn des Studioaufenthaltes im Mai 1987.
Die Aufnahmen fanden unter Leitung von Toningenieur Mike Ivory statt. Ebenfalls anwesend waren Digby Pearson und Unseen Terror, die auf der Schallplatte als Produzenten aufgeführt sind. Wie schon die Aufnahmen zur A-Seite fanden die Aufnahmen zur B-Seite aus Kostengründen über Nacht statt. Insbesondere für Sänger Lee Dorrian waren die Aufnahmen schwierig, da er das erste Mal in einem Tonstudio war. So musste Mick Harris ihm Zeichen geben, wenn Dorrian mit dem Gesang einsetzen sollte. Mit dem ersten Mix war die Band nicht zufrieden, weil sowohl die Snare als auch die Basstrommel kaum zu hören waren. Pearson organisierte einen letzten Studiotermin, der von 4 bis 8 Uhr morgens stattfand, damit die Aufnahmen noch einmal gemischt werden konnten.
Veröffentlichung
Digby Pearson wollte als Napalm Deaths Debüt kein Minialbum und auch keine Split veröffentlichen, sondern ein vollständiges Album. Allerdings glaubte er nicht, dass die neue Besetzung, die noch nicht lange bestand, in angemessener Zeit genügend Stücke für ein Album schreiben könne, sodass er entschied, die bislang noch nicht verwerteten Aufnahmen aus dem August 1986 als A-Seite zu verwenden. Die Erwartungen an den kommerziellen Erfolg des Albums waren nicht sehr hoch, da Napalm Death eher eine Randerscheinung im UK-Hardcore war. Aus diesem Grund fiel das Budget für die Produktion sehr gering aus, die Aufnahmen und das Mastering kosteten insgesamt lediglich 200 Pfund. Pearson steckte nahezu seine gesamten bisherigen Einnahmen sowie sein Erspartes in Höhe von insgesamt 2000 Pfund in Aufnahme, Herstellung und Promotion des Albums. Für sein Label war es die dritte Veröffentlichung, bei einem Misserfolg hätte es die Pleite des Labels bedeuten können. Im Juni 1987 erschien das Album in einer Erstauflage von 2000 Stück.
Musik, Texte und Titelliste
Die Musik des Albums verbindet Growling mit für den Hardcore-Punk typischen Gitarrenriffs, einem stark verzerrten Bassklang und sehr schnellem Schlagzeugspiel, das durch nur wenige langsamere Abschnitte unterbrochen wird. Diese Mischung gilt als musikalische Definition des Grindcore. Die 28 Lieder des Albums haben eine Gesamtspielzeit von rund 33 Minuten und lassen kein einheitliches Liedaufbaumuster erkennen, Melodien sind nur in Bruchstücken vorhanden. Einzige Ausnahme hiervon stellt Siege of Power dar, das als längstes Stück des Albums dem klassischen Wechsel zwischen Strophe und Refrain folgt. Der Gesang ist bis zur Unverständlichkeit verfremdet, sodass die Texte im beigelegten Textblatt nachgelesen werden müssen. Von manchen Hörern könnten sie daher nicht als gesungener Text, sondern als weiteres Musikinstrument wahrgenommen werden. Während sich die Lieder der A-Seite ausschließlich am Hardcore-Punk und Anarcho-Punk orientieren, floss in die Aufnahmen zur B-Seite mit den tiefer gestimmten Gitarren ein für den Metal typisches Element ein. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen beiden Schallplattenseiten ist der Gesang, der auf der B-Seite von Lee Dorrian stammt und noch stärker verfremdet ist als auf der A-Seite, auf der Nicholas Bullen als Sänger zum Einsatz kam.
Die Liedtexte sind einfache linksgerichtete Botschaften, die sich mit verschiedenen Themen wie Korruption und Rassismus, dem Umweltschutz (Point of No Return), Kapitalismus und Habgier (Success?) und sozialen Problemen auseinandersetzen. Mit Multinational Corporations und Instinct of Survival wird die Ausbeutung des Menschen durch internationale Großkonzerne thematisiert:
Instinct of Survival
In anderen Texten übt Napalm Death Kritik an den politisch Verantwortlichen in Großbritannien. So besteht der Text von C.S. (Conservative Shithead) aus einer Aneinanderreihung von Charaktereigenschaften wie Arroganz und Ignoranz zur Charakterisierung der konservativen Politiker. Allerdings werden die politischen und sozialkritischen Aussagen durch den bis zur Unverständlichkeit verfremdeten Gesang konterkariert und sind selbst mit Textblatt aufgrund des hohen Tempos kaum nachzuvollziehen.
Covergestaltung
Das Schallplattencover wurde von Jeff Walker, späterer Bassist der Gruppe Carcass, gestaltet. Er war mit den Musikern von Napalm Death befreundet. Nach dem Ausscheiden von Bullen fragte ihn Mick Harris, ob er für Napalm Death ein Bandlogo und ein Albumcover entwerfen wolle. Harris hatte konkrete Vorstellungen über die Covergestaltung, auf deren Grundlage Walker das Cover entwarf. Er verwendete Elemente, die er auf Flugblättern von Bands gesehen hatte, die Harris als musikalische Vorbilder benannt hatte. So stammen die im unteren Bereich gezeigten Totenschädel von Schallplattencovern der Bands Siege und Dead Kennedys, während die Flügel des menschlichen Skeletts im Hintergrund von Celtic Frost stammten. Die in die Totenschädel eingebetteten Logos bekannter Konzerne wie IBM, Coca-Cola und McDonald’s waren eine Vorgabe von Harris. Die Schädel sollen Köpfe darstellen, welche die Roten Khmer ihren Opfern abgeschlagen haben. Die Gestaltung mit ihrer „schonungslosen Darstellung politischer Brutalität“ stellte die Vorlage für die Plattencover folgender Veröffentlichungen anderer Grindcore-Bands wie Terrorizer oder Brutal Truth dar.
Kommerzieller Erfolg
Earache Records konnte durch einen Vertrag mit Revolver Records den landesweiten Vertrieb seiner Veröffentlichungen sicherstellen, sodass sich die Erstauflage innerhalb weniger Wochen verkaufte. Zugleich bestritt Napalm Death die erste Tournee der Bandgeschichte gemeinsam mit Ripcord. Den entscheidenden Impuls für den kommerziellen Erfolg von Scum legte der Radiomoderator John Peel, indem er Stücke des Albums in seiner Sendung bei BBC Radio 1 spielte und die Band zu einer Peel Session einlud. Am 13. September 1987 nahm Napalm Death zwölf Stücke mit einer Gesamtspielzeit von 5 min 40 s auf, die in Peels Sendung am 22. September 1987 erstmals gesendet wurden. Die Ausstrahlung der Sendung verschaffte dem Album überregionale Aufmerksamkeit, sodass Earache Records eine weitere Auflage pressen ließ, die sich gut verkaufte und Napalm Death eine Notierung auf Platz 8 der UK Indie Charts verschaffte. Innerhalb weniger Wochen nach der ersten Peel Session sollen in Großbritannien von dem Album rund 10.000 Einheiten verkauft worden sein.
Rezeption und Bedeutung
Während die Reaktionen auf das Album nach seiner Veröffentlichung zunächst unentschlossen ausfielen, änderte sich dies nach Ausstrahlung der Peel Sessions im September 1987. Danach wurden sowohl Napalm Death als auch das Album von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Einer Untersuchung von Dietmar Elflein aus dem Jahr 2006 zufolge gehört Scum zu den zehn am häufigsten in Literaturquellen und Bestenlisten von Musikzeitschriften genannten Extreme-Metal-Alben. Natalie J. Purcell schreibt dem Album eine Vorreiterrolle für den europäischen Grindcore zu, und für Ian Christe markiert Scum den „Höhepunkt eines zehnjährigen Wettkampfs um den schnellsten und härtesten Sound, und weder Schnelligkeit noch Härte konnten ab hier eine Steigerung erfahren“. Für ihn war es das „radikalste Debüt seit ‚Kill ’Em All‘ von Metallica – ein ungebremster, völlig neuartiger Klangangriff voll dichter, wummernder Kakofonien“ Das Album gilt als „zentrale Veröffentlichung des Grindcore“ und stellt sowohl in musikalischer als auch in textlicher Hinsicht „die Vergegenständlichung des Extremisierungsdiskurses“ innerhalb der britischen Punk-Szene dar. Scum wurde auch in das Referenzwerk 1001 Albums You Must Hear Before You Die aufgenommen. Manish Agarwal schrieb: „[D]as bahnbrechende Debüt Scum bewies tiefe politische Überzeugungen.“ Das rund eine Sekunde lange Stück You Suffer wird im Guinness-Buch der Rekorde als kürzestes je aufgenommenes Musikstück geführt.
Wiederveröffentlichungen
Das Album wurde in den folgenden 20 Jahren in verschiedenen Formaten veröffentlicht. Bereits 1988 erschienen eine LP- und CD-Version, die sowohl Scum als auch das Nachfolgealbum From Enslavement to Obliteration enthielt. 1998 erschien Scum als CD ohne weitere Bonus-Lieder. Im Jahr 2006 wurde eine Picture-LP veröffentlicht, 2007 folgte eine DualDisc, die auf der DVD-Seite eine 45-minütige Dokumentation mit dem Titel The Scum Story enthielt. Anlässlich des 25-jährigen Veröffentlichungsjubiläums erschien 2012 eine Version, die neben dem regulären Album den ersten Mix als Bonus enthielt.
Literatur
Weblinks
Scum bei Earache Records (englisch)
Fußnoten
Album (Grindcore)
Album 1987
Napalm Death |
2876561 | https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtkirche%20Bremgarten | Stadtkirche Bremgarten | Die denkmalgeschützte Stadtkirche St. Nikolaus ist ein wichtiges Wahrzeichen der Stadt Bremgarten im Kanton Aargau in der Schweiz. Sie befindet sich im Herzen der Unterstadt und ist umsäumt von wichtigen Gebäuden der katholischen Kirchgemeinde. Sie steht im Kirchenbezirk auf einem ehemaligen Friedhofsplatz, überragt die anliegenden Gebäude und ist weithin sichtbar. Der 64 Meter hohe Turm ist bereits vom Mutschellen-Pass in Richtung Bremgarten sichtbar.
Die Geschichte der Kirche lässt sich bis ins 11. Jahrhundert zurückdatieren. Sie war Schauplatz der Reformation durch den Reformator Heinrich Bullinger und seinen gleichnamigen Vater im 16. Jahrhundert. Bremgarten fand aber kurz darauf zum katholischen Glauben zurück. Die Kirche wurde in ihrer Geschichte viermal Opfer eines Brandes, dreimal während des Spätmittelalters und einmal aufgrund unsachgemässer Renovierungsarbeiten am 28. März 1984.
Die Kirche war vor der Reformation Maria Magdalena geweiht und ein Seitenschiff Nikolaus von Myra. Als Zeichen der Rückkehr zum katholischen Glauben wurde nach der Reformation Nikolaus von Myra als Hauptpatron gewählt. Das Seitenschiff wurde später dem Katakombenheiligen Synesius geweiht, dessen Gebeine die Kirche im 17. Jahrhundert entgegennehmen konnte.
Das heutige Gebäude ist grösstenteils während der Gotik entstanden. Der Stil der nach dem Brand rekonstruierten Inneneinrichtung ist den späteren Epochen Barock und Renaissance nachempfunden worden. Nur die beweglichen Gegenstände der Kirche sind noch aus der Originalzeit, da sie vor den Renovierungsarbeiten aus der Kirche entfernt worden waren.
Lage
Die Kirche liegt im Herzen der Unterstadt auf einem rechteckigen Kirchhofplatz, der früher als Stadtfriedhof genutzt wurde. Heute besteht der Platz aus gepflasterten Gehwegen und Rasenflächen sowie einigen Gräbern von Geistlichen. Der Kirchhofplatz wird von der St. Annakapelle, der Muttergotteskapelle, der St. Klarakapelle, einem Begräbnisgang sowie einem Mäuerchen begrenzt. Um den Platz herum befinden sich wichtige Gebäude der Kirchgemeinde wie das Pfarrhaus, das ehemalige Klarissenkloster und heutige Pfarreizentrum, das Pfarrhelferhaus, das ehemalige Organistenhaus sowie einige Pfrund- und Bürgerhäuser.
Die Pfrundhäuser stifteten im 15. und 16. Jahrhundert die Kapellen und die Altäre in der Kirche. Ein Pfrundhaus war der Hauptsitz eines Kirchenamtes, das für eine bestimmte kirchliche, schulische oder seelsorgerische Aufgabe zuständig war und sich gleichzeitig um die Finanzierung kümmerte. Personen aus der Stadt Bremgarten konnten so bei der Pfrund einen Einmalbetrag und jährlichen Zins für einen Altar bezahlen, dessen Patrone dann in einer ewigen Messe geehrt werden sollten. Auch der Stifter wurde in der Messe gedacht.
Geschichte
Archäologische Untersuchungen bezeugen, dass die erste Bauphase vor der eigentlichen Stadtgründung stattfand und die Kirche vermutlich im 11. Jahrhundert durch die Habsburger errichtet wurde.
Auf dem Gebiet um die heutige Altstadt gab es im 11. Jahrhundert zwei Siedlungen. Die erste lag rund um eine mittelalterliche Burg (das heutige Bremgartner Schlösschen in der Altstadt) und hiess Vilingen. Die zweite Vorsiedlung lag unterhalb des steil abfallenden Moränensporns am Ort der heutigen Unterstadt, hiess bereits Bremgarten, lag südwestlich von der Kirche aus links- und rechtsseitig der Reuss und war mit einer Fähre verbunden. Die Kirche wurde am Rand dieser Siedlung gebaut und gehörte ursprünglich kirchlich zum Nachbardorf Eggenwil, wo die Habsburger einen Hof besassen. Da kein Stiftergrab gefunden wurde, handelte es sich bei der Kirche vermutlich um eine steuerbefreite Eigenkirche der Habsburger und hatte bereits seit ihrer Entstehung das damals nicht selbstverständliche Taufrecht. Der Bau dieser Kirche leitete somit die kirchliche Verselbständigung der Siedlung des habsburgischen Eggenwil ein. Die erste urkundliche Erwähnung der Siedlung Bremgarten erfolgte zwischen 1135 und 1140, als Graf Albrecht II., Schirmvogt des Klosters Muri von 1111 bis 1140, seinen Herrenhof in Eggenwil und die Siedlung Bremgarten einschliesslich der Kirche dem Kloster Muri schenkte.
Bremgarten und Vilingen wuchsen im 12. Jahrhundert zu einer grösseren Siedlung zusammen. Kirche und Siedlung blieben bis Anfang des 15. Jahrhunderts unter habsburgischer Gerichtsherrschaft am Hof Eggenwil.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Kirche im Jahr 1252 durch den Leutpriester Markwart, einen Kleriker der Grafen von Habsburg, ungefähr zehn Jahre nachdem Bremgarten das Stadtrecht von Rudolf von Habsburg erhalten hat. 1415 verlor Herzog Friedrich IV. das Kelleramt durch Eroberung an die Stadt Zürich. Aufgrund dieser Niederlage schenkte seine Ehefrau, Fürstin Anna von Braunschweig, die Kirche am 2. Juli 1420 dem damaligen Bremgartner Spital, dies mit der Verpflichtung, ihrer bei einer jährlichen Messe zu gedenken, was auch heute noch befolgt wird. Es ist eine weitere Weihe der Kirche im Jahr 1427 bekannt.
1519 untersagte der damalige Pfarrer Heinrich Bullinger (Vater des Reformators Heinrich Bullinger) dem päpstlichen Ablassprediger Bernhardin Samson das Predigen und setzte so das erste Zeichen für die Reformation. In den Jahren darauf kam es in Bremgarten wegen der Auseinandersetzung um die Reformation zu beinahe bürgerkriegsähnlichen Zuständen. 1529 setzte Bremgarten den Sohn und Reformator Heinrich Bullinger als Pfarrer ein, der zwei Jahre lang tätig war. Durch die politischen Umwälzungen des Zweiten Kappelerkrieges kehrte Bremgarten am 4. Oktober 1532 wieder zum katholischen Glauben zurück und wählte als neuen Kirchenpatron Nikolaus von Myra. Die Kirche als ganzes Gebäude wurde zum dritten Mal in ihrer Geschichte rekonziliert.
Am 7. August 1580 schlug ein Blitz in die Stadtkirche ein, den Johann Jakob Wick in seiner Sammlung von Nachrichten zur Zeitgeschichte aus den Jahren 1560–87 textlich und zeichnerisch festhielt. Auf dem Bild ist zu sehen, wie der Blitz in den Kirchturm einschlägt. Der Sigrist und eine Hilfsperson sind beim Glockenläuten und werden vom Blitzeinschlag überrascht. Der Sigrist fällt um und ein Schuh löst sich von seinem Fuss.
Baugeschichte und Architektur
Die Kirche war eine für das 11. Jahrhundert typische rechteckige Saalkirche mit 20,7 Metern Länge und 14 Metern Breite. Sie reichte vom Chorbogen des heutigen Hauptschiffs bis ein wenig über die westlichste Säule des heutigen Seitenschiffjochs. Die Breite des heutigen Hauptschiffs entspricht der Breite des ersten Baus. Die Kirche besass damals einen Erdfussboden und hatte als einzige Sitzmöglichkeit eine Steinbank, die in die westliche Mauer eingearbeitet war. An der östlichen Wand befand sich ein Hochaltar und in der Mitte der Kirche stand ein Taufstein. Um das Gebäude herum wurde ein Friedhof angelegt.
Mitte des 13. Jahrhunderts wurde die erste Innenunterteilung vorgenommen. Man baute nordöstlich eine Sakristei und südöstlich ein Beinhaus in die Kirche, indem man östlich je zwei L-förmige Mauern einbaute. Der Hochaltar stand in der Mitte eines dadurch entstandenen Chors, der mit einer zusätzlichen Schrankenmauer vom Hauptsaal abgetrennt wurde. Die Sitzbank wurde an der südlichen Wand erweitert. Die Sakristei erhielt einen Unterlagsboden aus Mörtel und das Beinhaus wurde kellerartig ausgehoben.
Durch das Bevölkerungswachstum der Stadt war der Innenraum der Kirche für die Zahl der Gottesdienstteilnehmer nicht mehr ausreichend. Die Kirche wurde nach Westen hin erweitert und nahm damals vermutlich etwa die Ausmasse des heutigen Hauptschiffes an. Die damalige Kirche besass drei Altäre: den Hochaltar, einen Seitenaltar an der Westwand der Sakristei und vermutlich einen weiteren an der Westwand des Beinhauses. Der Standort des dritten Altars konnte nicht mehr archäologisch nachgewiesen werden. Eine dokumentierte Weihe dieser erweiterten Kirche fand am 18. August 1300 statt. Dieser Bau wurde etwa vierzig Jahre später durch ein Feuer stark beschädigt, vielleicht sogar grösstenteils zerstört und musste danach wieder aufgebaut werden.
Der Neubau begann zuerst beim Turm, denn die Jahreszahl im sogenannten Wendelstein des Turmfundamentes bezeugt den Baubeginn des Turmes durch Meister Rudolf von Merenschwand im Jahr 1343. Der gesamte Turm hatte ohne die später aufgesetzten Wimperge des Glockenstuhls etwa eine Höhe von 50 Metern. Das Erdgeschoss wurde vermutlich als Sakristei genutzt. Um Gottesdienste in dem beschädigten Gebäude abhalten zu können, wurde ein Notdach errichtet, das auf paarweise angeordneten und in gemauerten Sockeln untergebrachten Holzpfeilern im Innenraum gestützt wurde. Die Wände waren wegen des Feuers brüchig geworden und nicht mehr in der Lage, ein Dach zu tragen. Als weiterer Ausbauschritt entstand der heutige dreiseitige Chor an der Ostseite, inklusive einer Chorbogenwand als Übergang in das Hauptschiff.
Da beim Stadtbrand 1382 die Kirche erneut stark beschädigt wurde, musste die Westmauer von Grund auf neu errichtet und die Nord- und Südmauern saniert werden. Dabei wurden die Mauern auf die heutige Höhe ausgebaut.
In den ersten 30 Jahren des 15. Jahrhunderts wurde auf der Nordseite ein Kapellentrakt mit zwei Kapellen gebaut, die mit der Kirche eine gemeinsame Mauer teilten. Der Bau dieser Kapellen schritt nur zögernd voran. Zuerst wurde die östliche fertiggestellt und erst etwa zwanzig Jahre später die westliche.
Am 20. März 1434 brannte die Unterstadt von Bremgarten und damit erneut die Kirche ab und musste erneut wiederhergestellt werden. Man beschränkte sich damals auf die allernotwendigsten Massnahmen wie die Sanierung des Daches, des Kirchenbodens und der Innenausstattung. Die Kirche wurde schliesslich am 31. Juli 1435 rekonziliert. Die eidgenössischen Truppen besetzten während der zweiten Phase des Alten Zürichkrieges Bremgarten und Baden im Mai 1443 und zogen plündernd durch das angrenzende Land. Wahrscheinlich wegen Beschädigungen oder Plünderungen durch die eidgenössischen Truppen wurde eine weitere Rekonziliation nötig (am 5. Juli 1457 dokumentiert). Wegen der durch das Anwachsen der Bevölkerung und der Beschädigungen der vergangenen Jahre nötig gewordenen Sanierungsarbeiten entschied man sich für einen Umbau. 1450 wurden die nordseitig angebauten Kapellen als Nebenschiff integriert, indem man die Nordwand der Kirche einriss. Die Kirche wurde vermutlich während dieses Ausbaus oder wenig später mit gotischen Fresken versehen. Eine weitere dokumentierte Rekonziliation im Jahr 1487 weist auf einen Umbau, einen Neubau oder eine Wiederherstellung der Kirche oder der Inneneinrichtung hin.
1532 baute man eine einstöckige Sakristei an. 1575 wurde die Sakristei mit einem zweiten Geschoss erweitert und erreichte so das heutige Bauvolumen. Das Spätrenaissance-Portal an der Südwand entstand 1617. Hans Jakob Ablutz aus Mellingen malte die Turmuhr im Jahr 1681 neu. Während der Jahre 1742/43 wurden dem Turm eine Glockenstube und ein neuer Turmhelm aufgesetzt. Vier Jahre später (1747) erneuerte der Zuger Uhrmacher Michael Landtwing die Kirchenturmuhr. Das Hauptportal entstand im Jahr 1804.
Grundbau
Das beidseitig um zwei Meter verbreiterte und als Langhaus ausgebildete Hauptschiff liegt neben dem dreiseitig geschlossenen Hochchor. Das Nebenschiff schliesst an die Nordseite des Hauptschiffes an und ist auf der Chorseite um ein Langhausjoch verkürzt. An dieser Stelle befindet sich der annähernd quadratische Turm, der im Erdgeschoss eine Seitenlänge von acht Metern aufweist und dessen Mauerstärke 2,2 Meter beträgt. Die Sakristei ist zweistöckig und durch ein Treppenhaus mit Wendeltreppe nach aussen abgesetzt. Sie befindet sich ebenfalls an der Nordseite des Chors.
Der Bau des Dachstocks und des Turmhelms nach dem Brand wurde von der Firma Max Vogelsang AG in Wohlen unter der Aufsicht des Architekten V. Moser vorgenommen.
Turm
Der 64 Meter hohe Turm ist ein Werk der Hochgotik. Er ist spärlich gegliedert, besitzt aber ausgemauerte Wimperge. Die untere Glockenstube ist allseitig geöffnet und besitzt gefasste, spitzbogige Zwillingsschallfenster. Die beiden Spitzbogen der Fenster werden von einem rechteckigen Mittelpfeiler mit kräftigen Kämpfern unterfangen. Der Haupteingang des Turms liegt vor dem Chor zwischen den zwei Seitenaltären auf der linken Seite.
Der Helm des Turmes hatte vor dem Brand eine grüne, kupferne Patina. Nach dem Brand wurde der Turmhelm von der Max Vogelsang AG und der Paul Grunder AG in Teufen gefertigt. Das Dach hat heute einen roten Anstrich. Die Höhe des Helms beträgt 37 Meter.
Katakombenheiliger Synesius
Die Kirche besitzt als Reliquien die Gebeine des Katakombenheiligen Synesius, über dessen Leben nichts bekannt ist. Die Gebeine wurden 1652 unter Papst Innozenz X. und durch die Vermittlung des Kommandanten der Schweizergarde Johann Rudolf Pfyffer von Altishofen aus der Calepodius-Katakombe in Rom enthoben und von dem Stadtpfarrer Heinrich Honegger sowie dem Kapitularen Christopherus Bürgisser nach Bremgarten gebracht.
Am 18. August 1653 feierte Bremgarten die Ankunft der Gebeine und die Häuser und Strassen waren mit Blumengirlanden, Triumphbögen sowie Inschrifttafeln verziert. Bei den Feierlichkeiten anwesend waren der Abt Dominicus des Klosters Muri, der Abt Georgius des Klosters Adelberg in Württemberg und mehr als 90 Priester aus der Welt- und Ordensgeistlichkeit sowie politische Gesandte der Kantone Uri, Schwyz, Glarus und Zug. Die Gebeine wurden anschliessend in den speziell dafür geschaffenen Altar in der Stadtkirche untergebracht.
Der Reliquienheilige wird am Synesifest, dem vierten Sonntag im Oktober, als Helfer bei Augenkrankheiten angerufen. Dazu wird von einem Geistlichen ein in Gold gefasster Knochen des Heiligen an die Stirn gehalten und ein Segen ausgesprochen. Noch heute wird das Synesifest rege besucht. Die verzierten Gebeine (Schädel und einige Extremitätenknochen) werden dazu während der Festzeit in einem Schrein im Synesiusaltar ausgestellt. Unter dem Jahr sind die Gebeine in einem einbruchgeschützten Raum im Pfarrhaus aufbewahrt.
Am 24. Oktober 1753 wurde das 100-jährige Jubiläum der Überführung des Katakombenheiligen Synesius gefeiert. Für das Jubiläum fassten die Schwestern des Klosters Gnadenthal die Gebeine neu und betteten sie in einen neuen Glasschrein ein. Die Feier wurde zuerst auf den 22. Oktober angesetzt, musste aber wegen schlechten Wetters um zwei Tage verschoben werden. Es nahmen mehr als 10’000 Personen daran teil. Das Programm bestand aus einer Prozession und einem Festspiel von drei Akten und acht Szenen, das sich um den Märtyrer Synesius drehte. Die Musik dazu komponierte der Bremgartner Pater Caspar Bürgisser, der spätere Abt des Klosters Wettingen.
Am Montag, 24. Oktober 1853 fand das 200-jährige Jubiläum der Überführung des Katakombenheiligen Synesius statt. Zuerst wurde die Feier von der Kantonsregierung in Aarau verboten, weil die notwendige Bewilligung fehlte. Ebenso gab es Bedenken wegen der fehlenden Sicherheit und wegen des Unterrichtsausfalls in den Schulen. Der Stadtrat von Bremgarten sandte eine Delegation nach Aarau, die erfolgreich vermittelte. So konnte die Feier wie geplant stattfinden.
Am 25. Oktober 1953 wurde das 300-jährige Jubiläum der Überführung des Synesius gefeiert. Es gab etliche Messen und Festpredigten. Als Ehrengäste anwesend waren der Abt Stephan Kauf der Abtei Muri-Gries und der Domherr G. Binder von Solothurn.
Kirchenbrand am 28. März 1984
Am Nachmittag des 28. März 1984 brannte die Kirche bei Renovationsarbeiten nieder. Die Arbeiter behandelten die Balken im Chor mit einem Holzschutzmittel, das brandgefährliche Dämpfe emittierte. Kurz nach dem Einspritzen des Gebälks trennte ein Arbeiter um 13:50 Uhr mit einer Trennscheibe eine Schraube ab, die noch aus dem Gebälk hervorstand. Der Funkenflug entzündete die Dämpfe des Holzimprägnierungsmittels schlagartig und im Chor kam es zu einer Explosion. Verletzt wurde niemand. In den darauffolgenden Stunden breitete sich das Feuer vom Chor über den Dachstuhl bis zum Hauptportal aus. Da die Tür zum Turm offen stand, konnte das Feuer auch dort vordringen und setzte den ganzen Turm in Brand. Um 16 Uhr, als der Turm in Vollbrand stand, läutete die grosse Glocke das letzte Mal. Nach Einstellen der Löscharbeiten um 17:30 Uhr stürzten die Glocken in die Tiefe und brachten das Feuer nochmals zum Auflodern. Bis auf eine schmolzen alle Glocken. Damit verlor Bremgarten die damals älteste Glocke des Kantons Aargau. Die Glocke, die den Brand schwer beschädigt überstand, steht nun ausserhalb der Kirche als Branddenkmal. Die Sakristei blieb vom Feuer verschont, da die Tür vom Chor zur Sakristei verschlossen war. Das Kirchendach, die Orgel und die Orgelempore sowie der Überbau der Altäre wurden Opfer der Flammen.
Es waren ungefähr hundert Feuerwehrleute aus Bremgarten, Wohlen und Lenzburg im Einsatz. Da die Leiter für den Turm zu klein war, kam ein Helikopter zum Einsatz, der Wasser aus der Reuss holte und in das Turmgemäuer schüttete, nachdem der ausgebrannte Turmhelm in den Turm gefallen war. Der Helm fiel wegen des Gerüsts in sich zusammen und nicht auf umliegende Gebäude. Dadurch konnte der Brand im Innern des Turmes gelöscht und das Turmgemäuer vor dem Einstürzen bewahrt werden. Der Brand war erst gegen 8 Uhr abends unter Kontrolle. Da der Kirchturm und das Baugerüst einzustürzen drohten, wurde das Areal rund um die Kirche evakuiert. Wegen Nachbränden beobachtete die Feuerwehr die Brandstelle noch drei Tage lang.
Da die Pläne vor Renovationsbeginn exakt aufgenommen worden waren, konnte die Kirche dank Spenden und Beiträgen des Lotteriefonds durch Architekt Walter Moser beinahe originalgetreu wiederaufgebaut werden. Am 29. Juni 1986 wurden für die Kirche sechs neue Glocken gegossen, die am 25. Oktober 1986 geweiht und von Kindern aufgezogen wurden. Am 6. Dezember 1987 wurde schliesslich die renovierte Kirche eingeweiht. Der Vertrag für die neue Orgel wurde mit der Firma Metzler AG in Dietikon im November 1985 unterzeichnet. Die Arbeiten dauerten bis 1988 und die Orgel wurde nach der offiziellen Kircheneinweihung im August 1988 in Betrieb genommen.
Glocken
Geschichte der früheren Glocken
Ein unbekannter Glockengiesser stellte 1515 für die Kirche drei Glocken her. Diese sind nicht bis ins 20. Jahrhundert erhalten geblieben. Im Jahr 1641 produzierten die Lothringer Glockengiesser Honoré les Rossier, Claude les Rossier und Jean de Norge neue Glocken, um in der Kirche einen siebenstimmigen Akkord mit den Glocken aus dem 16. Jahrhundert zu vollenden. Im Jahr 1741 verlangte der Kirchenrat, dass drei gespaltene Glocken umzugiessen seien. Er gelangte zuerst an den Glockengiesser Peter Ludwig Keiser, erzielte mit ihm aber keine Einigung. So restaurierten die beiden Enkel der Giesser von 1641, Louis und Nicolas les Rossier, die grösste Glocke und ersetzten die zweitgrösste. Die Bremgartner Stadtkirche erhielt 1771 eine Totenglocke, die von Joseph Anton Brandenberg aus Zug gegossen wurde.
Glockeninventar vor dem Brand 1984
Vor dem Brand befanden sich in der Glockenstube der Kirche acht Glocken:
Eine Glocke (Durchmesser 55 Zentimeter) aus dem Jahr 1641 mit Antiquaumschrift am Hals und dem Bremgartner Stadtwappen. Diese Glocke wurde später nochmals geschweisst.
Totenglocke (Durchmesser 82 Zentimeter) aus dem Jahr 1771. Am Hals beim Groteskenfries stand in Antiqua und gleich darunter stand . Zwischen Gehängen mit Früchten waren die Bildreliefs von Maria, Jesus am Kreuz, dem heiligen Georg, St. Nikolaus, von Kaiser Heinrich und das Bremgartner Stadtwappen.
Eine Glocke (Durchmesser 74 Zentimeter) mit einer Halsumschrift mit Abbildungen der Evangelisten und einem Text in gotischen Kleinbuchstaben (übersetzt: ). Diese Glocke aus 1397 war damals die älteste Glocke im Kanton Aargau.
Agathaglocke (Durchmesser 105 Zentimeter) von 1641. Am Hals zwischen Rollwerk- und Groteskenfries stand eine Antiquaumschrift sowie Reliefs von Jesus am Kreuz, den Kirchenpatronen St. Nikolaus und Maria Magdalena, von Johannes dem Täufer, von Thomas, von Verena, von Agatha und ebenfalls das Bremgartner Stadtwappen.
Eine Glocke (Durchmesser 116 Zentimeter) aus dem Jahr 1641 mit einer Antiquaumschrift am Hals zwischen Rollwerk- und Groteskenfries (übersetzt: ). Das Bildrelief zeigte Bilder der Maria, den Kirchenpatronen St. Nikolaus und Maria Magdalena, des Michaels, des Laurentius, der Margaretha, des Mauritius, des Franziskus, sowie das Bremgartner Stadtwappen mit Reichsadler.
Angelusglocke (Durchmesser 130 Zentimeter) aus dem Jahr 1859. Die Halsinschrift war . Sie hatte Bildreliefs von Maria, Jesus am Kreuz, Petrus, Paulus, Johannes dem Täufer und Agatha. Sie wurde durch die Glockengiesserei Rüetschi in Aarau gegossen.
Eine Glocke (Durchmesser 146 Zentimeter) aus dem Jahr 1743. Am Hals zwischen Ranken- und Palmettenfries stand in Antiqua . Der Mantel trug Reliefs von der Maria, Jesus am Kreuz, Sebastian, Katharina, Agatha und das Bremgartner Stadtwappen.
Eine Glocke (Durchmesser 163 Zentimeter) aus dem Jahr 1641 und restauriert 1743. Auf dem Hals steht in Antiquaschrift Der Mantel trägt die Inschrift Der Mantel trägt die Bildreliefs der Verkündigung Marias (), die Kreuzigungsgruppe mit Jesus und den zwei Verbrechern, die Kirchenpatrone St. Nikolaus, Maria Magdalena, Synesius und Michael sowie das Bremgartner Stadtwappen. Diese Glocke steht heute als Denkmal auf dem Kirchenplatz.
Heutige Glocken
Die neuen Glocken stammen von der Glockengiesserei H. Rüetschi in Aarau. Die grösste wurde am 29. August 1986 und die restlichen fünf am 13. Juni 1986 gegossen. Für die neuen Glocken wurde zusätzlich zu neuem Material auch 462 kg der durch den Brand geschmolzenen Glocken verwendet. Insgesamt gegossen wurden 6689 kg einer Kupferbronze (79 % Kupfer / 21 % Zinn, ± 1 %) für sechs Glocken.
Die neuen Glocken sind nur noch einer Person geweiht. Je eine Glocke trägt den Namen der Kirchenpatrone Nikolaus von Myra und Maria Magdalena. Die Angelusglocke ist Maria geweiht und eine weitere dem Katakombenheiligen Synesius. Als Bezug auf die Zeit, in der diese Glocken gegossen wurden, tragen die zwei kleinsten je den Namen einer aktuellen Person: Die zweitkleinste den Namen des am 24. März 1980 ermordeten Bischofs Óscar Arnulfo Romero y Galdámez von San Salvador und die kleinste den Namen der damals noch lebenden Mutter Teresa in Kolkata.
Die Inschriften
Alle Glocken tragen auf der Mantelrückseite die Inschrift und auf dem Bord auf der Rückseite in kleineren Buchstaben . Die zwei grössten Glocken wurden gestiftet: die grösste (Nikolaus) von dem ortsansässigen Unternehmen Georg Utz AG, einer Herstellerfirma von Lager- und Transportbehältern, und die zweitgrösste (Maria Magdalena) von der reformierten Kirchgemeinde Bremgarten-Mutschellen.
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben und auf dem Bord der Vorderseite mit noch kleineren Buchstaben .
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben und auf dem Bord der Vorderseite mit noch kleineren Buchstaben .
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben .
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben .
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben .
Auf der Mantel-Vorderseite steht , darunter mit kleineren Buchstaben .
Jeder Glocke wurde an einer regulierbaren Aufhängevorrichtung ein Klöppel aus hammergeschmiedetem Weicheisen mit Hilfe einer Kernlederverbindung angehängt. Die Glocken sind an einem Eisenjoch mit Achsen und Pendelkugellagern angebracht (leicht gekröpftes Joch). Für die grösste Glocke musste zusätzlich das Joch stark ausgebogen (stark gekröpft) und ein Gegengewichtsklöppel (kurz GGK oder Standard GGK) installiert werden.
Der Transport und die Installierung des Glockenstuhls und die Vorbereitungen zum Glockenaufzug begannen am 20. Oktober 1986. Die Glockenweihe mit anschliessendem Aufzug fand am 25. Oktober 1986 statt. Die Schüler aus städtischen Kindergärten und Schulen durften die sechs Glocken per Flaschenzug hochziehen. Die Glocken wurden von der kleinsten bis zur grössten je von Kindern in einem bestimmten Alter aufgezogen. Das Ganze sah aus wie Seilziehen. Die leichteste Glocke («Mutter Teresa») zogen die Kindergartenschüler, die schwerste Glocke («St. Nikolaus») schlussendlich Schüler der Oberstufe auf. Die Montierung in der Glockenstube und die Nachkontrollen dauerten bis zum 31. Oktober 1986.
Die Bronze wurde mit 23.50 Franken pro Kilogramm berechnet und der Preis kam so auf insgesamt 157'191.50 Franken für das Rohmaterial inkl. Guss. Glockenstuhl und Klöppel kosteten 36'500 Franken. Inklusive Planungs- und Montierungsarbeitungen kosteten die Glocken insgesamt 242'511.50 Franken.
Am Karfreitag werden die Glocken jeweils symbolisch zur Segnung nach Rom geschickt. Anstelle des Glockengeläuts ertönt dann der Klepper (auch Rafele genannt). Der alte Klepper wurde bei der Feuersbrunst 1984 zerstört. Die Schreinerei Russenberger und der Privatmann Kurt Heizmann bauten einen neuen Klepper und spendeten ihn der Kirche.
Innenausstattung
Fresken
Vor den Restaurierungsarbeiten anfangs der 1980er Jahre waren die Wände in der Kirche weiss bemalt. An den Wänden südlich und nördlich waren Bilder des Kreuzweges angebracht. Oberhalb des Chorbogens waren ein überlebensgrosses Kruzifix und zwei Statuen, je eine auf der linken und rechten Seite, angebracht. Das restaurierte Kruzifix hängt nun über dem südlichen Seiteneingang, wo vor der Renovierung ein grosses Gemälde hing, das Jesus darstellte. Das einzige 1897 freigelegte Bild der ursprünglichen Fresken war eine 80 mal 32 cm grosse Abbildung der Maria mit einem nackten Jesuskind im Dreiviertelprofil, die dem Weichen Stil des frühen 15. Jahrhunderts zugerechnet werden kann.
Bei Renovationsarbeiten wurden Mitte 1983 Fresken des Künstlers Paul Widerkehr aus dem Jahre 1630 freigelegt. Seine Arbeit war 1780 bei der Barockisierung der Kirche übermalt worden. Durch den Kirchenbrand von 1984 wurden die Fresken im Chor aber völlig zerstört. Unter den Widerkehr-Fresken kamen aber durch den Brand Freskenfragmente der spätgotischen Zeit um 1500 hervor. Diese wurden, so weit sie noch erhalten waren, freigelegt und zieren heute den Chor. Sie stellen die zwölf Apostel übergross und klassisch gekleidet dar, die in den Händen ihre typischen Kennzeichen (z. B. Schlüssel für Petrus) halten und ein Schriftband mit einem Credo-Satz. Die Apostel stehen in Arkaden. Der Chorbogen zeigt heute die Szene von der Verkündigung durch den Engel Gabriel, wobei nur die Figur der Maria und des Engels von den Restauratoren freigelegt werden konnte. Die Kulisse wurde neu dazu gemalt.
Die Widerkehr-Fresken im Kirchenschiff wurden ebenfalls durch den Brand angegriffen, aber nicht restlos zerstört. Sie konnten restauriert werden und zeigen im Rahmen der Fenster einen Zyklus mit Jesus und seinen Aposteln. Bei den Arkaden in der Mitte der Kirche sind Passionsengel mit Kreuzigungswerkzeugen in den Händen gemalt. Fensterfront wie Arkaden zum Synesiusschiff haben zusätzlich Scheinarchitektur-Abbildungen, die die Kirche grösser und geräumiger erscheinen lassen sollen. Die Stirnwand des Synesius-Schiffes trägt eine Abbildung des Jüngsten Gerichts.
Chor
Im Chor befinden sich neben dem Hochaltar beidseitig Rekonstruktionen eines zwölfplatzigen Chorgestühls von F. A. Hedinger aus dem Jahr 1820. Es gilt als ein klassizistisch-neugotisches Übergangswerk. Die Wände haben Lisenen und die Gestühle wurden Nussbaum furniert.
Das Ewige Licht ist eine Ampel im Régencestil aus dem Jahr 1741 mit der Meistermarke des Augsburger Silberschmieds Franz Christoph Mäderl und dem Stifterwappen von Meyenberg von Bremgarten. Die Ampel ist eine Doppelvase mit vielen Ornamenten in einem zylindrischen Gehäuse. An drei um 180 Grad verschobenen Volutenbügeln sitzen je drei Engelfiguren, die am Kopf eine Vorrichtung für die Befestigung der Ketten tragen. Jeweils in der Mitte der Winkel zwischen diesen Volutenbügeln sind geschweifte Leuchterarme mit kronenförmigen Kerzenbechern angebracht.
Hochaltar
Der Hochaltar wurde erstmals am 18. August 1300 geweiht, später nach dem Brandunfall in der Unterstadt am 31. Juli 1435 rekonziliert. Nach Wiedererrichtung der Kirche nach dem Alten Zürichkrieg wurde er am 5. Juli 1457 rekonziliert und der Maria Magdalena geweiht. Am 25. Juli 1647 wurde der Altar erneut rekonziliert und am 25. Juli 1647 wahrscheinlich versetzt und neu den heutigen Kirchenpatronen Nikolaus von Myra und Maria Magdalena, sowie Katharina von Alexandrien, Sebastian und Verena geweiht.
Gegen 1700 wurde der Hochaltar in der Art des Bildhauers Johann Friedrich Boul aus Kaiserstuhl gebaut. Der heutige Hochaltar im Chor ist eine Rekonstruktion des Hochaltars aus der Zeit um 1700. Vor dem Brand war der Altarretabel grün-gelb-rot marmoriert. Die Rekonstruktion heute ist aber marmoriert mit einer schwarzen Grundfarbe und weissen Adern.
Das Altarbild zeigt Marias Himmelfahrt und stammt vom Künstler Franz Karl Stauder. Es ist durch einen säulengestützten Giebel gefasst. Dieser trägt eine Ädikula mit einem Rundbild der heiligen Dreifaltigkeit. Zwischen dem Altarbild und dem Rundbild ist eine Inschriftkartusche angebracht. Auf der Ädikula sitzt zwischen zwei Engeln eine weitere Inschriftkartusche. Zwischen den Säulenpaaren stehen die überlebensgrossen Statuen der Kirchenpatrone St. Nikolaus und Maria Magdalena. St. Nikolaus trägt in der rechten Hand einen vergoldeten Krummstab und hat seine linke Hand auf sein Herz gelegt. Maria Magdalena trägt in der rechten Hand ein Kruzifix und auf dem linken Arm einen vergoldeten Schädel. Beide Statuen tragen weisse Gewänder. Auf den äusseren zwei Säulen stehen Statuen der heiligen Katharina und der Agatha.
Vor diesem Aufbau steht der Altartisch mit einem polygonalen Tabernakel. Der Altartisch hat die gleiche schwarz-weisse Marmorierung wie der hintere Aufbau und passt sich somit dem Gesamtbild an. Der Tabernakel hat seitliche Nischen mit den Figuren von Petrus und Paulus.
Seitenaltäre
Nach dem Chorbogen stehen vier Rekonstruktionen der Seitenaltäre des Künstlers Lorenz Schmid, die von Nord nach Süd dem Erzengel Michael, der Maria, dem Josef von Nazaret und der Agatha von Catania geweiht sind. Die ursprünglichen Altäre wurden 1779 und 1780 gefertigt, sind aber beim Kirchenbrand im Jahre 1984 zerstört worden.
Die Altäre bestehen aus je einer nischenförmigen Säulenretabel mit einem Aufsatzgiebel. Die Altarbilder stammen von Franz Ludwig Hermann. Jeder Altar hat je ein Hauptblatt und ein Rundbild im Aufsatzgiebel. Auf den Säulen jedes Altars sitzen Engel und neben den Säulen stehen zwei Statuen.
Michaelaltar: Die erste Weihe fand am 18. August 1300 statt, eine weitere am 4. Oktober 1532. Geweiht wurde er Erzengel Michael, sowie Eligius, Jodok, Quirinus von Siscia und Agnes von Rom. Geehrt wurde der Altar in den ersten Jahren am Sonntag vor dem Gedenktag des Bartholomäus’ am 24. August und später in der Pfingstoktav wie die meisten anderen Altäre. Das heutige Hauptblatt zeigt ein Bild von Michael und das Rundbild zeigt Agnes. Auf der linken Altarseite steht eine Statue des Quirinus und rechts Eligius.
Muttergottesaltar: Erstmals erwähnt wurde dieser Altar am 28. Februar 1411 und eine Weihe ist am 26. Juni 1467 dokumentiert. Am 4. Oktober 1532 wurde er dann der Maria und Johannes dem Täufer, Jakob, sämtlichen Aposteln, Barbara von Nikomedien, Georg und Josef geweiht. Er wurde früher Mittelmessaltar oder Bullingeraltar genannt und stand ursprünglich unter dem Chorbogen. Geehrt wurde der Altar in der Pfingstoktav. Er wurde später an die jetzige Stelle links neben dem Chorbogen versetzt und ersetzte damit den Altar des Leidens des Herrn, der die Heiligen Drei Könige sowie andere Heilige als Patrone hatte. Dieser Altar wurde in den Urkunden der Stifterpfrund am 3. November 1532 und 26. Juni 1467 aber nicht mehr bei der Rekonziliation der Kirche am 4. Oktober 1532 erwähnt. Aufbau des heutigen Altars: Das Hauptblatt zeigt die Skapulierverleihung durch Maria an Simon Stock und eine Gruppe Schutzengeln. Auf dem Schoss der Maria sitzt das Jesuskind. Altarseitig links steht eine Statue des Crispinus und rechts eine Statue des Crispinianus.
Josefaltar: Dieser Altar hiess früher und wurde am 18. August 1300 und 4. Oktober 1532 geweiht. Die Patrone damals waren St. Nikolaus, Ägidius, Katharina von Alexandrien, Apollonia und Martin von Tours und geehrt wurde er ebenfalls in der Pfingsoktav. Das Hauptblatt zeigt heute Josefs Tod und das Rundbild zeigt Rochus von Montpellier. Linksseitig steht eine Statue von Stephanus und rechtsseitig eine Statue von Laurentius von Rom.
Agathaaltar: Dieser Altar wurde am 13. November 1487 durch den damaligen Konstanzer Generalvikar und späteren Weihbischof Daniel Zehender (1473–1498) geweiht und der Altar sollte bei einem jährlichen Fest nach Allerseelen geehrt werden. Die Patrone waren Maria, Stephanus, Gallus und alle Heiligen. Das heutige Hauptblatt zeigt das Martyrium der Agatha und eine Signatur Franc. Ludov. Herrmann Inven. et pinxitt anno 1780. Das Rundbild zeigt Blasius von Sebaste. Die Statue links ist ein Abbild von Apollonia und rechts von einem heiligen Märtyrer.
Nebenschiffaltäre
Das Nebenschiff hatte ursprünglich vier Altäre, die im 18. Jahrhundert abgebaut oder umgebaut wurden:
Johannesaltar: Dieser Altar war am 4. Oktober 1532 dem Evangelisten Johannes, Georg und Gallus geweiht worden. Weitere Patrone waren die Zehntausend Ritter, Dorothea und Margareta von Antiochia. Dieser Altar stand an der Wand vor dem Turm. Am Kirchengedenktag der Heiligen Zehntausend Ritter am 22. Juni wurde er verehrt.
Leiden-Jesu-Christi-Altar: Dieser Altar wurde am 10. Mai 1494 errichtet zu Ehren des Leidens Jesu Christi, sowie zu Ehren Mariens, Laurentius’, Lazarus’, Maximins von Trier, Katharinas von Alexandrien und Lucias von Syrakus. Geweiht wurde er schliesslich am 4. Oktober 1532 dem heiligen Kreuz, Martin und Lucia. Er stand in der nördlichen Ecke der Giebelwand und der Langwand.
Antoniusaltar: Dieser Altar wurde gemäss den Unterlagen der Stifterpfründe am 15. Juni 1471 geweiht. Seine Patrozinien waren: Maria, der Evangelist Johannes, Jakobus der Ältere, Antonius der Große, Erhard von Regensburg, Leonhard von Limoges, Simon Petrus, Laurentius von Rom, Pantaleon, Veit, Barbara von Nikomedien, Dorothea, Margareta von Antiochia und Agatha. Er stand an der nördlichen Langwand des Nebenschiffs.
Synesiusaltar: Der ursprüngliche Synesiusaltar in der Mitte der Giebelwand wurde erst nach der Übertragung der Reliquien des Katakombenheiligen am 18. August 1653 errichtet.
Bis auf den umgebauten Synesiusaltar sind sämtliche Altäre im 18. Jahrhundert abgebaut und durch die heutige rekonstruierte Komposition im Rokokostil von 1760 ersetzt worden. Das Synesiusschiff hat heute drei Altäre, die ursprünglich 1760 möglicherweise von Christian Scharpf geschaffen wurden. Die Altäre sind dem Synesius (mittlerer Altar), dem Sebastian (nordseitiger Altar) und den Heiligen Drei Königen (südseitiger Altar) geweiht. Die Altäre stehen triptychonartig nebeneinander, sind im Rokokostil gehalten und bestehen aus mehrfarbigem Stuckmarmor. Die Altartische sind bauchig und haben ein wannenförmiges Säulenretabel. Die Volutengiebel sind mehrfach geschweift und derjenige des Synesiusaltars hat seitlich auf ihm sitzend noch zwei kleine Schutzengel.
Auf dem Synesiusaltar steht eine von einem älteren Altar übernommene barocke Synesius-Statue des Bildhauers Gregor Allhelg. Von ihm wurden auch die restlichen Statuen des Altars geschaffen. Neben der Säule steht nordseitig Martin von Tours und südseitig Lucia von Syrakus. Auf den Säulen stehen die Kirchenpatrone St. Nikolaus auf der linken und Maria Magdalena auf der rechten Seite. Der Altar enthält zusätzlich einen tabernakelförmigen Schrein für die Aufnahme der Gebeine des Synesius'.
Bilder des Künstlers Joseph Anton Schuler bereichern die Altaraufbauten und zeigen den Sebastian, Antonius den Einsiedler, Johann Nepomuk, die Taufe Jesu Christi, die Heiligen Drei Könige und die heilige Anna. Das Antoniusbild trägt die Signatur .
Taufstein
Neben dem Sebastianaltar steht heute der frühbarocke Taufstein von Gregor Allgelg, der vor den Renovationsarbeiten in der St. Annakapelle untergebracht war. Er stammt aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (1650/1660) und hat eine sechseckige Kelchform. Der Schaft besteht aus weissgeädertem Unterwaldner Marmor. Die Höhe mitsamt Deckel beträgt 215 cm und der Durchmesser 95 cm. Das Becken ist gerippt. Der gewölbte Deckel ist aus Holz und mit weissen Volutenhermen und vergoldeten Rollwerkkartuschen bedeckt. Auf dem höchsten Punkt des Deckels befindet sich ein sechssäuliger Aufbau mit kleinen Statuen, die eine Täufergruppe darstellen. Der Deckel befindet sich an einer Kette, die in die Decke eingelassen wurde und als Vorrichtung dient, um den Deckel bei Taufen heben zu können. An der Kette befindet sich eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes.
Kanzel
Die Kanzel stammt aus dem Jahr 1630 und wird dem Übergang von der Spätrenaissance zum Barock zugerechnet. Die sechsseitige Kanzel wurde von Hans Sager gestiftet und ist am ersten Schiffspfeiler angebracht. Sie sitzt auf einem Fratzenbug, woran das Stifterwappen angebracht ist. Die Kanzel ist aus Eichenholz gefertigt, geschnitzt und hat wenig Ziervergoldungen aus den Jahren 1630/1640. Die Schnitzereien zeigen in den Ecken des Korbes korinthische Säulen, die ein gebogenes Gebälk mit symmetrischen Rankenfriesen tragen. Zwischen den Säulen befinden sich Zierarkaden mit Muschelnischen und darin Statuen der Evangelisten und von Jesus Christus. Der Fusssims enthält breitgezogene, girlandenbehängte Beschlagwerkkartuschen. Der Kanzelaufgang ist dreifach um den Pfeiler geknickt. An der Brüstung befinden sich Beschlagwerkfriese und Masswerkgliederung von ineinandergreifenden Kreisen. Die Kanzel trägt einen Schalldeckel mit Eckvasen. Zwischen den Vasen sind Rollwerkaufsätze angebracht. In der Mitte sitzt ein Kuppelbau und darauf steht ein Balusterkreuz.
Orgel
Geschichte der Orgeln
Die Kirche hatte in ihrer Geschichte insgesamt sieben Orgeln. Die erste Orgel erwarb die Kirche 1458 aus der Stadtpfarrkirche Maria Himmelfahrt in Baden. 120 Jahre später (1578) erneuerte Peter Rietsch aus Basel die Kirchenorgel. Von 1612 bis 1616 baute Thomas Schott aus Urach eine neue Orgel. Er wurde später Bürger von Bremgarten und musste als Gegenleistung auf das Trinkgeld für den Orgelbau verzichten und einen Becher im Wert von 20 Kronen bezahlen. Er wurde zu einem sehr wohlhabenden und geehrten Bürger, der auch für umliegende Kirchen Orgeln baute, wie zum Beispiel die grosse Orgel in der Klosterkirche Muri. Franz Joseph Otter von Trimbach baute in den Jahren 1788 und 1789 eine Orgel mit Schmuck am Orgelprospekt von Joachim Waltenspühl. Gleichzeitig wurde eine neue Sängerempore gebaut. 1898 wurde die Orgel von Otter durch eine neubarocke Orgel von Friedrich Goll in Luzern abgelöst. Im Jahr 1916 wurde Friedrich Golls Orgel vergrössert und der Prospekt umgebaut und 1930 durch die Orgelbau AG in Willisau elektrifiziert und renoviert. Ein Neubau der Orgelbau Th. Kuhn AG in Männedorf löste schliesslich die bestehende Orgel 1953 ab. Diese Kuhn-Orgel wurde während des Kirchenbrands 1984 zerstört. Die renovierte Kirche bekam im Jahr 1988 eine neue Orgel der Metzler AG in Dietikon im Stil der Otter-Orgel.
Heutige Orgel
Von der Otter-Orgel aus dem Jahr 1788 ist das abgeflachte Rückpositiv an der Emporenbrüstung und die Michaelsfigur in den nachfolgenden Um- und Neubauten übernommen worden. Vor der Restaurierung der Kirche in den 80er Jahren wurde die Michaelsfigur samt Sockel zur Restaurierung an W. Furrer nach Brig gegeben. Die Figur stellt den Erzengel Michael im Kampf mit Luzifer dar. Es wurden während der Restaurierung auch einige Prospektpfeifen entfernt. Die Figur und diese Pfeifen haben als einzige den Brand im Jahr 1984 überlebt. Es gab aber einige exakte Fotografien und Vermessungen des Rückpositivs, die die Rekonstruktion ermöglichten.
Die Submissionsunterlagen wurden an sechs Orgelbauer versandt. Das Budget betrug insgesamt 680'000 Schweizer Franken, für die Orgel 500'000 Franken, für Schnitzereien, Marmorierungen und Vergoldungen 150'000 Franken und für einen Orgelexperten 30'000 Franken. Der Auftrag wurde an die Firma Metzler Orgelbau AG in Dietikon vergeben. Die Orgel sollte aufgrund der Fotografien des Otter-Rückpositivs rekonstruiert werden. Ebenso sollten sämtliche vorhandenen Teile (Michaelsfigur und Orgelpfeifen) wieder in die Orgel integriert werden. Das Haupt- und Pedalwerk sollte stilistisch und im Detail an das rekonstruierte Rückpositiv angepasst werden.
Durch die verbesserten Raumverhältnisse auf der Empore und die höhere Decke konnte das Hauptgehäuse auf die neuen Proportionen abgestimmt werden. In Anlehnung an die alte Orgel von Franz Joseph Otter wurde das Hauptgehäuse mit zwei grossen Seitentürmen versehen. Das Pedalwerk wurde in diese beiden Türme eingebracht und aufgeteilt in eine C- und eine Cis-Seite. Zwischen diesen zwei Seitentürmen befindet sich das Hauptwerk. Der Hauptwerkprospekt wurde mit einem erhöhten Mittelturm gestaltet und setzt so einen Kontrapunkt zum Rückpositiv. Auf diesen Mittelturm wurde dann die restaurierte Michaelsfigur gesetzt. Das dritte Manual wurde in einem eigenen Gehäuse von vorne unsichtbar als Schwellwerk hinter dem Hauptwerk aufgestellt. Der Spieltisch mit einer rein mechanischen Spiel- und Registertraktur wurde im Unterbau des Hauptgehäuses untergebracht. Eine klassische Windversorgung ohne Schwimmerbeläge und Regulatoren fand unter dem Vordach des Haupteingangs ihren Platz.
Das Gehäuse wurde aus resonanzfähigem Nadelholz gebaut. Details, Schnitzereien sowie weitere Profilierungen wurden aus der Dokumentation des alten Rückpositivs entwickelt. Die Marmorierung und die sonstige farbliche Gestaltung wurden dagegen auf die Seitenaltäre abgestimmt, um ein harmonisches Gesamtbild im Kircheninnenraum zu erzeugen.
Die Pfeifen sind aus unterschiedlichen Metalllegierungen, die für die Klangfarbe von Bedeutung sind, gefertigt worden. Es gibt beispielsweise Prospektpfeifen aus fast reinem Zinn und Pfeifen im Inneren der Orgel aus fast reinem Blei. Ebenso hat die Orgel Holzpfeifen.
Disposition
Disposition der heutigen Orgel:
Koppeln:
Normalkoppeln: I/II (Zug), III/II (Zug), II/P (Tritt), III/P (Tritt).
Superoktavkoppeln: III/P 4′ (Tritt).
Spielhilfen: Organo Pleno an, Organo Pleno ab, Pedalzungen an, Pedalzungen ab Schwelltritt.
Tremulant: Auf alle Manuale.
Vogelsang.
Zimbelstern.
Nutzung
Die Kirche wird nicht nur für Gottesdienste, sondern auch für Auftritte regionaler klassischer Orchester und Chöre genutzt. Es traten beispielsweise der Kammerchor Aarau (1991), das Ensemble Corund (1996) und das Badener Vokalensemble (2007) sowie viele weitere auf. Ebenso werden auf der Kirchenorgel Konzerte abgehalten, veranstaltet vom Orgelkreis Bremgarten. Der Stadtorganist Peter Reichert hat in seiner Amtszeit seit 1992 die künstlerische Leitung dieser Orgelkonzerte wahrgenommen und selber zahlreiche Konzerte gespielt. Auch viele Gastorganisten konzertierten hier, wie z. B. der junge Organist Jonas Herzog (2008) oder der Titularorganist Alexander Koschel.
Im Jahr 1993 wurde eine CD aufgenommen, auf der Peter Reichert Werke des Komponisten Johann Pachelbel auf der Metzler-Orgel in der Stadtkirche Bremgarten spielt.
Siehe auch
Kirchenbezirk Bremgarten
Kloster St. Klara (Bremgarten)
Liste der Kulturgüter in Bremgarten
Einzelnachweise
Weblinks
Virtueller Stadtrundgang
Katholische Kirchgemeinde Bremgarten
Bremgarten
Bremgarten AG
Bremgarten
Bremgarten
Bremgarten, Stadtkirche
Bremgarten, Stadtkirche
Kulturgut von nationaler Bedeutung im Kanton Aargau
Bremgarten
Organisation (Bremgarten AG) |
2884658 | https://de.wikipedia.org/wiki/Parmenides%20%28Platon%29 | Parmenides (Platon) | Der Parmenides (altgriechisch Parmenídēs) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon über Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein. Wiedergegeben wird ein fiktives Gespräch von Platons Lehrer Sokrates mit dem Philosophen Parmenides, nach dem der Dialog benannt ist, dessen Schüler Zenon von Elea und einem Jugendlichen namens Aristoteles, der nicht mit dem berühmten gleichnamigen Philosophen zu verwechseln ist. Der schon betagte Parmenides hält sich mit Zenon besuchsweise in Sokrates’ Heimatstadt Athen auf. Er tritt mit Autorität auf; ihm gegenüber befindet sich der hier erst neunzehnjährige Sokrates in der Position eines Lernenden.
Der gesamte Vorgang ist wahrscheinlich frei erfunden. Parmenides und Zenon lebten im damals griechisch besiedelten Süditalien, wo Parmenides der namhafteste Vertreter der nach seiner Heimatstadt Elea benannten eleatischen Schule war.
Der von einer Rahmenhandlung eingeleitete Bericht über die philosophische Erörterung zerfällt in zwei unterschiedlich gestaltete Teile. Im ersten Teil werden Schwierigkeiten besprochen, die sich aus der platonischen Ideenlehre ergeben: Die Verwendung grundlegender Begriffe wie „Viele“ und „Eines“ führt zu paradoxen Folgerungen, wenn man Ideen als eigenständig existierende metaphysische Entitäten und als Ursachen der Erscheinungen auffasst. Außerdem fehlt eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen Ideen und Erscheinungen, und die Ideen scheinen prinzipiell unerkennbar zu sein. Es gelingt nicht, die Probleme zu lösen; die Überlegungen führen in die Aporie (Ratlosigkeit). Der zweite Teil spielt sich zwischen Parmenides und Aristoteles ab: Parmenides gibt Denkübungen vor, die der Vorbereitung auf das Finden von Lösungen für die Probleme des ersten Teils dienen sollen. Die Lösungen selbst werden aber nicht präsentiert.
Der Parmenides gilt als Platons schwierigster und rätselhaftester Dialog. Seit Jahrzehnten ist eine intensive, kontrovers geführte Forschungsdiskussion über den philosophischen Gehalt im Gang, die Forschungsliteratur ist außerordentlich umfangreich. Ein Hauptproblem besteht darin, dass Platon hier die Ideenlehre, einen Kernbestandteil seiner Philosophie, als problematisch und widersprüchlich erscheinen lässt. Umstritten ist, was er mit der Kritik an der Ideenlehre bezweckt hat, ob er sie überhaupt ernst genommen oder nur als Übungsstoff betrachtet hat, welche Konsequenzen er gegebenenfalls daraus gezogen hat und wie die Qualität der einzelnen Argumente im Dialog zu beurteilen ist. Das Spektrum der Deutungen reicht von der Hypothese, Platon habe die Ideenlehre im Alter aufgegeben, bis zu Erklärungen, denen zufolge die Übungen im zweiten Teil den Leser befähigen sollen, die Lösungen selbst zu finden. Einer umstrittenen Hypothese zufolge bietet die nur mündlich übermittelte „ungeschriebene Lehre“ des Philosophen den Ausweg aus der im Parmenides aufgezeigten Problematik.
Rahmenhandlung, Ort und Zeit
Der eigentliche Dialog ist in eine verschachtelte Rahmenhandlung eingebettet. Als Erzähler stellt sich zu Beginn ein Mann namens Kephalos vor, der aus Klazomenai in Kleinasien stammt. Er berichtet von einem Besuch in Athen, den er mit einigen seiner Landsleute unternommen hat. Die Rahmenhandlung beginnt auf der Agora, dem Markt- und Versammlungsplatz von Athen. Dort trifft die Gruppe aus Klazomenai auf zwei Bekannte aus alter Zeit, Platons Brüder Glaukon und Adeimantos. Gemeinsam begibt man sich in das Haus von Glaukons und Adeimantos’ Halbbruder Antiphon im nahen Stadtteil Melite. Dort erzählt Antiphon auf Wunsch seiner Gäste von einem Gespräch, das Parmenides, Zenon, Sokrates und Aristoteles vor langer Zeit geführt haben. Seine Schilderung des damaligen Gesprächsverlaufs macht den eigentlichen Inhalt des Parmenides aus.
Antiphon war allerdings bei der philosophischen Diskussion, die er detailliert wiedergibt, nicht selbst anwesend. Er wurde erst lange nach diesem denkwürdigen Ereignis geboren. Daher kennt er es nur aus der Darstellung eines Freundes Zenons namens Pythodoros, in dessen Haus im Stadtteil Kerameikos die beiden Philosophen aus Italien damals gewohnt hatten. Dort waren Sokrates und Aristoteles mit Parmenides und Zenon zusammengetroffen. Pythodoros hatte als Gastgeber aufmerksam zugehört und sich alles gut gemerkt. Jahrzehnte später erzählte er die Einzelheiten oftmals dem damals noch jugendlichen Antiphon, der sich den Bericht des Pythodoros durch das häufige Anhören einprägte.
Seither ist wiederum viel Zeit vergangen. Antiphon ist nun ein reifer Mann, doch seine Erinnerung an die Eindrücke seiner Jugendzeit lässt ihn nicht im Stich. Daher ist er in der Lage, seinen Gästen aus Klazomenai die Einzelheiten aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Die Handlung ist somit mehrfach verschachtelt: Der Erzähler Kephalos kennt das Gespräch nur aus dritter Hand, der Leser erfährt es aus vierter Hand.
Nach den Angaben im Dialog hielten sich Parmenides und Zenon anlässlich der „Großen Panathenäen“, des bedeutendsten Festes der Athener, in der Heimat des Sokrates auf. Parmenides war etwa 65 Jahre alt, Zenon etwa vierzigjährig, Sokrates noch sehr jung. Die großen Panathenäen wurden alle vier Jahre gefeiert. Zu den Altersangaben der beteiligten Philosophen passt am besten die Feier, die im Sommer 450 v. Chr. stattfand. Damals war Sokrates neunzehn Jahre alt.
Antiphon wurde wohl nach 423 v. Chr. geboren. In der Zeit seines angeblichen Zusammenseins mit dem alten Pythodoros soll er ein Jugendlicher (meirákion), also etwa 14 bis 17 Jahre alt gewesen sein. Dafür kommt somit frühestens das letzte Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Betracht. Da Antiphon auf die Darstellung des Pythodoros angewiesen war, also Sokrates offenbar nicht persönlich befragen konnte, hat man sich wohl vorzustellen, dass der 399 v. Chr. hingerichtete Sokrates nicht mehr am Leben war. Demnach müsste der Bericht des Pythodoros in den ersten Jahren des 4. Jahrhunderts v. Chr. an Antiphon weitergegeben worden sein. Antiphons Begegnung mit den Besuchern aus Klazomenai wäre rund ein Vierteljahrhundert später anzusetzen. Demnach fällt die fiktive Rahmenhandlung des Parmenides wohl in die 370er Jahre.
Der chronologische Rahmen, der sich aus diesen Überlegungen ergibt, ist mit der historischen Chronologie vereinbar. Theoretisch könnte es sich so abgespielt haben: das Gespräch mit Parmenides im Jahr 450 v. Chr., der Bericht des Pythodoros an Antiphon mehr als ein halbes Jahrhundert später, die Weitergabe der Erzählung an Antiphons Besucher nach etwa zwei bis drei weiteren Jahrzehnten. Dabei müsste Pythodoros allerdings ein ungewöhnlich hohes Alter erreicht haben. Außerdem beruht die Fiktion auf der Annahme, dass der Verlauf einer langen, inhaltlich sehr anspruchsvollen philosophischen Diskussion nach etwa sieben bis acht Jahrzehnten, in denen er nur mündlich überliefert wurde, aus dem Gedächtnis getreu wiedergegeben werden konnte. Dies setzt sowohl bei Pythodoros als auch bei Antiphon und dem Erzähler Kephalos eine außerordentliche Gewissenhaftigkeit und Gedächtnisleistung voraus. Historisch wäre das in dieser Form unglaubwürdig, doch konnte Platon hier von seiner literarischen Gestaltungsfreiheit Gebrauch machen.
Für einen Aufenthalt des Parmenides in Athen und eine Begegnung mit Sokrates gibt es außer Platons Angaben keine Anhaltspunkte.
Die Gesprächsteilnehmer
Die Rahmenhandlung
An der Rahmenhandlung sind Kephalos, Adeimantos, Glaukon und Antiphon beteiligt. Anwesend sind ferner Begleiter des Kephalos, die nicht namentlich genannt werden und nicht das Wort ergreifen.
Kephalos von Klazomenai, der Erzähler der Rahmenhandlung, ist möglicherweise eine von Platon erfundene Gestalt. Außerhalb des Parmenides ist seine Existenz nirgends bezeugt. Nach seiner Schilderung im Dialog kennt er Adeimantos und Glaukon seit langem; deren Halbbruder Antiphon war noch ein Kind, als Kephalos zum ersten Mal nach Athen kam. Offenbar steht Kephalos zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung schon in fortgeschrittenem Alter. Ebenso wie seine Landsleute, die ihn begleiten, ist er sehr an Philosophie interessiert und begierig, über die berühmte Diskussion mit Parmenides Näheres zu erfahren.
Glaukon und Adeimantos sind auch aus anderen Werken ihres Bruders Platon bekannt. Im Parmenides vermittelt Adeimantos bereitwillig die Zusammenkunft der Besucher aus Klazomenai mit seinem Halbbruder Antiphon. Ansonsten spielen die beiden Brüder aber in diesem Dialog keine Rolle.
Antiphon ist ein Sohn des Diplomaten Pyrilampes, des zweiten Ehemanns von Platons Mutter Periktione. Sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits stammt er von angesehenen Bürgern Athens ab. Der Stadtteil Melite westlich der Akropolis, wo er lebt, ist eine vornehme Gegend. In seiner Jugend hat er sich eifrig mit Philosophie beschäftigt, doch zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung hat er das Interesse daran verloren; nun widmet er sich wie sein gleichnamiger Großvater hauptsächlich der Pferdezucht. Nur auf eindringliches Bitten der Besucher erklärt er sich bereit, seine Erinnerungen auszubreiten.
Die Diskussion mit Parmenides
Bei der Zusammenkunft der Philosophen im Jahr 450 v. Chr. diskutieren Parmenides, Zenon, Sokrates und Aristoteles. Pythodoros und zwei weitere Anwesende hören schweigend zu und greifen nur einmal kurz ein, um den zögernden Parmenides zu einer Darlegung zu bewegen.
Der erst neunzehnjährige Sokrates tritt im Parmenides anders auf als in zahlreichen anderen Dialogen Platons. Während er sonst gewöhnlich die dominierende Gestalt ist und den Gesprächsverlauf souverän lenkt, ist er hier unerfahren und belehrungsbedürftig. Er vertritt die platonische Ideenlehre, die Platon erst nach dem Tod des historischen Sokrates entwickelt hat. Die Ansichten, die Platon seiner literarischen Dialogfigur hier in den Mund legt, dürfen daher nicht mit der Philosophie des historischen Sokrates gleichgesetzt werden.
Parmenides ist bei seinem Besuch in Athen für damalige Verhältnisse schon hochbetagt. Er ist ein berühmter Lehrer und vermittelt jungen, wissbegierigen Athenern wie Sokrates und Aristoteles das methodische Rüstzeug der philosophischen Analyse. Dabei überlässt er es ihnen, die Lösungen der Probleme, die er ihnen stellt, selbst zu finden. Die Grundüberzeugungen dieser Dialogfigur entsprechen denen des historischen Vorsokratikers Parmenides. Allerdings verbindet die literarische Figur dieses Gedankengut mit der platonischen Ideenlehre, die ihrem historischen Vorbild unbekannt war. Parmenides erscheint in dem nach ihm benannten Dialog in der Rolle des überlegenen, hochangesehenen Meisters, der die Bemühungen des jungen Sokrates wohlwollend beobachtet. Platon stellt ihn hier sehr respektvoll dar.
Bei Parmenides’ Schüler Zenon von Elea handelt es sich um eine historische Gestalt, von deren Leben aber abgesehen von einer sagenhaften Überlieferung wenig bekannt ist. Ob Platons Angaben im Parmenides auf glaubwürdigen biographischen Informationen über Zenon fußen, ist ungewiss. Im Dialog erscheint Zenon als gutaussehender Mann von etwa vierzig Jahren. Er hat mit einer Schrift, in der er die Philosophie seines Lehrers verteidigt, Aufsehen erregt. Um die Richtigkeit der eleatischen Lehre vom einheitlichen Sein aufzuzeigen, untersucht er die gegenteilige Auffassung und versucht ihre Konsequenzen als absurd zu erweisen.
Der historische Politiker Aristoteles – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen berühmten Philosophen – profilierte sich als Anhänger der oligarchischen Richtung. Während der kurzlebigen Herrschaft der Oligarchen nach der vernichtenden Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg gehörte er dem „Rat der Dreißig“ an, einem Gremium, das aus dreißig führenden Repräsentanten der oligarchischen Bewegung bestand und von 404 bis 403 v. Chr. eine Schreckensherrschaft in der Stadt ausübte.
Im Parmenides ist Aristoteles der jüngste Diskussionsteilnehmer. Im zweiten Teil des Dialogs beantwortet er im Zwiegespräch die Fragen des Parmenides. Dabei erweist er sich als leicht lenkbar. Einer Forschungshypothese zufolge wollte Platon mit der Einführung dieser Dialogfigur auf seinen berühmten gleichnamigen Schüler anspielen und ihn in ein unvorteilhaftes Licht rücken. Dies ist möglich, doch handelt es sich um eine bloße Vermutung, die in der Forschung wenig Zustimmung gefunden hat.
Auch Pythodoros, auf dessen Bericht sich Antiphon im Dialog beruft, hat wirklich gelebt. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zeitpunkt der fiktiven Diskussion mit Parmenides betätigte er sich als Befehlshaber im Peloponnesischen Krieg. Laut dem Platon zugeschriebenen, möglicherweise unechten Dialog Alkibiades I war er zahlender Schüler Zenons. Im Parmenides erscheint er als Hausbesitzer und Gastgeber von Parmenides und Zenon; daher hat man sich ihn zu diesem Zeitpunkt wohl als mindestens dreißigjährig vorzustellen.
Inhalt
Das Einleitungsgespräch
Kephalos berichtet als Erzähler der gesamten Dialoghandlung, dass er zusammen mit einigen philosophisch interessierten Männern aus seiner Heimatstadt Klazomenai nach Athen kam und dort auf dem Markt seinen alten Freund Adeimantos und dessen Bruder Glaukon traf. Da die Besucher aus Klazomenai gehört hatten, dass Adeimantos’ Halbbruder Antiphon eine mündliche Überlieferung über die Begegnung von Parmenides, Zenon und Sokrates kannte, wollten sie Näheres in Erfahrung bringen. Gern vermittelte Adeimantos den Kontakt. Man begab sich gemeinsam in Antiphons Haus und überredete ihn zu erzählen, was er über jenes Gespräch der berühmten Philosophen wusste. Obwohl sich Antiphon schon seit langem nicht mehr mit Philosophie befasste, konnte er sich noch genau an alles erinnern, was er in seiner Kindheit von dem greisen Pythodoros gehört hatte, der als Gastgeber von Parmenides und Zenon bei der Diskussion anwesend gewesen war.
Es folgt Kephalos’ Wiedergabe von Antiphons Bericht. Anfangs erzählt Kephalos in indirekter Form, später geht er zur Mitteilung des Gesprächsverlaufs in direkter Rede über.
Die Diskussion über Probleme der Ideenlehre
Die Klärung der Voraussetzungen
Zenon hat im Haus des Pythodoros einer Schar von Hörern, darunter Sokrates, seine Abhandlung, die in Athen bisher unbekannt war, vorgelesen. Anschließend wird darüber diskutiert. Zenons Schrift enthält eine Darstellung der eleatischen Lehre. Deren Kerngedanke ist eine scharfe Trennung zwischen dem einheitlichen, überzeitlichen Seienden und der Vielfalt der entstehenden und vergehenden, nur scheinbar realen Erscheinungen. Die Vorgeschichte der Abfassung des Traktats bildet ein Streit um die eleatische Philosophie. Parmenides hatte in einem berühmten Lehrgedicht seine Auffassung vorgetragen, es gebe nur ein einziges Seiendes, alle Vielheit sei Illusion. Mit dieser paradox wirkenden Lehre hatte der eleatische Denker Aufsehen und Anstoß erregt. Spötter nahmen seine Behauptung als lächerliche Absurdität aufs Korn. Daraufhin schrieb Zenon, der damals noch jung war, seine Abhandlung, in der er die These seines Lehrers polemisch verteidigte. Inzwischen ist er ein reifer Mann geworden und distanziert sich von seiner damaligen Streitlust. Inhaltlich hält er aber an seiner Überzeugung fest. Um sie als zutreffend zu erweisen, wählt er den Weg der Widerlegung der gegenteiligen Ansicht. Er versucht zu zeigen, dass die Annahme einer wirklich existierenden Vielheit zu widersinnigen Folgerungen führe und daher aufgegeben werden müsse. Nach seiner Darlegung kann das Seiende keinesfalls eine reale Vielheit sein, denn dann müssten die real existierenden vielen Entitäten untereinander einerseits ähnlich, andererseits aber zugleich unähnlich sein. Zwischen dem Ähnlichen und dem Unähnlichen bestehe aber ein konträrer Gegensatz, der ausschließe, dass eine reale Entität einer anderen realen Entität zugleich ähnlich und unähnlich sein könne. Hier hakt Sokrates als Zuhörer ein, nachdem Zenon seinen Vortrag beendet hat, und bittet um eine Erklärung.
Sokrates geht bei seiner Stellungnahme zu Zenons Argumentation von der Ideenlehre aus. Ähnlichkeit und Unähnlichkeit sind für ihn Ideen, das heißt reale, zeitlose Gegebenheiten im Sinne von Parmenides’ Forderung, das Seiende müsse aller Veränderung entzogen sein. Als Ideen sind sie den veränderlichen Erscheinungen übergeordnet; sie bestehen unabhängig von ihnen und verleihen ihnen die Eigenschaften „ähnlich“ und „unähnlich“. Im Rahmen dieses Modells stellt das Ineinandergreifen von Ähnlichem und Unähnlichem in der Welt der Erscheinungen für Sokrates kein Problem dar. Er kann es darauf zurückführen, dass die sinnlich wahrnehmbaren Dinge von beiden Ideen, der des Ähnlichen und der des Unähnlichen, beeinflusst werden und diese Einflüsse sich vermischen. Die Ideen hingegen sind in ihrem Dasein sowohl von den Erscheinungen als auch voneinander gänzlich abgetrennt. Daher kann es die reine Unähnlichkeit, das schlechthin Unähnliche als Idee geben, und dieser Idee kommt keinerlei Ähnlichkeit zu. Ebenso gibt es die Ähnlichkeit als Idee, an der nichts unähnlich ist. Somit können Ideen von Gegensätzlichem als reale Vielheit existieren; die Welt des Seienden muss nicht, wie die Eleaten meinen, absolut homogen sein. Erst wenn die Eleaten zeigen könnten, dass die von ihnen behauptete widersinnige Mischung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit die Ideenwelt beträfe, erhielte ihre Argumentation gegen die Realität der Vielheit Gewicht.
Obwohl Sokrates damit Parmenides und Zenon widerspricht, sind sie über seinen Eifer und seinen Einwand erfreut, denn sie teilen grundsätzlich seine Vorstellung, dass alles Veränderliche und Vergängliche auf Unveränderliches zurückgeführt werden müsse. Parmenides vergewissert sich, dass Sokrates tatsächlich alle Allgemeinbegriffe als Ideen auffasst, also nicht nur eine Idee der Ähnlichkeit und eine Idee der Unähnlichkeit annimmt, sondern beispielsweise auch das Gerechte an sich, das Schöne an sich und das Gute an sich als Ideen betrachtet. Unsicherheit zeigt Sokrates allerdings bei der Frage, ob es Ideen nicht nur von Eigenschaften, sondern auch von Dingen gibt, etwa eine Idee des Feuers oder eine Idee des Menschen. Unsinnig kommt ihm die Einordnung negativ bewerteter Begriffe in die Welt der ewigen, musterhaften Ideen vor; er weigert sich zuzugeben, dass es auch Ideen von Kot, Dreck und anderen verächtlichen und wertlosen Dingen geben müsse, obwohl sein Modell dies zu erfordern scheint. Parmenides führt diese Inkonsequenz auf das jugendliche Alter des Sokrates zurück, denn in der Jugend sei man noch nicht frei von konventionellen Vorurteilen. Für Parmenides ist es selbstverständlich, dass im Rahmen der Ideenlehre nicht nur den Dingen, die den Menschen gefallen, jeweils eigene Ideen zugeordnet sein müssen; keine Erscheinung kann ohne eine besondere Idee sein, von der sie hervorgerufen wird.
Das Verhältnis von Ideen und Erscheinungen
Anschließend weist Parmenides auf fundamentale Schwierigkeiten hin, die sich ergeben, wenn man das Verhältnis der Ideen zu den Erscheinungen genauer zu erfassen versucht.
Nach der Ideenlehre sind alle sinnlich wahrnehmbaren Objekte Bündel von Eigenschaften, deren unterschiedliche und wechselnde Kombinationen jeweils die besondere Beschaffenheit des einzelnen Objekts ausmachen. Die Eigenschaften treten auf, weil die Objekte die Ideen in sich aufnehmen und damit deren gestaltendem Einfluss unterliegen. Beispielsweise ist ein großes Ding groß, weil es etwas von der Idee der Größe empfängt und damit gewissermaßen an dieser Idee teilnimmt. Hier stellt sich aber die Frage, wie ein solches Teilnehmen vorstellbar ist. Wenn jede Idee, wie es die Ideenlehre fordert, eine unveränderliche Einheit ist, muss sie unteilbar sein. Somit kann sie nicht auf die an ihr teilnehmenden Sinnesobjekte aufgeteilt werden, sondern muss von jedem Objekt gleichermaßen als Ganzes aufgenommen werden. Dem steht aber der Umstand entgegen, dass die Objekte verschieden und voneinander getrennt sind. Ein und dieselbe Idee müsste also in ihrer Gesamtheit zugleich in einer Vielzahl von separaten Objekten vollständig präsent sein. Parmenides vergleicht dies mit einem Segeltuch, das mehrere Menschen bedeckt, so dass es scheinbar als Ganzes über sie ausgebreitet ist. In Wirklichkeit bedeckt aber jeden von ihnen nur ein bestimmter Teil des Tuchs. Analog müsste man sich die Beziehung der separaten Einzelobjekte zu einer Idee als Beteiligung an einem bestimmten Teil von ihr vorstellen. Dann wäre die Idee aber doch teilbar, was ihre Existenz als einheitliche Realität aufheben würde.
Außerdem ist die Vorstellung von aufteilbaren Ideen in sich widersprüchlich. Wenn beispielsweise die Idee der Größe aufgeteilt wird, können die Teile nicht umfassender sein als das Ganze, dessen Teile sie sind; vielmehr sind sie kleiner. Dann wären große Dinge nicht durch Teilnahme an der Idee der Größe groß, sondern durch Teilnahme an etwas, was kleiner ist als die Idee der Größe, also relative Kleinheit aufweist. Das ist widersinnig. Außerdem wäre dann die Idee der Kleinheit größer als ihre Teile; es gäbe also Teile der Kleinheit, die mehr Kleinheit aufwiesen als die absolute Kleinheit.
Die Selbstprädikation
Ein weiteres gravierendes Problem ergibt sich aus der „Selbstprädikation“, der Zugehörigkeit der Idee einer Eigenschaft zur Menge der Objekte, die diese Eigenschaft aufweisen. Es kann nicht sein, dass die Idee der Größe zwar die Ursache der Größe aller großen Dinge, aber selbst nicht groß ist. Wenn sie eine eigenständige, real existierende Entität ist, bildet sie zusammen mit allen Objekten, denen sie Größe verleiht, eine Menge, die dadurch gekennzeichnet ist, dass alle ihre Elemente die Eigenschaft Größe aufweisen. Dann fragt sich, welche Instanz dieser Menge die Eigenschaft Größe verleiht. Diese Instanz müsste der Idee der Größe ebenso wie den einzelnen großen Dingen übergeordnet sein. Sie wäre also umfassender und somit größer als die Idee der Größe. Außerdem müsste ihre Größe aus demselben Grund von einer weiteren, noch größeren Instanz erzeugt sein. Damit ergibt sich ein infiniter Regress, ein Fortschreiten ins Endlose. Dann wären die Ideen keine Einheiten, sondern durch grenzenlose Vielheit charakterisiert. Zur Zurückführung der Vielfalt der Erscheinungen auf einfache, einheitliche Prinzipien wären sie nicht mehr geeignet. Diese Zurückführung ist aber der Ausgangspunkt des Sokrates, seine Begründung der Ideenlehre, die solche einfache Prinzipien in den Ideen findet. Die Ideenlehre verlöre also ihre Basis.
Der Einwand des Sokrates, dass die Ideen vielleicht Gedanken sind, die als solche in den Seelen erscheinen und so betrachtet nicht dem Regress unterliegen, hilft nicht weiter. Er wird durch die Entgegnung des Parmenides widerlegt, dass es nicht Gedanken von nichts, sondern von etwas Seiendem wären, das heißt von objektiv existierenden Ideen. Wenn die Ideen nur Gedanken der Menschen wären, könnten sie nicht die Muster und Erzeuger von Dingen sein, die keine Gedanken sind, sondern in der Natur vorhanden sind. Wenn die Naturdinge Produkte von Gedanken wären, müssten sie selbst aus Gedanken bestehen.
Sokrates deutet die Beziehung zwischen Ideen und Erscheinungen im Sinne der Ideenlehre als Verhältnis zwischen Urbildern und deren Abbildern. Dagegen macht Parmenides geltend, dies sei ein Ähnlichkeitsverhältnis. Wenn aber zwischen Urbild und Abbild Ähnlichkeit bestehe, müssten sie beide an einem übergeordneten Urbild teilhaben, das die Ursache dieser Ähnlichkeit sei. Damit gerate man wiederum in einen infiniten Regress.
Die Frage der Erkennbarkeit
Eine noch gravierendere Schwierigkeit sieht Parmenides auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Sie tritt auf, wenn man zu erklären versucht, wie der Mensch überhaupt eine Erkenntnis von Ideen erlangen kann. Parmenides zeigt dies, indem er die Rolle eines Kritikers der Ideenlehre übernimmt. Dessen Argumentation, die Parmenides als schwer widerlegbar bezeichnet, lautet: Wenn es die Ideenwelt gibt, ist die Schranke zwischen ihr und der Erscheinungswelt von prinzipieller Art, da diese beiden Bereiche ihrer Natur nach absolut verschieden sind. Aus der Annahme einer eigenständigen, autarken Ideenwelt ergibt sich deren grundsätzliche Unzugänglichkeit für den Menschen als Bewohner der Erscheinungswelt. Somit sind die Ideen, wenn sie so beschaffen sind, wie es die Ideenlehre fordert, notwendigerweise entweder nichtexistent oder unerkennbar. Die Dinge der Erscheinungswelt können nur untereinander Beziehungen eingehen und die Ideen können nur aufeinander bezogen sein. Beispielsweise ist ein Sklave immer Sklave eines bestimmten menschlichen Herrn und niemals Sklave der Idee des Herrentums, und die Idee des Herrentums kann nur mit der Idee des Sklaventums zusammenhängen und nicht mit einzelnen Sklaven. Daher kann sich auch jedes menschliche Wissen nur auf eine Wahrheit beziehen, die „bei uns“ ist und jeweils ein konkretes Erkenntnisobjekt betrifft. Ein Wissen schlechthin, das nicht auf einen bestimmten Gegenstand bezogen ist, sondern auf die Idee der Wahrheit, auf die Wahrheit an sich, liegt jenseits des Horizonts der Menschen. Um ein Wissen über einzelne Ideen zu erlangen, müsste man aber zuerst das erkennen, was hinsichtlich der Ideen Wahrheit ist. Das heißt, man müsste zuerst die Ideen des Wissens und der Wahrheit erfassen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich nicht nur, dass dem Menschen die Ideenwelt prinzipiell verschlossen ist, sondern auch dass ein Gott, der Erkenntnis der Ideen besitzt, keinen Zugang zur Menschenwelt haben kann.
Das Einüben der philosophischen Untersuchungsmethode
Sokrates ist den Ausführungen des Parmenides gefolgt, er sieht deren Schlüssigkeit ein und findet vorerst keine Lösungen. Es zeigt sich, dass er voreilig geglaubt hat, er könne die Wirklichkeit der Ideen erfassen. Ihm fehlt noch die nötige Schulung, die einen Philosophen befähigt, Fragen wie die hier diskutierten umfassend zu untersuchen. Parmenides weist darauf hin, dass man erst dann eine gut begründete Entscheidung treffen kann, wenn man alle Möglichkeiten hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben, geprüft hat.
Sokrates bittet um eine Demonstration dieser Untersuchungstechnik. Parmenides zögert zunächst, gibt aber dann den vereinten Bitten der Anwesenden nach. Da er nicht monologisieren will, benötigt er für die Vorführung einen Partner. Er entscheidet sich für Aristoteles. Mit ihm zeigt er in einer gedrängten Aufeinanderfolge von Thesen, Fragen und Antworten auf, wie philosophische Analysen durchzuführen sind. Als Gegenstand der beispielhaften Untersuchung wählt er ein Kernthema seiner Philosophie: die Frage, ob das Eine ist oder nicht ist. Zum Zweck der Klärung ist für jede der beiden Hypothesen „Das Eine existiert“ und „Das Eine existiert nicht“ zu prüfen, ob sie Bestandteil eines widerspruchsfreien Systems sein kann, also insofern stichhaltig ist. Zu untersuchen sind sowohl die Konsequenzen aus der Existenz oder Nichtexistenz des Einen als auch diejenigen aus der Existenz oder Nichtexistenz des Anderen, das heißt einer Mehrzahl von Entitäten.
Schema einer umfassenden philosophischen Untersuchung
Die Gesamtuntersuchung besteht aus acht Schritten oder Einzeluntersuchungen, für die sich schon in der Antike die Bezeichnung „Hypothesen“ eingebürgert hat. Dieser auch in der modernen Forschung oft verwendete Ausdruck ist hier allerdings missverständlich, denn es handelt sich nicht um acht verschiedene Annahmen, sondern um acht Arten von Konsequenzen, die sich aus den beiden Annahmen (Hypothesen) „Das Eine ist“ und „Das Eine ist nicht“ ergeben. Diese acht Aspekte des Problems, die systematisch untersucht werden müssen, lassen sich schematisch so darstellen:
Erste Untersuchung
Die erste Untersuchung gilt der Hypothese, dass das Eine ist, das heißt, dass eine schlechthin einfache Entität real existiert. Dagegen bringt Parmenides unter anderem vor:
Wenn das Eine Teile hat, ist es eine Vielheit und somit keine Einheit, also nicht Eines. Wenn es keine Teile hat, ist es ein Ganzes. Ganzheit ist aber dann gegeben, wenn nichts fehlt. Das setzt die Existenz von Teilen voraus, die fehlen könnten. Beide Möglichkeiten führen somit zum Ergebnis, dass das Eine, die teillose Einheit, nicht ist.
Ein teilloses Eines kann weder Anfang noch Ende noch Mitte haben, es muss ausdehnungs-, grenzen- und gestaltlos sein. Es kann in nichts anderem sein, denn sonst wäre es von dem Umgebenden ringsum berührt, was Teile des Einen voraussetzen würde. Daher kann es keinen Ort haben; es ist nirgendwo. Außerdem kann es weder in Ruhe noch in Bewegung sein. Bewegung scheidet aus, weil es sich mangels Ausdehnung nicht um seine Mitte drehen kann und eine Positionsänderung eine Umgebung erfordern würde, in der sich das Eine befände, was wegen der Teillosigkeit bereits ausgeschlossen wurde. Auch ein Ruhezustand würde eine Umgebung voraussetzen, auf die bezogen die Entität ruhend wäre. Somit kann das Eine weder in Bewegung noch in Ruhe sein.
Weitere Argumente dieser Art führen zum Ergebnis, dass dem Einen auch keine der Eigenschaften „identisch“ und „verschieden“, „ähnlich“ und „unähnlich“, „gleich groß“ und „ungleich groß“ zukommen kann und dass es nicht in der Zeit existieren kann und nichts mit der Zeit zu tun haben kann. Wenn es keinen Bezug zur Zeit hat, können Aussagen wie „Das Eine war“, „Das Eine ist geworden“ und „Das Eine wird sein“ nicht zutreffen. Also kann auch die gegenwartsbezogene Aussage „Das Eine ist“ nicht richtig sein. Demnach ist das Eine nicht und kann nicht erfasst werden.
Zweite Untersuchung
Mit der zweiten Untersuchung kehrt Parmenides zum Ausgangspunkt zurück und prüft die Frage nach der Existenz des Einen nochmals.
Wenn das Eine ist, muss ihm notwendigerweise ein Sein zukommen. Das Sein des Einen ist aber vom Einen als solchem verschieden. Wäre es mit ihm identisch, so würde man nicht vom Sein des Einen, sondern nur vom Einen sprechen. Das Eine hat also zwei Eigenschaften: eines zu sein und seiend zu sein. Somit ist es nicht absolut einheitlich, sondern hat zwei Aspekte, und das bedeutet: zwei Teile. Von diesen hat wiederum jeder zwei Teile, einen Einheitsaspekt und einen Seinsaspekt, da er sowohl etwas – eine Entität und als solche eine Einheit – als auch etwas Seiendes ist. Es ergeben sich also auf dieser Unterteilungsebene vier Teile, von denen wiederum jeder zweigeteilt ist, und so fort. Somit ist das Eine paradoxerweise eine Vielheit, eine unendliche Menge von Entitäten.
Des Weiteren gilt: Wenn das Eine einen Einheitsaspekt und einen Seinsaspekt hat und diese nicht identisch sind, dann sind sie voneinander verschieden. Die Verschiedenheit ergibt sich weder aus dem Einssein noch aus dem Sein, sondern ist eine dritte Gegebenheit. Das Eine umfasst also neben Sein und Einssein noch ein drittes Element. Damit werden zugleich auch die Zahlen Eins, Zwei und Drei vorausgesetzt. Daraus wiederum folgt die Existenz von „gerade“ und „ungerade“ und der unendlichen Menge der übrigen Zahlen, die alle am Sein teilnehmen. Das Seiende erweist sich als grenzenlose Vielfalt, und jeder der unzähligen Entitäten kommen die Eigenschaften „eines“ und „seiend“ zu. Wiederum stellt sich heraus, dass das Eine paradoxerweise zugleich Einheit und Vielheit ist. Dies gilt sowohl für den Einheitsaspekt als auch für den Seinsaspekt.
Weitere paradoxe Folgerungen lauten: Das Eine ist begrenzt und unbegrenzt, gestaltet und gestaltlos, in sich selbst und in einem anderen. Es ist zugleich mit sich selbst identisch und von sich selbst verschieden sowie mit allem anderen identisch und von allem anderen verschieden. Es muss das Andere und sich selbst berühren und zugleich nicht berühren und dem Anderen und sich selbst quantitativ gleich und zugleich ungleich sein. Außerdem erfordert sein Sein, dass ihm Zeit beigelegt wird. Damit tritt es in den Bereich des Werdens und Vergehens ein, was zu weiteren widersinnigen Konsequenzen führt. Es muss dann einen Übergang zwischen Zuständen wie „bewegt“ und „ruhend“ geben, den das Eine vollzieht. Dieser muss plötzlich geschehen, denn nichts kann gleichzeitig bewegt und ruhend sein. Der Augenblick des Übergangs kann somit kein Bestandteil des Zeitkontinuums sein, da er sonst entweder dem vorherigen oder dem nachherigen Zustand zugeordnet wäre. Also liegt er außerhalb der Zeit, und das Eine, das den Übergang vollzieht, ist in diesem Moment weder bewegt noch unbewegt. Das Eine führt einen Akt des Werdens aus, ohne dabei in der Zeit zu sein.
Dritte Untersuchung
Die dritte Untersuchung geht wiederum von der Hypothese aus, dass das Eine ist, und prüft sie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses des Einen zum Anderen. Auch hier treten Widersprüche auf.
Das Andere – die Gesamtheit desjenigen, was nicht das Eine ist – kann nicht das Eine sein, sondern muss dessen Gegenteil darstellen, denn durch seinen Gegensatz zum Einen wird es konstituiert. Es ist eine Vielheit, die aus Teilen besteht, welche zusammen ein Ganzes bilden. Jedes Ganze ist aber als solches eine Entität und damit eine Einheit. Als Einheit nimmt es am Einen teil. Also ist das Andere zugleich am Einen beteiligt und das absolute Gegenteil des Einen. Dasselbe gilt für die einzelnen Teile des Anderen.
Die weiteren Folgerungen entsprechen denen, die sich bereits für das Eine ergeben haben. Auch für das Andere lässt sich zeigen, dass es zugleich begrenzt und unbegrenzt, ähnlich und unähnlich, bewegt und ruhend sein muss.
Vierte Untersuchung
Als nächstes wird die Frage untersucht, welche Konsequenzen die Trennung des Einen vom Anderen für das Andere hat, wenn vorausgesetzt wird, dass das Eine ist. Das Andere umfasst sämtliche Entitäten, die nicht das Eine sind. Demnach kann es nichts Drittes außerhalb der Dualität des Einen und des Anderen geben. Das Eine und das Andere müssen völlig voneinander getrennt sein, und es kann keine übergeordnete Einheit geben, die sowohl das Eine als auch das Andere umfasst. Wenn es aber nur das Eine und das Andere gibt und das Andere nichts vom Einen in sich hat, kann es im Anderen keine Zweiheit oder Dreiheit geben, da Zahlen das Vorhandensein der Zahl Eins voraussetzen. Das bedeutet, dass das Andere keine Gegensätze umfassen kann. Es kann also nicht das sein, was es definitionsgemäß sein müsste, sondern muss ebenso wie das Eine von Bestimmungen wie „identisch“, „verschieden“, „ähnlich“, „unähnlich“, „bewegt“ und „ruhend“ frei sein.
Die Bilanz der bisherigen Überlegungen lautet, dass das Eine, wenn es ist, einerseits alles, andererseits aber nicht einmal Eines ist, sowohl in Bezug auf sich selbst als auch in Bezug auf das Andere.
Fünfte Untersuchung
In den vier anschließenden Untersuchungen geht es um die Konsequenzen der Annahme, dass das Eine nicht ist. Die Hypothese, dass das Eine nicht ist, ist der Ausgangspunkt von Aussagen über das nichtseiende Eine. Die Aussage „Das Eine ist nicht“ ist nur sinnvoll, wenn sie einen definierbaren Gegenstand hat. Das Eine muss also auch dann, wenn es nicht ist, etwas Bestimmbares, das heißt von allem anderen Abgrenzbares sein. Die Bestimmung besteht darin, dass es vom Anderen verschieden ist. Außerdem muss es ein Wissen darüber geben können, denn die Aussage, dass es nicht ist, ist nur dann sinnvoll, wenn man versteht, was damit gemeint ist, und das setzt gedankliche Erfassbarkeit voraus. Wenn es hinsichtlich seines möglichen Nichtseins erkennbar ist, gehört es insofern dem Bereich des Erkennbaren an. Da es sich auch als Nichtseiendes vom Anderen unterscheidet, muss es die Eigenschaften Verschiedenartigkeit und Unähnlichkeit aufweisen. Da es nur dem Anderen, nicht sich selbst unähnlich ist, kommt ihm außerdem auch die Eigenschaft „ähnlich“ zu. Des Weiteren zeigt Parmenides, dass das nichtseiende Eine auch zugleich Gleichheit und Ungleichheit, Sein und Nichtsein, Unwandelbarkeit und Veränderung in sich haben muss.
Sechste Untersuchung
Die sechste Untersuchung ist eine Gegenbetrachtung, die von einem absoluten Verständnis der Aussage „Das Eine ist nicht“ ausgeht. Wenn das Eine absolut nicht ist, kann es nicht werden und vergehen (also Sein gewinnen und einbüßen), es kann sich nicht verändern und keinerlei Eigenschaften aufweisen. Es kann in keiner Beziehung zur Zeit stehen, kann nicht erkannt werden und kein Gegenstand sinnvoller Aussagen sein. Das Ergebnis ist also dem der fünften Untersuchung entgegengesetzt.
Siebte Untersuchung
In der siebten Untersuchung wird geprüft, wie sich die hypothetische absolute Nichtexistenz des Einen auf das Andere auswirkt. Wenn das Eine nicht ist, kann das Andere nicht durch Abgrenzung vom Einen bestimmt werden. Das Andere muss aber als solches das Element der Verschiedenheit mit einschließen. Die Verschiedenheit muss also innerhalb des Bereichs des Anderen liegen und dessen Inhalte betreffen. Diese können aber, wenn es das Eine nicht gibt, keine Einheiten sein. Es kann sich also nur um undifferenzierte Massen handeln. Solche Massen können mangels eines Faktors, der sie zu Einheiten machen könnte, nicht wirklich groß oder klein, begrenzt oder unbegrenzt, ähnlich oder unähnlich usw. sein, sondern nur so scheinen.
Achte Untersuchung und Gesamtergebnis
Die achte Untersuchung zeigt die Absurdität einer Welt, die ohne das Eine, aber mit dem Anderen besteht. Ein solches Anderes kann weder eine Einheit noch eine Vielheit sein und nicht einmal als Einheit oder Vielheit erscheinen, denn eine Vielheit wäre eine Menge von Einheiten. Also ist dieses Andere nichts. Wenn das Eine absolut nicht ist, ist auch das Andere absolut nicht. Dann gibt es auch keinen Anschein von irgendetwas, sondern schlechthin nichts.
Abschließend fasst Parmenides die paradoxen Ergebnisse der Untersuchungen zusammen: Von welchen Annahmen auch immer man ausgeht, das Ergebnis ist stets, dass das Eine und das Andere, sowohl im Verhältnis zueinander als auch jeweils für sich betrachtet, zugleich alles sind und nicht sind, alles zu sein scheinen und nicht zu sein scheinen. Mit dieser Feststellung, der Aristoteles zustimmt, endet der Dialog.
Philosophischer Gehalt
In der intensiven Forschungsdiskussion über den philosophischen Gehalt des Parmenides steht die Frage im Mittelpunkt, wie Platon die eingehende Kritik an seiner Ideenlehre, die er dort vortragen lässt, bewertet und welche Folgerungen er daraus gezogen hat. Das Spektrum der Deutungen reicht von der Hypothese, dass er die Ideenlehre in seiner letzten Schaffensphase aufgegeben habe, bis zur Annahme, er habe die im Dialog aufgeworfenen Probleme restlos gelöst und die Ideenlehre sei dabei intakt geblieben. Nach der letzteren Interpretation hat er den Parmenides als Übungstext für seine Schüler verfasst, da er erwartete, dass sie aufgrund ihrer philosophischen Ausbildung in der Lage seien, durch eigenes Nachdenken die Lösungen zu finden. Einer mittleren Deutungsrichtung zufolge hat Platon die Ideenlehre in der Form, in der sie in Schriften seiner mittleren Schaffensperiode formuliert ist, für korrekturbedürftig gehalten und im Parmenides die Notwendigkeit erkennen lassen, das Konzept zu überdenken; das Resultat war eine neue Version der Lehre, die er in späten Werken zur Geltung brachte. Manche Forscher meinen, wenn man die Ideenlehre richtig verstehe, zeige sich, dass sie von der Kritik gar nicht betroffen sei. Diese richte sich nur gegen falsche, von Platon abgelehnte Interpretationen der Ideenlehre. Für eine optimistische Haltung Platons sprechen Hinweise seines Parmenides, der im Dialog behauptet, ein begabter, hinreichend geschulter Philosoph könne die Schwierigkeiten meistern, was allerdings nicht einfach sei. Außerdem lässt Platon Parmenides feststellen, wenn man nicht Ideen voraussetze, sei eine philosophische Untersuchung gar nicht möglich. Demnach steht und fällt die Philosophie mit der Annahme, dass Ideen real sind, denn nur unter dieser Voraussetzung ist die philosophische Verwendung von Begriffen und Klassifizierung von Objekten sinnvoll.
Strittig ist die Stichhaltigkeit einzelner Argumente von Platons Parmenides. Hier geht es um die Frage, ob Fehlschlüsse vorliegen oder logisch unzulässige Annahmen vorausgesetzt werden. Darüber gehen die Meinungen weit auseinander: Manche Forscher halten die Ableitung der einzelnen Folgerungen für logisch fehlerhaft, andere für schlüssig; für manche sind die Ausgangsthesen „Das Eine ist“ und „Das Eine ist nicht“ sinnvolle Aussagen, für andere handelt es sich um Verstöße gegen die logische Syntax. Oft wird darauf hingewiesen, dass die im Parmenides thematisierten Schwierigkeiten der Ideenlehre teilweise auf eine „Verdinglichung“ der Ideen zurückzuführen sind. Dabei handelt es sich um einen Fehler in der Beweisführung, der darin besteht, dass man von einer Analogie von Ideen und Dingen ausgeht, ohne dabei deren Verschiedenartigkeit hinreichend zu beachten. Ein Beispiel dafür ist der im Dialog angestellte Vergleich mit einem Segeltuch. Vermutlich wollte sich Platon gegen ein „dingliches“ Verständnis der Ideenlehre wenden, indem er dem Leser dessen fatale logische Folgen vor Augen führte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Mehrdeutigkeit von Begriffen wie „das Eine“ und „sein“. Die Frage, ob Platons Parmenides die Begriffe durchgängig im selben Sinn verwendet, ist umstritten.
Eine Deutungsrichtung betont den Gegensatz zwischen der platonischen und der eleatischen Philosophie. Ihr zufolge hat Platon zeigen wollen, dass die Denkweise der Eleaten zwangsläufig in eine Sackgasse führe. Er musste sich mit der Lehre des Parmenides auseinandersetzen, da sie mit Kerngedanken seiner Ideenlehre, der Methexis (Teilhabe) und der Mimesis (Nachahmung), unvereinbar ist. Mit der Vorstellung, dass die Sinnesobjekte als Abbilder an den Ideen als ihren Urbildern teilhaben oder sie nachahmen, versucht die Ideenlehre den Zusammenhang zwischen den veränderlichen Einzeldingen und den unwandelbaren Ideen verständlich zu machen. Die Einwirkung der Ideen soll die Existenz und Beschaffenheit der Phänomene erklären. Die eleatische Ontologie trennt jedoch das unveränderliche Seiende radikal von der nichtseienden, illusionären Welt der Sinnesobjekte. Damit schließt sie eine Teilhabe oder Nachahmung prinzipiell aus; in ihrem Rahmen kann es keinerlei Beziehung zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden geben. Darüber hinaus hebt Samuel Scolnicov einen methodischen Gegensatz zwischen Platon und Parmenides hervor: Der historische Parmenides sei „der erste Cartesianer“ gewesen. Wie René Descartes sei er von der Überlegung ausgegangen, dass ein methodisch korrektes Vorgehen zu absolut sicheren Ergebnissen führen müsse, wenn man eine evidente Tatsache als Ausgangspunkt wähle und aus ihr alles ableite. Gegenteilige Annahmen könnten als falsch erwiesen werden, indem man ihre Selbstwidersprüchlichkeit aufzeige. Dies sei das Standardverfahren von Parmenides und Zenon gewesen. Platon habe diese Vorgehensweise der Eleaten, insbesondere den Gedanken einer evident wahren Aussage als Ausgangspunkt, abgelehnt und im Parmenides kritisiert.
Viel erörtert wird das Verhältnis des Parmenides zur stark umstrittenen „ungeschriebenen Lehre“ oder Prinzipienlehre Platons. Eine Reihe von Forschern meint, Platon wende sich mit dem Parmenides gegen die Überzeugung der Eleaten, das unwandelbare Sein sei das höchste Prinzip. Er wolle den Leser auf die Erkenntnis vorbereiten, dass ein Ausweg aus den im Dialog aufgezeigten Schwierigkeiten nur gefunden werden könne, wenn man oberhalb der Ideenebene eine Metaebene ansetze, auf der sich das „überseiende“ Eine befinde. Nur die Lehre vom überseienden Einen ermögliche die Auflösung der Widersprüche, in die man gerate, wenn man das Eine als seiend oder als nichtseiend betrachte. Davon handle Platons Prinzipienlehre, die er nur mündlich in der Akademie dargelegt habe, die aber aus den Quellenzeugnissen in den Grundzügen rekonstruierbar sei. Mit diesem Verständnis greifen einige moderne Forscher (darunter Jens Halfwassen, Christoph Horn und Ingeborg Schudoma) einen Deutungsansatz auf, von dem schon die antiken Neuplatoniker ausgingen. In der neuplatonischen Tradition spielt das überseiende Eine als höchstes Prinzip und Ursprung von allem eine zentrale Rolle. Andere Philosophiehistoriker (Giovanni Reale, Maurizio Migliori) interpretieren den Parmenides ebenfalls prinzipientheoretisch und finden darin Hinweise auf eine überseiende Ebene, vertreten jedoch ein etwas anderes Modell. Sie lehnen den streng monistischen Aspekt der neuplatonischen Deutungstradition ab und behaupten, Platon habe der gesamten Wirklichkeit eine bipolaren Struktur zugeschrieben. Er habe die „unbestimmte Zweiheit“ – das „Andere“ des Parmenides – nicht aus dem Einen hervorgehen lassen, sondern sie als eigenständiges Urprinzip betrachtet und ebenso wie das Eine außerhalb des Seins verortet. Wiederum andere halten die prinzipientheoretische Deutung für völlig verfehlt.
Zu sehr regen jahrzehntelangen Diskussionen haben die beiden Argumente des Parmenides, die einen infiniten Regress aufzeigen, Anlass gegeben. Diese Thematik wird in der Forschung in Zusammenhang mit einer Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre erörtert, die unter der Bezeichnung „Argument des dritten Menschen“ („Third Man Argument“, TMA) bekannt ist. Das Argument des dritten Menschen entspricht dem ersten Regressargument im Parmenides. Mit dem „dritten Menschen“ ist die übergeordnete dritte Instanz über der Idee des Menschen und den Menschen als Einzelwesen gemeint, die nach dem Regressargument erforderlich ist, wenn man annimmt, dass die Idee mit den Einzelwesen eine Klasse bildet. Die modernen Debatten drehen sich um die Fragen, ob die Regressargumente ein triftiger Einwand gegen die Ideenlehre sind und wie Platon dies eingeschätzt hat. Die Beantwortung hängt philologisch vom Verständnis des Textes ab und philosophisch davon, ob die Annahmen, die zum infiniten Regress führen, für die Ideenlehre notwendig sind und ob Platon sie für erforderlich hielt.
Franz von Kutschera meint, der wichtigste Schlüssel zum Verständnis des Parmenides liege in der mereologischen Logik, die Platon in dem Dialog verwendet habe. Er habe über eine Mereologie – eine Lehre vom Verhältnis eines Ganzen zu dessen Teilen – verfügt, die er voraussetze, aber nicht begründe.
Verschiedentlich ist die Ansicht geäußert worden, einzelne Ausführungen im Parmenides seien Reaktionen Platons auf das Ideenverständnis des Eudoxos von Knidos. Eudoxos fasste die Teilhabe der Einzeldinge an den Ideen als Mischung auf; er meinte, die Ideen seien den wahrnehmbaren Objekten beigemischt, also örtlich in ihnen anwesend. Die Ausführungen über Zahlen im zweiten Teil des Dialogs sind von der pythagoreischen Zahlenlehre beeinflusst.
Eine weitere Interpretation lautet, die Argumentation des Parmenides im Dialog solle die Grenzen der Logik aufzeigen und auf Sachverhalte hinweisen, die widersinnig und dennoch real seien. Parmenides belehre Sokrates darüber, dass die gängige Vorgehensweise, die von vornherein dem konzeptuellen Denken Priorität gegenüber dem Sein einräume, in die Ausweglosigkeit führe und daher verfehlt sei. Dies ergebe sich insbesondere aus der Paradoxie der Zeit. Daraus resultiere die Einsicht, dass das Sein fundamentaler sei als der Logos und die Dialektik, die philosophische Methode der Erkenntnisgewinnung. Die Unvollständigkeit des dialektischen Diskurses werde enthüllt.
Entstehung
Die Echtheit des Parmenides ist im 19. Jahrhundert von einigen Forschern bestritten worden, wozu vor allem das Schweigen des Aristoteles, der den Dialog nirgends ausdrücklich erwähnt, Anlass bot. Auch in neuerer Zeit ist mitunter Skepsis geäußert worden, doch hält heute eine überwältigende Mehrheit der Forscher den Dialog für ein authentisches Werk Platons.
Einigkeit besteht darüber, dass der Parmenides zu den späteren Dialogen zählt. Er wird dem Spätwerk oder einer Übergangszeit zwischen der mittleren und der späten Schaffensperiode zugerechnet. Zusammen mit dem Theaitetos und dem Sophistes gehört er zu einer Gruppe von „kritischen“ Dialogen, in denen der Philosoph Gedanken, die er in früheren Werken vorgebracht hatte, einer kritischen Überprüfung unterzieht. Stilistisch scheint der Parmenides zur Gruppe der mittleren Dialoge zu gehören, der Inhalt spricht für relativ späte Entstehung.
Die unterschiedliche Gestalt der beiden Teile des Dialogs hat zur Vermutung Anlass gegeben, dass die Teile ursprünglich getrennt waren. Diese von Gilbert Ryle vorgetragene Hypothese hat besonders im englischsprachigen Raum Anklang gefunden, ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Möglicherweise war der erste Teil ursprünglich für ein breiteres Publikum gedacht, der zweite – die mit Aristoteles durchgeführte Untersuchung – und die Verbindung beider für die Philosophen in Platons Akademie. Allerdings wird in der neueren Forschung betont, dass die beiden Teile in der vorliegenden Fassung des Dialogs zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt seien.
Die meisten Datierungen der Abfassung ordnen sie in den Zeitraum zwischen 375 und 360 ein.
Rezeption
Antike
Schon zu Platons Lebzeiten hat offenbar eine breitere Öffentlichkeit das Gedankengut des Parmenides zumindest oberflächlich zur Kenntnis genommen. Dies ist daraus ersichtlich, dass der paradoxe Aspekt des Werks in der zeitgenössischen Komödie aufgegriffen und zur Zielscheibe des Spotts gemacht wurde. Im Zeitalter des Hellenismus und in der frühen römischen Kaiserzeit hingegen fand der Parmenides anscheinend relativ wenig Beachtung. Erst ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts verstärkte sich das Interesse an ihm.
Unterschiedlich gedeutet wird der Umstand, dass Platons Schüler Aristoteles, der sich eingehend mit der Ideenlehre auseinandergesetzt hat, den Parmenides nirgends namentlich erwähnt, obwohl seine Argumentation gegen die separate Existenz von Ideen teilweise mit der dort vorgebrachten übereinstimmt. In seiner Schrift Metaphysik ist eine Reihe von inhaltlichen Parallelen zum Parmenides zu finden. Dies legt die Annahme nahe, dass er den Dialog gekannt hat. Weniger Zustimmung hat die Vermutung gefunden, dass Aristoteles die Kritik zuerst formuliert hat, als er noch Mitglied von Platons Akademie war, und der Parmenides Platons Reaktion auf diese Kritik darstellt.
In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Parmenides zur dritten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte sie zu den „logischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Ideen“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Gelehrten Thrasyllos.
Der Neupythagoreer Moderatos von Gades, der im 1. Jahrhundert lebte, entwarf ein ontologisches Modell, mit dem er unter anderem an den Parmenides anknüpfte. Er war der Ansicht, der Dialog sei im Licht der pythagoreischen Lehre zu interpretieren.
Der Gelehrte Athenaios, der Platon vehement zu kritisieren pflegte, behauptete, der Bericht von einer philosophischen Diskussion, an der Sokrates und Parmenides teilgenommen hätten, sei chronologisch unstimmig.
In der Zeit des Mittelplatonismus (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert) scheint der Parmenides für die Platoniker keine herausragende Rolle gespielt zu haben. Erst mit der Entstehung des Neuplatonismus im 3. Jahrhundert gewann das Werk eine wachsende Bedeutung für die metaphysische Spekulation der Denker, die sich auf die platonische Tradition beriefen. In der Spätantike gehörte es zu den Schriften, die den Neuplatonismus – die damals dominierende philosophische Richtung – am stärksten prägten.
Plotin († 270), der Begründer des Neuplatonismus, erwähnte den Dialog nur selten, verwertete ihn aber intensiv für seine Metaphysik. Er lobte Platons Ansatz, der differenzierter sei als der eleatische, betonte die absolute Transzendenz des Einen und berief sich für seine Lehre von der dreigliedrigen hierarchischen Ordnung des intelligiblen Kosmos, der geistigen Welt, auf den Parmenides. Damit zeichnete sich bereits eine neue Wertschätzung dieses Werks ab, denn die hierarchische Struktur der geistigen Welt mit dem „überseienden“ Einen an der Spitze war ein zentraler Bestandteil der neuplatonischen Philosophie.
Plotins Schüler Porphyrios († 301/305) scheint sich eingehend mit dem Parmenides befasst zu haben. Ihm wird ein nur fragmentarisch und anonym überlieferter Kommentar zu dem Dialog zugeschrieben, doch ist die Hypothese seiner Autorschaft umstritten.
In der Folgezeit intensivierte sich die neuplatonische Rezeption des Dialogs, der von den hauptsächlich an metaphysischen und theologischen Fragen interessierten Philosophen eifrig studiert wurde. Da die Neuplatoniker alles auf das „überseiende“ Eine als oberstes Prinzip zurückführten, war ihnen die Argumentation von Platons Parmenides, die sich sowohl gegen ein seiendes als auch gegen ein nichtseiendes Eines richtete, sehr willkommen. Sie diente ihnen zur Begründung ihrer Lehre von der absoluten Transzendenz des Einen, das weder als seiend noch als nichtseiend aufgefasst werden dürfe. Nach ihrer Interpretation ist der Dialog nicht als aporetisch aufzufassen, sondern der zweite Teil liefert die Lösung der im ersten aufgeworfenen Probleme.
Porphyrios’ Schüler Iamblichos, der eine sehr einflussreiche neuplatonische Schulrichtung begründete, verfasste einen Kommentar zum Parmenides. Er hielt diesen Dialog für die Krönung der Theologie, den Timaios für das wichtigste Werk über die Naturlehre. Auch die späteren Neuplatoniker sahen im Parmenides und im Timaios die beiden grundlegenden Schriften der klassischen Philosophie. Im Studiengang der spätantiken Neuplatoniker bildete das Studium dieser beiden Dialoge den krönenden Abschluss der philosophischen Ausbildung. Daher war die Spätantike die Blütezeit der Parmenides-Kommentierung. Zu den spätantiken Kommentatoren des Dialogs zählten neben Iamblichos einige führende Vertreter der neuplatonischen Schule von Athen: Plutarch von Athen, Syrianos, Proklos, Marinos von Neapolis und Damaskios. Der größte Teil dieses Schrifttums ist verloren; nur die Kommentare des Proklos und des Damaskios sind erhalten geblieben. Der Kommentar des Damaskios ist allerdings unvollständig überliefert und der Schluss von Proklos’ Werk nur in lateinischer Übersetzung. Der umfangreiche Kommentar des Proklos ist philosophiegeschichtlich von großer Bedeutung, auch weil er Informationen über die älteren, heute verlorenen Kommentare bietet. Proklos behandelte aber nicht den ganzen Dialog. Er ging selektiv vor; aus dem zweiten Teil des Parmenides kommentierte er nur die erste Untersuchung, deren Beweisgang er für seine negative Theologie benötigte. Nachdrücklich wies er in seiner Platonischen Theologie die Auffassung zurück, es handle sich beim zweiten Teil nur um logische Übungen. Er meinte, die Aporien im ersten Teil seien jeweils durch einen der Fragestellung nicht angemessenen Denkhorizont verursacht. Sie seien nur scheinbar unüberwindlich; die Lösung ergebe sich, wenn das Erkenntnisniveau auf einen höheren Rang angehoben werde. Dazu könne die Didaktik des Parmenides verhelfen. Das für die Entdeckung der Wahrheit benötigte Wissen könne dem Dialog selbst entnommen werden.
Die direkte antike Textüberlieferung beschränkt sich auf wenige spätantike Fragmente von Pergamenthandschriften.
Mittelalter
Die älteste erhaltene mittelalterliche Parmenides-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich für Arethas von Caesarea angefertigt. Der spätmittelalterliche byzantinische Gelehrte Georgios Pachymeres verfasste eine Fortsetzung zum Kommentar des Proklos. Er kommentierte aber unter rein logischem Gesichtspunkt, vernachlässigte also den für Proklos zentralen theologischen Aspekt.
Im arabischsprachigen Raum war der Parmenides aus der arabischen Übersetzung von Galens Zusammenfassung des Dialogs bekannt, die Ḥunain ibn Isḥāq, ein Gelehrter des 9. Jahrhunderts, angefertigt hatte. Der Philosoph al-Kindī, ein Zeitgenosse Ḥunains, scheint über eine gewisse Kenntnis des Inhalts von Platons Werk verfügt zu haben, die er aber möglicherweise nur neuplatonischem Schrifttum verdankte.
Bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens war der Text des Dialogs im Früh- und Hochmittelalter unbekannt. Man wusste aber von seiner Existenz, da er in Werken antiker römischer Autoren (Gellius und Calcidius) erwähnt wurde. Erst im Spätmittelalter wurde ein Teil des Parmenides einigen westlichen Scholastikern zugänglich, da Wilhelm von Moerbeke im Zeitraum zwischen 1280 und 1286 den Kommentar des Proklos ins Lateinische übersetzte. Dank den Zitaten bei Proklos erlangten die Scholastiker Kenntnis von einem Teil des Dialogtextes. So war die spätmittelalterliche Parmenides-Rezeption von Anfang an von der neuplatonischen Sichtweise geprägt. Allerdings scheint die Verbreitung von Moerbekes Übersetzung bei den mittelalterlichen Gelehrten gering gewesen zu sein; erst in der Renaissance nahm das Interesse zu.
Frühe Neuzeit
Im Westen wurde der Parmenides im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der byzantinische Gelehrte Georgios Trapezuntios im Jahr 1459 in Rom. Trapezuntios, der Platon verabscheute, übersetzte den Dialog nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Wunsch des Kardinals Nikolaus von Kues. Nikolaus, der ein bedeutender Metaphysiker war, interessierte sich sehr für die neuplatonische Parmenides-Interpretation. Kardinal Bessarion übte scharfe Kritik an der Übersetzung. Er befand in seiner 1469 veröffentlichten Kampfschrift In calumniatorem Platonis („Gegen den Verleumder Platons“), Trapezuntios gebe den griechischen Text nicht wieder, sondern ruiniere ihn. Nikolaus von Kues und Bessarion bemerkten die inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem neuplatonisch gedeuteten Parmenides und den berühmten Schriften des antiken christlichen Theologen Pseudo-Dionysius Areopagita, der stark vom Neuplatonismus beeinflusst war.
Der Humanist Marsilio Ficino fertigte eine neue lateinische Übersetzung des Dialogs an, die erste, die gedruckt wurde. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Als Neuplatoniker war er der Überzeugung, der Parmenides enthalte Platons Theologie, die hier in ihrer Gesamtheit entfaltet werde. Gegen diese Deutung wandte sich Giovanni Pico della Mirandola in seiner Abhandlung De ente et uno („Über das Seiende und das Eine“). Pico sah im zweiten Teil des Dialogs nur ein logisches Übungsstück. Darauf reagierte Ficino mit seinem 1494 abgeschlossenen und 1496 gedruckten, sehr ausführlichen Parmenides-Kommentar, in dem er seine Sichtweise darlegte und Pico zu widerlegen versuchte.
Ficinos neuplatonische, theologische Interpretation beeinflusste das Verständnis des Parmenides in der Folgezeit nachhaltig. Zu den Gelehrten, die sich dieser Sichtweise anschlossen, zählten Aegidius de Viterbo und Francesco Patrizi da Cherso.
Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros.
Leibniz fasste den Parmenides in neuplatonischem Sinn als theologisches Werk auf, das die Tiefgründigkeit von Platons Philosophie erkennen lasse. Allerdings übernahm er das neuplatonische Konzept des überseienden Einen nicht, sondern setzte das Eine mit dem Seienden und mit Gott gleich. Er empfahl, Platons Text zu lesen, wenn man dessen Philosophie verstehen wolle, und sich nicht an die alten Kommentare zu halten.
1793 veröffentlichte Thomas Taylor die erste englische Übersetzung des Parmenides. Sie war ganz von der neuplatonischen Sichtweise geprägt und leistete einen wichtigen Beitrag zu deren Verbreitung in der gebildeten Öffentlichkeit.
Moderne
Philosophische Aspekte
Die moderne Rezeption ist von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem philosophischen Ertrag des Werks geprägt, die zu einer großen Vielfalt von teils gegensätzlichen Interpretationen geführt hat. Oft wird der Parmenides in der Forschungsliteratur als der schwierigste und rätselhafteste Dialog Platons bezeichnet. Die Deutungsansätze für den besonders umstrittenen zweiten Teil des Dialogs lassen sich in zwei Hauptgruppen unterteilen: Die einen Philosophiehistoriker betrachten den Text als bloße logische Übung ohne positive metaphysische Bedeutung, die anderen meinen, man könne ihm eine metaphysische Lehre Platons entnehmen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel brachte hohe Wertschätzung für den Parmenides zum Ausdruck, übte aber auch Kritik an ihm. Er nannte ihn „wohl das größte Kunstwerk der alten Dialektik“ und das „berühmteste Meisterstück der Platonischen Dialektik“ und befand, es handle sich um ein „vollendetes Dokument und System des ächten Skepticismus“. Der Parmenides umfasse und zerstöre das ganze Gebiet des Wissens durch Verstandesbegriffe. Dabei gehe es nicht etwa um einen Zweifel an den Wahrheiten des Verstandes, der Entstehen und Vergehen, Vielfalt und Zusammengesetztheit erkenne und daraus objektive Behauptungen mache, sondern die Wahrheit eines solchen Erkennens werde gänzlich negiert. Dieser „Skepticismus“ ist für Hegel „die negative Seite der Erkenntniß des Absoluten, und setzt unmittelbar die Vernunft als die positive Seite voraus“. Darin, dass die Gedanken „sich zum Anderen ihrer selbst machen“, sah Hegel „das Feste, Wahrhafte“: die Einheit der Gedanken. Als Beispiel nannte er das Werden als das Wahrhafte von Sein und Nichtsein, ihre untrennbare Einheit. Allerdings sei Platons Dialektik im Parmenides nicht vollendet, denn sie sei nicht über die Negation hinausgeschritten. Den folgenden Schritt, die Negation der Negation als Affirmation, habe Platon nicht ausgesprochen. Vielmehr beschränke sich die Dialektik im Parmenides teils auf das Widerlegen, teils habe sie „überhaupt das Nichts zum Resultate“.
Der Neukantianer Paul Natorp betrachtete den Dialog als Übungsprogramm, als „akademische Seminarstunde“. Der „Faden des Labyrinths“ sei die „Methodenbedeutung der reinen Begriffe“. Der Zweck des Parmenides sei ein Hinweis auf „die mächtigste der philosophischen Aufgaben, die des Systems der reinen Begriffe“. Die „Größe des Wurfs, den der Parmenides bedeutet“, solle nicht weiterhin verkannt werden.
Der Neukantianer Nicolai Hartmann meinte, der Parmenides zeige, wie aller Seinswert der Begriffe erst aus deren Gemeinschaft hervorgehe. Platon mache den inneren Zusammenhang der Grundbegriffe „fühlbar als etwas Notwendiges, Unentrinnbares“. Im zweiten Teil des Dialogs demonstriere er anhand der acht Untersuchungen, dass die Begriffe ein System bildeten, aus dem man keinen Bestandteil losreißen könne, ohne das Ganze zu zerreißen und damit alles Denken preiszugeben.
Bertrand Russell hielt den Parmenides für die „vielleicht beste Sammlung von Antinomien, die je erstellt wurde“. Er sah darin ein Dokument der Selbstkritik Platons.
Für die spätere Forschung wegweisend war die 1939 von Francis Macdonald Cornford publizierte Studie Plato and Parmenides. Cornford hielt den zweiten Teil des Dialogs für eine sehr subtile und meisterhafte Analyse logischer Probleme. Er untersuchte die philosophiegeschichtliche Stellung des Werks, insbesondere sein Verhältnis zur Ideenlehre von Platons mittlerer Schaffenszeit sowie zur Lehre des historischen Parmenides und zur pythagoreischen Tradition. Nach Cornfords Deutung hat der Dialog einen positiven metaphysischen Gehalt, der aber nicht im Sinne der neuplatonischen Tradition theologisch auszulegen ist.
Alfred Edward Taylor glaubte, der Parmenides sei nur ein geistreiches Spiel, das der Verspottung des eleatischen Monismus diene.
Carl Friedrich von Weizsäcker setzte sich in seiner Schrift Die Einheit der Natur mit dem Parmenides auseinander. Er meinte, man könne Platons Philosophie nicht verstehen, solange man diesen Dialog nicht nachvollziehen könne. Daher müsse dies versucht werden, obwohl man angesichts der Meinungsverschiedenheiten in der Sekundärliteratur „nur verzweifeln“ könne. Die Prinzipienlehre sei heranzuziehen. Weizsäcker prüfte die Anwendbarkeit der Argumentation im zweiten Dialogteil auf Fragen der modernen Philosophie der Physik.
Franz von Kutschera sieht eine besondere Leistung Platons im Parmenides in der Entwicklung einer Mereologie, die nicht nur elementar sei; sie sei „eine weit stärkere Logik als alle Systeme, die man bis hin zu Leibniz entwickelt hat“.
Literarische Aspekte
In literarischer Hinsicht findet der Parmenides meist wenig Wertschätzung. Schon der einflussreiche Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher befand in der Einleitung zu seiner 1805 veröffentlichten Übersetzung des Dialogs, das „für Viele (…) von vielen Seiten abschreckende Gespräch“ sei eine schwere Lektüre; die Sprache zeige sich „als Kunstsprache noch im Zustande der ersten Kindheit“. Aus philologischer Sicht urteilte der renommierte Gräzist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, es sei ein „knochendürrer Dialog (…), wenn man das Wort noch brauchen darf“ und „so unplatonisch wie möglich“; offenbar habe Platon den Stil Zenons übertreibend imitiert. „Wer sich in dieses logische Gestrüpp wagt und auf genießbare Früchte hofft, wird schwer enttäuscht.“ Auch in der jüngeren Forschung wird die Annahme vertreten, der stilistisch stark von den anderen Dialogen Platons abweichende zweite Teil des Werks sei eleatischem Schrifttum – vermutlich einem Text Zenons – nachgebildet. Helmut Mai widerspricht der traditionellen Auffassung, der zweite Teil sei wegen der bescheidenen Rolle des Aristoteles nicht als wirklicher Dialog zu betrachten. Er betont, dass auch der zweite Teil eine für den philosophischen Gehalt relevante dialogische Struktur aufweise.
Zu einer günstigen Einschätzung der literarischen Qualität gelangte Franz von Kutschera, der die Vielschichtigkeit des Werks sowie die gelungene Charakterisierung von Personen und Atmosphäre im ersten Teil lobte.
Ausgaben und Übersetzungen
Ausgaben (mit Übersetzung)
Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Band 5, 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Auguste Diès; daneben die deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1818)
Ekkehart Martens (Hrsg.): Platon: Parmenides. Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 978-3-15-008386-4 (unkritische Ausgabe mit Übersetzung)
Hans Günter Zekl (Hrsg.): Platon: Parmenides. Meiner, Hamburg 1972, ISBN 3-7873-0280-8 (kritische Ausgabe mit Übersetzung)
Übersetzungen
Otto Apelt: Platons Dialog Parmenides. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. 4, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922)
Rudolf Rufener: Platon: Spätdialoge II (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 105–189 (mit Einleitung von Olof Gigon S. XXVI–XXXII)
Franz Susemihl: Parmenides. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 483–560
Literatur
Übersichtsdarstellungen
Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 223–231, 633–637
Peter Gardeya: Platons Parmenides. Interpretation und Bibliographie. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991, ISBN 3-88479-557-0
Franz von Kutschera: Platons Philosophie, Band 2: Die mittleren Dialoge. Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-265-9, S. 161–203
Kommentare
Reginald E. Allen: Plato’s Parmenides. 2., überarbeitete Auflage, Yale University Press, New Haven 1997, ISBN 0-300-06616-3 (englische Übersetzung mit ausführlichem Kommentar)
Franz von Kutschera: Platons „Parmenides“. De Gruyter, Berlin 1995, ISBN 3-11-014557-X (Kommentar; Rezension von Andreas Graeser: Platons ‚Parmenides‘ in neuem Licht. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen, Jg. 249, 1997, S. 12–29)
Maurizio Migliori: Dialettica e Verità. Commentario filosofico al “Parmenide” di Platone. Vita e Pensiero, Milano 1990, ISBN 88-343-0289-3
Kenneth M. Sayre: Parmenides’ Lesson. Translation and Explication of Plato’s Parmenides. University of Notre Dame Press, Notre Dame 1996, ISBN 0-268-03817-1
Ingeborg Schudoma: Platons Parmenides. Kommentar und Deutung. Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, ISBN 3-8260-1978-4
Samuel Scolnicov: Plato’s Parmenides. University of California Press, Berkeley u. a. 2003, ISBN 0-520-22403-5 (Einführung, englische Übersetzung und Kommentar)
Andreas Speiser: Ein Parmenides Kommentar. Studien zur platonischen Dialektik. K. F. Koehler Verlag, zweite, erweiterte Auflage Stuttgart 1959, ISBN 978-3-8742-5118-1
Robert G. Turnbull: The Parmenides and Plato’s Late Philosophy. Translation of and Commentary on the Parmenides with Interpretative Chapters on the Timaeus, the Theaetetus, the Sophist, and the Philebus. University of Toronto Press, Toronto u. a. 1998, ISBN 0-8020-4236-8
Egil A. Wyller: Platons Parmenides in seinem Zusammenhang mit Symposion und Politeia. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3603-3
Untersuchungen
Luc Brisson, Arnaud Macé, Olivier Renaut (Hrsg.): Plato’s Parmenides. Selected papers of the Twelfth Symposium Platonicum (= International Plato studies, 41). Academia Verlag, Baden-Baden 2022.
Andreas Graeser: The Fog Dispelled. Two Studies in Plato’s Later Thought. Franz Steiner, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-515-09646-1, S. 13–78
Rudolf-Peter Hägler: Platons ‚Parmenides‘. Probleme der Interpretation. De Gruyter, Berlin 1983, ISBN 3-11-009599-8
Constance C. Meinwald: Plato’s Parmenides. Oxford University Press, New York/Oxford 1991, ISBN 0-19-506445-3
Mitchell H. Miller: Plato’s Parmenides. The Conversion of the Soul. Princeton University Press, Princeton 1986, ISBN 0-691-07303-1
Hans Rochol: Der allgemeine Begriff in Platons Dialog Parmenides. Hain, Meisenheim am Glan 1975, ISBN 3-445-01271-7
Hans Günter Zekl: Der Parmenides. Untersuchungen über innere Einheit, Zielsetzung und begriffliches Verfahren eines platonischen Dialogs. Elwert, Marburg 1971, ISBN 3-7708-0441-4
Rezeption
Maria Barbanti, Francesco Romano (Hrsg.): Il Parmenide di Platone e la sua tradizione. Atti del III Colloquio Internazionale del Centro di Ricerca sul Neoplatonismo. CUECM, Catania 2002, ISBN 88-86673-11-6 (Aufsätze zur Rezeption von der Antike bis zum 20. Jahrhundert)
John D. Turner, Kevin Corrigan (Hrsg.): Plato’s Parmenides and Its Heritage. 2 Bände, Society of Biblical Literature, Atlanta 2010, ISBN 978-1-58983-449-1 und ISBN 978-1-58983-450-7 (Aufsätze zur Rezeption bis zum Ende der Spätantike)
Weblinks
Textausgaben und Übersetzungen
Parmenides, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1901
Parmenides, deutsche Übersetzung nach Franz Susemihl, 1865, bearbeitet (pdf, 206 kB)
Parmenides, deutsche Übersetzung nach Franz Susemihl, 1865
Literatur
Kang Liu: Sein und Erkennen. Platons Ideenlehre im Parmenides und Sophistes. Dissertation, Berlin 2011
Arne Malmsheimer: Platons Parmenides und Marsilio Ficinos Parmenides-Kommentar – ein kritischer Vergleich. Dissertation, Bochum 2001
Anmerkungen
Corpus Platonicum |
2963684 | https://de.wikipedia.org/wiki/The%20White%20Angel | The White Angel | The White Angel ist ein US-amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 1936 über das Wirken von Florence Nightingale während des Krimkrieges mit Kay Francis in der Hauptrolle. Die Regie führte William Dieterle. Der Film ist ein typisches Beispiel für das Genre des biografischen Films, das insbesondere seit dem Aufkommen des Tonfilms einen großen Aufschwung erfuhr. Gleichzeitig steht der Film mit seinem Fokus auf die Kämpfe und Auseinandersetzungen von Florence Nightingale gegen männliche Vorurteile und gesellschaftliche Beschränkungen gegenüber Frauen ganz in der erzählerischen Tradition des sog. „woman’s picture“. Für die Hauptdarstellerin Kay Francis war The White Angel eine Abkehr von den sonst für sie typischen Filmsujets, die sich in der Regel mit emotionalen Problemen und romantischen Verwicklungen der Heldin beschäftigen.
Handlung
Im England der 1850er leidet die junge Florence Nightingale darunter, als Frau aus der besseren Gesellschaft keine sinnvolle Aufgabe zu finden, außer auf einen Ehemann zu warten. Eines Tages erfährt sie über ihren Vater, der Mitglied eines Komitees zur Verbesserung der Krankenpflege ist, erschütternde Fakten über die pflegerischen und hygienischen Zustände in den englischen Hospitälern und Krankenhäusern. Tief bewegt entschließt sich Florence Nightingale, den Heiratsantrag ihres Verehrers Charles Cooper, dessen Rolle gewisse Übereinstimmungen mit Richard Monckton Milnes aufweist, abzulehnen und stattdessen Krankenschwester zu werden. Sie absolviert ihre Ausbildung unter anderem in der Kaiserswerther Diakonie, wo sie die Bedeutung von unbedingter Pflichterfüllung, harter Arbeit, peinlich genauer Hygiene und strikter Disziplin für den dauerhaften Erfolg in der pflegerischen Tätigkeit kennenlernt. Zurück in England gelingt es ihr gegen schwersten Widerstand der männlichen Leitung, eine verantwortungsvolle Position in einem Krankenhaus zu übernehmen.
Mit dem Ausbruch des Krimkrieges erlangt Nightingale durch Unterstützung des Staatssekretärs im Kriegsministerium, Sidney Herbert, die Erlaubnis, die verwundeten Soldaten zu versorgen. Im Oktober 1854 reist Florence in Begleitung von 38 Mitschwestern, die sie persönlich aufgrund ihrer Eignung und Befähigung ausgewählt hat, in Richtung Krim. Ihr erster Einsatzort ist das Militärhospital von Scutari (heute Selimiye-Kaserne in Üsküdar). Dort herrschen unhaltbare, menschenunwürdige hygienische Zustände. Schwerverletzte, Sterbende und leicht Verwundete liegen ohne jede Ordnung teilweise auf dem nackten Boden. Innerhalb von drei Wochen nach ihrer Ankunft sind bereits 2300 neue Fälle eingeliefert worden und die Sterblichkeit nimmt mit jedem Tag zu. Gegen den erbitterten Widerstand von Dr. Hunt, dem Leiter des Hospitals, reorganisiert Nightingale die Abläufe und schafft die Grundlagen für eine effektive Versorgung. Jeden Abend besucht Florence Nightingale die Kranken und ihr Anblick mit einer Lampe in der Hand wird zum Symbol der Hoffnung und der Menschlichkeit für die verwundeten Soldaten.
Trotz der Erfolge – so sinkt die Sterblichkeit von 420 pro 1000 auf nur noch 22 von 1000 – versucht Dr. Hunt alles, Florence Nightingale zu sabotieren. Unterstützung erfährt sie durch den Kriegsreporter der Times, Robert Fuller. Die Figur ist im Wesentlichen William Howard Russell nachempfunden, dem Begründer der modernen Kriegsberichtserstattung. Er berichtet regelmäßig über die Erfolge der Lady with the Lamp in die Heimat.
Gestützt auf die Erfahrungen in Scutari organisiert Florence Nightingale auf ausdrücklichen Wunsch von Königin Victoria schließlich die Krankenpflege im Hospital von Balaklawa auf der Krim, wo die Zustände noch fürchterlicher sind. Sie erkrankt schwer an Cholera, erholt sich jedoch und muss erfahren, dass Dr. Hunt während ihrer Abwesenheit alle Reformen rückgängig gemacht hat und ihr den Zutritt zum Hospital verweigert. Sie harrt tagelang vor dem Gebäude im Regen aus, ehe sie endlich die Unterstützung des Oberbefehlshabers der englischen Truppen Lord Raglan bekommt. Sofort entlässt sie die von Dr. Hunt eingesetzte leitende Oberschwester, nachdem sie diese betrunken im Bett findet. Schließlich gewinnt Nightingale ihren Kampf gegen Dr. Hunt, der unehrenhaft entlassen wird. Mit dem Ende des Krieges kehrt Nightingale im Triumph wieder in die Heimat zurück. Königin Victoria verleiht ihr in Anerkennung der Verdienste für das Vaterland eine diamantenbesetzte Brosche, die das englische St. Georgskreuz mit der Inschrift Blessed are the Merciful ziert.
Hintergrund
Besetzung
Warner Brothers waren Mitte 1935, unmittelbar nach Beendigung der Dreharbeiten zu Louis Pasteur, auf der Suche nach einem geeigneten Sujet für einen weiteren biografischen Film, idealerweise aus dem Bereich der Gesundheitsvorsorge. Die Entscheidung fiel schließlich auf Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege. Die Hauptrolle war zunächst für Josephine Hutchinson vorgesehen, ehe im Dezember 1935 Kay Francis den Zuschlag erhielt. Die Schauspielerin war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und 1936 mit einem Jahresverdienst von 227.500 US-Dollar der höchstbezahlte weibliche Star des Studios. Dem hohen Einkommen stand zu diesem Zeitpunkt noch eine entsprechende Popularität an der Kinokasse gegenüber. Variety, das führende Branchenfachblatt, listete Francis auf Platz sechs der zehn beliebtesten weiblichen Filmstars, noch vor Joan Crawford und Jeanette MacDonald. Die Schauspielerin hatte zuletzt mit I Found Stella Parrish einen großen Erfolg an der Kinokasse, woraufhin das Studio ihren bestehenden Vertrag anpasste und Francis eine Wochengage von 5.250 US-Dollar zahlte.
Offiziell zeigte sich Kay Francis zuversichtlich, den Herausforderungen der Rolle gerecht zu werden, und verwies im Interview darauf, bereits zweimal Ärztinnen auf der Leinwand dargestellt zu haben (1933 in Mary Stevens, M. D. und ein Jahr später in Dr. Monica). Gleichzeitig bekundete sie ihre Freude, endlich eine Charakterrolle spielen zu können, nachdem ihr bisheriges Image eher auf Glamour und Fashion aufgebaut war. 1936 wurde Francis zur bestgekleideten Frau in Hollywood gewählt, vor bekannten Stilikonen wie Marlene Dietrich und Joan Crawford. In einem Interview machte Francis deutlich, wo ihrer Meinung nach die Schwerpunkte der Rolle lagen:
Privat war Kay Francis weit weniger angetan an dem Unterfangen und fand keinen Gefallen am Drehbuch. Ihre abfällige Meinung nahm die zahlreichen Probleme mit den Zensurbehörden, welche die gesamten Dreharbeiten plagen sollten, vorweg.
Drehbuch und Dreharbeiten
Das Studio sah sich durch enge Vorgaben von Seiten der Zensurbehörden gezwungen, das Drehbuch immer wieder zu ändern und sogar ganze Szenen im Endschnitt komplett zu verwerfen. Zum einen wurde Warners unter Berufung auf entsprechende Vorgaben des Production Code untersagt, explizite ausführliche Herausstellungen von Szenen mit menschlichem Leid und Brutalität auf der Leinwand darzustellen. Angesichts der Tatsache, dass die Handlung zum großen Teil während eines der bis dahin blutigsten Kriege der Geschichte spielte und in den Militärlazaretten praktisch keinerlei medizinische Versorgung stattfand, war diese Vorgabe kontraproduktiv in Bezug auf eine realistische Darstellung der Herausforderungen, vor denen Nightingale bei ihrer Ankunft in Scutari und später im Hospital von Balaklawa stand. So berichtete Kay Francis in einem Interview, dass eine bereits abgedrehte Szene, die drastisch die Qualen eines Verwundeten schilderte, dem ohne Narkose beide Beine amputiert werden mussten, komplett aus dem Endschnitt genommen wurde, da die Zensurbehörde ihr Veto einlegte. Dazu kam das ausdrückliche Veto durch den Lord Chamberlain of the Household, der es dem Studio untersagte, eine Schlussszene zu drehen, in der Florence Nightingale direkt mit Königin Victoria einige Dialogzeilen hat. Statt der ursprünglich von den Produzenten als Höhepunkt vorgesehene persönlichen Ansprache und Ehrung durch die Königin endet der Film jetzt relativ banal mit einer Kamerafahrt auf die Brosche und einer Nahaufnahme der Inschrift „Blessed are the Merciful“.
Gleichzeitig musste auf den leichten Sprachfehler von Kay Francis Rücksicht genommen werden. Die Schauspielerin hatte Probleme, den Buchstaben „R“ korrekt auszusprechen. Aus dem Grunde vermied das Drehbuch bei ihren Dialogen wo immer es ging „R“-lastige Ausdrücke. Die Schauspielerin bestand jedoch ausdrücklich darauf, das sog. Florence-Nightingale-Gelübde (engl. Florence Nightingale Pledge) trotz der zahlreichen „R“s im Original zu sprechen, auch wenn ihre erfolgreichen Bemühungen am Ende nicht die erhoffte Würdigung von Seiten der Kritiker erhielt.
Der Film zitiert in Voice-overs mehrfach aus der Biografie Nightingales in dem umfangreichen Werk Eminent Victorians von Lytton Strachey sowie dem Gedicht Santa Filomena von Henry Wadsworth Longfellow. Im Credit werden diese Werke nicht als Grundlage für das Drehbuch genannt, da das Studio vorab gegenüber der Motion Picture Association of America ausführte, Drehbuchautor Mordaunt Shairp habe seiner Arbeit ausschließlich eigene Recherchen zugrunde gelegt und eine Nennung anderer Quellen sei nicht notwendig. Das Drehbuch legte einen grundsätzlich anderen Fokus bei der Schilderung von Nightingales Charakter als Lytton Strachey in seiner Biografie. Dieser betont unter anderem die religiösen Motive, die Florence Nightingale zeit ihres Lebens vorangetrieben haben sollen. Der Film selber legt den Fokus auf die ausgeprägte Hilfsbereitschaft von Florence Nightingale und ihren immanenten Wunsch, das grundsätzliche Leid der Kranken und Armen zu lindern. Die innere Überzeugung, etwas Gutes tun zu wollen tritt an die Stelle einer religiös motivierten Berufung. Wesentliche Unterschiede zwischen den tatsächlichen Geschehnissen und der Schilderung im Film gibt es vor allem rund um die Ereignisse während des Krieges. Breiten Raum widmet der Film der Schilderung von Nightingales pflegerischer Tätigkeit und ihrem Bemühen um die Verwundeten und Sterbenden. Tatsächlich war Florence Nightingale die überwiegende Zeit in Scutari mit administrativen Aufgaben beschäftigt und überließ die aktive Pflege ihrem Stab an Mitarbeiterinnen. Aus Gründen der Dramaturgie wurde auch die Figur des Dr. Hunt in die Handlung eingebaut, für den es keine direkte historische Entsprechung gibt. Als zentraler Antagonist bündelt das Drehbuch hier einen Großteil der meist männlichen Vorurteile, denen sich Florence Nightingale in Scutari und auf der Krim ausgesetzt sah. Zusätzliche Informationen zu dem Aspekt der selektiven Fokussierung auf bestimmte Charaktereigenschaften finden sich weiter unten im Text bei den Ausführungen zum „woman’s picture“.
Die Regie übernahm wie bereits bei Louis Pasteur, William Dieterle, der mit Francis schon 1932 bei Man Wanted und Ein Dieb mit Klasse sowie, wenn auch ohne offizielle Erwähnung, 1934 bei Dr. Monica zusammengearbeitet hatte. Im Folgejahr sollten die beiden wieder gemeinsam an Another Dawn arbeiten. Die Dreharbeiten dauerten von 2. März 1936 bis zum 22. April 1936. Der Arbeitstitel lautete Angel of Mercy, erst unmittelbar vor der Uraufführung am 26. Juni 1936 in New York fiel die Wahl auf The White Angel. In Österreich kam der Film 1936 unter dem Titel Schwester Florence in den Verleih.
Am Ende zeigte sich allerdings keiner der Beteiligten wirklich zufrieden mit dem Erreichten. Die Beteiligten sahen unterschiedliche Gründe, warum der Film die hohen Erwartungen nicht erfüllte.
Von offizieller Seite wurde die Meinung vertreten, Francis sei mit der Rolle überfordert gewesen. In der Rückschau analysierte Hal B. Wallis aus seiner Sicht die Versäumnisse der Schauspielerin:
William Dieterle war rückblickend auch skeptisch über das fertige Ergebnis. Er sah die Verantwortung jedoch ausdrücklich beim Studio und den Problemen mit den Zensurbehörden
Zuletzt zeigte sich auch Kay Francis ebenfalls alles andere als begeistert von dem Ergebnis, wie sie 1938 mit der ihr eigenen Offenheit in einem Interview ausführte.
Weitere Verfilmungen des Wirkens von Florence Nightingale, vor allem ihr Einsatz in Scutari, folgten 1951, als der britische Regisseur Herbert Wilcox mit seiner Ehefrau Anna Neagle The Lady With the Lamp drehte. Julie Harris trat 1965 im US-Fernsehen in einem biografischen Film mit dem Titel The Holy Terror als Nightingale auf. Eine zweiteilige Fernsehfassung ihres Lebens mit Jaclyn Smith und Timothy Dalton aus dem Jahr 1985, die sich mehr auf die – eher behaupteten denn historisch belegten – romantischen Verwicklungen zwischen Nightingale und Monckton Milnes konzentrierte, wurde ebenfalls für das US-Fernsehen produziert. Im Jahr 2001 gab es kurzfristig Pläne, das Leben der Pionierin der Krankenpflege mit Kate Winslet und Joaquín Phoenix auf die Leinwand zu bringen.
Für Kay Francis bedeutete The White Angel am Ende nicht den erhofften Durchbruch als dramatische Schauspielerin. Der relative finanzielle Misserfolg hatte einen raschen Ansehensverlust von Francis bei ihren Fans und damit ihrer Zugkraft an der Kinokasse zur Folge. Nach etlichen Querelen über weitere Rollen kam es im September 1937 schließlich zu einem erbitterten Rechtsstreit mit dem Studio, als die Schauspielerin sich aus ihrem laufenden Vertrag klagen wollte.
Rezeption
Die meisten Kritiker bescheinigten The White Angel ein hohes Maß an Faktentreue und seinem Star Integrität und Pathos in der Darstellung. Entgegen der oft wiederholten Meinung, Kay Francis sei fehlbesetzt in der Rolle und würde echte Emotionen in ihrer Darstellung vermissen lassen, waren die zeitgenössischen Rezensenten voll des Lobes für die Hauptdarstellerin. Kritik gab es jedoch an der pathetischen Überhöhung der Person Nightingales, mit der sie auf ein Podest gestellt würde.
Variety Daily fand freundliche Worte für den Star und prophezeite eine rosige Zukunft:
In England, dem Heimatland von Florence Nightingale, zeigte sich die Presse angetan von Film und Darstellerin. Film Weekly äußerte sich in der Kritik vom 21. November 1936 begeistert.
Mit Lob für Francis, aber einem deutlichen Hinweis auf das defizitäre Skript ließ sich Graham Greene, damals Filmkritiker von The Spectator vernehmen:
Ebenfalls etwas verhaltener war die New York Times in ihrer Kritik vom 26. Juni 1936:
Kinoauswertung
Mit Produktionskosten von $ 506.000 US-Dollar war The White Angel im Vergleich zu den sonst eher bescheidenen Produktionsbudgets bei Warners bereits als Prestigeproduktion anzusetzen. Louis Pasteur aus dem Vorjahr kostete lediglich 330.000 US-Dollar. Inlandseinnahmen in Höhe von 886.000 US-Dollar sowie weitere 530.000 US-Dollar aus dem Ausland brachten ein kumuliertes Einspielergebnis von 1.416.000 US-Dollar. Der Profit für das Studio belief sich am Ende auf 456.000 US-Dollar, einem vergleichsweise hohen Wert, auch wenn das Studio offiziell behauptete, die Einnahmen würden unter den Erwartungen zurückgeblieben sein.
Um eine Relation zu ermöglichen zwei weitere Beispiele:
Nahezu zeitgleich brachten Warners Der Verrat des Surat Khan in die Kinos, die freie Nacherzählung der Attacke der Leichten Brigade, der wohl bekanntesten militärischen Aktion im Krimkrieg. Hier zeigte sich das Studio ungleich spendabler und investiert gut 1.200.000 US-Dollar. Der Film wurde zur erfolgreichsten Produktion des Studios für das Jahr 1936 und brachte einen Reingewinn von 1.500.000 US-Dollar.
The Gorgeous Hussy, Ende August 1936 und damit nur zwei Monate nach The White Angel von MGM in den Verleih gebracht, kostete 1.119.000 US-Dollar und damit mehr als doppelt so viel, um das Leben einer ungleich weniger bekannten Frau zu schildern. An der Kinokasse spielte der Film, vor allem dank der ungebrochenen Popularität der Hauptdarstellerin Joan Crawford mit 1.458.000 US-Dollar bereits in den Vereinigten Staaten mehr ein als The White Angel weltweit. Die Gesamteinnahmen lagen sogar bei 2.019.000 US-Dollar.
The White Angel als Beispiel für das Genre des biografischen Films
Biografische Filme über berühmte Persönlichkeiten aus Politik und Forschung sowie über gekrönte Häupter waren seit dem Aufkommen des Tonfilms immer beliebter geworden.
Definition des Genres
Ein Hauptkennzeichen bildete die Schilderung des Konfliktes der Titelfigur, die ihre Errungenschaften/Erfindungen, Ideen oder Innovationen erst gegen den – meist erbitterten – Widerstand der Gesellschaft Anerkennung verschaffen muss, am Ende jedoch stets Erfolg hat. Dabei wird die Schilderung des Einzelnen gleichzeitig herausgelöst aus dem historischen Gesamtkontext und sein letztlicher Erfolg über die Unvernunft als schicksalhafte Bestimmung dargestellt.
Die narrative Struktur in The White Angel folgt eng diesem Konzept, indem sich das Drehbuch auf einzelne ausgewählte Episoden konzentriert. Im Mittelpunkt steht die Schilderung von Begebenheiten, die Nightingale vorzugsweise im erfolgreichen Kampf gegen Bigotterie, gesellschaftliche Repressionen und Unvernunft präsentieren. Die gesellschaftliche Gesamtsituation, in der sich Nightingale bewegt wird beschrieben, eine Analyse der Ursachen erfolgt jedoch nicht. Gleichzeitig arbeitet das Drehbuch sorgfältig ihre „Berufung“ für diese Tätigkeit heraus. Nightingale sieht ihre Tätigkeit als ihre Mission und für sie vorgesehene Aufgabe im Leben.
Entwicklung des biografischen Films seit 1929
Zwischen 1929 und 1936 verkörperte George Arliss, der während seiner Tonfilmkarriere so viele Filmbiografien drehte, dass sie zu seinem Markenzeichen wurden, bekannte Männer wie Benjamin Disraeli, Alexander Hamilton, Voltaire, Kardinal Richelieu, Nathan Mayer Rothschild und den Herzog von Wellington. In diesen Filmen ist Arliss als aufrechter Kämpfer für Aufklärung und Vernunft erfolgreich gegen Uneinsichtigkeit und Kleinmut. In Rasputin: Der Dämon Rußlands waren 1932 die drei Barrymore-Geschwister Ethel, Lionel und John als Zarin Alexandra Fjodorowna, Rasputin und Prinz Felix Jussupow zu sehen. Fredric March war 1934 in der Rolle des Bildhauers Benvenuto Cellini zu sehen und ein Jahr später kämpfte Ronald Colman als Robert Clive erfolgreich gegen die Franzosen in Bengalen.1936 produzierte MGM für fast 1,5 Mio. US-Dollar mit Der große Ziegfeld das bis dahin teuerste Beispiel. Im Folgejahr präsentierte das Studio allerdings mit Parnell, einer aufwändig inszenierten Biographie von Charles Stewart Parnell trotz Clark Gable in der Hauptrolle und Myrna Loy als Katherine O’Shea einen der größten Flops des noch jungen Genres.
Im Gegensatz zu diesen meist fiktionalen, wenig faktentreuen Adaptionen stand erst in der die Produktion von Louis Pasteur aus dem Jahr 1935 mit Paul Muni in der Hauptrolle, die gewissenhafte Recherche und die mehr oder weniger detailgetreue Schilderung der Ereignisse im Fokus der Darstellung.
William Dieterle prägte in der Folgezeit maßgeblich das Genre des biografischen Films. Nach The White Angel drehte er noch etliche weitere biografische Filme, darunter 1937 Das Leben des Emile Zola, wieder mit Paul Muni in der Hauptrolle. Der Film gewann den Oscar als bester Film des Jahres. Juarez, erneut mit Paul Muni in der Titelrolle als mexikanischer Revolutionär folgte 1939. Im nächsten Jahr kamen mit Paul Ehrlich – Ein Leben für die Forschung und Ein Mann mit Phantasie über Paul Julius Reuter zwei weitere biografische Dieterle-Filme in den Verleih. Sein letzter Beitrag zu dem Genre war 1942 eine Bearbeitung des Lebens von Andrew Jackson, 7. Präsident der Vereinigten Staaten, die unter dem Titel Tennessee Johnson in den Verleih kam.
Biografische Filme über Frauen
Grundsätzlich war die Zahl von biopics über Frauen im Vergleich zu denen über Männer gering. Insgesamt bildeten Regentinnen und Mitglieder des Hochadels während der 1930er das Gros der Dargestellten. Eine eher freie Interpretation des Lebens von Königin Christina von Schweden wurde 1933 mit Greta Garbo auf die Leinwand gebracht. Claudette Colbert verkörperte 1934 die ägyptische Herrscherin Kleopatra. Marlene Dietrich und Elisabeth Bergner waren im selben Jahr nahezu zeitgleich als Zarin Katharina die Große zu sehen. Katharine Hepburn verkörperte 1936 Maria Stuart, Norma Shearer 1938 Marie-Antoinette und Bette Davis spielte 1939 gleich zwei Persönlichkeiten aus dem europäischen Hochadel: Elizabeth I. von England und Charlotte von Belgien, Kaiserin von Mexiko. Greta Garbo übernahm 1937 die Darstellung des Lebens von Maria Walewska und Loretta Young wurde 1938 als Kaiserin Eugénie von Frankreich eingesetzt.
Bürgerliche Frauen waren weit seltener Gegenstand von Filmen, da sie in noch geringerer Zahl Lebensleistungen aufweisen konnten, die nach Ansicht der Studios eine biografische Darstellung rechtfertigen würden. Eine der ersten Filmbiografien in der Tonfilmzeit über eine Frau und noch dazu aus dem Bürgerstand war 1930 Jenny Lind mit Grace Moore, gefolgt von Mata Hari, eine größtenteils frei erfundene Schilderung des Lebens der berühmten Tänzerin mit Greta Garbo in der Titelrolle. Joan Crawford verkörperte 1936 in dem bereits erwähnten The Gorgeous Hussy die Schankwirtstochter Margaret „Peggy“ O’Neal, die während der Präsidentschaft von Andrew Jackson durch ihr enges Verhältnis zum Präsidenten die Petticoat Affair auslöste. Das Leben von Edna Gladney, einer Philanthropin, die in Texas ein privates Waisenhaus führte, war Gegenstand von Blüten im Staub mit Greer Garson aus dem Jahr 1940. Garson spielte in einem weiteren biografischen Film 1943 die zweifache Nobelpreisgewinnerin Marie Curie in Madame Curie. Anna Neagle schließlich trat 1939 als Krankenschwester Edith Cavell auf.
Unterschiedliche Erzählschwerpunkte
Während sich biografische Filme über Männer vornehmlich mit ihren öffentlichen Taten und Handlungen und damit ihrem beruflichen Erfolg beschäftigen, werden bei weiblichen Heldinnen deren innere emotionale Konflikte, die sich aus den Ansprüchen ihrer öffentliche Aufgabe an sie und den rivalisierenden Forderungen des Privatlebens ergeben, in den Fokus gestellt. Im Mittelpunkt steht fast immer eine ausführliche Darstellung der notwendigen emotionalen Opfer und persönlichen Verzichtsleistungen im Gefühlsleben, die für den öffentlichen Erfolg notwendig sind.
Auch bei der Darstellung von Königinnen und Regentinnen wird die Schilderung der Gefühlswelt in den Vordergrund gerückt und treten die Ausführungen politischer Taten und der öffentlichen Wirkung zurück. Die praktische Politik der Regentin und die konkrete Herrschaftsausübung wird kaum thematisiert, während der Fokus auf die detailreiche Beschreibung von mehr oder weniger unglücklichen Liebesaffären gerichtet wird. Exemplarisch kann diese Grundstruktur am Beispiel von Marie-Antoinette aufgezeigt werden. Jede Anspielung auf die politische Einflussnahme der Königin wird im Film verschwiegen und stattdessen die Beziehung zum Grafen Hans Axel von Fersen ausgeschmückt und in den Mittelpunkt gestellt. Ähnlich wird auch in Königin Christine das öffentliche Wirken der Regentin zurückgenommen gegenüber der Darstellung ihres unkonventionellen Privatlebens und einer frei erfundenen Liebesgeschichte. Die tatsächlichen Gründe, die 1654 zu ihrer Abdankung führten, werden im Film ersetzt durch die simple Trauer um den toten Geliebten.
Mit dieser Fokussierung auf den notwendigen emotionalen Verzicht als Preis für Macht, Erfolg und Umsetzung der eigenen Ideen sowie der Schilderung des „privaten Frau“ hinter der öffentlichen Figur weisen biopics über Frauen starke Parallelen zum Genre des „woman’s picture“ auf.
Die weibliche Perspektive: The White Angel als „woman’s picture“
Definition und Struktur
Mit dem Ausdruck „woman’s picture“ werden in der amerikanischen Filmtheorie Filme bezeichnet, die, genreübergreifend, die Schicksale von Frauen und dabei vor allem ihre emotionalen Konflikte innerhalb einer restriktiven Umwelt in den Mittelpunkt der Erzählung stellen.
Gemeinsam ist allen Filmen, dass die Heldin im Verlauf der Handlung in die Lage versetzt wird, die Geschehnisse und damit ihr eigenes Schicksal aktiv und selbstbestimmt in ihrem Sinn zu beeinflussen, unabhängig von den Widerständen der – hier zumeist männlich dominierten – Gesellschaft.
Selbstbestimmung durch Verzicht
Eine besonders effektive Form für Frauen, sich zu emanzipieren und zu einem selbstbestimmten Schicksal zu gelangen, bietet der Heldin dieser Filme der aktive, bewusst vollzogene Verzicht auf eigene emotionale Erfüllung und die Konzentration aller Energien auf ein höheres, ideales Ziel. Jeanine Basinger nennt diese Form des bewussten Verzichts zugunsten eines höheren Ganzen „nobility“, in diesem Zusammenhang am Ehesten zu übersetzen mit „Selbstlosigkeit“ bzw. „Aufopferungsbereitschaft“.
The White Angel ist insoweit ein typisches Beispiel für „nobility“ als Form der erfolgreichen Autonomie für die Frau. Florence Nightingale verzichtet bewusst auf Ehe und privates Glück, um sich ganz einem höheren Ziel, hier der Krankenpflege und damit dem Dienst an der Menschheit an sich zu verschreiben.
Die Eröffnungssequenz macht mit einer eingeblendeten Schrifttafel deutlich, wie schlecht es um die gesellschaftliche Stellung der Frau im England um 1850 bestellt war und impliziert gleichzeitig, wie grundsätzlich falsch derartige Restriktionen sind.
Im Verlauf der Handlung kommt es zu verschiedenen Konfrontationen zwischen Florence Nightingale mit repressiv eingestellten Männern, die die Stellung der Frau allein im Haushalt sehen und jede Beschäftigung in der Öffentlichkeit als erniedrigend ansehen. Nur im beständigen Kampf gegen diese Vorurteile schafft es die Heldin schließlich, ihre Vorstellungen durchzusetzen und gleichzeitig die Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen.
Die Schilderung der zahlreichen Repressalien, denen die Heldin aufgrund ihres Geschlechts von Seiten der männlich dominierten Gesellschaft ausgesetzt ist und ihrem letztlich erfolgreichen Kampf gegen Borniertheit und Unvernunft entsprechen somit der Grundlinie des „woman’s picture“.
Gleichzeitig überhöht der Film permanent den Charakter von Nightingale und stellt sie auf ein Podest. Sie ist keine „gewöhnliche“ Frau, sie ist eine Ausnahme, sie ist außergewöhnlich und sie nimmt klaglos alle Leiden und Anfechtungen, die sich aus dieser Ausnahmestellung ergeben an. Darin liegt auch die Botschaft für die weiblichen Zuschauer, dass Selbstbestimmung und der Kampf für die eigenen Ideale nur mit großen Opfern, vorzugsweise dem dauerhaften Verzicht auf Liebe und privates Glück verbunden sind. Unausgesprochen wird die Zuschauerin aufgefordert, sich selbst die Frage zu beantworten, ob sie persönlich bereit wäre, diesen hohen Preis zu zahlen, um ein autonomes Leben wie Florence Nightingale zu führen.
Der bewusste Verzicht wird im Film immer wieder verdeutlicht. Auf die Forderung ihrer Eltern, nach einer Ehe müsse sie ihre Tätigkeit als Krankenschwester aufgeben erklärt Nightingale ihren Verzicht auf den Ehestand.
In Scutari geht sie noch einen Schritt weiter und weist die übrigen Krankenschwestern, die sich im Hospital nach geeigneten Ehemännern umsehen, in die Schranken.
Schließlich erklärt Florence Nightingale ihren bewussten Verzicht auf ein eigenes Privatleben zu Gunsten ihrer Aufgabe als Krankenschwester. Sie begründet die Entscheidung erneut mit dem allumfassenden Anspruch, den die Tätigkeit der Krankenpflege einnimmt.
Der Film verdeutlicht somit neben der emanzipatorischen Botschaft von gleichen Rechten für Frauen parallel die restriktive Aussage, dass Erfolg und Macht zum einen lediglich Ausnahmefrauen zukommen und der Erfolg nur für den Preis des dauerhaften Verzichts auf die eigentliche Berufung einer Frau in Form von Ehe und Mutterschaft zu haben ist. Diese kontradiktorische Erzählstruktur ist typisch für den ‚woman’s picture‘.
Indem die Handlung in einer fernen Vergangenheit und in einem anderen Land und Kulturkreis spielt, wird verdeutlicht, dass es in den heutigen Vereinigten Staaten (also 1936, zur Zeit der Uraufführung des Films) ganz anders ist. Für den Zuschauer ergibt sich somit eine Gegenüberstellung von „damals“ und „heute“, von „Monarchie“ und „Demokratie“, „Repression“ und „Freiheit“. Darin liegt die immanente Versicherung für den Zuschauer, wie positiv sich die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft im Vergleich zu den Zeiten Nightingales ausnimmt und verändert hat.
Idealisierung durch Titelwahl und Farbdramaturgie
Die konsequente Idealisierung und Überhöhung erfolgt bereits im Ausdruck Angel (deutsch Engel), des Filmtitels, der die Heldin quasi mit einem himmlischen Wesen gleichsetzt. Zusätzlich führt der Zusatz White, also Weiß, und die damit verbundenen positiven Assoziationen von charakterlicher Reinheit und Opferbereitschaft zu einer weiteren Steigerung des Bildes einer quasi über-menschlichen Florence Nightingale (der Arbeitstitel Angel of Mercy ging bereits in dieselbe Richtung). Die Assoziation von Weiß und Medizin bzw. Heilberufen war ebenfalls gewollt und tauchte schon mehrfach zuvor in Filmtiteln auf. 1933 war Helen Hayes in Die weiße Schwester als Nonne in der Krankenpflege zu sehen, ein Jahr später kam unter dem Titel Men in White ein Film über einen aufopferungsvollen Arzt in die Kinos sowie kurz danach The White Parade, der das entbehrungsreiche Leben von Krankenschwesternschülerinnen auf die Leinwand brachte.
Der Film setzt die Farbe Weiß auch bewusst ein, um die Idealisierung von Nightingale zu forcieren. So trägt Kay Francis ein rein weißes Kleid ohne jeden farbliche Applikation und einen leichten, weißen Schal, der wie ein Schleier wirkt, locker über Schultern und Haar sowie keinerlei Schmuck wenn sie sich im Hause ihrer Eltern endgültig gegen eine Ehe mit Charles Cooper und stattdessen dafür entscheidet, Krankenschwester zu werden. Durch die bewusste Verwendung von Weiß und durch Hinzufügung des Attributs eines Schleiers wird einerseits die Ähnlichkeit mit einem Brautkleid herbeigeführt. Darüber hinaus werde Assoziation geschaffen zu Novizinnen, weiblichen Angehörigen religiöser Orden, die sich, angetan in weißem Ornat, in einer feierlichen Zeremonie bewusst von der Welt trennen, um sich ganz einer höheren Macht zu weihen. Die Wirkung der Szene erfährt durch die Inszenierung eine weitere Steigerung. Die Kamera verharrt mit leicht schräger Sicht von unten in der Totalen. Gleichzeitig wendet Francis ihre Augen leicht gegen den Himmel, während die Lichtführung ihre Gestalt wie mit einer Gloriole umgibt und damit überhöht.
Literatur
Filmtheoretische Bücher
Jeanine Basinger: A Woman’s View: How Hollywood Spoke to Women, 1930–1960. Knopf, New York 1993, ISBN 0-394-56351-4.
Dennis Bingham: Whose Lives Are They Anyway?: The Biopic as contemporary Film Genre. Rutgers University, New Brunswick (NJ) 2010, ISBN 978-0-8135-4657-5.
George Frederick Custen: Bio/Pics. How Hollywood Constructed Public History. Rutgers University Press, New Brunswick (N.J.) 1992, ISBN 0-8135-1754-0.
Elizabeth Ford, Deborah C. Mitchell: Royal Portraits in Hollywood: Filming the Lives of Queens. The University Press of Kentucky 2009, ISBN 978-0-8131-2543-5.
Julia Hallam: Nursing the Image: Media, Culture, and Identity. Routledge, 2000, ISBN 0-415-18454-1.
Graeme Harper, Andrew Moor: Sign of Life: Cinema and Medicine. Wallflower Press, 2005, ISBN 1-904764-17-7.
Paul Loukides, Linda K. Fuller: Beyond the Stars: Themes and Ideologies in American popular Film. University of Wisconsin, 1996, ISBN 0-87972-701-2.
Henry M. Taylor: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System. Schüren, Marburg 2002, ISBN 3-89472-508-7.
Linda Wagner-Martin: Telling Women’s Lives: The New Biography. Rutgens University Press, New Brunswick, NJ 1992, ISBN 0-8135-2092-4.
Biografische Bücher über Kay Francis
John Callahan: Kay Francis: Secrets of an Actress. In: Bright Lights Film Journal. Ausgabe Mai 2006 (nachzulesen hier).
Lynn Kear, John Rossman: Kay Francis: A Passionate Life and Career. McFarland & Company, 2006, ISBN 0-7864-2366-8.
Scott O’Brien: Kay Francis: I Can't Wait to Be Forgotten. Her Life on Stage and Film. BearManor Media, 2006, ISBN 1-59393-036-4.
Weblinks
weiterführende Informationen und Originalkinotrailer bei Turner Classic Movies
ausführliche Hintergrundinformationen
Schilderung der Produktionsgeschichte mit Hintergrundinformationen
Einzelnachweise und weiterführende Anmerkungen
Filmtitel 1936
US-amerikanischer Film
Schwarzweißfilm
Filmbiografie über Person mit Heilberuf
Florence Nightingale
William Dieterle |
3454487 | https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberfall%20im%20Medway | Überfall im Medway | Der Überfall im Medway (auch Schlacht von Chatham; englisch Raid on the Medway, niederländisch Tocht naar Chatham) vom 19. Juni bis zum 24. Juni 1667 war eine militärische Operation der niederländischen Flotte während des Englisch-Niederländischen Krieges (1665–1667). Unter dem Kommando des Admirals Michiel de Ruyter drangen niederländische Schiffe über die Mündung der Themse in den Fluss Medway ein und eroberten oder verbrannten dort eine größere Anzahl Kriegsschiffe der englischen Royal Navy. Dieser niederländische Erfolg trug in der Folge maßgeblich zum Abschluss des Friedens von Breda am 31. Juli 1667 bei.
Vorgeschichte
(Hinweis: Kalenderdaten in diesem Artikel beziehen sich auf den gregorianischen Kalender, der dem damals in England verwendeten julianischen Kalender zehn Tage voraus war.)
Allgemeine Entwicklung
Nach dem Ende des ersten englisch-niederländischen Krieges im Jahre 1654 war es in England zur Restauration der Monarchie mit der Rückkehr König Karls II. (1630–1685) gekommen. Dieser benötigte für eine vom Parlament unabhängige Regierung finanzielle Mittel, die er durch die Beute in einem weiteren Krieg gegen die Vereinigten Niederlande zu gewinnen hoffte. Dabei wurde er von den Ambitionen der Royal African Company, die niederländische Konkurrenz zu schädigen, unterstützt. Im Frühjahr 1665 kam es zum offenen Krieg. Nach den ersten Kämpfen entschieden die Niederländer im Juni 1666 die Viertageschlacht für sich und meinten, die Oberhand gewonnen zu haben. Wenige Wochen später jedoch gewann die englische Flotte im „St. James’s Day Fight“ die Seeherrschaft in der Nordsee zurück. In der Folge unterband die Royal Navy die niederländische Schifffahrt, und englische Kapitäne überfielen Orte entlang der Küste. Der bekannteste Fall ereignete sich am 20. August 1666, als Vizeadmiral Robert Holmes (1622–1692) das Dorf Ter Schelling auf der Insel Terschelling niederbrannte und in der nahegelegenen Vlie 140 bis 150 Handelsschiffe versenkte, die dort vor Anker lagen. Dieses Ereignis wurde in England als Holmes’s Bonfire bekannt und gefeiert. Danach zog sich die englische Flotte in eigene Gewässer zurück.
In den Generalstaaten wuchs die Kriegsmüdigkeit, da die Kosten den Staatshaushalt belasteten und das Vertrauen in den Verbündeten Frankreich geschwunden war. Nach den katastrophalen Verlusten der Handelsschiffe bei Terschelling eröffneten die Niederländer unter schwedischer Vermittlung Friedensverhandlungen. Doch auch die englischen Finanzen waren erschöpft. Der Krieg hatte nicht die erhofften Gewinne eingebracht, und das Parlament weigerte sich, neue Gelder für die Kriegführung zu bewilligen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ein Teil der bewilligten Gelder in die teure Hofhaltung des Königs geflossen war. Hinzu kamen die Verluste durch den stark beeinträchtigten Seehandel, die große Pestepidemie des Jahres 1665 und den „Großen Brand von London“. Gegen den Widerstand Admiral Moncks (1608–1670) befahl König Karl II. deshalb im Winter 1666/67, die großen Linienschiffe abzutakeln und außer Dienst zu stellen. Der Krieg sollte lediglich mit Kaperfahrern weitergeführt werden, um den niederländischen Handel zu schädigen.
Währenddessen hatten die englischen Gesandten auf dem Friedenskongress in Breda die Anweisung erhalten, einen möglichst vorteilhaften Abschluss zu erreichen. Vor dem Hintergrund der letzten Erfolge im Jahre 1666 zog Karl II. die Verhandlungen in die Länge, um den Krieg mit Gewinn zu beenden, obwohl er sein einziges Druckmittel, die Flotte, hatte abtakeln lassen. Die Vereinigten Niederlande waren nicht bereit, Konzessionen zu machen. Bald gerieten sie jedoch von anderer Seite her unter Druck. König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715) erklärte im Mai 1667 dem Königreich Spanien den Krieg und begann eine Invasion der Spanischen Niederlande, um sich diese anzueignen (siehe Devolutionskrieg). Die Vereinigten Niederlande waren nun gezwungen, die Friedensverhandlungen mit England umgehend zu einem Abschluss zu bringen, damit sie sich auf die Eindämmung der französischen Expansionsabsichten konzentrieren konnten. Zu diesem Zweck erschien es dem Ratspensionär Johan de Witt (1625–1672), dem Leiter der niederländischen Politik, notwendig, den Druck auf England durch einen direkten Angriff auf die Insel Großbritannien zu erhöhen.
Die niederländische Expedition
Die Idee einer Truppenlandung auf den britischen Inseln war nicht neu. Bereits nach dem Sieg der niederländischen Flotte in der Viertageschlacht waren derartige Pläne erarbeitet worden. Admiral Michiel de Ruyter (1606–1676) hatte im Sommer 1666 neben der Flotte ungefähr 6000 Soldaten mit an die Themsemündung geführt, um im Fall einer lokalen Erhebung der englischen Bevölkerung gegen Karl II. unterstützend eingreifen zu können. Doch eine solche Erhebung blieb aus, und die Transportschiffe wurden nach einem Sturm wieder in die niederländischen Häfen geschickt. Nur eine kurze Landung auf der Isle of Thanet war zustande gebracht worden.
Johan de Witt war im Sommer 1667 durch Spione gut über die finanziellen Engpässe der englischen Krone informiert und wusste auch von der Außerdienststellung der meisten englischen Linienschiffe. Er bereitete nun, trotz eigener finanzieller Anspannung, die Ausrüstung einer niederländischen Expedition vor, die direkte Anweisungen erhielt, die Themse oder den Medway hinaufzufahren und bei Rochester oder Chatham, den Zentren der englischen Seemacht, alle Schiffe und Magazine zu zerstören. Die vorgesehenen Schiffskontingente wurden in verschiedenen niederländischen Häfen gesammelt und vorbereitet, während im April ein Geschwader unter Admiral Van Ghent versuchte, in den Firth of Forth einzudringen. Dieses Unternehmen diente hauptsächlich der Deckung der Hauptflotte, die sich Anfang Juni 1667 bei der Insel Texel sammelte. Admiral de Ruyter segelte entlang der eigenen Küsten und nahm dabei die verschiedenen Kontingente auf. Schließlich bestand seine Flotte aus 64 Linienschiffen und Fregatten, 15 Brandern, 7 Begleitschiffen und 13 Galioten mit insgesamt 3330 Kanonen und ungefähr 17.500 Mann.
Verlauf der Operationen
Die niederländische Flotte erreichte die englische Küste bei Harwich am 7. Juni 1667. Am folgenden Tag segelte sie entlang der Küste nach Süden und ankerte vor der Themsemündung. Dabei kam sie in einen Sturm, der eine große Anzahl Schiffe dazu zwang, ihre Ankertaue zu kappen und sich treiben zu lassen. Dies betraf vor allem Truppentransportschiffe, die für die folgenden Operationen nicht mehr zur Verfügung standen. Bei einem Kriegsrat an Bord des Flaggschiffs wurde das weitere Vorgehen besprochen. Admiral de Ruyter hatte Bedenken, die gesamte Flotte den Flusslauf hinaufzuschicken, da er nicht genau über den Verbleib der kleineren englischen Flottenverbände unterrichtet war. Sollten diese unerwartet zurückkehren und die Themsemündung schließen, säße die niederländische Flotte in der Falle. Cornelis de Witt schlug vor, dass die Hauptstreitmacht selbst vor der Flussmündung bleiben und eine kleine Abteilung den Ärmelkanal überwachen sollte, während ein Geschwader unter Admiral Willem Joseph van Ghent (1626–1672) die Themse hinauf vorstoßen sollte. Dort sollte dieses Geschwader bei Gravesend einige westindische Handelsschiffe überfallen, von denen ein abgefangener norwegischer Händler berichtet hatte. Admiral van Ghents Verband bestand aus 17 kleineren Kriegsschiffen, vier Brandern, einigen Yachten und Galioten, sowie 1000 Marinesoldaten unter Oberst Dolman. Das Geschwader brach am Morgen des 19. Juni auf und besetzte zunächst Canvey Island. Dann drehte jedoch der Wind, und die englischen Handelsschiffe, die inzwischen vor den herannahenden niederländischen Kriegsschiffen gewarnt worden waren, entkamen flussaufwärts.
Der Angriff auf Sheerness
Cornelis de Witt drängte Admiral van Ghent nun, in den Medway einzudringen und die dort liegende englische Flotte anzugreifen. Die Zufahrt zu diesem Fluss wurde von einem noch im Bau befindlichen Fort bei Sheerness auf der Isle of Sheppey kontrolliert. Zur Verteidigung dieser Schlüsselposition standen den Engländern jedoch nur eine schwache schottische Besatzung, 16 Geschütze, die kleine Fregatte Unity und zwei Feuerschiffe zur Verfügung. Am 20. Juni griff Admiral van Ghent das Fort an. Die Unity feuerte nur eine einzige Breitseite ab und floh dann, verfolgt von einem niederländischen Brander, den Medway hinauf. Die niederländischen Schiffe nahmen in den folgenden zwei Stunden das Fort unter Beschuss und landeten schließlich 800 Marine-Soldaten unter Oberst Dolman an. Die Fortbesatzung floh, ohne den Landungstruppen ernsthaften Widerstand zu leisten, und die gesamte Isle of Sheppey wurde von Van Ghents Truppen besetzt. Der Kampf um diese wichtige Position hatte die Niederländer etwa 50 Männer gekostet. Der Wert der dabei erbeuteten 15 Kanonen und anderer Güter belief sich nach zeitgenössischen Schätzungen auf 400.000 Livres oder vier Tonnen Gold.
Englische Verteidigungsmaßnahmen
Der von den Vorgängen am 19. Juni unterrichtete George Monck, 1. Duke of Albemarle (1608–1670) erhielt den königlichen Befehl zur Organisation der Verteidigung. Monck inspizierte zunächst die Anlagen an der Themse beim Fort von Gravesend und begab sich am Morgen des 21. Juni nach Chatham am Medway. Dort fand er so gut wie keine organisierte Verteidigung vor. Bei Gillingham war eine eiserne Kette über den Flusslauf gezogen worden, die jedoch zu tief lag. Zu ihrem Schutz waren nur drei kleinere Schiffe vorhanden: die Unity, die Charles V. und die Matthias. Ansonsten herrschte Panik. Von den über 800 Dockarbeitern waren fast alle geflohen. Von dreißig Booten und Schiffen waren nur noch zehn aufzufinden, weil Flüchtlinge sie zur Flucht verwendet hatten oder die lokalen Beamten auf ihnen ihre persönliche Habe evakuieren ließen. Der Duke befahl den mitgebrachten Soldaten und Offizieren, am Ufer bei der Kette zwei Küstenbatterien zu errichten, aber selbst dazu fehlten die nötigen Werkzeuge. Um vor der Kette weitere Hindernisse zu schaffen, befahl Admiral Monck, dort Feuerschiffe zu versenken. Zwei Schiffe, die Norway Merchant und die Marmaduke, konnten erfolgreich versenkt werden, aber die große Sancta Maria, die auch als Hindernis bestimmt worden war, lief auf Grund. Vor Ort war auch das große Kriegsschiff Royal Charles, das jedoch vollkommen unbewaffnet war. Admiral Monck befahl, sie flussaufwärts in Sicherheit zu bringen, doch dazu fehlte das Personal. Als später der niederländische Angriff erfolgte, lag sie noch immer unbemannt am Ufer. Unter den über 1100 Arbeitern in den Docks von Chatham fanden sich kaum Hilfswillige. Ihr Sold war, da dem König die finanziellen Mittel fehlten, Monate im Rückstand, und nun verweigerten sie den Dienst.
Durchbruch bei Gillingham
Am Morgen des 22. Juni begannen die niederländischen Verbände ihren Vorstoß im Medway. Die Enge im Kanal zwang die Schiffe, hintereinander in einer Linie zu fahren. An der Spitze fuhr die Vrede unter dem Befehl ihres Kapitäns Jan van Brakel. Der Kapitän war zwei Tage zuvor unter Arrest gestellt worden, weil er seine Männer auf der Isle of Sheppey hatte plündern lassen. Um seine Reputation wiederherzustellen, hatte er nun freiwillig die Spitzenposition übernommen. Brakels Schiff kam bald in das Kreuzfeuer der drei englischen Verteidigungsschiffe und der beiden Küstenbatterien. Er steuerte jedoch, ohne zu feuern, direkt auf die Unity zu und versetzte ihr auf kürzeste Distanz eine Breitseite. Die englische Besatzung floh daraufhin vom Schiff und überließ es den Niederländern. Im Schutze des Pulverqualms kamen auch die beiden nachfolgenden Brander unter Brakels Kommando heran und versenkten in schneller Folge die englischen Schiffe Charles V. und Matthias. Die Eisenkette wurde anschließend beim ersten Rammversuch durchbrochen. Die niederländischen Schiffe hatten nun freie Fahrt den Medway hinauf, denn hinter der Kette war zwischen den versenkten englischen Schiffen eine breite Lücke, die eigentlich durch die Versenkung der Sancta Maria hatte geschlossen werden sollen. Die folgenden niederländischen Fregatten brachten durch ihr Feuer auch bald die englischen Küstenbatterien zum Schweigen, deren Feuer aufgrund baulicher Mängel ohnehin fast wirkungslos geblieben war. Als größte Beute des Tages fiel der niederländischen Flotte mit der Royal Charles eines der größten englischen Kriegsschiffe in die Hände, das den englischen Flottenbefehlshabern häufig als Flaggschiff gedient hatte.
Überfall bei Upnor Castle
Die Engländer trafen inzwischen bei Upnor Castle Verteidigungsvorbereitungen. Der Duke of Albemarle und der Kommandant der Docks Peter Pett versetzten die Geschütze der Burg in Gefechtsbereitschaft und ließen am jenseitigen Ufer eine weitere Geschützbatterie aufwerfen. Das Spannen einer weiteren Kette über den Fluss misslang. Man wollte nun daran gehen, die Kriegsschiffe in Richtung Chatham zu bringen, doch dazu fehlten wiederum die Mannschaften. Um die größten Kriegsschiffe wenigstens vor der Kaperung zu bewahren, befahl der Duke of Albemarle deren Versenkung in niedrigem Wasser, wo man sie später wieder heben könnte.
Am späten Nachmittag des 22. Juni wurde der niederländische Vormarsch durch den Stand der Gezeiten aufgehalten. An Bord der erbeuteten Royal Charles trafen sich Van Ghent, De Ruyter und De Witt, um das weitere Vorgehen zu beraten. Diese drei Kommandeure beschlossen, am folgenden Tag weiter flussaufwärts vorzustoßen und die Chatham Dockyards sowie die sich dort befindlichen großen Kriegsschiffe anzugreifen. Am 23. Juni, um die Mittagszeit, griffen die verbliebenen niederländischen Brander, geschützt von vier Fregatten und einer größeren Anzahl kleinerer Schiffe, die englischen Positionen an. Sie gerieten bald in das Kreuzfeuer zwischen Upnor Castle und der am gegenüberliegenden Flussufer hastig aufgeworfenen Batterie. Eine Abteilung Marine-Soldaten landete und ging zum Angriff auf das englische Munitionsmagazin bei Upnor Castle über, das sie erfolgreich sprengten, bevor sie sich wieder zurückzogen.
In der Zwischenzeit beschossen die niederländischen Schiffe die englischen Geschützbatterien. Noch während des Kampfes trat eine Windstille ein, welche De Ruyter und andere Offiziere dazu zwang, in Langboote umzusteigen, um von diesen aus die Aktionen ihrer Verbände zu dirigieren. Nach einem heftigen Feuerkampf gelang den niederländischen Brandern der Angriff auf die am Ufer liegenden drei großen Kriegsschiffe Loyal London (92 Kanonen), Royal Oak (76 Kanonen) und Royal James (82 Kanonen). Das Wasser, in dem diese Schiffe von den Engländern selbst versenkt worden waren, war nicht flach genug, um auch gegen einen Branderangriff Schutz zu bieten. Alle drei Schiffe fielen, nachdem ihre Rumpfbesatzungen geflohen waren, den niederländischen Brandern zum Opfer. Der Duke of Albemarle versuchte unterdessen, die verbliebenen Kriegsschiffe flussaufwärts unter den Schutz der Geschütze von Chatham zu schleppen. Er reihte kampfbereite Kriegsschiffe an den Ufern auf und sammelte Miliztruppen, um den niederländischen Vormarsch aufzuhalten. Tatsächlich gingen die niederländischen Schiffe nicht weiter gegen den sich versteifenden englischen Widerstand an. Am späten Nachmittag zogen sie sich mit der einsetzenden Flut bis nach Gillingham zurück. Dort machten sie die eroberten englischen Schiffe Royal Charles und Unity seetüchtig und verließen am 24. Juni den Medway. Die Verluste durch das Gefecht vor Upnor Castle beliefen sich auf englischer Seite auf ungefähr 500 Mann, während man auf Seiten der Niederländer von 50 bis 150 Mann ausgeht.
Folgen
Der niederländische Überfall auf die englischen Schiffe im Medway wurde für die Royal Navy zum größten Debakel des Krieges. Sie verlor dabei mehr Schiffe als in allen vorangegangenen Seeschlachten zusammen. Die Royal Charles und die Unity waren von Niederländern erobert und die Loyal London, Royal James, Royal Oak, Charles V, Matthias, Marmaduke, Sancta Maria sowie fünf weitere Feuerschiffe, zwei Ketschen, eine Fleute und ein kleineres Schiff versenkt oder verbrannt worden. Die Niederländer hatten im Gegensatz dazu insgesamt zehn Brander zum Einsatz gebracht. Hinzu kamen weitere indirekte Verluste der Royal Navy. So war die Vanguard bei dem Versuch, sie auf Grund zu setzen, abgetrieben und bei Rochester schließlich so verunglückt, dass sie nicht mehr gehoben werden konnte. Weiter nördlich hatte Prince Rupert jenseits von Gravesend die Themse für einen eventuellen niederländischen Vorstoß sperren wollen, indem er dort die Golden Phoenix, House of Sweeds, Welcome und Leicester versenkte. Es stellte sich heraus, dass dies eine pure Verschwendung wichtiger Kriegsschiffe war, da die Niederländer nie weiter als bis Gravesend vorstießen. Insgesamt veränderten diese Verluste – vor allem die der drei großen Kriegsschiffe – die strategische Balance zwischen England und den Vereinigten Niederlanden über Jahre hinaus zugunsten der Niederländer.
Nach diesem Erfolg konnten die Niederländer ihre uneingeschränkte Überlegenheit zur Geltung bringen. Ein Teil der niederländischen Flotte ging gegen die englischen Handelsschiffe an der Ärmelkanalküste vor, während ein anderer unter Admiral Van Nes die Themse weiterhin für den englischen Schiffsverkehr blockierte. In kleineren Operationen landeten noch in den folgenden Wochen niederländische Truppen an einigen Orten oder fuhren Kriegsschiffe die Themse hinauf.
In London führten die Ereignisse an den Ufern des Medway zu einem schweren Wirtschaftseinbruch und zu Panik in der Bevölkerung. Gerüchte besagten, Chatham stünde ebenso in Flammen wie Gravesend, Harwich, Queenborough, Colchester und Dover. Es wurde von niederländischen Landungen bei Portsmouth, Plymouth und Dartmouth berichtet und sogar behauptet, der König sei geflohen; die Papisten seien dabei, die Macht zu übernehmen. Selbst eine bevorstehende französische Landung wurde erwartet.
Die Niederländer hatten in der Themse eine Position eingenommen, durch die sie London vom Handel abschnitten. Besonders die Kohlelieferungen aus Tyne fielen aus, und bald verzehnfachte sich der Kohlepreis. Die englische Flotte war durch den Überfall geschwächt, und es stand kaum Geld für ihre Auffrischung zur Verfügung. König Karl II. blieb deshalb kaum etwas anderes übrig als seinen Abgesandten bei der Friedenskonferenz in Breda Anweisung zu geben, den Vertrag so bald wie möglich zum Abschluss zu bringen. Die Unterzeichnung des Friedens von Breda erfolgte am 31. Juli 1667. Am 26. August gab die niederländische Flotte die Blockade der englischen Häfen und der Themsemündung vertragsgemäß auf.
Rezeption
In den Niederlanden waren die Generalstaaten täglich durch Briefe Cornelis de Witts über den Fortgang der Operationen informiert worden. Am 27. Juni erreichte schließlich die Nachricht vom Sieg die Stadt Breda, wo in allen Kirchen ein Dankgottesdienst zelebriert wurde. Die Berichte wurden gedruckt und in die verschiedenen Provinzen verschickt mit der Aufforderung, am 6. Juli in allen Kirchen landesweit einen „feyerlichen Danck- und Bet-Tag“ zu veranstalten. Am Abend dieses Tages wurden Freudenfeuer entzündet, die Kirchenglocken geläutet und Salutschüsse abgefeuert. In den folgenden Wochen zirkulierten bald Kupferstiche wie die von Romeyn de Hooghe (1645–1708), die auf Basis der publizierten Berichte das Geschehen im Medway illustrierten. Dem folgten nach weiteren Monaten Gemälde bekannter Künstler wie Willem Schellinks (1627–1678) und Pieter Cornelisz van Soest. Cornelis de Witt selbst gab bei Jan de Baen (1633–1702) ein Porträt von sich in Auftrag, das ihn als Sieger der Schlacht im Medway darstellen sollte (siehe: oben). Das Gemälde wurde noch im selben Jahr fertiggestellt und im Rathaus von Dordrecht aufgehängt.
Die eroberte Royal Charles wurde in Hellevoetsluis öffentlich ausgestellt. Besuchergruppen, darunter auch ausländische Fürsten, besichtigten das ehemalige Flaggschiff, welches den Namen des englischen Königs trug. Karl II. protestierte dagegen, da er dies als eine Form der Beleidigung auffasste. Bei Beginn des folgenden Dritten Englisch-Niederländischen Krieges (1672–1674) führte er unter anderem diesen Sachverhalt als einen Kriegsgrund an. Das Schiff wurde 1673 versteigert und anschließend demontiert. Das metallene Heckstück mit den englisch-königlichen Insignien wurde jedoch aufbewahrt und befindet sich heute im Rijksmuseum von Amsterdam.
Auf englischer Seite wurde zunächst in einigen Publikationen wie der London Gazette versucht, das Ausmaß der Niederlage herunterzuspielen, doch, wie zeitgenössische Berichte beweisen, gelang dies kaum. So zeigte sich bereits Samuel Pepys von den Verlusten gut unterrichtet. Er schilderte in seinem Tagebuch die Ausmaße der in London ausgebrochenen Panik und sah die Ursache der Katastrophe in der Unterbezahlung der englischen Seeleute. Der englische Dichter Andrew Marvell (1621–1678) nahm die Niederlage im September 1667 zum Anlass einer beißenden Satire in seinem Gedicht „Last Instructions to a Painter“ (siehe oben). Auch Rudyard Kipling (1865–1936) griff das Thema 1911 in dem Gedicht „The Dutch on the Medway“ auf, in dem er vor allem König Karl II. und dessen Verschwendungssucht für das Desaster verantwortlich machte (siehe: Auszug Kasten rechts).
Die Geschichtsschreibung stimmt in der Einschätzung der englischen Niederlage weitgehend überein. Der Historiker George Franks urteilte 1942, die Katastrophe vom Medway sei für die Royal Navy „die schwerste Niederlage, die sie je in ihren Heimatgewässern erlitt.“ Alvin Coox sprach 1949 von „einer schwärenden nationalen Demütigung“. Der deutsche Marinehistoriker Otto Groos teilte diese Einschätzung 1930: „Niemals in seiner ganzen Geschichte“ sei England „so gedemütigt worden.“ Der britische Historiker Charles Ralph Boxer sah 1974 im Raid on the Medway neben der Schlacht am Majuba Hill 1881 und dem Fall von Singapur 1942 eine von Großbritanniens demütigendsten Niederlagen.
Literatur
Charles Ralph Boxer: The Anglo-Dutch Wars of the 17th Century. Her Majesty’s Stationery Office, London 1974.
Alvin Coox: The Dutch Invasion of England 1667. In: Military Affairs, Band 13, 1949, Nr. 4, S. 223–233.
Frank L. Fox: A distant Storm – The Four Days’ Battle of 1666, the greatest sea fight of the age of sail. Press of Sail Publications, Rotherfield/East Sussex 1996, ISBN 0-948864-29-X.
Roger Hainsworth, Christine Churchers: The Anglo-Dutch Naval Wars 1652–1674. Sutton Publishing Limited, Thrupp/Stroud/Gloucestershire 1998, ISBN 0-7509-1787-3.
James R. Jones: The Anglo-Dutch Wars of the Seventeenth Century. Longman House, London / New York 1996, ISBN 0-582-05631-4.
Brian Lavery: The Ship of the Line. Band 1, Conway Maritime Press, 2003, ISBN 0-85177-252-8.
Charles Macfarlane: The Dutch on the Medway. James Clarke & Co., London 1897; .
N. A. M. Rodger: The Command of the Ocean. A Naval History of Britain 1649—1815. W. W. Norton & Company, New York 2004, ISBN 0-393-32847-3.
P. G. Rogers: The Dutch on the Medway. Oxford University Press, Oxford 1970, ISBN 0-19-215185-1.
Diary of Samuel Pepys. Volltext (englisch, Wikisource)
Weblinks
Deruyter.org (englisch) auch deruyter.org (PDF; 996 kB)
The Dockyard story – Pepys. Sheerness Dockyard Preservation Trust, 2017 (englisch)
Einzelnachweise
Schlacht in den Englisch-Niederländischen Seekriegen
Seeschlacht (17. Jahrhundert)
Konflikt 1667
Schlacht in der britischen Geschichte
Schlacht in der niederländischen Geschichte |
3592667 | https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%B6rdlicher%20Felsenpython | Nördlicher Felsenpython | Der Nördliche Felsenpython (Python sebae), auch kurz Felsenpython, zählt zur Familie der Pythons (Pythonidae) und wird dort in die Gattung der Eigentlichen Pythons (Python) gestellt. Er unterscheidet sich durch Beschuppungs- und Musterungsmerkmale vom Südlichen Felsenpython. Mit gesicherten Längen über fünf Meter gehört der Nördliche Felsenpython zu den größten Schlangen der Welt. Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich in Afrika südlich der Sahara von der Westküste bis zur Ostküste und südlich bis in den Norden von Angola. Hier bewohnt er eine Vielzahl tropischer und subtropischer Landschaften in nicht zu großer Entfernung von Gewässern. Er ist sehr anpassungsfähig und besiedelt als Kulturfolger auch landwirtschaftliche Nutzflächen und Siedlungen.
Die Nahrung besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Wirbeltiere. In Gebieten mit hohen Säugerbeständen erbeuten große Individuen relativ häufig kleine Antilopen, die selten sogar über 30 Kilogramm schwer sein können. Der Python tötet seine Beute durch Erwürgen.
Beschreibung
Körperbau und Gebiss
Juvenile Tiere sind recht schlank gebaut, werden jedoch mit zunehmendem Alter von immer kräftigerer Statur. Bei großen adulten Nördlichen Felsenpythons plattet sich der zylindrische Körper geringfügig ab. Der breite, dreieckige, leicht abgeflachte, große Kopf ist deutlich vom Hals abgesetzt. Die Schnauze ist auf der Oberseite gegen die Spitze hin abgerundet. Ihr sitzen die Nasenlöcher schräg zwischen Kopfoberseite und Kopfseite auf. Der spitz zulaufende Greifschwanz macht bei Weibchen zwischen 9 und 14 % und bei Männchen zwischen 11 und 16 % der Gesamtlänge aus.
Das Gebiss besteht aus dünnen, länglichen Zähnen, die durchgehend spitz und zum Rachen hin gebogen sind und von der Maulspitze zum Rachen hin zunehmend kleiner werden. Am vorderen Teil der oberen Mundhöhle befindet sich das Zwischenkieferbein mit zwei kleinen Zähnen. Die Oberkieferknochen tragen jeweils 13 bis 16 Zähne. Gegen die Mitte der oberen Mundhöhle liegen parallel zu den Oberkieferknochen vorne das Gaumenbein und weiter hinten das Flügelbein. Das erstgenannte hat 6 bis 7 und das andere 8 bis 9 Zähne. Die Unterkiefer tragen jeweils 13 bis 17 Zähne.
Beschuppung
Die Kopfoberseite ist charakteristischerweise von großen Schuppen bedeckt: Die Nasalia (Nasenschilde) sind voneinander durch ein Paar viereckiger Internasalia (Zwischennasenschilde) getrennt. Das anschließende markant ausgebildete Paar Präfrontalia (Vorstirnschilde) wird durch eine Reihe weniger, unregelmäßiger Schilde vom dahinter folgenden großen Paar Frontalia (Stirnschilde) separiert. Letzteres Paar kann gelegentlich partiell oder komplett fusioniert sein. Das Supraoculare (Überaugenschild) ist groß und vereinzelt zweigeteilt. Seitlich befinden sich zwischen Auge und Nasenloch mindestens drei bis vier Lorealia (Zügelschilde) von unterschiedlicher Größe sowie zwei Präocularia (Voraugenschilde), von denen das untere klein und unregelmäßig geformt ist. Postocularia (Hinteraugenschilde) existieren beidseits zwei bis vier. Das Rostrale (Schnauzenschild) hat, wie bei den meisten anderen Pythons auch, zwei tiefe Labialgruben. Von den 13 bis 16 Supralabialia (Oberlippenschilden) sind das zweite und dritte mit feinen Labialgruben versehen. Die 19 bis 25 Infralabialia (Unterlippenschilde) werden zur Schnauzenspitze hin zunehmend kleiner. Die zwei vordersten und die drei bis vier hintersten tragen feine Labialgruben. Die Anzahl der Ventralia (Bauchschilde) variiert je nach Herkunft der Individuen zwischen 265 und 283, die Anzahl der dorsalen Schuppenreihen in der Körpermitte zwischen 76 und 98. Von der Kloake bis zur Schwanzspitze finden sich 62 bis 76 paarige Subcaudalia (Schwanzunterseitenschilde). Das Anale (Analschild) kann ungeteilt oder geteilt sein.
Färbung
Die Grundfarbe reicht von gelb, beige, hellbraun bis grau. Auf dem Rücken verlaufen große, unregelmäßige, von Individuum zu Individuum im Aussehen variierende braune Sattelflecken. Sie besitzen schwarze Ränder und werden ringsum durch eine breite helle Aussparung von der Grundfarbe abgegrenzt. Auf der Flankenseite haben die Sattelflecken teilweise Längsverbindungen zueinander und schließen so zahlreiche große, ausgedehnte, helle Areale auf dem Rücken ein. Auf den Flanken verlaufen alternierend zur Rückenmusterung braune, rechteckige Flecken mit aufgehelltem Zentrum. In der hinteren Körperhälfte werden die Flankenflecken zunehmend dünner und verschmelzen häufig mit den Sattelflecken. Bei den meisten Tieren bleibt zwischen der dunklen Musterung der Schwanzoberseite zentral eine lange, hellbraune streifenförmige Aussparung frei. Die Bauchseite ist gräulich bis gelblich und mit dunklen Punkten versehen.
Der Kopf ist kontrastreich gezeichnet. Auf den Kopfseiten verläuft bei den meisten Tieren ein heller Streifen von unterhalb der Nase schräg nach hinten auf den zweiten Oberlippenschild. Dahinter folgt zwischen Nase und Auge ein breiter dunkler Fleck. Anschließend ziehen zwei weiße Bänder unterhalb des Auges bis zur Oberlippe und schließen in ihrer Mitte ein dunkles Dreieck ein. Hinter dem Auge bis zum Maulwinkel verläuft ein dunkelbrauner Streifen, der typischerweise breiter als der Augendurchmesser ist. Die Kopfoberseite trägt ein pfeilspitzenförmiges, braunes Muster, das von der Nase über die Augen bis zum Nacken zieht und in seiner Mitte einen hellen Punkt aufweist. Die Unterlippe trägt meist dunkle Flecken. Der Rest der Kopfunterseite ist weiß, erst hinter der Kehle grenzen kräftige dunkle Flecken der Halsunterseite an. In der bräunlichen Iris ist die schwarze Pupille gut erkennbar.
Länge
Nördliche Felsenpythons erreichen durchschnittlich eine Gesamtlänge zwischen 2,7 und 4,6 Meter. Dies bestätigt eine Studie in Südost-Nigeria, wo die durchschnittliche Kopf-Rumpf-Länge von 39 adulten Männchen im Mittel 2,47 Meter betrug. Die 51 untersuchten adulten Weibchen waren mit einer durchschnittlichen Kopf-Rumpf-Länge von 4,15 Meter signifikant größer. Das größte unter ihnen war zirka 5 Meter lang. Gesicherte Angaben zur maximalen Körperlänge dieser Art gibt es nicht. Gemäß Villiers (1950) soll 1932 in Bingerville an der Elfenbeinküste ein Individuum mit 9,8 Meter Gesamtlänge erlegt worden sein. Nach Branch (1984) und Spawls et al. (2002) handelt es sich dabei aber um eine unseriöse, unglaubwürdige Überlieferung. Daneben existieren weitere unbelegte Angaben von über 7 Meter langen Tieren. Wiederholt wurden auch massiv überdehnte Häute für Längenrekorde gehalten. So hat Loveridge 1927 in Ostafrika eine 9,1 Meter lange Haut vermessen. Wenngleich diese Haut vermutlich um mehr als ein Viertel gedehnt war, könnte sie doch ursprünglich einem Nördlichen Felsenpython von über 6,5 Meter Gesamtlänge gehört haben. Der längste bisher offenbar seriös vermessene Nördliche Felsenpython stammt aus Uganda und hatte laut Pitman (1974) eine Gesamtlänge von 5,5 Meter (18 ft).
Verbreitungsgebiet
Das Verbreitungsgebiet des Nördlichen Felsenpythons reicht südlich der Sahara von der westafrikanischen Küste nach Osten über 6600 Kilometer fast bis zum sogenannten Horn der Ostküste. In Westafrika wurde die Art in Südmauretanien, Senegal, Gambia, Guinea-Bissau, Guinea, Sierra Leone, Liberia, der Elfenbeinküste, Südmali, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, Südniger und Nigeria nachgewiesen. In Zentralafrika ist sie im Südtschad, in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, Äquatorialguinea, Gabun, der Republik Kongo, der Demokratischen Republik Kongo und Nordangola zuhause. Im Osten findet man diesen Python im Südsudan, in Äthiopien, Somalia, Kenia, Uganda, Ruanda, Burundi und Tansania.
Es wird vermutet, dass sich der Südliche Felsenpython einst nordwärts entlang des westlichen und östlichen Tales des Großen Afrikanischen Grabenbruchs in vom Nördlichen Felsenpython dominierte Areale ausgebreitet hat. In Kenia überschneiden sich 40 Kilometer nordwestlich von Mwingi heute noch immer die Gebiete der beiden Arten. Auch in Burundi und im Osten der Kivu-Provinz der Demokratischen Republik Kongo sind Reliktpopulationen vorhanden. In Tansania besteht eine extensive Überlappung der Verbreitungsgebiete der beiden Arten auf etwa 900 Kilometer. In Angola weisen bisherige Untersuchungen auf eine vollständige räumliche Trennung der beiden Arten hin.
Lebensraum
Der Nördliche Felsenpython bewohnt eine Vielzahl unterschiedlicher Habitate der Tropen und Subtropen, darunter Mangrovenwald, Buschland, permanent überfluteten Sumpfwald, sekundären Sumpfwald, dichten und aufgelockerten Trockenwald, Grasland und Sandebenen. Als Kulturfolger bewohnt er oft Maniok-, Ananas-, Süßkartoffel- und Ölpalmplantagen sowie Felder. Ziemlich häufig lässt er sich auch relativ unauffällig an Stadtrandsiedlungen nieder. Voraussetzung für eine Besiedlung aller Lebensräume ist stets Gewässernähe. So bewohnt er meist Areale entlang von permanenten Weihern, Seen, Bächen, Flüssen und teilweise auch Brackwasser. In Süd-Mauretanien lebt er jedoch auch in Feuchtgebieten, wo Gewässer jährlich komplett austrocknen können und dann nur noch fleckenweise Ufervegetation als Rückzugsgebiete zur Verfügung steht. Sehr feuchte Gebiete werden von dieser Schlange gemieden. So ist diese Spezies im Regenwald kaum zu finden.
In Ruanda erreicht die Art Höhenlagen von mehr als 1350 Meter über Meer und in Uganda ist sie sogar schon auf 2250 Meter über Meer nachgewiesen worden. In Kenia und Nord-Tansania, wo sich die Verbreitung des Nördlichen- und Südlichen Felsenpythons überschneiden, ist die nördliche Art primär in niedrigeren Höhenlagen präsent.
Verhalten
Der Nördliche Felsenpython ist vorwiegend bodenbewohnend und kann sich hier selbst als großes erwachsenes Tier noch ziemlich zügig fortbewegen. Als guter Kletterer hält er sich regelmäßig auch auf Bäumen auf, um zu jagen oder Raubfeinden auszuweichen. Insbesondere junge und subadulte Nördliche Felsenpythons von unter 1,8 Meter Gesamtlänge sind oft in Bäumen und Sträuchern zu finden. Erwachsene Tiere gelten als weniger häufig kletternd. Adulte Pythons mit einer Gesamtlänge von über 2,5 Meter sind gute Schwimmer und verbringen oft längere Perioden im Wasser. Über das Vorkommen von Jungtieren in Gewässern liegen bisher keine Erkenntnisse vor. Am Victoriasee legen diese Pythons gelegentlich beachtliche Strecken frei schwimmend zwischen Inseln und dem Festland zurück. Des Weiteren sind sie vermutlich fähig, selbst im Meer mehrere Kilometer schwimmend zurücklegen. Hierdurch wird beispielsweise das Vorkommen auf der küstennahen Chula-Insel der Bajuni-Inseln in Süd-Somalia erklärt. In Uganda wird das Wasser insbesondere während der heißen Tage der Trockenzeit genutzt, um den Körper im seichten Wasser, nur mit den Nasenlöchern über die Wasseroberfläche ragend, zu kühlen. Flüsse und Bäche werden von dieser Schlange auch benutzt, um auf der Suche nach Beute in besiedeltes Gebiet vorzudringen. Das Gewässer gilt dabei als Ausgangspunkt für die Futtersuche und beim Rückzug als schützendes Versteck.
In Gebieten wie Südost-Nigeria, wo das Klima jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt, zeigt die Art ein über das Jahr hinweg variables Aktivitätsmuster. Aktivitätsmaxima werden während der Trockenzeit im Januar und während der letzten Phase der Regenzeit von August bis September beobachtet. In den äquatorial gelegenen Ländern Kenia und Uganda werden diese Pythons als überwiegend dämmerungs- und nachtaktiv beschrieben, wobei sie gelegentlich auch tagsüber beim Sonnen oder Futtersuchen beobachtet werden. Eine genauere Untersuchung im etwas nördlicheren Südost-Nigeria hat ergeben, dass Nördliche Felsenpythons in menschenfernen Arealen hauptsächlich tagaktiv sind. Die meisten Tiere werden hier am Nachmittag zwischen 15:00 bis 17:30 Uhr beobachtet. In stark bewaldeten Gebieten, besonders entlang von Bächen und Flüssen, ist die Art vom frühen Morgen bis zum Mittag am bewegungsfreudigsten. Hingegen sind Nördliche Felsenpythons in der Nähe von menschlichen Siedlungen und Stadtgebieten vorwiegend dämmerungs- und nachtaktiv mit Aktivitätsmaxima während der Abenddämmerung.
Während der inaktiven Phasen sucht sich diese Schlange Versteckplätze beispielsweise im dichten Gebüsch, in Ufervegetation, im Wasser, auf Bäumen, in Felsspalten, in hohlen Baumstämmen und verlassenen Höhlen von Warzenschweinen, Erdferkeln oder Stachelschweinen. Dabei ringelt sich der Python meist zu einem Knäuel zusammen, wobei sein Kopf zuoberst ruht.
Angaben zu Aktionsräumen und Habitatwechseln wurden bisher nur bei einem Individuum in Südwest-Kamerun erhoben. Es handelte sich um ein über ein Jahr hinweg mittels Peilsender beobachtetes Weibchen mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 2,4 Meter und einer Masse von 3,7 Kilogramm. Dieses Tier bewegte sich primär in einem Kernareal von 2,4 Hektar, entfernte sich meist nicht weiter als 10 Meter von Gewässern und wechselte häufig und wiederholt zwischen mehreren unterschiedlichen Lebensräumen. Es wurde sowohl im Wald, am und im Wasser, auf Farmland als auch in stark besiedeltem Gebiet, beispielsweise unter einer aktiv genutzten Holzbrücke, gesichtet.
Ernährung
Juvenile Nördliche Felsenpythons wandern auf der Suche nach Beute oft weit umher und klettern häufig auf Bäume, um Nester zu erreichen. Mit zunehmender Größe tendiert die Art immer mehr zur Lauerjagd, wobei die Beute oft aus Verstecken am Rande von Wildtierpfaden oder gut getarnt am Ufer von Gewässern abgepasst wird. Wie alle Riesenschlangen verbeißt sich der Nördliche Felsenpython dann in die Beute und erstickt sie durch Umschlingen.
Das Beutespektrum besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Wirbeltiere, darunter hauptsächlich Säugetiere und Vögel, zu einem geringen Teil auch Reptilien und Amphibien. Die Beutegröße korreliert dabei mit der Körpergröße des Pythons. Eine Studie in Süd-Nigeria hat gezeigt, dass hier in natürlichen Habitaten von Pythons mit einer Gesamtlänge unter 1,5 Meter Mäuseartige, Rotschenkelhörnchen, Sonnenhörnchen und Flughunde gefressen werden. In Individuen unter 2,5 Meter wurden Ginsterkatzen, Monameerkatzen, Riesenhamsterratten, Rohrratten und Ducker nachgewiesen. Tiere von über 2,5 Meter Gesamtlänge erbeuteten neben den Beutetieren der unter 2,5 Meter langen Individuen auch Stumpfkrokodile und Nilwarane.
Des Weiteren frisst die Art auch mehrere Froscharten, diverse Vögel wie Afrikanische Schlangenhalsvögel, Kormorane, Blutschnabelweber, Blaustirn-Blatthühnchen, Afrikanische Zwergenten, Helmperlhühner, Webervögel, Felsenrebhühner, Pelikane und Nilgänse und Säugetiere wie Springhasen, Stachelschweine, Vertreter Echter Schweine, darunter junge Warzenschweine, Husarenaffen, Westafrikanische Stummelaffen und Äthiopische Grünmeerkatzen. In Gebieten mit hohen Säugerbeständen sind große Nördliche Felsenpythons auch signifikante Prädatoren von Antilopen, die bei Individuen ab Gesamtlängen von 4,5 Meter mitunter sogar über 30 Kilogramm schwer sein können. Dazu zählen Thomson-Gazellen, Jungtiere von Impalas, Buschböcken, Sitatungas und Riedböcken sowie Kitze von Kobs und Wasserböcken.
In bewohnten Gebieten Süd-Nigerias ernähren sich Nördliche Felsenpythons mit einer Gesamtlänge von unter 2 Meter bevorzugt von Ratten, solche ab 2 Meter primär von Hühnern und Individuen mit einer Gesamtlänge von über 3 Meter selten auch von Hunden und Ziegen. Pythons, die in bewohnten Gebieten jagen, erreichen durch dieses Beuteangebot gewöhnlich eine kleinere maximale Gesamtlänge als Tiere in unberührten Arealen.
Fortpflanzung
Aufgrund des großen Verbreitungsgebietes unterliegt die Fortpflanzungszeit des Nördlichen Felsenpythons offenbar geografischer Variation. Auf Höhe des Äquators rund um den Victoriasee pflanzen sich diese Pythons auf Grund der geringen saisonalen Klimaschwankungen über das ganze Jahr hinweg fort, während aus den nordwestlicher gelegenen Ländern Kamerun und Gambia von einer auf die kühlen Wintermonate beschränkten Paarungszeit berichtet wird.
In Gambia konnten dabei schon Gruppen von bis zu 6 Tieren beobachtet werden, die sich untertags dicht aneinander schmiegten und übereinander hinwegkrochen. Um was für eine Geschlechterverteilung es sich dabei gehandelt hat, konnte nicht eruiert werden. Gefangenschaftsbeobachtungen zufolge liefern sich Nördliche Felsenpythonmännchen in dieser Zeit Kommentkämpfe, wobei die Kontrahenten ihre Köpfe anheben, gegenseitig ihre Hälse umschlingen und versuchen, den Gegner zu Boden zu drücken. Dies kann auch in ausgedehntes Körperumwickeln mit Zudrücken sowie Kratzen mittels Afterspornen übergehen.
In Gefangenschaft dauert die Tragzeit zwischen 30 und 120 Tage. Für die Eiablage, die beispielsweise in Togo mit der Regenzeit korreliert, sucht sich das Weibchen ein schattiges, geschütztes Versteck in der Nähe eines Gewässers. Oft dienen dazu verlassene Höhlen von Säugetieren, alte Termitenhügel und tiefe Felsspalten. Wenn solche Nistorte fehlen, werden gelegentlich auch Gebüsche, dichtes Gras und Laubhaufen akzeptiert.
Die Gelegegröße ist stark von der Größe und Verfassung des Weibchens abhängig und umfasst gewöhnlich zwischen 30 und 50 weißliche Eier. Aus Kamerun ist sogar ein Gelege mit 73 Eiern bekannt und im Londoner Zoo soll ein sehr großes Weibchen 1861 sogar an die 100 Eier gelegt haben. Die Gelege aus durchschnittlich 90 × 60 Millimeter messenden, etwa 150 Gramm schweren Eiern werden vom Weibchen zu einem Haufen geformt, umringelt, vor Nesträubern beschützt und nur sporadisch verlassen, um zu trinken. Durch die Schlingenanordnung werden Feuchtigkeit und Wärme reguliert. Ob Nördliche Felsenpythons zum Muskelzittern befähigt sind und dadurch die Inkubationstemperatur beeinflussen können, wird kontrovers diskutiert. Einiges deutet darauf hin, dass die Art im Gegensatz zum Südlichen Felsenpython dazu im Stande ist.
In Kenia dauert die Brutzeit zirka 60 Tage, in Uganda 90 Tage und in Togo wird von 70 bis 100 Tagen berichtet. Eier, die künstlich bei einer konstanten Temperatur von 28 bis 32 °C und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 90 bis 100 % inkubiert wurden, benötigen 50 bis 75 Tage und solche unter niedrigeren Temperaturen bis zu 100 Tage bis zum Schlupf. Die Schlüpflinge messen meist 50 bis 65 Zentimeter, wiegen 75 bis 140 Gramm und sind heller und deutlicher gemustert als adulte Tiere. Bei einem Gelege am Tanganjikasee in Tansania blieben Jungtiere nach ihrem Schlupf noch mehrere Tage am Nistplatz in einem verlassenen Schuppentierbau zurück, während die Mutter schon einen Tag später das Nest verließ. In Paaren bis kleinen Gruppen wärmten sich die Jungtiere täglich, nicht weiter als vier Meter von der Höhle entfernt, ausgiebig an der Sonne. Nach der ersten Häutung nach zirka sechs Tagen verließen dann die ersten Jungtiere das Nest.
In Gefangenschaft wird die Geschlechtsreife mit drei bis fünf Jahren und einer Gesamtlänge zwischen zwei und drei Meter erreicht. In Südost-Nigeria trat die Geschlechtsreife bei einer durchschnittlichen Kopf-Rumpf-Länge von 1,70 Metern ein.
Alter und Lebenserwartung
Angaben zum Durchschnitts- und Maximalalter freilebender Individuen sind unbekannt. In Gefangenschaft werden Nördliche Felsenpythons regelmäßig 20 bis 25 Jahre alt. Im San Diego Zoo hat ein Exemplar 27 Jahre, 4 Monate und 20 Tage gelebt.
Gefährdung
In einigen Ländern seines Verbreitungsgebietes wird der Nördliche Felsenpython für die Ledergewinnung gefangen und verarbeitet. Gewisse Volksstämme nutzen die Art auch als Nahrungsquelle. Daneben existiert, zumindest in Nigeria, ein kommerzieller Handel mit dem Fleisch und ein internationaler Handel mit den Innereien für die traditionelle Medizin. In kleinen Mengen werden auch lebendige Nördliche Felsenpythons exportiert. In Togo haben sich beispielsweise Reptilienfarmen etabliert. Hier werden primär trächtige Weibchen aus der Natur gefangen, bis zur Eiablage in Gehegen untergebracht und dann wieder ausgesetzt. Die so gewonnenen Eier werden künstlich ausgebrütet und die geschlüpften Jungtiere verkauft.
Die zunehmende Dürre der sich stetig ausbreitenden Sahelzone schränkt das Verbreitungsgebiet des Nördlichen Felsenpythons immer mehr ein. Hinzu kommt die fortlaufende Umstrukturierung und Zerstörung von Habitaten durch den Menschen. Durch die stetig wachsende Ölindustrie Süd-Nigerias werden beispielsweise die vom Nördlichen Felsenpython bevorzugt bewohnten Mangrovenwälder ausgebeutet. Sprengungen, der Bau von Kanälen, Straßen und Pipelines beschränken und zerstören dieses Habitat fortlaufend. Obwohl dieser Python sehr anpassungsfähig ist und viele vom Menschen veränderte Areale bewohnen kann, ist sein Bestand in einigen Ländern rückläufig.
Als gefährdet wird der Nördliche Felsenpython im Washingtoner Artenschutzübereinkommen in Anhang II gelistet und unterliegt daher Handelsbeschränkungen.
Systematik
Der Nördliche Felsenpython erhielt zu Ehren des deutsch-holländischen Naturaliensammlers Albert Seba seinen wissenschaftlichen Namen Python sebae.
Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den großen afrikanischen Pythons: Python sebae (Gmelin 1789), Python natalensis (Smith 1840) und Python saxuloides (Miller & Smith 1979) waren lange Zeit ungeklärt. Es mangelte an Belegexemplaren für die einzelnen Arten, insbesondere von Orten, wo sie in Sympatrie oder Parapatrie vorkommen. Daher wurden diese Pythons im 20. Jahrhundert größtenteils nur als eine monotypische Art anerkannt und unter dem Namen Python sebae geführt. Anhand einer großen Datensammlung grenzte Broadley 1984 Felsenpythons mit nördlicherem und südlicherem Verbreitungsgebiet voneinander ab, primär auf Basis der Fragmentierungsstärke der Kopfoberseitenschilde und auf Grund der Musterung der Kopfseite. Wegen allfälliger Hybridisierungen in Überschneidungsgebieten wies er den beiden Gruppen nur Unterartstatus zu und benannte die nördliche Form mit Python sebae sebae und die südliche Form mit Python sebae natalensis. Python saxuloides stellte sich als eine etwas abweichende kenianische Population von Python sebae natalensis heraus und wurde mit letzterem gleichgesetzt. 1999 wies Broadley den beiden Unterarten Artstatus zu, da neue präzisere Daten aus Gebieten mit extensiver Sympatrie in Burundi, Kenia und Tansania auf keinerlei Hybridisierungen hinwiesen. 2002 wurde jedoch von Mischlingen in der Nähe der tansanischen Stadt Morogoro berichtet. Dennoch gilt die Einteilung in zwei separate Arten auf Grund der momentanen Datenlage noch als zutreffend. Es müssten weitere Belege für Hybridisierungen folgen oder eine genetische Analyse negativ ausfallen, um den Artstatus rückgängig zu machen.
Unter den Eigentlichen Pythons sind der Nördliche und der Südliche Felsenpython am nächsten verwandt mit dem in Süd- und Südostasien beheimateten Tigerpython. Dies geht aus einer neueren molekulargenetischen Untersuchung hervor, die den Nördlichen Felsenpython und den Tigerpython einschließt.
Nördlicher Felsenpython und Mensch
Verhalten gegenüber Menschen
Wildlebende Nördliche Felsenpythons meiden die Konfrontation mit Menschen. Kommt ihnen ein Mensch zu nahe, versuchen sie gewöhnlich in ein Versteck oder ins Wasser zu flüchten. Bei größerer Beunruhigung, besonders wenn sie in die Enge getrieben werden, gehen gewisse Tiere jedoch schnell zur Abwehr über und beißen mit ihren langen Vorderzähnen heftig und wiederholt zu, was zu tiefen infektiösen Wunden führt. Einige Individuen lassen Menschen aber auch sehr nahe an sich herankommen und erstarren dabei nur oder kriechen langsam weg. Es existieren wenige Berichte, wonach der Nördliche Felsenpython in der Wildnis Menschen attackiert und getötet haben soll. Seriöse Belege hierfür gibt es jedoch nicht.
Kulturelles
Schon in der Antike wurde dem Nördlichen Felsenpython Aufmerksamkeit geschenkt. So wussten die alten Griechen bereits mehrere Jahrhunderte v. Chr. von riesigen Schlangen in Nubien, betrachteten diese als typisch für die dortige Fauna und glaubten, dass sie teilweise sogar Elefanten fressen würden. Ptolemaios II., der von 282 bis 246 v. Chr. zweiter ptolemäischer König von Ägypten war, beauftragte extra eine zirka 100 Männer umfassende Gruppe aus Jägern, Reitern, Schleuderern, Trompetern und Bogenschützen, eine der größten dieser Schlangen zu fangen und lebendig in seine weithin berühmte Menagerie zu bringen. In Süd-Nubien, wo der Nördliche Felsenpython damals noch verbreitet war, soll es den Männern dann nach mehreren Anläufen gelungen sein, ein äußerst wehrhaftes Individuum mit einer Gesamtlänge von angeblich über 13 Meter zu fangen und dem König zu überbringen. Dieses „Biest“ wurde dann in der Menagerie gefüttert und gezähmt und galt als Ptolemaios’ II. außergewöhnlichstes und berühmtestes Tier. Der Nördliche Felsenpython war auch wiederholt das Sujet in Mosaiken. Im Nilmosaik von Palestrina, das um 200 v. Chr. entstand, wurde ein großer Python, der sich um einen Felsen schlängelt, und ein zweiter, der gerade am Nilufer einen Vogel erbeutet, dargestellt. Auf einem weiteren Mosaik aus dem ehemaligen römischen Karthago, das zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert n. Chr. entstand, ist ein Python zu sehen, der mit einem Elefanten kämpft.
Im alten Römischen Reich wurden während der Zirkusspiele oft Schlangen zur Schau gestellt. Dabei galten auch die teilweise gezähmten Nördlichen Felsenpythons als attraktiv.
In einigen westafrikanischen Kulturen gab es vor der Kolonialisierung einen Schlangenkult. Insbesondere der Nördliche Felsenpython und der Königspython wurden als heilig betrachtet, in Schlangentempeln gehalten und verehrt. In Zeremonien überbrachte man dem Nördlichen Felsenpython zahlreiche Geschenke und stellte ihn mit dem Opfern eines Huhnes oder Lammes zufrieden. Dieser Python hatte beispielsweise in Nigeria einen so hohen Stellenwert, dass schon einer der ersten Verträge zwischen englischen Invasoren und Stammesführern den Schutz dieser Schlangen regelte. Bis heute wird diese Art in vielen Teilen ihres Verbreitungsgebietes vergöttert. Im Südsudan glauben beispielsweise die Völker der Dinka, Schilluk und Bari, dass bestimmte Einzeltiere Träger der Seelen Verstorbener sind. Diese Pythons genießen dort den allergrößten Respekt, werden mit Opfergaben beschenkt und es wird zu ihnen gebetet, um Elend, Krankheit, Dürren und Hungersnöte abzuwenden. In einigen lokalen Gesellschaften ist der Glaube weit verbreitet, es werde nach dem Töten eines Nördlichen Felsenpythons kein Regen mehr fallen. Manche Gruppen, darunter auch solche, die nur Einzelindividuen vergöttern, töten Nördliche Felsenpythons zu Nahrungszwecken und für die traditionelle Medizin. Beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo werden sie hierfür mit Speeren gejagt oder am Eingang ihrer Verstecke mit Schlingfallen gefangen. Das Fleisch gilt als schmackhaft, dem Dorschfleisch ähnlich, und dem Pythonfett werden wundersame Heilkräfte zum Kurieren zahlreicher Krankheiten nachgesagt.
Quellen
Einzelnachweise
Literatur
D. G. Broadley: A review of geographical variation in the African Python, Python sebae (Gemelin). British Journal of Herpetology 6, 1984, S. 359–367.
Benedetto Lanza, Annamaria Nistri: Somali Boidae (genus Eryx Daudin 1803) and Pythonidae (genus Python Daudin 1803) (Reptilia Serpentes). Tropical Zoology 18, 2005, S. 67–136, online, pdf.
L. Luiselli, F. M. Angelici, G. C. Akani: Food habits of Python sebae in suburban and natural habitats. East African Wild Life Society, African Journal of Ecology 39, 2001, S. 116–118.
L. Luiselli, G. C Akani, E. A. Eniang, E. Politano: Comparative ecology and ecological modeling of sympatric Pythons, Python regius and Python sebae. In: R. W. Henderson, R. Powell (Hrsg.): Biology of the Boas and Pythons. Eagle Mountain Publishing Company, Eagle Mountain 2007, ISBN 978-0-9720154-3-1, S. 89–100.
C. R. S. Pitman: A guide to the snakes of Uganda. Codicote Wheldon & Wesley, Ltd, 1974, ISBN 0-85486-020-7, S. 67–71.
S. Spawls, K. Howell, R. Drewes, J. Ashe: A Field Guide to the Reptiles of East Africa. Academic Press 2002, ISBN 0-12-656470-1, S. 305–310.
Weblinks
Pythons |
3684620 | https://de.wikipedia.org/wiki/Britische%20Mount-Everest-Expedition%201924 | Britische Mount-Everest-Expedition 1924 | Die britische Mount-Everest-Expedition 1924 war nach der ebenfalls britischen Expedition im Jahr 1922 die zweite Expedition, die ausdrücklich die Erstbesteigung des 8848 Meter hohen Mount Everest zum Ziel hatte. Im Jahr 1921 hatte eine Erkundungsexpedition stattgefunden. Weil das Königreich Nepal für Ausländer gesperrt war, stand den britischen Expeditionen in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nur der Zugang von der tibetischen Nordseite her offen.
Während der Expedition wurden drei Besteigungsversuche unternommen. Der erste scheiterte früh an der Mitarbeit der Träger, den zweiten brach Edward Norton aufgrund der späten Uhrzeit ab, er erreichte aber mit eine neue Rekordhöhe für Bergsteiger. Beim dritten und letzten Besteigungsversuch verschwanden die Bergsteiger George Mallory und Andrew „Sandy“ Irvine. Bis heute wird darüber spekuliert, ob sie den Gipfel erreicht hatten. Die Leiche Mallorys wurde im Jahre 1999 gefunden und identifiziert.
Motivation und Ausgangslage
Briten waren Anfang des 20. Jahrhunderts an den Wettläufen zur Erreichung des Nordpols und des Südpols beteiligt, jedoch nicht erfolgreich gewesen. Die Erstbesteigung des höchsten Bergs der Erde wurde seither unter dem Motto „Eroberung des Dritten Pols“ intensiv diskutiert und auch mit nationalem Prestige verknüpft. Die Schmach, an den geografischen Polen zu spät gekommen zu sein, sollte am „Dritten Pol“ getilgt werden. Hinzu kamen nationalistisch orientierte Motive, da der Everest, bedingt durch die politische Präsenz der Engländer in Tibet, quasi als Grenzgipfel des britischen Empires angesehen wurde.
Die Südseite des Berges, über welche die heutige Standard-Südroute zum Gipfel führt, war weder erkundet noch für eine Erkundung offen: Nepal galt für westliche Ausländer als „Verbotenes Land“. Auch der Weg über die Nordseite war mit politischen Problemen behaftet: Erst nach besonderen Anstrengungen englischer Regierungsvertreter erlaubte der Dalai Lama die englischen Expeditionsaktivitäten. Tibet war Teil des von den damaligen Großmächten Russland und England in ganz Mittelasien betriebenen „Großen Spiels“ um Macht, Einfluss und wirtschaftlichen Vorrang.
Ein großes Handicap aller Expeditionen zur Nordseite des Mount Everest war das enge Zeitfenster nach der Winterzeit vor dem Einsetzen des Monsunregens. Um vom indisch-englischen Kolonialreich aus von Darjiling über Sikkim nach Tibet zu gelangen, war das Begehen hoher und winterlich lange verschneit bleibender Pässe östlich der Region des Kangchendzönga notwendig. Dieser ersten Etappe folgte eine langwierige Anreise durch das Arun-Tal bis zum Rongpu-Tal an die Nordwand des Everest. Die mit Pferden, Eseln und Yaks transportierenden Expeditionen erreichten jeweils erst im späten April die Zielregion; und im Juni setzt der Monsun ein.
Vorbereitungen
Vor dieser Expedition 1924 gab es bereits zwei andere. Alle drei Expeditionen wurden von der Royal Geographical Society und dem Alpine Club gemeinsam durch das Mount Everest Committee nach überwiegend militärischen Prinzipien, und auch mit Beteiligung des Militärs, organisiert.
Bei der ersten Expedition im Jahr 1921 stand die Vermessung der Region um den Mount Everest im Vordergrund, die Erstbesteigung war nicht ausdrückliches Ziel. Während des Aufenthaltes wurde aber auch über mögliche Aufstiegsrouten spekuliert. Zunächst glaubte der damalige bergsteigerische Leiter, Harold Raeburn, eine gangbare Route zum Gipfel entdeckt zu haben. Sie hätte über den kompletten Nordostgrat geführt. Später schlug Mallory, der bei allen Mount-Everest-Expeditionen der 1920er-Jahre dabei war, eine modifizierte Route vor, die ihm leichter erschien. Diese führte zunächst über den Nordsattel und den Nordgrat und erst dann auf den zum Gipfel führenden Nordostgrat. Nach Auffinden des östlichen Zugangs zum Nordsattel war seit 1921 der gesamte Weg ausgekundschaftet und im Wesentlichen klar – er musste „nur noch“ begangen werden.
Während der britischen Mount-Everest-Expedition 1922 wurden auf der von Mallory vorgeschlagenen Route erfolglos mehrere Besteigungsversuche unternommen. Nach deren Rückkehr reichten die Vorbereitungszeit und vor allem die finanziellen Mittel aber nicht mehr aus, auch im Jahr 1923 eine Expedition zu entsenden. Dies war vor allem der Pleite der Alliance Bank in Simla geschuldet, bei der das Committee 700 Pfund verlor. Daher wurde der erneute Besteigungsversuch auf das Jahr 1924 verschoben.
Vor allem die Rolle der Träger wurde im Vorfeld der Expedition neu überdacht. 1922 hatte man festgestellt, dass sie ihre Lasten in größere Höhen tragen konnten als angenommen und somit im Plan der Besteigung wesentlich mehr einbezogen werden könnten.
Sauerstoff
Das Mount-Everest-Committee war sich nicht einig, ob Flaschensauerstoff mitgeführt werden sollte. 1922 hatten George Ingle Finch und Geoffrey Bruce mit Flaschensauerstoff zwar einen Höhenweltrekord für Bergsteiger aufgestellt, ihre Leistungen wurden im Nachhinein aber weniger anerkannt als die von Mallory, Norton und Somervell. Diese Bergsteiger waren dem Gipfel zwar nicht so nahegekommen, dafür aber ohne Sauerstoffflaschen aufgestiegen. Das Aufsteigen mit Flaschensauerstoff wurde von manchen als unehrenhaft abgelehnt.
Obwohl man vom Nutzen nicht wirklich überzeugt war, wurde die Expedition mit Sauerstoff in Flaschen ausgerüstet. In den zwei Jahren zwischen den Expeditionen waren die Sauerstoffgeräte technisch verbessert worden, der entscheidende Unterschied lag im Fassungsvermögen der Zylinder. Passten 1922 nur 240 Liter Sauerstoff in eine Flasche, waren es im Jahr 1924 schon 535 Liter. Das Bruttogewicht der Geräte von circa 15 Kilogramm konnte zwar nicht reduziert werden, die Sauerstoffmenge aber war nun mehr als doppelt so groß.
Noel Odell sollte auf dieser Expedition der für die Geräte Verantwortliche sein. Da sich Odell jedoch bei der Abreise aus England noch im Ausland befand, machte sich Irvine mit den Geräten vertraut. Schon vor der Abreise hatte er der Herstellerfirma Verbesserungsvorschläge per Brief zukommen lassen, doch waren diese nicht berücksichtigt worden. So machte sich Irvine im Laufe der Expedition daran, die Geräte selbst zu verbessern. Seine modifizierten Geräte waren wohl wesentlich leichter und weniger störungsempfindlich geworden, dennoch hatten die Sauerstoffzylinder oftmals Defekte und leckten. Die Unzuverlässigkeit der Geräte war neben der Diskussion um die Ethik des Bergsteigens der Grund, warum es auch unter den Expeditionsteilnehmern keine einheitliche Meinung zu ihrer Verwendung gab.
Teilnehmer
Verantwortlich für die Leitung sollte wie zwei Jahre zuvor wieder Brigadier-General Charles G. Bruce sein. Er war verantwortlich für die Beschaffung von Material, die Anwerbung von Trägern und die Wahl der Anmarschroute.
Zudem war die Auswahl der Bergsteiger schwierig. Während des Ersten Weltkriegs waren einige junge Männer gestorben, die zu diesem Unternehmen in der Lage gewesen wären. Fest stand, dass Mallory erneut mit dabei sein sollte, ebenso Howard Somervell, Edward „Teddy“ Norton und Geoffrey Bruce. George Ingle Finchs Teilnahme war aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit umstritten. Er suchte nicht, wie andere Bergsteiger, die Nähe zum elitären Auswahlkomitee. Auch seine Präferenz für Flaschensauerstoff stieß auf Kritik. Das Auswahlteam war nicht der Meinung, dass man nur mit zusätzlichem Sauerstoff Erfolg haben könne.
Neu ins Team kamen Noel Odell, Bentley Beetham und John de Vere Hazard. Andrew Sandy Irvine, ein Maschinenbaustudent, den Odell von einer Expedition nach Spitzbergen kannte, war so etwas wie das „Experiment“ des Unternehmens und gleichzeitig ein Versuch, „junges Blut“ zum Everest zu bringen. Aufgrund seines technischen Verständnisses konnte Irvine im Laufe der Expedition die mitgenommenen Sauerstoffgeräte wie erwähnt stark verbessern sowie viele Reparaturen durchführen.
Die Expeditionsteilnehmer wurden nicht allein nach bergsteigerischen Qualitäten ausgewählt. Es spielten sowohl die Schichtzugehörigkeit als auch die Zugehörigkeit zum Militär und die zu bestimmten Berufen eine wichtige Rolle. Insbesondere für die Öffentlichkeit wurden militärische Ränge oder Universitätsabschlüsse der einzelnen Expeditionsteilnehmer hervorgehoben.
Somit setzte sich das Expeditionsteam, neben einer großen Anzahl von Trägern, aus folgenden Personen zusammen:
Anreise
Ende Februar 1924 trafen Charles und Geoffrey Bruce, Norton und Shebbeare in Darjeeling ein. Dort wählten sie aus einer Reihe von Tibetern und Sherpas die Träger aus. Zudem wurden wie zwei Jahre zuvor der gebürtige Tibeter Karma Paul als Dolmetscher und Gyalzen als Sirdar (Führer der Träger) angestellt. Auch die Auswahl der Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel ging kontinuierlich voran, sodass Ende März 1924, als alle Expeditionsteilnehmer versammelt waren, der Anmarsch zum Mount Everest begann. Man folgte weitgehend der Route, die 1921 und 1922 genommen worden war. Um die Unterkünfte nicht zu überfüllen, marschierte und nächtigte man in zwei Gruppen. Anfang April wurde Yatung erreicht, Phari Dzong am 5. April. Dort gab es Schwierigkeiten mit den Behörden, die sich über zwei Tage hinzogen. Der Hauptteil der Expedition wanderte dann auf dem bekannten Weg Richtung Kampa Dzong, während Charles Bruce und einige andere eine leichtere, aber deutlich längere Route wählten. Auf diesem Weg erkrankte Bruce so schwer an Malaria, dass er die Expeditionsleitung nicht weiter ausüben konnte und sie an Norton übergab, der diese Aufgabe zur völligen Zufriedenheit aller erfüllen sollte. Am 23. April kam die Expedition in Shekar Dzong an; am 28. April erreichte sie das Rongpu-Kloster, nur wenige Kilometer vom geplanten Basislager entfernt. Der Lama des Klosters war krank und konnte weder die Briten begrüßen noch die Träger segnen, wie er es zwei Jahre zuvor getan hatte. Am folgenden Tag erreichten sie das Basislager vor der Gletscherzunge im Haupt-Rongpu-Tal. Nachdem das Wetter während des Anmarsches akzeptabel gewesen war, war es hier sehr kalt und es fiel Schnee.
Geplante Aufstiegsroute
Mallory hatte im Jahr 1921 vom Lhakpa La aus eine gangbare Route zur Nordseite des Berges und weiter zum Gipfel entdeckt. Diese Route beginnt am Rongpu-Gletscher und verläuft dann über den einmündenden Östlichen Rongpu-Gletscher zunächst zum Nordsattel. Von dort aus ermöglichen die ausgesetzten Gipfelgrate (Nordgrat und Nordostgrat) den weiteren Aufstieg. Ein ernsthaftes, kräftezehrendes und klettertechnisch schwieriges Hindernis ist die zweite Felsstufe im Nordostgrat, der Second Step in etwa Höhe, deren Schwierigkeit vor der Expedition aber noch unbekannt war. Vielmehr wurde der Berg oberhalb des Nordsattels als einfacher Felsberg angesehen. Der Second Step hat eine Kletterhöhe von etwa 40 Metern, die letzten fünf Meter sind fast senkrecht. Von dort führt die zumeist auf dem Grat verlaufende Route noch recht weit und auch über das bis zu 50 Grad steile Gipfelschneefeld. Erstmals gelang chinesischen Bergsteigern im Jahr 1960 die Bewältigung dieser Route. Abweichend zu dieser späteren Erstbegehung erwogen die Briten, oberhalb des Nordsattels in die Nordflanke des Berges zu queren und über eine steile Schlucht, die später Norton-Couloir genannt wurde, den Gipfel zu ersteigen. Über diese Route erreichte erst Reinhold Messner im Jahr 1980 den Gipfel.
Aufbau der Lager
Die Positionen der ersten Hochlager waren schon vor der Expedition geplant worden. Das Lager I wurde auf etwa am Zusammenfluss des Östlichen Rongpu-Gletschers mit dem Hauptarm errichtet. Das Lager II wurde auf halbem Weg zu den Steilhängen des Nordsattels auf etwa aufgebaut. Direkt unter dem vereisten Steilhang wurde das vorgeschobene Basislager (auch Lager III genannt) auf errichtet. Die Ausrüstungsgegenstände wurden vor allem von etwa 150 neu angeworbenen Trägern vom Basislager zu den Hochlagern transportiert. Sie bekamen für ihre Arbeit etwa einen Schilling pro Tag. Allerdings verschwanden viele der Träger nach kurzer Zeit, da sie auf ihren Feldern arbeiten mussten. Ende April 1924 wurde begonnen, die Lager I bis III aufzubauen. Entgegen den Erwartungen geriet die Expedition in eine extreme Schlechtwetterphase, die zwischen dem 5. und 11. Mai zu einer dramatischen und zum Teil chaotischen Rückzugsaktion zwang. Dabei waren zwei Todesopfer sowie mehrere Verletzte zu beklagen.
Am 15. Mai nahmen die Expeditionsteilnehmer, am 13. Mai von Norton bewusst angefragt, den Segen des Dzatrul Rinpoche im Kloster Rongpu entgegen, der vor allem die Bhotia- und Sherpa-Hochträger motivierte. Von nun an besserte sich auch das Wetter; Norton, Mallory, Somervell und Odell kamen am 19. Mai im Lager III an. Nur einen Tag später begannen sie mit dem Sichern des Aufstiegs auf den Nordsattel, kehrten jedoch am Abend zunächst zum Lager III zurück. Das Lager IV konnte schließlich am 21. Mai auf dem Nordsattel (etwa ) errichtet werden.
Während der folgenden Tage verschlechterte sich das Wetter erneut. Hazard wurde mit zwölf Trägern und nur wenigen Nahrungsmitteln im Lager IV zurückgelassen. Später gelang es ihm, mit acht Trägern abzusteigen. Die verbliebenen vier Träger bekamen Angst und kehrten, nachdem sie Hazard zunächst gefolgt waren, ins Lager IV zurück. Dort waren jedoch kaum noch Lebensmittel vorhanden, und es wurden Schneefälle erwartet. Die vier Träger wurden anschließend von Norton, Mallory und Somervell gerettet, obwohl diese drei selbst alle krank waren. Die Träger hatten durchweg Erfrierungen. Eine erneute Katastrophe wie 1922 wollten Somervell und Mallory auf jeden Fall verhindern.
Am 26. Mai versammelte der Leiter die gesamte Mannschaft im Lager I zu einem langen „council of war“ („Kriegsrat“), bei dem die Mannschaft die ursprünglichen Pläne revidierte. Voraussetzung dafür war auch die Verfügbarkeit über noch 15 Träger, die körperlich fit geblieben waren. Diese Elitegruppe bekam die Bezeichnung „the tigers“ (die Tiger).
Besteigungsversuche
Den ersten Besteigungsversuch unternahmen Mallory und Bruce. Danach bekamen Somervell und Norton eine Chance. Odell und Irvine unterstützten die ersten beiden Gipfelteams von Lager IV aus, Hazard von Lager III. Die Unterstützer waren die Reserve für einen dritten Besteigungsversuch. Beim ersten und zweiten Besteigungsversuch war auf Flaschensauerstoff verzichtet worden.
Der erste Besteigungsversuch
Am 1. Juni 1924 begannen Mallory und Bruce, unterstützt von neun Trägern, mit dem weiteren Aufstieg vom Nordsattel aus. Das Lager IV lag relativ windgeschützt 50 Meter unter der Nordsattelkante; als die beiden den Schutz verließen, waren sie sehr starkem Wind ausgesetzt. Bevor das Lager V auf etwa errichtet werden konnte, hatten vier Träger ihre Lasten abgelegt. Während Mallory die Plattformen für die Zelte errichtete, musste Bruce zusammen mit einem Träger diese abgelegten Lasten holen. Am folgenden Tag weigerten sich drei weitere Träger, den Aufstieg fortzusetzen; der Besteigungsversuch wurde abgebrochen, ohne das Lager VI errichtet zu haben. Auf halbem Weg zum Lager IV trafen sie auf Norton und Somervell, die gerade mit dem zweiten Besteigungsversuch begannen.
Der zweite Besteigungsversuch
Der zweite Besteigungsversuch wurde bereits ab dem 2. Juni von Norton und Somervell mit Unterstützung von sechs Trägern unternommen. Sie waren erstaunt, Mallory und Bruce so schnell absteigen zu sehen, und machten sich Sorgen, ob ihre Träger ebenfalls nicht über Lager V hinaussteigen würden. Diese Sorge sollte sich als unbegründet erweisen. So wurden am Abend zwei Träger zurück ins Lager IV geschickt, während sich die verbliebenen vier Träger in ein und die zwei Briten in ein anderes Zelt legten. Am folgenden Tag waren drei Träger bereit, ihre Lasten weiter den Berg hinaufzutragen. Das Lager VI wurde auf etwa in einer kleinen Felsnische errichtet. Nun wurden die Träger zum Nordsattel zurückgeschickt. Am 4. Juni konnten sich die Bergsteiger erst gegen 6:40 Uhr auf den Weg machen, weil eine Thermosflasche mit Trinkwasser ausgelaufen war und erst neuer Schnee geschmolzen werden musste. Das Wetter schien ideal. Nach etwa 200 die Nordwand traversierenden Höhenmetern setzte aber beiden die Höhe so zu, dass sie viele Pausen einlegen mussten.
Gegen Mittag konnte Somervell nicht mehr weiter aufsteigen; Norton ging allein weiter. Dabei peilte er nicht den Nordostgrat an, sondern blieb deutlich unter der Grathöhe und querte in die Nordwand in Richtung einer Steilschlucht, die sich bis zum östlichen Fuß der Gipfelpyramide zieht. Diese Steilschlucht wird seitdem Norton-Couloir genannt. Dabei machte Somervell eine der bekanntesten Aufnahmen der Expedition: Sie zeigt Norton, wie er auf Höhe vorsichtig über steile, von frischem Schnee bedeckte Platten stieg. Bis ins Jahr 1952 konnte kein Bergsteiger nachweisen, eine größere Höhe erreicht zu haben. Die leichteren Hänge der Gipfelpyramide waren nur noch 60 Meter über ihm, als er sich zur Umkehr entschloss. Er begründete dies mit der fehlenden Zeit und Zweifeln an der eigenen Leistungsfähigkeit. Er erreichte Somervell gegen 14 Uhr; sie stiegen gemeinsam weiter ab. Somervell ging hinter Norton. Er hatte sich selbst bereits aufgegeben, als er sich auf den Boden setzte, und drohte an einem Schleimpfropf in seiner Luftröhre zu ersticken. In einem letzten verzweifelten Versuch presste er mit den Armen seinen Oberkörper zusammen und schaffte es schließlich doch noch, den Pfropf zu lösen. Kurz darauf ging es ihm wesentlich besser.
Unterhalb von Lager V wurde es dunkel, dennoch erreichten sie Lager IV. Hier wurden ihnen Sauerstoffflaschen gebracht, die sie aber ablehnten. Stattdessen verlangten sie nach Getränken. In der Nacht eröffnete Mallory Norton seinen Plan, einen Versuch mit Sauerstoffflaschen zu unternehmen. Norton hatte an den folgenden Tagen mit einer Schneeblindheit zu kämpfen.
Der dritte Besteigungsversuch
Mallory und Bruce waren während des Besteigungsversuches von Somervell und Norton in das Lager III abgestiegen und mit Sauerstoffflaschen erneut aufgestiegen. Als Begleitung für den dritten Besteigungsversuch hatte Mallory Irvine ausgewählt. Bei der Wahl Mallorys für Irvine waren vermutlich weniger dessen bergsteigerische Qualitäten als vielmehr seine Kenntnisse der Sauerstoffgeräte ausschlaggebend. Zudem hatten sich Mallory und Irvine bereits während der Anreise angefreundet.
Den 5. Juni verbrachten die Bergsteiger in Lager IV. Um 8:40 Uhr des folgenden Tages machten sich Mallory und Irvine zusammen mit acht Trägern auf den Weg zu Lager V, wo sie vier Träger wieder hinabschickten. Am 7. Juni erreichten sie Lager VI. Odell ging derweil mit einem Träger ins Lager V. Kurz nach seinem Eintreffen dort kamen auch die restlichen vier Träger von Mallory und Irvine im Lager V an; Mallory hatte sie hinuntergeschickt. Sie übergaben Odell unter anderem eine Nachricht von Mallory an John Noel.
Lieber Noel,
wir werden morgen (am 8.) vermutlich sehr früh aufbrechen, um klares Wetter zu haben. Es wird nicht zu früh sein, um 8 p.m. nach uns Ausschau zu halten, entweder beim Queren des Felsbandes unter der Gipfelpyramide oder beim Aufstieg am Grat.
Ihr
G Mallory
Mallory meinte hier nicht 8 p.m. (also abends), sondern 8 a.m. (morgens).
Odell machte sich am Morgen des 8. Juni auf den Weg, um einen guten Aussichtspunkt zu erreichen. Um ihn herum war der Berg in Wolken gehüllt, weshalb er Mallory und Irvine nicht sehen konnte. Er kümmerte sich dabei vor allem um geologische Forschungen und wollte den anderen bei Gelegenheit beim Abstieg helfen. Er erkletterte auf etwa einen Felszacken. Dort riss gegen 12:50 Uhr der Nebel kurz auf. Odell vermerkte in seinem Tagebuch, dass er „M & I am Grat sah, wie sie auf den Fuß der Gipfelpyramide gingen“. In einer ersten Nachricht am 5. Juli an die Times beschrieb er dies genauer. Demnach sah er den ganzen Gipfel, Kamm und Gipfelpyramide des Everests. Seine „Augen erfassten einen winzigen schwarzen Punkt, der sich auf einer kleinen Firnschneide unter einer Felsstufe im Kamm als Silhouette abhob, und der Punkt bewegte sich. Ein zweiter schwarzer Punkt bewegte sich hinauf zu dem anderen auf dem Grat. Der erste ging dann die große Felsstufe an und tauchte im Nu oben auf; die zweite folgte“. Odell meinte zunächst, dass er beide Bergsteiger am Second Step gesehen habe.
Odell war zum Zeitpunkt der Beobachtung allerdings besorgt, weil sich beide erheblich hinter ihrem Zeitplan befanden. Odell stieg nach der Beobachtung hinauf in das Lager VI, in dem er ein großes Chaos vorfand. Kleidung, Nahrungsmittel, Sauerstoffflaschen und Teile der zugehörigen Apparaturen lagen verstreut im Zelt. Nach kurzem Aufenthalt stieg er noch etwas höher und versuchte, durch Rufen und Pfeifen im einsetzenden Schneesturm auf sich aufmerksam zu machen und den Bergsteigern den Abstieg zu erleichtern. Als Odell wieder zurück ins Lager VI kam, hörte der Schneefall auf. Er suchte den Berg nach Mallory und Irvine ab, konnte sie aber nicht entdecken.
Da Mallory schnell absteigen wollte und im Lager VI nur Platz für zwei Personen war, hatte er Odell angewiesen, bis zum Abend ins Lager IV zurückzukehren, das dieser gegen 18:45 Uhr erreichte. Am 9. Juni machte sich Odell mit zwei Trägern erneut auf den Weg nach oben, da bisher kein Zeichen von Mallory oder Irvine entdeckt worden war. Gegen 15:30 Uhr kamen sie im Lager V an, wo sie die Nacht verbrachten. Am folgenden Tag ging Odell allein zum Lager VI und fand es unverändert vor. Dann stieg er vermutlich bis auf , doch auch von dort aus konnte er keine Spur der vermissten Bergsteiger entdecken. Im Lager VI legte er zwei Schlafsäcke in Form eines „T“ aus, was das verabredete Zeichen für Keine Spur zu finden; Hoffnung aufgegeben an die weiter unten am Berg wartenden Expeditionsteilnehmer war. Anschließend stieg Odell bis zum Lager IV ab. Am Morgen des 11. Juni wurde mit dem Abstieg vom Nordsattel begonnen und die Expedition beendet. Fünf Tage später verabschiedeten sich die Bergsteiger vom Lama des Klosters Rongpu.
Nach der Expedition
Die verbliebenen Expeditionsteilnehmer errichteten zu Ehren der in den 1920er-Jahren am Mount Everest verstorbenen Menschen eine Gedenkpyramide. Mallory und Irvine wurden nach ihrem Tod zu Nationalhelden. Die Universität Oxford, an der Irvine studiert hatte, widmete ihm einen Gedenkstein. In der St Paul’s Cathedral wurde im Beisein des Königs und anderer Adliger sowie langjähriger Weggefährten ein Gedenkgottesdienst abgehalten. Erst im Jahr 1933 wurde eine erneute Expedition entsandt – vor allem hatte die Präsentation des Expeditionsfilms von John Noel, The Epic of Everest (1924), in Europa und Nordamerika, mit eigens eingekauften tanzenden tibetischen Lamas im Programm, den Dalai Lama nicht nur verärgert, sondern auch innenpolitisch in eine schwierige Lage gebracht.
Odells Sichtung
Odell hielt es nach der Expedition für sehr wahrscheinlich, dass Mallory und Irvine den Gipfel des Mount Everest erreicht hatten. Grundlage für diese Beurteilung war der Ort, an dem er die beiden schwarzen Punkte gesehen hatte, und seine Einschätzung der Bergsteiger. Dabei ist festzuhalten, dass Odell den Ort, an dem er sie gesehen haben will, immer wieder variierte. Direkt nach der Expedition war er der Ansicht, die Bergsteiger am Fuß der Gipfelpyramide, also zwischen dem Second und dem Third Step, gesehen zu haben. Die letzte Stufe ist für Bergsteiger kein ernsthaftes Hindernis, weil sie leicht umgangen werden kann. Im Expeditionsbericht schreibt er, dass die Bergsteiger an der letzten Stufe unter der Gipfelpyramide waren, was auf den Second Step hinweist (der Third Step war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Mount-Everest-Nomenklatur bekannt). Später hielt er es auch für möglich, dass er die Bergsteiger am First Step gesehen hatte. Weiterhin waren seine Angaben zur Wetterlage schwankend. So beschreibt Odell zunächst, dass er den ganzen Gipfel sehen konnte, später, dass nur ein Teil des Gipfelgrates frei von Nebel war. Als Odell ein Foto der Expedition 1933 sah, meinte er erneut, er könne die beiden auch am Second Step gesehen haben. 1986 räumte er ein, dass er sich seit damals nicht wirklich sicher war, an welcher Stufe er Mallory und Irvine gesehen hatte.
Funde
Die ersten bedeutsamen Funde, die Aufschluss über den Verbleib von Mallory und Irvine geben können, machte Odell in den Lagern V und VI. In Lager V fand er Mallorys Kompass, der eigentlich als unverzichtbar galt. Zudem entdeckte er mehrere Sauerstoffflaschen und Zubehörteile, sodass er sich zunächst nicht sicher war, ob die beiden verschollenen Bergsteiger überhaupt Sauerstoffflaschen mitgeführt hatten. Dies deutet darauf hin, dass es im Lager ein Problem mit diesen Flaschen gegeben hatte, das Irvine dann zu beheben versuchte oder dass beide den Sauerstoff zum Schlafen nutzten. Auch eine elektrische Taschenlampe verblieb im Zelt – sie funktionierte noch neun Jahre später, als die Expedition von 1933 auf die Reste des Zeltes stieß.
Harris und Wager, Teilnehmer der britischen Mount-Everest-Expedition 1933, fanden bei ihrem Besteigungsversuch den Eispickel von Irvine etwa 230 Meter östlich vom First Step und 20 Meter unterhalb des Grates. Der Fundort gibt bis heute Rätsel auf. Das Gelände dort ist nicht so schwer, dass man einen Sturz annehmen müsste, allerdings würde kein Bergsteiger am Mount Everest seinen Eispickel freiwillig dort hinlegen.
Der chinesische Bergsteiger Xu Jing entdeckte bei der Erstbegehung des Berges über die Nordroute im Jahr 1960 einen Toten im Gelben Band, einem Felsband aus gelblichem Gestein. Ähnlich beschrieb Chhiring Dorje den Fund eines alten Toten. Bei diesem Toten kann es sich nach heutigen Erkenntnissen nur um Irvine gehandelt haben. Bei der zweiten Besteigung des Berges über die Nordroute im Jahr 1975 entdeckte der chinesische Bergsteiger Wang Hongbao auf einen englischen Toten. Diese Nachricht wurde zwar nie offiziell freigegeben, dennoch war diese Schilderung der Ausgangspunkt für die erste Mallory-und-Irvine-Suchexpedition im Jahr 1986, die jedoch unter schlechten Wetterbedingungen im Nachmonsun stattfand und keine Ergebnisse brachte. 1999 wurde eine erneute Suchexpedition unternommen. Sie wurde von Eric Simonson geleitet, der nach eigenen Angaben unweit des First Step im Jahr 1991 einige sehr alte Sauerstoffflaschen gesehen hatte. Eine dieser Flaschen wurde 1999 gefunden und konnte Mallory und Irvine zugeordnet werden. Zudem wurde versucht, die Position von Odell einzunehmen, als dieser Mallory und Irvine zuletzt beobachtet hatte. Der Bergsteiger Andy Politz schilderte später, dass alle drei Stufen problemlos zu unterscheiden waren. Die wohl bedeutendste Entdeckung in diesem Jahr war aber der Fund der Leiche Mallorys auf einer Höhe von . Der Zustand der Leiche lässt darauf schließen, dass er nicht sehr weit gestürzt ist. Ein Sturz vom Grat ist somit unwahrscheinlich, vielmehr kann das Gelbe Band als Unglücksort angenommen werden. Der Leichnam selbst liegt bis heute auf einem nur leicht geneigten Schuttband. Der Fundort des Eispickels von Irvine kann nicht direkt mit dem Fundort der Leiche Mallorys in Verbindung gebracht werden, dazu sind seine Verletzungen nicht schwer genug. Sicher scheint zu sein, dass Mallory stürzte und ein Stück rutschte. Die dabei erlittenen Verletzungen reichten zwar aus, einen Abstieg unmöglich zu machen (Kopfverletzung und ein Bein war gebrochen), er war aber vermutlich nach dem Sturz noch bei Bewusstsein. Anders ist die beinschonende Haltung kaum zu erklären, in der er aufgefunden wurde. Mallory hatte zum Zeitpunkt des Todes keine Schneebrille auf. Das Bild seiner Frau, das er auf dem Gipfel ablegen wollte, war 1999 nicht mehr in seiner Tasche. Da auch die Kamera fehlte, kann nicht gesagt werden, wie hoch er kam. Um seinen Leib war ein gerissenes Seil gebunden.
Bei der bisher letzten Suchexpedition im Jahr 2001 konnte ein Handschuh gefunden werden, der vermutlich ebenfalls von einem der beiden vermissten Bergsteiger stammt. Er lag in der Nähe des Grates auf Höhe und könnte als Markierung dort hingelegt worden sein, da hier ein Abstieg zum Nordsattel möglich ist. Weiterhin wurde das letzte Hochlager von Mallory und Irvine auf etwa Höhe gefunden.
Die amerikanische Bergsteigerin Sue Gillner fand im Jahr 1981 an der Kangshung-Wand ein Stück Metall mit einer Art Riemen. Dies könnte nach ihren Aussagen Teil einer alten Tragekraxe der Sauerstoffgeräte gewesen sein.
Vermutungen über den möglichen Gipfelerfolg
Bis heute gibt es Mutmaßungen, dass Mallory und Irvine es bis auf den Gipfel des Mount Everest geschafft haben könnten und sie somit die Erstbesteiger des Berges wären. Eine wichtige Frage ist, ob die Kleidung der beiden Bergsteiger für den Gipfel geeignet war. Im Jahr 2000 schafften es spanische Bergsteiger in Reproduktionen der Originalkleidung bis auf eine Höhe von . Sechs Jahre später kam der Fernsehproduzent Graham Hoyland in einer Reproduktion der Originalkleidung bis ins vorgeschobene Basislager auf . Fälschlicherweise wird oft angegeben, er sei in der Kleidung, die aus mehreren Schichten von Schafwoll-, Baumwoll- und Seidenstoffen unter einer Gabardinejacke bestand, bis auf den Gipfel gekommen. Die aus den Originalmaterialien nachgeschneiderte Kleidung Mallorys wurde auch schon mit modernen Testverfahren auf Winddichtigkeit und Isolationsvermögen geprüft. Sie entspricht demnach etwa einer Lage moderner Thermounterwäsche unter zwei Lagen Fleece und einem Überanzug aus Gore-Tex – bei guten Bedingungen für den Gipfel ausreichend, aber nicht für ein Notbiwak oder starken Schneefall.
Besonders Odells Sichtung wird bis heute viel Beachtung geschenkt. Die Schilderung Odells und das heutige Wissen lassen den Second Step als Ort der Sichtung unwahrscheinlich erscheinen. Dieser ist in so kurzer Zeit, wie von Odell beschrieben, nicht zu erklettern. Nur der First Step und der heute bekannte Third Step sind in so kurzer Zeit erkletterbar. Gegen den First Step spricht, dass Odell sie in seiner ersten Schilderung als kurz unterhalb der Gipfelpyramide kletternd beschrieb. Der First Step ist von dieser sehr weit entfernt; eine Verwechslung ist kaum möglich. Der Third Step scheint aber ebenfalls unwahrscheinlich, denn sein Erreichen hätte eine viel frühere Aufbruchszeit als geplant vorausgesetzt. Trotzdem wurden in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Theorien aufgestellt, ob und wie Mallory und Irvine den Second Step hätten erklettern (oder umgehen) können. Oscar Cadiach war 1985 der erste, der die Stufe frei kletterte. Er bewertete die Schlusswand mit V+ und damit innerhalb von Mallorys Können. Theo Fritsche bestätigte diese Einschätzung nach seiner Besteigung im Jahr 2001. Conrad Anker ließ die seit 1975 am Step befestigte Leiter im Jahr 2007 abnehmen, um diese Stufe ohne deren Hilfe zu erklettern. Leo Houlding kletterte dabei im Nachstieg und bewertete sie mit VI. Beide erreichten den Gipfel mit annähernd der gleichen Ausrüstung (z. B. Baumwollseil) und Kleidung, wie sie auch Mallory und Irvine zur Verfügung standen.
Gegenstand vieler Theorien zum möglichen Gipfelerfolg Mallorys ist auch, dass dieser sich von seinem jungen Partner getrennt haben könnte. So könnte Irvine Mallory mit einem Schulterstand am Second Step geholfen haben, diesen zu überwinden. Oberhalb des Steps könnte Mallory dann allein bis zum Gipfel gekommen sein. Dafür sprach bis zum Auffinden der Leiche Mallorys der von Wang Hongbao gesichtete englische Tote, bei dem es sich um Irvine handeln sollte. Dieser sollte laut dieser Theorien beim Warten auf Mallory gestorben sein. Viele attestieren Mallory aber ein ausreichendes Maß an Bergsteigerethik und können sich nicht vorstellen, dass ein Gentleman wie Mallory seinen Schützling allein lassen würde. Das um Mallorys Leib gebundene, gerissene Seil lässt darauf schließen, dass beide Bergsteiger zum Zeitpunkt des Unglücks angeseilt waren, sie sich also vorher nicht getrennt hatten.
Gegen die Annahme, dass der Gipfel erreicht wurde, spricht auch, dass der Weg von unten her betrachtet sehr viel kürzer erscheint, als er eigentlich ist, und sie somit vor Einbruch der Dunkelheit kaum auf dem Gipfel gewesen sein könnten. Erst im Jahr 1990 konnte Edmund Viesturs den Gipfel von einer ähnlich weit entfernten Stelle erreichen, wie Mallory und Irvine es vorhatten. Viesturs kannte aber den Weg, während Mallory und Irvine auf völlig unbekanntem Terrain gingen. Zudem war Irvine kein erfahrener Bergsteiger, sondern ein Anfänger, und es erscheint nicht plausibel, dass Mallory seinen neuen Freund derartig in Gefahr gebracht hätte und zum Gipfel stieg, ohne an eine sichere Rückkehr zu denken. Wie und unter welchen Umständen beide Bergsteiger ums Leben kamen, konnte bis heute nicht geklärt werden.
Heutige Ersteiger der im Wesentlichen gleichen Route brechen wegen des sehr langen Hin- und Rückweges und zur Meidung einer zweiten Nacht mit Biwak beim Abstieg in aller Regel bereits um Mitternacht aus dem letzten Hochlager auf auf; sie nutzen bis zum Morgengrauen beim Anstieg das Licht elektrischer Stirnlampen – eine Technik, die den Engländern damals nicht verfügbar war.
Die Erstbesteiger Tenzing Norgay und Edmund Hillary fanden fast 30 Jahre später keine Spuren auf dem Gipfel, die auf eine frühere Besteigung hätten hindeuten können.
Literatur
David Breashears, Audrey Salkeld: Mallorys Geheimnis. Was geschah am Mount Everest?. Steiger, München 2000 (Originaltitel: Last climb. The Legendary Everest Expeditions of George Mallory), ISBN 3-89652-220-5.
Jochen Hemmleb: Tatort Mount Everest: Der Fall Mallory – Neue Fakten und Hintergründe. Herbig, München 2009, ISBN 978-3-7243-1022-8.
Jochen Hemmleb, Larry A. Johnson, Eric R. Simonson: Die Geister des Mount Everest. Frederking und Thaler, München 2001 (Originaltitel: Ghosts of Everest – The Search for Mallory & Irvine), ISBN 3-89405-108-6.
Jochen Hemmleb, Eric R. Simonson: Detectives on Everest. The Story of the 2001 Mallory & Irvine Research Expedition. The Mountaineers Books, Seattle 2002, ISBN 0-89886-871-8
Tom Holzel, Audrey Salkeld: In der Todeszone. Das Geheimnis um George Mallory und die Erstbesteigung des Mount Everest. Goldmann, München 1999 (Originaltitel: The Mystery of Mallory & Irvine), ISBN 3-442-15076-0.
Edward Felix Norton u. a.: Bis zur Spitze des Mount Everest – Die Besteigung 1924. Sport Verlag, Berlin 2000 (Originaltitel: The Fight for Everest) ISBN 3-328-00872-1.
Filme
The Wildest Dream – Conquest of Everest. Dokudrama, USA, 2010, 94 Min., Regie: Anthony Geffen, Drehbuch: Mark Halliley, Schauspieler: Conrad Anker, Hugh Dancy, Ralph Fiennes, ().
Der Erste auf dem Mount Everest? Dokumentarfilm, Dokudrama, Frankreich, Deutschland, VR China, 2011, 52 Min., Regie: Frédéric Lossignol, Gerald Salmina, Produktion: arte France, MC4, ORF Universum, WDR, pre tv, Taglicht Media, Erstausstrahlung: 22. Januar 2011, Inhaltsangabe von arte.
Einzelnachweise
Ereignis 1924
Himalaya-Expedition
Mount Everest |
3702111 | https://de.wikipedia.org/wiki/Al-Har%C4%81m-Moschee | Al-Harām-Moschee | Die al-Harām-Moschee (), auch Heilige Moschee und Große Moschee genannt, im saudi-arabischen Mekka ist die größte Moschee der Welt. Sie gilt noch vor der Prophetenmoschee in Medina und der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem als die vorzüglichste Moschee des Islams. In ihrem Hof befinden sich die Kaaba, das zentrale Heiligtum des Islams, der Zamzam-Brunnen und der Maqām Ibrāhīm. Eine Besonderheit der al-Harām-Moschee ist, dass hier nicht nur wie in anderen Moscheen Gebet und Chutba stattfinden, sondern auch der Tawāf, also die rituelle Umkreisung der Kaaba. Auch gilt nach den Manāsik-Regeln, dass derjenige, der die al-Harām-Moschee betritt, als Erstes zur Begrüßung der Kaaba einen Tawāf zu vollziehen hat.
Die Baugeschichte der al-Harām-Moschee reicht mehr als 1300 Jahre zurück. Die wichtigsten Ausbauschritte erfolgten in der frühen Abbasidenzeit im 8. bis 10. Jahrhundert, während der osmanischen Periode im 16. Jahrhundert sowie ab 1955 unter saudischer Herrschaft. Seit den 1960er Jahren ist auch der Masʿā, also die rituelle Laufstrecke zwischen as-Safā und al-Marwa, Teil der al-Harām-Moschee. Das aktuelle Bauwerk erstreckt sich über eine Fläche von 400.000 m² – die inneren und äußeren Gebetsflächen einschließend – und kann während des Haddsch mehr als eine Million Gläubige aufnehmen. Zurzeit wird die Moschee erneut ausgebaut; nach Abschluss der Bauarbeiten soll sie insgesamt 13 Minarette besitzen. Da bei der saudischen Neugestaltung der Moschee der Vorgängerbau fast vollständig niedergerissen wurde, ist die frühere Baugeschichte nur anhand von Text- und wenigen Bildquellen rekonstruierbar. Vom 16. bis 18. Jahrhundert waren Darstellungen der al-Harām-Moschee ein beliebtes Motiv der islamischen Kunst.
Zahlreiche Hadithe unterstreichen den hohen religiösen Wert des rituellen Gebets in der Heiligen Moschee. Dessen Organisation hat aber aufgrund der Existenz verschiedener islamischer Lehrrichtungen, die unterschiedliche rituelle Vorschriften für das Gebet vorgeben und teilweise miteinander rivalisieren, immer wieder Probleme bereitet und wurde mehrfach reformiert. Daneben ist die Heilige Moschee schon seit der Frühzeit des Islams ein Ort für die Pflege der religiösen Wissenschaften des Islams. Als Kurzform wird für die al-Harām-Moschee auch der Ausdruck Haram verwendet, allerdings ist der eigentliche Haram von Mekka ein erheblich größerer Bezirk, der eine Fläche von rund 554 Quadratkilometern rund um die Stadt umfasst. Die al-Harām-Moschee wird seit 2007 einem umfassenden Um- und Ausbau unterzogen.
Baugeschichte
Früheste Baugeschichte: die Anlage eines Gebäudes um die Kaaba
Hinsichtlich der frühesten Baugeschichte der Heiligen Moschee zitiert der mekkanische Geschichtsschreiber al-Azraqī (gestorben 837) einen Bericht des mekkanischen Gelehrten Ibn Dschuraidsch (gestorben 767). Demnach war das mekkanische Heiligtum ursprünglich nicht von Mauern umgeben, sondern von allen Seiten von Häusern umschlossen, zwischen denen sich Tore befanden, durch die man zu ihm gelangen konnte. Das Banū-Schaiba-Tor, das sich bis in die späten 1950er Jahre im Hof der Moschee befand und nach dem Kaaba-Wächter Schaiba ibn ʿUthmān (gestorben 677) und seinen Nachkommen benannt ist, kennzeichnete den Ort des wichtigsten dieser Durchgänge. Ihn soll auch der Prophet Mohammed benutzt haben, wenn er sich zum mekkanischen Heiligtum begab.
Da der Platz vor der Kaaba im Laufe der Zeit für die Menschen zu eng wurde, kaufte der Kalif ʿUmar ibn al-Chattāb (reg. 634–644) einige der am nächsten stehenden Häuser und riss sie nieder. Da einige Eigentümer ihre Häuser nicht freiwillig hergaben, enteignete er sie und hinterlegte das Geld dafür in der Schatzkammer der Kaaba, wo sie es nach und nach abholten. Sein Handeln rechtfertigte er ihnen gegenüber damit, dass die Kaaba schon früher da gewesen sei und sie mit ihren Häusern zu Unrecht ihren Hof zugebaut hätten. ʿUmar ließ auch schon eine niedrige Mauer um die Kaaba erbauen. Damit legte er den Grundstein für die al-Harām-Moschee als eigenständigen Bau. Nach at-Tabarī erfolgte dies im Radschab des Jahres 17 (= Juli/August 638), als ʿUmar für die ʿUmra nach Mekka kam und dort 20 Nächte verbrachte.
Da in der Folgezeit die Zahl der Besucher der Heiligen Moschee weiter zunahm, ließ der Kalif ʿUthmān ibn ʿAffān (reg. 644–656) ihren Hof erneut erweitern. Nach at-Tabarī erfolgte dies im Jahre 26 der Hidschra (= 646 n. Chr.). Diejenigen, die ihre Häuser nicht abgeben wollten und gegen die Enteignung protestierten, ließ ʿUthmān ins Gefängnis werfen. Auf Fürsprache des Statthalters ʿAbdallāh ibn Chālid ibn Usaid kamen sie jedoch wieder frei. Al-Azraqī zitiert seinen Großvater mit der Aussage, dass die Heilige Moschee zur Zeit ʿUthmāns nur aus einer Ringmauer ohne Bedachung bestand. Die Leute, so soll er erzählt haben, saßen in der Morgenfrühe und am Abend um die Moschee herum und folgten dem Schatten. Wenn sich der Schatten verkürzte, erhob man sich.
ʿAbdallāh ibn az-Zubair, der von 683 bis 692 von Mekka aus als Kalif regierte, erweiterte die Moschee auf der östlichen, nördlichen und südlichen Seite, wofür er erneut die nächstgelegenen Häuser ankaufte. In südlicher Richtung erweiterte er sie bis zu dem Wadi bei as-Safā. Zu den Häusern, die niedergerissen wurden, gehörte auch das Haus der Familie al-Azraq, der der Geschichtsschreiber al-Azraqī entstammt. Es stieß dicht an die Moschee an und öffnete sich zum Tor der Banū Schaiba hin. Wer die Heilige Moschee betrat, hatte es zu seiner Linken. ʿAbdallāh ibn az-Zubair kaufte es der Familie für einen Betrag von mehr als 10.000 Dinar ab. Auf der Nordseite dehnte ʿAbdallāh ibn az-Zubair die Mauer bis hinter die Dār an-Nadwa aus, so dass diese nun innerhalb der Moschee lag und sich ihre Tür zum Sahn hin öffnete. Möglicherweise errichtete ʿAbdallāh ibn az-Zubair über der Moschee schon ein einfaches Dach. Wie al-Azraqī berichtet, hatte dies seinem Großvater gehört. Die Moschee war jetzt so geräumig, dass in ihr auch einige Menschen schlafen konnten. Allerdings war sie kleiner als diejenige von Kufa. Zādān Farrūch, der für al-Haddschādsch ibn Yūsuf das Grundbuchregister führte, wird mit den Worten zitiert: „Die Moschee von Kufa hat neun Dscharīb, diejenige von Mekka nur etwas mehr als sieben.“
Der umaiyadische Kalif ʿAbd al-Malik, der von 692 an über Mekka herrschte, ließ die Mauer der Moschee erhöhen und mit einem Dach aus Teakholz bedecken. Sein Sohn al-Walīd (reg. 705–715) riss nach al-Azraqī nieder, was sein Vater erbaut hatte, und erbaute die Moschee neu, wobei er sie zum ersten Mal mit Marmorsäulen ausstattete. Er ließ den Bau mit Marmorplatten verkleiden, mit einem Dach aus dekoriertem Teakholz bedecken und mit Zinnen ausstatten. Die Kapitelle der Säulen wurden mit Goldplättchen beschlagen und die Flächen oberhalb der Säulenbögen mit Mosaiken gestaltet.
Der Bau al-Mansūrs: Erweiterung auf West- und Nordseite, Anfügung von Minaretten
Der abbasidische Kalif al-Mansūr (reg. 754–774) ließ die Moschee auf der Nord- und Westseite erweitern und zum ersten Mal mit Minaretten versehen. Die Westseite wurde so angelegt, dass sie vom Banū-Dschumah-Tor bis zum Banū-Sahm-Tor reichte, wo das eine Minarett errichtet wurde. Die Nordseite wurde als einreihige Arkade gestaltet, die an dem Haus Zubaidas, der Dār al-ʿAdschala und der Dār an-Nadwa vorbeiführte und sich bis zum Haus des Schaiba ibn ʿUthmān erstreckte, wo ein weiteres Minarett errichtet wurde. Diese Nordseite wurde mit Mosaiken ausgestattet, weil sie als Vorderfront der Moschee diente. Sodann wurden diese Nordseite seitlich mit der von al-Walīd stammenden Ostseite des Baus verbunden. Durch die Erweiterung wurde die Grundfläche der Moschee verdoppelt. Die Bauarbeiten dauerten vom Muharram des Jahres 137 (= Juli 754) bis zum Dhū l-Hiddscha 140 (= April/Mai 758).
Der Bau al-Mahdīs: Erweiterung auf Ost- und Südseite, Errichtung dreireihiger Arkaden
Al-Mansūrs Sohn al-Mahdī (reg. 775–785) kam zu Beginn seiner Herrschaft zur Wallfahrt nach Mekka und ließ die Moschee zur östlichen Seite hin erweitern. Den Auftrag dazu erteilte er dem Qādī von Mekka Muhammad al-Machzūmī mit dem Beinamen al-Auqas. Er ließ die an die Moschee grenzenden Häuser kaufen und niederreißen und legte den Masʿā weiter nach Osten. Außerdem ließ er auf der Ost- und Westseite dreireihige Arkaden mit Marmorsäulen errichten. Die dafür benötigten Marmorblöcke wurden aus Syrien und Ägypten per Schiff nach Dschidda transportiert und von dort aus auf Wagen nach Mekka gebracht. Auf den beiden Seiten wurden gitterförmige Fundamente aus Mauern angelegt, deren Zwischenräume mit Mörtel, Asche und Geröll angefüllt wurden. Auf die Schnittpunkte des Gitters wurden dann die Säulen gestellt. Um 780 kam al-Mahdī für eine ʿUmra erneut nach Mekka. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, dass die Kaaba nicht im Zentrum der Moschee stand. Deshalb gab er den Auftrag, die Moschee erneut zu erweitern, und zwar dieses Mal in südlicher Richtung, wo sich der Wasserweg befand, über den bei Regenfällen die Sturzfluten abliefen. Um die Erweiterung zu ermöglichen, ließ er den Wasserweg weiter nach Süden verlegen und die Häuser die dort standen, abreißen. Al-Mahdī ließ diese Seite ebenfalls mit Säulen aus Marmor, der aus Syrien und Ägypten herangeschafft wurde, ausstatten. Als al-Mahdī im Jahre 785 starb, war der Bau noch nicht ganz vollendet. Die Bauarbeiten wurden nun beschleunigt, aber nicht mehr mit der gleichen Sorgfalt wie vorher fortgesetzt.
Die Ausdehnung der Moschee betrug nun in ost-westlicher Richtung 404 Ellen und in nord-südlicher Richtung 304 Ellen (in der Mitte) bzw. 278 Ellen (an den Rändern). Nach dem mekkanischen Geschichtsschreiber Taqī ad-Dīn al-Fāsī (gestorben 1429) handelte es sich jeweils um Hand-Ellen (= 0,4512 m). Dementsprechend waren die Maße der Moschee umgerechnet ins metrische System 182 × 137 bzw. 125 Meter. Von den 484 Säulen, die die Moschee in drei Reihen einschlossen, standen 103 auf der Ostseite, 105 auf der Westseite, 135 auf der Nordseite und 141 auf der Südseite. Jede Säule war zehn Ellen hoch und hatte einen Umfang von drei Ellen. Einige Säulen waren etwas größer und dicker. Der Abstand zwischen den einzelnen Säulen betrug sechs Ellen und 13 Zoll. Über die Säulen waren insgesamt 498 Bögen gespannt. 321 Säulen hatten eine vergoldete Basis. Die meisten Säulen waren aus Marmor, allerdings waren die 44 Säulen, die al-Hādī nach al-Mahdīs Tod ergänzt hatte, aus einfachem Stein.
Die Mauern der Moschee waren an den verschiedenen Seiten 18 bis 22 ½ Ellen hoch. Auf ihrer Außenseite befanden sich 272 Zinnen. An ihrer Innenseite befanden sich Steinbänke, die auf der Nord- und Südseite von Bögen überwölbt waren. Ibn Battūta (gestorben 1354) berichtet, dass er oben auf der Wand der westlichen Seite eine Inschrift sah, die die Erweiterung der Moschee durch al-Mahdī auf das Jahr 167 der Hidschra (= 783/84 n. Chr.) datierte. Zum Moscheehof hin befanden sich auf der Ostseite 46 Bögen mit 174 Zinnen darüber, auf der Nordseite 46 Bögen mit 147 Zinnen, auf der Südseite 45 Bögen mit 150 Zinnen und auf der Westseite 29 Bögen mit 94 Zinnen. Das Dach bestand aus einem Ober- und einem Unterdach. Das Oberdach war mit Holz des jemenitischen Darm-Baums bedeckt, das Unterdach bestand aus schönem Teakholz, war mit Gold verziert und mit Koranversen, Segenssprüchen für den Propheten und Bittgebeten für den Kalifen al-Mahdī beschrieben. Zwischen den beiden Dächern bestand ein Zwischenraum von 2 ½ Ellen. Insgesamt hatte der Bau 24 Tore (siehe den Überblick unten). Al-Mahdī versah die Moschee außerdem mit zwei weiteren Minaretten, die er an den anderen Ecken des Baus errichtete und mit Zinnen ausstattete.
Die Anlage der beiden Außenhöfe
Der Kalif al-Muʿtadid bi-Llāh (reg. 892–902) ließ 894 an der Nordseite der Moschee die Dār an-Nadwa, das alte Rathaus von Mekka, das noch aus vorislamischer Zeit stammte, abreißen und die Moschee in diese Richtung erweitern. Der Neubau, der an der Stelle der Dār an-Nadwa errichtet wurde, wurde mit den gleichen Säulen, Bögen und Hallen ausgestattet wie die Moschee. Um diese Erweiterung (ziyāda) mit dem Rest der Moschee zu verbinden, wurden an deren Außenmauer sechs neue Tore gebrochen. Im Jahre 918 ließ Muhammad ibn Mūsā, der Statthalter des Kalifen al-Muqtadir (reg. 908–932), die Mauer zwischen der Erweiterung und dem Moscheehof niederreißen und durch Steinsäulen ersetzen, so dass nun alle, die sich in der „Dār-an-Nadwa-Erweiterung“ (Ziyādat Dār an-Nadwa) befanden, die Kaaba sehen konnten. Außerdem versah er die Erweiterung mit einem eigenen Minarett. Als Außenhof wurde die Dār-an-Nadwa-Erweiterung zum festen Bestandteil der Heiligen Moschee.
Im Jahre 918 ließ Muhammad ibn Mūsā außerdem an der Westseite der Moschee das Tor der Kornhändler und das Tor der Banū Dschumah abbrechen und dahinter einen kolonnadengesäumten Moscheehof einrichten, den er mit der großen Moschee verband. An der Außenseite dieses Moscheehofs, der eine Länge von 57 Ellen und eine Breite von 52 Ellen hatte, legte er ein neues Tor an, das Ibrāhīm-Tor genannt wurde. Namensgeber war nicht der Abraham, sondern ein Schneider namens Ibrāhīm, der lange vor dem Tor seinen Sitz gehabt hatte. Die Säulen in dieser westlichen Erweiterung waren aus Gips.
Der Brand von 1400 und die anschließenden Reparaturen
In der Nacht auf den 28. Schauwāl 802 (= 22. Juni 1400) brach in der Moschee ein Feuer aus, bei dem ungefähr ein Drittel des Gebäudes zerstört wurde. Auslöser dafür war, dass ein Bewohner des Ribāt Ramuscht, der auf der Westseite am Hazwara-Tor lag und an die Moschee angrenzte, in seiner Zelle ein brennendes Licht hatte stehen lassen. Eine Maus, so erzählte man, hatte diese Lampe hin zu ihrem Loch gezogen, wodurch die Zelle in Brand geriet. Die Flammen schlugen bald aus dem Fenster heraus und setzten das Dach der Moschee in Brand. Da die Leute wegen der Höhe des Gebäudes so weit nicht hinaufreichen und den Brand nicht löschen konnten, verbreitete sich das Feuer über die gesamte Westseite und erreichte bald auch die Nordseite. Dort gelangte es bis zum ʿAdschala-Tor, wo es durch einen glücklichen Zufall an der weiteren Verbreitung gehindert wurde: Eine Überschwemmung, die sich zu Anfang des gleichen Jahres ereignet hatte, hatte nämlich dort zwei Säulen umgeworfen, wodurch auch das darüber liegende Dach zum Einsturz gebracht worden war. Diese Baulücke gebot dem Feuer Einhalt und rettete den Rest des Gebäudes vor der Zerstörung. Insgesamt zerschmolzen bei dem Feuer 131 Säulen zu Kalk, und die Trümmer lagen so hoch, dass man dahinter die Kaaba nicht mehr sehen konnte. Die Mekkaner betrachteten die Feuersbrunst als ein warnendes Vorzeichen für ein großes Ereignis, das sich wenig später ereignete, nämlich das Blutvergießen, das Timur bei seinen Kriegszügen durch Syrien und Anatolien an der dortigen muslimischen Zivilbevölkerung anrichtete.
Der ägyptische Sultan Faradsch (reg. 1399–1405) beauftragte im nächsten Jahr den Anführer der ägyptischen Pilgerkarawane Baisaq az-Zāhirī mit der Reinigung und dem Wiederaufbau der Moschee. Er blieb deswegen nach dem Haddsch des Jahres 803, der auf den Juli 1401 fiel, in Mekka. Er reinigte zunächst die Moschee von Schutt und fertigte dann neue Säulen aus Granit an, den er am Schubaika-Berg in der Nähe von Mekka brechen ließ. Mit diesen Säulen, die jeweils ein Kapitell aus Marmor erhielten, stattete er die Westseite der Moschee aus. Die Säulen auf der Nordseite errichtete er aus Stücken von weißem Marmor, die er durch Bolzen aus Eisen verband. Ende Schaʿbān 804 (= März 1402) konnte Baisaq die Reparaturen abschließen; allein die Reparatur des Daches musste er wegen des Mangels an geeignetem Bauholz aufschieben. Im Jahre 807 (1404/05 n. Chr.) kam er erneut nach Mekka, um die Reparatur des Daches nachzuholen. Dafür brachte er geeignetes Bauholz aus Kleinasien mit. Außerdem ließ er Wacholderholz aus dem Gebiet von at-Tā'if heranschaffen. Mit diesen Hölzern konnte er die Reparatur des Daches an der West- und Nordseite fertigstellen.
Der osmanische Neubau mit dem Kuppeldach
Größere bauliche Veränderungen an der Moschee fanden erst wieder unter den osmanischen Sultanen im 16. Jahrhundert statt. In den 1570er Jahren ließ Sultan Selim II. (reg. 1566–1574) einen großen Teil der Arkaden der Heiligen Moschee neu erbauen. Grund dafür war, dass sich die Arkaden an der Ostseite des Moscheehofs immer mehr gesenkt hatten, das Dach auch an den anderen Seiten morsch und vom Holzwurm (araḍa) zerfressen war und sich darüber hinaus in dem Raum zwischen Ober- und Unterdach Vögel und Schlangen eingenistet hatten. Wie der zeitgenössische Geschichtsschreiber Qutb ad-Dīn an-Nahrawālī (gestorben 1590) berichtet, gab Selīm II. im Jahre 979 der Hidschra (= 1571/72 n. Chr.) den Befehl, die ganze Moschee von allen vier Seiten her „auf die beste und schönste Weise“ (ʿalā aḥsan waǧh wa-aǧmal ṣūra) zu erneuern, wobei an die Stelle des doppelten Holzdaches festgemauerte Kuppeln gesetzt werden sollten. Mit der Leitung des Baus wurde der osmanische Baumeister Amīr Ahmad Beg beauftragt, der zuvor die Abschlussarbeiten für die Wasserleitung ʿAin ʿArafāt in Mekka ausgeführt hatte.
Mitte des Rabīʿ I 980 (Ende Juli 1572) nahm Ahmad Beg die Erneuerung der Arkaden in Angriff und begann mit den Abbrucharbeiten. Zuerst legte er die ganze Ostseite frei und untersuchte das Fundament. Als er es schadhaft fand, ließ er die Grundmauern in der Erde, welche die Form eines Schachbretts hatten, ganz herausnehmen. Am 6. Dschumādā I 980 (14. September 1572) wurde in Anwesenheit der großen Persönlichkeiten Mekkas die Grundsteinlegung des neuen Gebäudes festlich begangen. Da sich abzeichnete, dass die früheren Säulen nicht stark genug waren, um die Kuppeln zu tragen, ließ er zwischen die weißen Marmorsäulen Pfeiler aus gelbem lokalen Schumaisī-Stein einfügen, die viermal so dick waren wie die Marmorsäulen. Der Schumaisī-Stein wurde an zwei kleinen Bergen bei Schumais an der westlichen Grenze des Haram auf dem Weg nach Dschidda gebrochen. Auf jede dritte Marmorsäule ließ Ahmad Beg einen Pfeiler aus Schumaisī-Stein folgen. Dadurch stand nun genügend Marmor zur Verfügung, um die westliche Kolonnade, die nach dem Brand von 1400 mit Granitsäulen aufgefüllt worden war, den anderen Kolonnaden anzupassen und ebenfalls wieder mit Marmorsäulen zu versehen.
Der Neubau der Moschee wurde erst unter der Herrschaft von Murād III. im Jahre 984 (1576/77 n. Chr.) vollendet. Damit sich die Tauben nicht auf die Arkaden setzen und die Moschee mit ihrem Kot verschmutzen konnten, wurden ringsum ihre Gesimse mit Eisenspitzen beschlagen. Außerdem wurden auf den Kuppeln noch vergoldete Halbmonde aus Kupfer angebracht, die in Ägypten im Auftrag des dortigen Beglerbeg Mesīh Pascha angefertigt worden waren. Zum Schluss wurde im Jahre 985 (1577/78 n. Chr.) zwischen dem ʿAlī-Tor und dem Tor der Leichenzüge noch eine weit sichtbare Inschrift mit den Namen Allāhs, Mohammeds und der vier rechtgeleiteten Kalifen angebracht. Insgesamt wurden für den Neubau einschließlich der Kanalanlagen zur Abwehr von Überschwemmungen (siehe dazu unten) aus dem Schatz des Sultans 110.000 neue Golddinar ausgegeben. Nicht eingeschlossen waren darin die Kosten für das Bauholz, das aus Ägypten nach Mekka gesandt wurde, die hölzernen Stangen für die Bauwerkzeuge, die Nägel, die Eisenspitzen und die vergoldeten Halbmonde auf den Kuppeln.
Durch die Renovierung veränderte sich das Erscheinungsbild des zentralen Gebäudekomplexes von Mekka grundlegend. Insgesamt besaß der Bau nun 152 Kuppeln und 232 „Pfannen“ (ṭawāǧin). Nach dem osmanischen Gelehrten Eyüb Sabri waren die „Pfannen“ ebenfalls eine Art von Kuppeln, die wegen ihrer Form so genannt wurden. Qutb ad-Dīn an-Nahrawālī lobt in seiner Chronik die Schönheit der neuen Kuppeln. Nach seinem Empfinden sahen sie aus wie die goldverzierten Üskuf-Mützen von Janitscharenoffizieren, die in geschlossener Reihe und mit äußerster Disziplin und Ruhe das Gotteshaus umstehen. Auch die Säulen in den vier Hallen waren jetzt völlig neu angeordnet. Insgesamt hatte der neue Bau 311 Marmorsäulen und 244 Pfeiler aus gelbem Schumaisī-Stein.
Exkurs: Bildliche Darstellungen in der islamischen und westlichen Kunst
Nach der osmanischen Renovierung wurde die Heilige Moschee zu einem sehr beliebten Motiv der islamischen Kunst. Insbesondere viele osmanische Fliesen sind mit Darstellungen des Gebäudekomplexes gestaltet. Derartige Fliesen werden in der orientalischen Kunstgeschichte üblicherweise als „Kaaba-Fliesen“ bezeichnet, doch beschränkt sich die Darstellung üblicherweise nicht auf die Kaaba allein, sondern umfasst die gesamte Heilige Moschee. Außerdem entstanden mehrere Werke über die Heiligen Stätten in Mekka und Medina, die mit Darstellungen der Heiligen Moschee illustriert wurden. Hierzu gehörte insbesondere das Buch Futūḥ al-ḥaramain von Muhyī ad-Dīn Lārī (gestorben zwischen 1521 und 1527), von dem zahlreiche illustrierte Handschriften aus der Türkei, Iran und Indien existieren. Auch verschiedene osmanische Gebäude sind mit Darstellungen der Heiligen Moschee verziert. Viele dieser Darstellungen sind auf Arabisch mit den Namen der Tore und Bauten im Innenhof beschriftet, so dass sie auch zur Erklärung der örtlichen Gegebenheiten vor Ort verwendet werden konnten. Darüber hinaus findet sich das Motiv der Heiligen Moschee auch häufig auf türkischen Gebetsteppichen aus der Stadt Bursa. Auf fast allen Darstellungen wird die Moschee von der Ostseite her abgebildet.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Moschee meist in einer Kombination aus Grundriss und Aufriss dargestellt, in der Weise, dass der Innenhof der Moschee in der Draufsicht abgebildet wurde, während die Arkaden und die einzelnen Bauwerke, die in diesem Hof standen, umgeklappt in Seitenansicht abgebildet wurden. Bekannte Darstellungen dieser Art finden sich auf verschiedenen Fliesen aus İznik, auf zwei Futūḥ-al-ḥaramain-Handschriften aus Usbekistan und Indien sowie auf einer im Mihrāb der Moschee der Schwarzen Eunuchen im Topkapı-Palast. Die Darstellung im Topkapı-Palast besteht aus einer Gruppe von Einzelfliesen und füllt die halbrunde Rückwand des Mihrāb aus. Die Minarette sind darauf überproportional lang dargestellt. Ein sehr ähnliches aus Fliesen bestehendes Paneel, das aber flach ist, befindet sich im Museum für Islamische Kunst in Kairo. Es ist auf das Jahr 1676 datiert und hat eine Fläche von 2,40 × 1,44 Meter. Bei einigen frühen osmanischen Vertretern dieses Darstellungstyps tritt noch eine dritte Art der Darstellung hinzu, weil die Kaaba, die Arkaden und einzelne andere Teile des Gebäudes perspektivisch abgebildet werden. Dies ist der Fall bei den Abbildungen der Heiligen Moschee in der Cevahirü'l-Garâib-Handschrift von 1582 in den Harvard Art Museums und in dem Manāsik-Werk von Bahtî von 1646 in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Im frühen 18. Jahrhundert wurden im Osmanischen Reich Darstellungen der Heiligen Moschee aus der Vogelperspektive in schiefer Parallelprojektion häufiger. Die Moschee ist auf diesen Darstellungen meist von anderen Stationen der Wallfahrt und den Bergen Mekkas umgeben, die mit ihren Namen beschriftet sind. Eine der frühesten Darstellungen dieser Art findet sich in einer osmanischen Sammelhandschrift von 1709, die in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Ungefähr aus derselben Zeit stammt ein Ölgemälde auf Leinwand, das von dem schwedischen Orientalisten Michael Eneman bei einem Aufenthalt in der Türkei erworben und 1717 von der Bibliothek der Universität Uppsala aufgekauft wurde. Es stellt die Moschee in sehr realistischer Weise dar. Andere bekannte Darstellungen, die die Moschee in dieser Weise abbilden, sind eine im Tekfur Sarayı hergestellte Fliese von 1720–30 im Metropolitan Museum of Art, ein an demselben Ort hergestelltes Fliesenpaneel von ca. 1735 in der Hekimoğlu-Ali-Paşa-Moschee in Istanbul, die Innenbemalung des Deckels eines Qibla-Indikators von 1738 im Museum für türkische und islamische Kunst in Istanbul und ein aus zwölf Fliesen bestehendes Paneel im 1744 erbauten Sabīl-Kuttāb von ʿAbd ar-Rahmān Katchudā in der al-Muʿizz-Straße in Kairo. Auch die Darstellung der Heiligen Moschee auf einem Kupferstich im Architektur-Buch von Johann Bernhard Fischer von Erlach, das 1721 veröffentlicht wurde, folgt diesem Muster, doch handelt es sich im Gegensatz zu den osmanischen Darstellungen um eine Abbildung in Fluchtpunktperspektive.
Im 19. Jahrhundert wurden Darstellungen häufiger, die die Heilige Moschee vom Berg herab eingebettet in das städtische Ensemble zeigen. Ansatzweise findet sich diese Art der Darstellung schon bei dem osmanischen Ölgemälde aus Uppsala und der Zeichnung von Louis Nicolas de Lespinasse (siehe oben), die auf 1787 datiert ist und wahrscheinlich ebenfalls eine osmanische Vorlage hatte. In voller Entfaltung findet sich diese Art der Darstellung auf dem panoramaartigen Bild, das der indische Maler Muhammad ʿAbdallāh, ein Enkel des Hofmalers von Bahadur Shah II., in Delhi für einen der Scherifen von Mekka anfertigte. Einige dieser Darstellungen haben auch fotografische Vorlagen wie diejenige von Hubert Sattler von 1897, die sich auf eine Fotografie stützt, die Christiaan Snouck Hurgronje 1889 veröffentlicht hatte. Eine ähnliche Ansicht fertigte 1918 der französische orientalistische Maler Etienne Nasreddine Dinet (1861–1929) an.
Erweiterungen unter saudischer Herrschaft
Der Innenhof der al-Harām-Moschee wies zu Beginn der saudischen Herrschaft ungefähr die Form eines Parallelogramms auf. Die einzelnen Seiten hatten die folgenden Maße: 164 Meter (Nordseite), 166 Meter (Südseite), 108 Meter (Ostseite) und 109 Meter (Westseite). Insgesamt betrug die Fläche der Moschee 17.902 Quadratmeter. Von außen war sie ungefähr 192 Meter lang und 132 Meter breit.
Anfang der 1950er Jahre erteilte der saudische König ʿAbd al-ʿAzīz ibn Saʿūd dem Unternehmer Muhammad ibn Lādin, der schon vorher den Ausbau der Prophetenmoschee in Medina geleitet hatte, den Auftrag zur Planung eines umfassenden Ausbaus der al-Harām-Moschee. Muhammad ibn Lādin seinerseits beauftragte den Bauingenieur Fahmī Muʾmin, der die Moschee in Medina entworfen hatte, mit der Ausarbeitung eines Entwurfs. Er legte einige Zeit später den Entwurf für einen neuen Rundbau vor, der jedoch beim König und seinen Beratern keine Zustimmung fand. Daraufhin beauftragte Muhammad ibn Lādin den ägyptischen Bauingenieur Muhammad Tāhir al-Dschuwainī mit der Ausarbeitung eines Alternativentwurfs, der einen rechteckigen Bau vorsah. Da um die Mitte der 1950er Jahre die Pilgerzahlen auf mehr als 200.000 anstiegen, während die Moschee nur ungefähr 50.000 Betende aufnehmen konnte, wurde der Bedarf nach einer Erweiterung des Gebäudes immer spürbarer.
Erste Erweiterung (1955–1969)
Nachdem die Planungsarbeit abgeschlossen war, verkündete König Saʿūd ibn ʿAbd al-ʿAzīz (reg. 1953–1964) am 22. August 1955 öffentlich seinen Willen zur Erweiterung der al-Harām-Moschee. Da das Projekt den Abriss von Gebäuden in der Umgebung notwendig machte, ließ der König eine Kommission bilden, die den Wert dieser Gebäude taxieren sollte. Die Eigentümer der Gebäude wurden entsprechend ihrer Einschätzung entschädigt. Im September 1955 setzte er eine Kommission ein, die die Oberaufsicht über das Bauprojekt wahrnehmen sollte. Sie wurde der Leitung des damaligen Thronfolgers Faisal ibn ʿAbd al-ʿAzīz unterstellt. Die Bauarbeiten begannen am 20. November 1955 mit dem Abriss der beiden Außenhöfe, der mit ihnen verbundenen Häuser und der Gebäude und Geschäfte im Umfeld der Moschee. Im März 1956 wurde Muhammad ibn Lādin der Auftrag für die Durchführung des Bauprojekts erteilt. Die feierliche Grundsteinlegung erfolgte am 23. Schaʿbān 1375 (= 5. April 1956).
Damit begann offiziell das Projekt, das als die „Erste saudische Erweiterung“ bezeichnet wird. Dieses umfasste zwei Phasen:
Während der ersten Phase (1957 bis 1961) wurde der Masʿā, also die rituelle Laufstreckte zwischen as-Safā und al-Marwa in zwei Stockwerken ausgebaut. Außerdem wurde über as-Safā eine Kuppel errichtet und daneben ein neues höheres Minarett.
Während der zweiten Phase (1961 bis 1969) erhielt die Moschee ein zweites Stockwerk und ein Kellergeschoss und wurde mit dem Masʿā verbunden. Außerdem wurden die Bauten im Innenhof der Moschee (siehe dazu unten) abgerissen, um die Fläche für den Umlauf um die Kaaba zu vergrößern, und der Zamzam-Brunnen wurde in den Untergrund verlegt.
Insgesamt wurde die Fläche der Moschee durch den Ausbau auf 161.327 Quadratmeter vergrößert. Ein Großteil der neu geschaffenen Flächen entfiel dabei aber auf den Masʿā, der nach der Erweiterung als integraler Bestandteil der Moschee betrachtet wurde, sowie die unter den Arkaden angelegten Keller. Das Moscheegebäude konnte nun insgesamt 400.000 Betende aufnehmen. Insgesamt beliefen sich die Kosten für den Ausbau der Moschee während der Herrschaft von König Saud auf eine Milliarde saudische Riyal. In diesen Betrag waren auch knapp 240 Million Riyal eingeschlossen, die als Entschädigung an die Eigentümer der 1700 Gebäude, Wohnungen und Geschäfte, die im Zuge der Moscheeerweiterung niedergerissen wurden, gezahlt wurden.
Zweite Erweiterung (1969–1976)
Unter König Faisal ibn ʿAbd al-ʿAzīz (reg. 1964–75) begann die zweite saudische Erweiterung der Moschee. Der Bauplan des Architekten Muhammad Tāhir al-Dschuwainī hatte eigentlich vorgesehen, dass der alte Moscheebau komplett beseitigt werden sollte. 1968/69 änderte Faisal diesen Plan jedoch ab, indem er in einem königlichen Befehl verfügte, dass die Arkadenhöfe aus osmanischer Zeit mit dem Kuppeldach erhalten, repariert und mit dem neuen Bau verbunden werden sollten. Auch die zweite saudische Erweiterung wird in zwei Phasen eingeteilt:
Während der ersten Phase (1969 bis 1972) wurden die Außenseiten der Moschee neu gestaltet, und es wurde am Safā-Tor eine Rampe angelegt, die das Erdgeschoss der Moschee mit dem Masʿā verbindet. Außerdem wurde der Fußboden der Moschee mit Marmorplatten gepflastert, und auf der Nordwestseite beim ʿUmra-Tor wurden zwei neue Minarette errichtet.
Während der zweiten Phase (1973 bis 1976) wurde der alte Bau der Moschee mit den überkuppelten Arkadenhöfen aus der osmanischen Zeit restauriert, und die Nordseite der Moschee wurde neu gestaltet. An der Nordostecke wurden zwei neue Minarette errichtet, und an der Nordwest- und Nordostseite zwei neue Tore angelegt.
Die beiden Außenhöfe des alten Moscheebaus wurden im Rahme dieser Erweiterung beseitigt.
Um den Verkehrsfluss zu verbessern und den Pilgern den Zugang zur Moschee während der Stoßzeiten zu erleichtern, wurden in dieser Zeit rund um das Gebäude fünf weiträumige Plätze mit Parkplätzen angelegt. Das neue Moscheegebäude umfasste knapp 70 neue Gebetssäle und konnte am Ende der zweiten Erweiterung insgesamt mehr als 600.000 Betende aufnehmen.
Dritte Erweiterung (1988–1993)
Eine dritte Erweiterung der Moschee fand während der Herrschaft von König Fahd ibn ʿAbd al-ʿAzīz (reg. 1982–2005). Die feierliche Grundsteinlegung zu dieser Erweiterung, die nach König Fahd benannt ist, erfolgte am 13. September 1988. Im Zuge dieser Erweiterung, die erneut den Abriss zahlreicher Gebäude notwendig machte, wurde auf der westlichen Seite der Moschee ein neuer Anbau errichtet, der einen eigenen Haupteingang und zwei Minarette erhielt. Er hat zwei Stockwerke und ein Kellergeschoss. Die Außenwände haben eine einheitliche Höhe von 22,57 Meter. Im Inneren sind 492 Säulen mit einem Durchmesser von 81 bzw. 93 Zentimeter verbaut. Auf dem Dach des neuen Anbaus wurden drei Kuppeln von 15 Meter Durchmesser und sieben Meter Höhe errichtet. Sie überragen die zentrale Halle des neuen Gebäudes.
Um die Raumausnutzung des Gebäudes zu verbessern, wurde im Zuge dieser Erweiterung außerdem das Dach der Moschee und des neuen Anbaus begehbar gemacht, mit Marmor belegt und zu einer zusammenhängenden Gebetsfläche von 61.000 Quadratmetern ausgestaltet, die später auch mit Gebetsteppichen ausgelegt wurde. Insgesamt wurde die Gebetsfläche der Moschee durch die Erweiterung auf ca. 400.000 Quadratmeter erweitert, die Aufnahmekapazität des Gebäudes wurde auf mehr als eine Million Menschen erhöht.
Im Inneren wurde das Moscheegebäude mit 13 Rolltreppen, einem Netz von Brandschutzstationen und einer zentralen modernen Klimaanlage ausgestattet. Die Klimaanlage wird mit Fernkälte versorgt, die über eine unterirdische Rohrleitung von einer sechs Kilometer entfernten Kältemaschine herangeführt wird. In der Moschee wurden außerdem zahlreiche Wasserspender aufgestellt, an denen die Besucher der Moschee gekühltes Zamzam-Wasser zapfen können.
Im Jahre 1990 begann auf königlichen Befehl ein Programm zur Verschönerung der Plätze im Umfeld der Moschee, mit dem Ziel, diese in Stoßzeiten bei der Wallfahrt und im Ramadan für das Gebet nutzbar zu machen. Auf dem Platz westlich des Masʿā wurde ein neues zweistöckiges Gebäude mit sanitären Anlagen errichtet, das 1440 Toiletten und 1091 Plätze für die rituelle Waschung umfasst. Der der Moschee südwestlich vorgelagerte Platz wurde ebenfalls mit unterirdischen sanitären Anlagen versehen und durch den Bau eines 661 Meter langen Tunnels vom Fahrverkehr befreit. Dieser Sūq-as-Saghīr-Tunnel verbindet das Gebiet der Heiligen Moschee mit den östlichen Vierteln von Mekka. Um das Verkehrsaufkommen in dem Gebiet der Moschee zu verringern, wurde ein Park-and-Ride-System mit großen Parkplätzen in den Stadtteilen Kudai und al-ʿAzīzīya, die über ungefähr 12.000 Stellplätzen verfügen. Von dort aus können die Pilger in zehn bis 20 Minuten mit Bussen die Moschee erreichen. Im Mai/Juni 1993 kamen die Arbeiten für die dritte Erweiterung der Moschee zum Abschluss.
Vierte Erweiterung (ab 2007)
Die vierte Erweiterung der Moschee begann 2007 während der Herrschaft von König Abdullah ibn Abd al-Aziz (reg. 2005–2015). Um eine Ausdehnung des Gebäudekomplexes in nördlicher Richtung zu ermöglichen, wurde 2008 zunächst das Stadtviertel asch-Schāmīya abgerissen. Insgesamt wurden 5.882 Gebäude auf einer Fläche von 300.000 Quadratmetern abgerissen. Für die Planung des Erweiterungsbaus beauftragte die saudische Regierung 18 internationale Architekten bzw. Architekturbüros, darunter Zaha Hadid, Tadao Andō, Norman Foster, Santiago Calatrava, Shigeru Ban und Atkins Design, mit der Ausarbeitung von Entwürfen. Die meisten Architekten konnten sich über das Gelände nur durch Fotos und Satellitenbilder informieren, da sie als Nicht-Muslime Mekka nicht betreten durften. Die Entwürfe wurden Ende November 2008 dem saudischen König präsentiert. Durchgesetzt hat sich am Ende ein Entwurf der König-Saud-Universität. Die Entwürfe der anderen Architekturbüros wurden 2012 vom saudischen Kultur- und Medienministerium in einem Buch veröffentlicht.
Nach dem Abschluss der Bauarbeiten, der ursprünglich für 2020 geplant war, soll das Gebäude Platz für 2.000.000 Gläubige bieten. Des Weiteren soll sich die Zahl der Minarette auf 13 erhöhen. Die Kosten für das Projekt belaufen sich auf 80 Milliarden Saudi-Riyal (ca. 20 Milliarden Euro). Der Ausbau wurde unter anderem damit gerechtfertigt, dass bis 2025 ein Anstieg der Pilgerzahlen auf bis zu 17 Millionen jährlich erwartet wird. Gleichzeitig mit dem Beginn des Ausbaus der Heiligen Moschee wurden in unmittelbarer Nähe die bis zu 601 Meter hohen Hochhaustürme der Abraj Al Bait errichtet. Sie überragen mittlerweile die Heilige Moschee, wodurch sich deren Erscheinungsbild grundlegend verändert hat. Die Bauleitung für beide Projekte liegt bei der Saudi Binladin Group. Auf den Baustellen sind Arbeiter aus den verschiedensten islamischen Ländern tätig. Die meisten leben auf dem Gelände der Saudi Binladin Group unter sehr eingeengten Bedingungen.
Das Ausbauprojekt stieß zwischenzeitlich auf viel Kritik. Hatoon al-Fassi, Professorin für Geschichte an der König-Saud-Universität, die einer angesehenen mekkanischen Familie entstammt, warf der Bin Ladin Group vor, Mekka in ein Las Vegas verwandeln zu wollen. Ziauddin Sardar monierte den „Brutalismus von abscheulich hässlichen rechtwinkligen Stahl- und Betonkonstruktionen“, von denen die Heilige Moschee nun umgeben sei. Sie sähen aus wie innerstädtische Bürokomplexe in irgendeiner US-amerikanischen Stadt. Kritisiert wurde auch, dass der verbliebene osmanische Säulenvorbau beseitigt werden sollte. Nach Protesten von türkischer Seite 2013 und anschließenden türkisch-saudischen Verhandlungen gab der saudische König schließlich den Befehl, den Säulenvorbau zu erhalten, und beauftragte das türkische Unternehmen Gürsoy Group mit seiner Untersuchung und Restaurierung. Das Unternehmen trug den Säulenvorbau 2015 ab, restaurierte ihn auf einem Gelände in der Nähe von ʿArafāt und baute ihn teilweise in größerer Entfernung von der Kaaba wieder auf. Die ursprünglichen osmanischen Kuppeln aus Ziegelsteinen und Stuck konnten jedoch nicht erhalten werden. Durch den Umbau wurde die Kapazität des inneren Moscheehofs erheblich vergrößert. Während vor 2013 nur ungefähr 10.000 Menschen pro Stunde den Tawāf vollziehen konnten, ist dies seit dem Umbau 30.000 Menschen möglich.
Um die Kapazität der Moschee auch während der Umbauzeit aufrechtzuerhalten, wurde von 2014 bis 2016 eine temporäre Brücke aus Kohlenstofffasern im Hof der Moschee aufgestellt. Am 11. September 2015 stürzte bei Sturmböen ein großer Raupenkran auf die Moschee und durchschlug mit den Auslegern ein Hallendach im dritten Stock. Die Mastspitze knickte in den Hof dahinter; dabei wurden 107 Menschen getötet und 238 verletzt.
Geschichte einzelner Bauelemente und der Infrastruktur
Die Tore
Fast alle mekkanischen Geschichtsschreiber liefern in ihren Werken Aufstellungen der Tore der Heiligen Moschee, so auch al-Azraqī (frühes 9. Jahrhundert), Taqī ad-Dīn al-Fāsī (frühes 15. Jahrhundert) und der modernen Historiker Husain Bā-Salāma, der die Situation im frühen 20. Jahrhundert beschreibt und die frühere Literatur auswertet. Wie aus ihren Aufstellungen hervorgeht, hat die Anzahl der Tore von 24 im 9. Jahrhundert auf 19 Tore im 15. Jahrhundert ab- und schließlich wieder auf 26 Tore im frühen 20. Jahrhundert zugenommen. Auch die Namen der einzelnen Tore haben sich im Laufe der Zeit mehrfach geändert. Im 9. Jahrhundert hießen noch viele der Tore nach quraischitischen Clanen, die in vor- und frühislamischer Zeit rund um die Kaaba gewohnt hatten (z. B. Banū Schaiba, Banū Sahm, Banū Machzūm, Banū Dschumah). In späterer Zeit wurden diese tribalen Namen durch andere Namen verdrängt.
Die einzelnen Tore waren unterschiedlich groß: einige umfassten mehrere Torbögen, andere nur einen. Das as-Safā-Tor, über das die Pilger die Moschee üblicherweise verließen, wenn sie sich nach dem Tawāf zum Masʿā begaben, war mit fünf Torbögen das größte Tor. Insgesamt hatte die Moschee im 15. Jahrhundert 35 Torbögen. In jedem Torbogen befand sich eine Tür mit zwei Türflügeln. Mehrere Tore waren außerdem mit einer Schlupfpforte versehen. Sie blieb geöffnet, wenn das Tor in der Nacht geschlossen wurde.
Da die Moschee an allen Seiten ungefähr drei Meter tiefer lag als ihre Umgebung, waren die meisten Tore mit Stufen versehen, über die man zur Moschee hinunterstieg. Die Anzahl der Stufen variierte bei den einzelnen Toren zwischen neun und 15. Allerdings war die Oberflächengestalt der Moschee seit dem späten Mittelalter beckenartig: Die Ränder der Moschee waren gegenüber der äußeren Umgebung also ebenfalls erhaben. Wer also die Moschee betreten wollte, stieg also zunächst ein paar Stufen nach oben und dann wieder mehrere Stufen wieder hinab. Dieser beckenartige Rand der Moschee war 1426/27 angelegt worden und diente dem Schutz vor Überschwemmungen (siehe unten).
Wie aus dem Reisebericht des Ibn Dschubair hervorgeht, war es im 12. Jahrhundert die Regel, dass Pilger, die zur ʿUmra nach Mekka kamen, die Moschee durch das Banū-Schaiba-Tor betraten, den siebenmaligen Umlauf vollzogen und anschließend durch das as-Safā-Tor hinausgingen. Später wurde es üblich, dass die ʿUmra-Pilger die Moschee durch das Banū-Sahm-Tor betraten. Deshalb wurde dieses Tor ab dem 14. Jahrhundert ʿUmra-Tor genannt.
Bei der ersten saudischen Erweiterung wurden die alten Tore der Moschee abgerissen und an drei Ecken neue Haupttore mit jeweils drei Eingängen errichtet, im Südwesten das König-ʿAbd al-ʿAzīz-Tor, im Nordwesten das ʿUmra-Tor und im Nordosten das Salām-Tor (heute Fath-Tor). Die einzelnen Eingänge haben eine Höhe von 5,38 Meter und eine Breite von 3,10 Meter. Jedem Haupttor ist eine große Vorhalle vorgelagert, an die sich eine breite Passage anschließt, durch die man in das Innere der Moschee gelangt. Neben diesen Haupttoren wurden noch zahlreiche kleinere Tore angelegt, so dass die Anzahl der Tore der Moschee nach der ersten Erweiterung insgesamt 61 betrug. Einige der alten Tornamen wurden beibehalten. Als viertes Haupttor im Stil der bereits bestehenden Tore wurde während der dritten Erweiterung an dem neuen Anbau auf der westlichen Seite das König-Fahd-Tor angelegt.
Die Minarette
Die ersten beiden Minarette der al-Harām-Moschee wurden Ende des 8. Jahrhunderts vom abbasidischen Kalifen al-Mansūr auf der Nordseite der Moschee errichtet. Während das Minarett in der Nordostecke während der Erweiterung seines Sohnes al-Mahdī abgerissen wurde, blieb das Minarett in der Nordwestecke beim Banū-Sahm-Tor weiter bestehen. Unter al-Mahdī erhielt die Moschee drei weitere Minarette, die an den drei anderen Ecken des Baus errichtet und mit Zinnen ausgestattet wurden. Das südöstliche Minarett wurde Minarett der Mekkaner genannt. Auf dem nordöstlichen Minarett lebte lange Zeit ein Asket namens Abū l-Haddschādsch al-Churāsānī, der dort tags und nachts betete. Er kam nur freitags herunter, um am Freitagsgebet teilzunehmen. 918 ließ Muhammad ibn Mūsā am Außenhof der Dār-an-Nadwa-Erweiterung ein fünftes Minarett errichten.
Dschamāl ad-Dīn al-Isfahānī (gestorben 1164), der Wesir von ʿImād ad-Dīn Zengi, ließ im Jahre 551 der Hidschra (= 1156/57 n. Chr.) das von al-Mansūr errichtete Minarett über dem Banū-Sahm-Tor erneuern. Ibn Dschubair, der die Moschee Ende des 12. Jahrhunderts besuchte, beschreibt, dass sie zu seiner Zeit sieben Minarette hatte, vier in den vier Ecken, zwei an den Außenhöfen und ein weiteres kleines über dem as-Safā-Tor, das seinen Standort anzeigte, wegen seiner Enge aber nicht bestiegen werden konnte. Die einzelnen Minarette waren zwar individuell gestaltet, doch bestand die untere Hälfte jeweils aus einem viereckigen Sockel aus fein behauenen Steinen und die obere Hälfte aus einer Säule aus gebrannten Ziegeln. In der Mitte und an der Spitze befanden sich jeweils zwei fein gearbeitete Holzbalustraden.
Die beiden Minarette über dem Ibrāhīm-Tor und dem as-Safā-Tor wurden später wieder abgerissen, so dass die Moschee im 14. Jahrhundert nur noch fünf Minarette hatte. Das Minarett über dem Hazwara-Tor in der Südwestecke fiel im Jahre 1369 ein, ohne dass dabei Menschen zu Schaden kamen. Al-Aschraf Schaʿbān, von 1363 bis 1377 Sultan der Mamluken in Ägypten, ließ es im darauffolgenden Jahr wiedererrichten. Im Februar 1407 brach auch das Minarett über dem Banū-Schaiba-Tor in der Südostecke zusammen. Die Reparatur übernahm dieses Mal Sultan Faradsch ibn Barqūq. Sie konnte bis zum April 1409 abgeschlossen werden. Ein neues sechstes Minarett wurde um 1480 von Sunqur al-Dschamālī über der Madrasat al-Aschraf Qā'itbāy errichtet. Im Mai 1504 wurde es bei einem Unwetter durch Blitzeinschlag teilweise zerstört, allerdings noch im gleichen Jahr wiederhergestellt.
Der osmanische Sultan Süleyman I. ließ 1524/25 die beiden Minarette in der Nordwestecke und Südostecke, die im Stil der ägyptischen Minarette erbaut waren, niederreißen und in osmanischem Stil mit einer Spitze wiederaufbauen. Ein neues siebtes Minarett wurde 1565/66 von dem osmanischen Baumeister Qāsim Bey aus gelbem Schumaisī-Stein über den Madāris Sulaimānīya errichtet. Es war ebenfalls in osmanischem Stil gehalten, hatte drei Balkone und war erheblich höher als die anderen Minarette. Nach ihren Standorten hießen die sieben Minarette 1. ʿUmra-Tor-Minarett, 2. Salām-Tor-Minarett, 3. ʿAlī-Tor-Minarett, 4. Abschiedstor-Minarett, 5. Ziyāda-Tor-Minarett, 6. Sultān-Qā'itbāy-Minarett und 7. Sulaimānīya-Minarett. Am frühen Morgen wurde gewöhnlich auf den Minaretten von den Muezzinen eine lange Folge von Litaneien und Lobpreisungen rezitiert. An deren Ende erfolgte dann der Gebetsruf zum Morgengebet.
Bei der saudischen Erweiterung der Moschee wurden die alten Minarette, die unterschiedlich hoch waren, durch sieben neue Minarette an anderen Orten mit einer Höhe von 95 Metern und einheitlichem Aussehen ersetzt. Sechs davon wurden paarweise an den Ecken der Moschee zusammengestellt, wo sie die drei Haupteingänge, das Fath-Tor, das ʿUmra-Tor und das König-ʿAbd al-ʿAzīz-Tor, flankieren, das siebte Tor wurde neben der Kuppel von as-Safā errichtet. Die Minarette wurden außen mit Marmorplatten verkleidet und haben jeweils zwei achteckige Balkone, einen größeren in der Mitte und einen kleineren an der Spitze, die beide von einem Vordach mit grünen Dachziegeln bedeckt sind. Im Inneren befinden sich Wendeltreppen, die zu den Balkonen führen. Später wurden noch zwei weitere Minarette über dem König-Fahd-Tor erbaut, so dass sich ihre Anzahl auf neun erhöhte. Insgesamt soll im Zuge der derzeit stattfindenden Erweiterung die Anzahl der Minarette auf 13 erhöht werden.
Die Bauten im Innenhof
Zentrales Gebäude im Innenhof der Moschee war und ist die Kaaba mit dem Schwarzen Stein und dem Hidschr, in dem sich das Grab Ismaels befinden soll. Vor der Ecke mit dem Schwarzen Stein befand sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf einer mit Marmorplatten ausgelegten Fläche das Brunnenhaus des Zamzam-Brunnens. Dieses wurde im Jahre 1541/42 durch den osmanischen Beamten Emir Hoschgeldi ausgebaut. Es hatte seitdem ein zweites Geschoss mit einer Decke aus dekoriertem Holz. Darüber befand sich ein Walmdach mit einer kleinen Kuppel in der Mitte.
Östlich der Kaaba befanden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Gebäude des Maqām Ibrāhīm, das Banū-Schaiba-Tor und der Minbar für die Chutba. Das Banū-Schaiba-Tor bestand aus einem Bogen, der auf zwei Marmorsäulen ruhte. Auf ihm war der Koranspruch „Tretet sicher und in Frieden in sie ein“ (Sure 15:46) angebracht. Außerdem wurden rund um Kaaba Pavillons aufgestellt, an denen die Gläubigen der vier verschiedenen sunnitischen Rechtsschulen in getrennten Gebetsgruppen verrichteten (siehe unten). In der Zeit von Ibn Dschubair bestanden diese aus jeweils zwei Holzpflöcken, die wie eine Leiter durch Sprossen miteinander verbunden waren und auf Gipssockeln befestigt waren, die kaum vom Boden aufragten. Oben an diese Konstruktion war ein Querbalken genagelt, an dem Eisenhaken für die Glaslampen befestigt waren. Dazwischen befand sich eine Gebetsnische. Anfang des 15. Jahrhunderts wurden die Pavillons ausgebaut und die Holzpflöcke durch Steinsäulen ersetzt. Das obere Stockwerk des hanafitischen Pavillons, der besonders groß war, diente während der osmanischen Zeit auch als Standplatz der sogenannten mukabbirūn, der Moscheeangestellten, die während der Gebete von einem erhöhten Ort aus den Takbīr des Imams laut wiederholten, damit die weiter entfernten Betenden wussten, wann sie mit ihren Gebetsbewegungen fortfahren mussten.
Auf der östlichen Seite des Zamzam-Gebäudes wurde im vierten Jahrhundert der Hidschra (= 10. Jahrhundert n. Chr.) ein Qubbaförmiges Gebäude errichtet, das der Aufbewahrung von Gerätschaften diente. Hier wurden Kerzen, Polster für das Minbar, Kerzenleuchter und Koranexemplare aufbewahrt. Der Bau wird schon bei Ibn Dschubair als die „Jüdische Qubba“ erwähnt, ohne dass aber erklärt wird, wie dieser Name zustande kommt. Später wurde dieser Bau Qubbat al-farrāšīn („Qubba der Teppichbreiter“) genannt. Hinter dieser Qubba wurde im Jahre 1404/05 eine weitere Qubba errichtet, die ʿAbbās-Tränke (siqāyat al-ʿAbbās) genannt wurde. In ihr befand sich ein Becken, das durch ein Rohr mit dem Zamzam-Bau verbunden war. In dieses Rohr goss man das Zamzam-Wasser, so dass die Leute es in der Tränke trinken konnten. Allerdings wurde dieser Brauch im 17. Jahrhundert aufgegeben. Unmittelbar hinter diesem Gebäude befand sich ein weiterer kleinerer Bau, in dem Geräte zum Anzünden und Löschen der Lampen, das monatlich zugemessene Lampenöl sowie Zusatzlampen, die in besonders heiligen Nächten an den Maqāmen angezündet wurden, aufbewahrt wurde. Anfang des 17. Jahrhunderts errichtete der osmanische Baumeister Hasan Pascha in der Nähe des Baghla-Tors ein neues Gebäude für die Aufbewahrung des Lampenöls und die Lampenanzünder. Der ursprüngliche Bau für ihre Aufbewahrung wurde von da an mehrere Jahre für die Aufbewahrung des Surr, also der Spendengelder für die Bewohner Mekkas, verwendet. Allerdings setzte sich diese Neuordnung nicht durch.
Während der Herrschaft des osmanischen Sultans Abdülmecid I. (reg. 1839–1861) wurde die ʿAbbās-Tränke in eine kleine Bibliothek umgewandelt und mit wertvollen Büchern ausgestattet. Der andere Qubba-Bau diente der Zeitbestimmung und Sternbeobachtung. Nachdem eine Überschwemmung die beiden Qubba-Bauten und die in ihnen aufbewahrten Gegenstände stark beschädigt hatte, wurden sie im Jahre 1883/84 abgerissen. Auf diese Weise wurde gleichzeitig mehr Platz für die Betenden geschaffen. Die Bücher der ʿAbbās-Tränke wurden in die Bibliothek der Madāris Sulaimānīya ausgelagert.
Die anderen Gebäude, die sich in der Nähe der Kaaba befanden, wurden Mitte des 20. Jahrhunderts bei dem umfassenden Ausbau der Moschee unter König Saud ibn Abd al-Aziz niedergerissen, als der Matāf, also der Platz, auf dem der Umlauf um die Kaaba vollzogen wird, erweitert wurde: 1957 wurden die Maqāme der Hanbaliten, Malikiten und Hanafiten entfernt, 1963 das Gebäude des Zamzam-Brunnens, auf dem sich damals der Maqām der Schafiiten befand, und 1967 das Tor der Banū Schaiba. Der Zamzam-Brunnen wurde in einen klimatisierten Kellerraum unter den Matāf verlegt, der eine Fläche von ungefähr 100 Quadratmetern hatte, getrennte Eingänge und Bereiche für Männer und Frauen aufwies und über eine Treppe vom östlichen Teil des Moscheehofs aus erreichbar war.
Als Ersatz für den hanafitischen Maqām, der auch als Standplatz für die Mukabbirūn gedient hatte, wurde 1967 auf der Südseite des Moscheehofs als neues rechteckiges Gebäude mit zwei Stockwerken die Mukabbirīya errichtet. Sie diente auch Ausgangsort für die Übertragung des Gebetsrufs sowie als Sendezentrale für die Übertragung von Radio- und Fernsehsendungen aus der Heiligen Moschee in die islamische Welt. Um die Fläche für den Tawāf noch einmal zu vergrößern, wurde 1979 der Eingang in den Zamzam-Keller erneut verlegt, und zwar an den östlichen Rand des Moscheehofs. Auf diese Weise wurde die Fläche des Matāf von 3298 auf 8500 Quadratmeter gesteigert. Der Zamzam-Keller wurde gleichzeitig auf eine Fläche von 1210 Quadratmeter erweitert, so dass er jetzt 2500 Personen aufnehmen konnte.
Der Minbar
Nach al-Azraqī war Muʿāwiya ibn Sufyān der erste, der die Moschee mit einem Minbar ausstattete. Er soll diesen Minbar, der drei Stufen hatte, aus Syrien mitgebracht haben, als er auf Wallfahrt ging. Als später Hārūn ar-Raschīd auf Wallfahrt ging, schenkte ihm sein Statthalter in Ägypten Mūsā ibn ʿĪsā einen neuen großen geschnitzten Minbar mit neun Stufen, der fortan als Minbar von Mekka diente, während der alte Minbar nach ʿArafāt gebracht wurde. Später ließen verschiedene abbasidische Kalifen neue Minbare aus Holz für die Moschee erbauen. Als jedoch im Jahre 1077 der Wesir al-Muqtadīs einen neuen prächtigen Minbar nach Mekka schickte, auf dem eingraviert war, dass al-Muqtadī der „Befehlshaber der Gläubigen“ sei, wurde dieser in Mekka verbrannt, weil sich die Scherifen von Mekka kurz zuvor den Fatimiden unterstellt hatten. Ibn Dschubair, der Ende des 12. Jahrhunderts die Heilige Moschee besuchte, beschreibt, dass sich der Minbar vor dem Maqām Ibrāhīm befand und auf vier Rädern stand. Weitere neue Minbare aus Holz wurden im 14. und 15. Jahrhundert von den mamlukischen Herrschern Ägyptens gespendet. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts hielt man die Chutba auf einem Minbar, den al-Mu'aiyad Schaich beim Haddsch des Jahres 1416 zusammen mit einer Kaaba-Treppe nach Mekka geschickt hatte.
Alle diese Holz-Minbare waren beweglich. Sie wurden für die Chutba direkt an die Kaaba-Wand zwischen Schwarzer Ecke und Jemenitischer Ecke geschoben. Nach dem Ende der Chutba wurden sie wieder an ihren Ort neben dem Zamzam-Brunnen zurückgeschoben. Im Jahre 1558/59 schickte dann Sultan Süleyman einen sehr fein gearbeiteten marmornen Minbar nach Mekka, der fest im Boden verankert war. Er verblieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Moscheehof. 1963 wurde er im Zuge der Erweiterung des Matāf sieben Meter weiter nach außen verlegt. Er wurde dafür zerlegt und am neuen Standort wieder zusammengesetzt. 1977 oder 1978 wurde er bei einer weiteren Erweiterung des Matāf erneut versetzt, dieses Mal in den Bereich außerhalb des Moscheehofs. Schließlich wurde er bei Besetzung der Heiligen Moschee 1979 schwer beschädigt. Die Reste wurden deponiert und sollen zukünftig im Haram-Museum ausgestellt werden. Als Ersatz wurde danach ein kleiner Holz-Minbar auf Rädern verwendet, der wie in der vorosmanischen Zeit für die Chutba in die Nähe der Kaaba geschoben wurde. Im Jahre 2002/2003 ließ König Fahd einen neuen Minbar aus Marmor auf Rädern mit sieben Stufen und einer zweiflügeligen Tür anfertigen. Er wird seitdem in der Heiligen Moschee verwendet.
Bodenbelag
Wie der mekkanische Geschichtsschreiber al-Fākihī (9. Jh.) berichtet, wurde der Boden der Moschee bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts jährlich für einen Betrag von 400 Dinar oder weniger mit Kieseln bestreut. Etwas von den Kieseln aus der Moschee mitzunehmen, war nicht erlaubt. Der mekkanische Gelehrte Mudschāhid ibn Dschabr (gestorben 722) wird mit der Aussage zitiert, dass man schreien sollte, wenn jemand gegen dieses Gebot verstieß. Nachdem 865 der Tālibide Ismāʿīl ibn Yūsuf einen Aufstand angezettelt hatte, unterblieb das jährliche Bestreuen des Bodens mit Kieseln. Erst als im Jahre 870 ein gewisser Bischr al-Chādim nach Mekka kam, wurde diese Pflegemaßnahme wieder durchgeführt. Der Kiesboden wurde allerdings 875 nach Regenfällen, die die Moschee überfluteten, gänzlich hinweggespült. Ein gewisser Muhammad al-Lutfī, der in Mekka Kamele hatte, ließ daraufhin von einem Ort namens ʿAly neuen Kies heranschaffen und den Boden der Moschee damit bedecken. Al-Fākihī berichtet, dass die Leute, wenn sie sich in der Moschee niederließen, üblicherweise Filzmatten (lubūd) oder Samtteppiche (ṭanāfis) unter sich ausbreiteten.
Als Ibn Dschubair im späten 12. Jahrhundert Mekka besuchte, war der Platz, auf dem der Tawāf vollzogen wurde, mit glatten, ineinander gefügten Steinen in verschiedenen Farben (Schwarz, Braun und Weiß) ausgelegt, die so schön wie Marmor aussahen. Der übrige Boden der Moschee mit den Säulenhallen war mit weißem Sand bedeckt. Im Jahre 1426/27 ließen die beiden ägyptischen Beamten Saʿd ad-Dīn al-Fūwī und Schāhīn al-ʿUthmānī den gesamten Boden der Heiligen Moschee mit Rindern umpflügen. Der Erdboden wurde abgetragen, zu Haufen aufgehäuft und von Arbeitern auf Eseln in den unteren Teil von Mekka verbracht. Anschließend wurde der Boden der Moschee mit feingesiebtem Kies aus Dhū Tuwā im unteren Teil von Mekka und aus dem Wadi at-Tunbudāwī neu bedeckt.
Im Jahre 1594 wurde der Matāf, also der Platz, auf dem der Tawāf vollzogen wurde, mit echtem Marmor gepflastert. Außerdem wurden vier Gehwege angelegt, die den Matāf mit dem Friedenstor, dem Safā-Tor, dem ʿUmra-Tor und dem Hazwara-Tor verbanden. Als Johann Ludwig Burckhardt 1814 Mekka besuchte, hatte sich die Anzahl dieser Gehwege bereits auf sieben erhöht. Sie waren so breit, dass vier bis fünf Personen nebeneinander darauf gehen konnten, und erhoben sich ungefähr neun Zoll (= ca. 23 Zentimeter) über dem Boden. Wie der Boden in den Arkaden waren sie mit Gipssteinen gepflastert.
Auf dem Boden zwischen den Gehwegen, der weiter mit Kieselsteinen bedeckt war, lagen am Tag in langen Reihen Krüge mit Zamzam-Wasser. Durch das Wasser, das aus diesen Krügen austrat, wuchs an einigen Stellen Gras. Der Kies war auch häufig mit Reinigungswasser durchnässt. Wenn sich das Nachmittagsgebet näherte, breiteten die Mutauwifs Kelims und Gebetsteppiche auf dem Kies aus, damit sich die Pilger darauf niederlassen konnten. Einige Leute setzten sich aber auch direkt auf den Kies und verbrachten darauf eventuell mehrere Stunden, wenn sie auf das Freitagsgebet und die Chutba warteten. Erst 1979 wurde der Moscheehof vollständig mit Steinplatten gepflastert, so dass nun seine gesamte Fläche für den Tawāf genutzt werden konnte.
Vorrichtungen zur Abwehr von Überschwemmungen
Eine klimatische Besonderheit Mekkas besteht darin, dass es hier häufig zu heftigen Regenfällen mit Überschwemmungen großen Ausmaßes kommt. Viele diese Überschwemmungen setzten auch die Heilige Moschee unter Wasser. Sie war für solche Überschwemmungen besonders anfällig, weil sie sich an einer besonders niedrigen Stelle der Stadt befindet, die zu einem Wadi, dem sogenannten Wādī Ibrāhīm, gehört. Wie aus der Chronik al-Azraqīs hervorgeht, gab es schon in frühislamischer Zeit mehrere durch Regenfälle ausgelöste Sturzfluten (suyūl), die die Heilige Moschee unter Wasser setzten.
Die Anfälligkeit der Moschee für Überschwemmungen vergrößerte sich noch, als bei der Süderweiterung der Moschee im Jahre 780 durch al-Mahdī das ursprüngliche Wasserbett, über das diese Sturzfluten abliefen, überdeckt und in die Moschee einbezogen wurde. Wie al-Azraqī berichtet, hatten die Bauleute deswegen auch starke Einwände gegen den Plan zur Erweiterung der Moschee in diese Richtung erhoben, doch hatte sich der Kalif über diese Bedenken hinweggesetzt. Um die Schäden trotzdem möglichst gering zu halten, wurden bei der Erweiterung der Moschee die Tore so angelegt, dass bei Sturzfluten, die vom Norden her aus dem Wādī Ibrāhīm kamen, das Wasser möglichst durch die Moschee hindurch abfließen konnte, ohne die Kaaba zu berühren: Durch das Banū-Hāschim-Tor sollte es hineinfließen und durch das Hizāmīya-Tor auf der gegenüberliegenden Seite abfließen. Später wurde unterhalb des Banū-Dschumah-Tors ein Kanal angelegt, durch den das Wasser unterirdisch abfließen konnte. Dieser unterirdische Kanal bestand auch nach der Anlage des westlichen Außenhofs weiter und wurde mehrfach erneuert, so zum Beispiel Anfang des 16. Jahrhunderts. Der ägyptische Beamte Schāhīn al-ʿUthmānī ließ außerdem im Jahre 1426/27 von außen an den Toren der Moschee Stufen anlegen, die die Moschee vor Überschwemmungen schützen sollten. Der Hochwasserschutz der Heiligen Moschee funktionierte aber häufig nicht, weil bei starken Regenfällen der untere, westlich gelegene Teil Mekkas bereits von einem anderen Sturzbach überschwemmt wurde, so dass das Wasser in diese Richtung nicht abfließen konnte und sich in der Moschee staute. Auf diese Weise kam es ungefähr einmal alle zehn Jahre zu schweren Überflutungen der Heiligen Moschee, die umfassende Reinigungs- und Instandsetzungsmaßnahmen erforderlich machten.
Ein weiteres Problem bestand darin, dass bei Überschwemmungen die Straße südlich der Moschee, über die das Überschwemmungswasser abfloss, regelmäßig mit Schlamm bedeckt wurde, wodurch es im Laufe der Zeit hier zu einer starken Anhebung des Bodens kam. Von den 15 Stufen, über die man ursprünglich zu der Moschee hinaufsteigen musste, waren deshalb in den 1570er Jahren nur noch ungefähr drei sichtbar. So kam es, dass bei einem heftigen Regen am 10. Dschumādā I 983 (= 17. August 1575) die Heilige Moschee, noch bevor die osmanischen Arbeiten zu ihrer Neugestaltung abgeschlossen waren, erneut überschwemmt wurde. Das Wasser drang in den Moscheehof vor und stieg so weit an, dass es den Schwarzen Stein bedeckte. Anderthalb Tage stand das Wasser im Moscheehof, so dass in dieser Zeit dort keine Gebete abgehalten werden konnten. Zur Vermeidung künftiger Überschwemmungen ließ daraufhin der osmanische Baumeister Ahmad Beg auf eigene Kosten den Boden der Straße an der Südseite der Heiligen Moschee, der als Abflusskanal für Überschwemmungswasser diente, absenken. Außerdem wurden zur Erweiterung dieses Kanals auf Befehl des Sultans die dort stehenden Häuser und Madrasa-Schulen, die den Abfluss des Wassers behinderten, abgerissen. Zu den Gebäuden, die dieser Aktion zum Opfer fielen, gehörte auch ein Ribāt des Bahmani-Sultans von Gulbarga. Ahmad Beg ließ außerdem an der Nordseite der Moschee beim Ziyāda-Tor, wo das Regenwasser von den Bergen Quʿaiqiʿān, al-Falaq und al-Qirāra zusammenfloss, einen weiten unterirdischen Kanal mit dem Namen al-ʿInaba anlegen, der bei Überschwemmungen das Wasser von diesen Bergen unterirdisch bis zum Ibrāhīm-Tor ableitete, von wo es dann in den unteren Teil Mekkas abfließen konnte. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass bei Sturzfluten von dieser Seite her Wasser in die Moschee gelangte.
Qutb ad-Dīn an-Nahrawālī, der diese Baumaßnahmen miterlebte, wies in seiner Chronik auf die Notwendigkeit hin, die beiden Abflusskanäle alle zwei, drei Jahre zu inspizieren und von angesammeltem Erdreich zu reinigen, um zukünftige Überschwemmungen der Heiligen Moschee zu verhindern. Er sprach auch die Empfehlung aus, dass der osmanische Sultan dies in einem Gesetz festlegen möge, damit er dies nicht jedes Mal neu befehlen müsse. Offenbar wurden seine Empfehlungen nicht befolgt, denn auch in der Folgezeit kam es immer wieder zu schweren Überschwemmungen in der Heiligen Moschee. Eine der schwersten Überschwemmungen ereignete sich im Jahre 1630. Bei dieser Flut wurde die Kaaba schwer beschädigt und stürzte zum Teil ein. Nach einer Überschwemmung im Jahre 1681, die die Heilige Moschee erneut unter Wasser setzte, wurden die Stufen an der Außenseite der Moschee erhöht, um zukünftig das Wasser daran zu hindern, in die Moschee einzudringen. Aber auch diese Maßnahme hatte keine große Wirkung. Weitere schwere Sturzfluten, die die Heilige Moschee unter Wasser setzten, ereigneten sich 1696, 1861, 1909 und 1941.
Bei der ersten saudischen Erweiterung der Moschee wurde zur Abwehr von Überschwemmungen ein neuer überdeckter Abflusskanal angelegt. Er hat eine Breite von fünf Metern und eine Höhe von vier bis sechs Metern und leitet das Wasser der aus dem Wādī Ibrāhīm kommenden Sturzfluten südlich an der Moschee vorbei.
Beleuchtung
Der mekkanische Geschichtsschreiber al-Azraqī berichtet, dass sein Vorfahre ʿUqba ibn al-Azraq der erste gewesen sei, der für diejenigen, die in der Nacht den Umlauf um die Kaaba machten, eine Beleuchtung einführte. Das konnte er, weil sein Haus unmittelbar an die Kaaba anstieß. An der Mauer desselben brachte er eine große Laterne an. Der Kalif Muʿāwiya ibn Abī Sufyān (reg. 661–680) wies der Moschee dann regelmäßig aus dem Staatsschatz Lampen und Öl zu. Als Chālid al-Qasrī unter ʿAbd al-Malik die Statthalterschaft von Mekka übernahm, brachte er eine Lampe an der Zamzam-Quelle an und verbot gleichzeitig der Familie ʿUqbas, ihr Haus weiter zu beleuchten.
Die frühen Abbasiden maßen der Beleuchtung der Moschee erheblich größere Bedeutung zu: Sie wurde nun nachts mit insgesamt 455 Hängelampen erleuchtet. Der Kalif al-Wāthiq (reg. 842–847) ließ zehn lange Säulen aus Messing um die Kaaba errichten, an denen Lampen für die Leute, die den Tawāf vollzogen, aufgehängt wurden. Sie stammten aus dem Schloss des Bābak in Armenien, wo sie den Innenhof seines Hauses erleuchtet hatten. Nach der Hinrichtung Bābaks im Jahre 838 waren sie von al-Muʿtasim (reg. 833–842) nach Mekka geschickt worden. Al-Wāthiq ließ außerdem acht Kronleuchter aus Messing in der Heiligen Moschee aufhängen, an jeder Seite zwei. Sie wurden nur im Ramadan und während der Wallfahrtssaison in Betrieb genommen.
Um die Mitte des 14. Jahrhunderts wurden rund um den Matāf, den Platz, auf dem man den Tawāf vollzog, 32 neue Säulen errichtet. 18 davon waren aus gipsüberzogenen Ziegeln, 14 aus fein gemeißeltem Stein. An diesen Säulen wurden Holzstangen angebracht, an denen Lampen aufgehängt wurden. Insgesamt war die Ausleuchtung der Moschee um diese Zeit aber erheblich bescheidener als in der frühen Abbasidenzeit. Taqī ad-Dīn al-Fāsī (gestorben 1429) berichtet, dass sie zu seiner Zeit nur noch mit 93 Lampen beleuchtet wurde. Dreißig davon hingen an den Säulen um den Matāf, elf auf der Nordseite der Moschee, acht auf der Südseite und sieben jeweils auf der Ost- und Westseite. Fünf weitere hingen an jedem der vier Maqāme (siehe dazu unten), vier am Maqām Ibrāhīm, drei in dem Dār-an-Nadwa-Außenhof, eine in dem Außenhof auf der Westseite und eine von außen am Banū-Schaiba-Tor. Im Ramadan und während der Wallfahrtssaison wurde die Anzahl der Lampen aber vergrößert. So wurden zum Beispiel an die Säulen des Matāfs 30 zusätzliche Lampen gehängt. In den letzten zehn Nächten des Ramadan, in der Nacht vor dem Fest, sowie in den Neumondnächten der Monate Radschab und Rabīʿ I wurden außerdem an den vier Maqāmen zusätzlich Fackeln angezündet.
Im Jahre 932 (= 1525/26 n. Chr.) ließ Sultan Süleyman I. die Steinsäulen um den Matāf durch eine Reihe dünner Kupfersäulen ersetzen. Die Säulen wurden nun durch Draht miteinander verbunden, an dem die Beleuchtung angebracht war. In der osmanischen Zeit scheint man die Moschee wieder stärker ausgeleuchtet zu haben. Wie der mekkanische Geschichtsschreiber ʿAlī ibn ʿAbd al-Qādir at-Tabarī (gestorben 1660) berichtet, gab es zu seiner Zeit in der Moschee wieder 450 Lampen. 224 davon befanden sich am Rand des Matāf, die übrigen befanden sich in den Arkaden. Die 224 Lampen des Matāf waren in 32 Leuchtern zu je sieben Lampen zusammengefasst. Fünf der Lampen wurden nur zum ʿIschā'-Gebet angezündet und dann ausgelöscht. Die übrigen zwei brannten bis zum Morgen. Beim Gebetsruf zum Fadschr-Gebet wurden die übrigen fünf wieder angezündet. Nach dem Gebet der hanafitischen Gebetsgruppe wurden dann alle Lampen gelöscht. Zusätzlich zu den Lampen wurden jede Nacht 24 Kerzen angezündet, zwei bei jedem der vier Maqāme und die anderen rund um den Matāf. In den Vollmondnächten um die Mitte des Monats verzichtete man jedoch auf diese Kerzen. Der tägliche Verbrauch der Lampen der Heiligen Moschee betrug 32 bis 40 Ratl Öl. Allerdings schloss das auch verschiedene Lampen an religiös bedeutsamen Orten außerhalb der Moschee ein. Das Öl dafür wurde aus Ägypten herangeschafft.
Der mekkanische Geschichtsschreiber Muhammad as-Sabbāgh (gestorben 1903) berichtet, dass Ende der 1830er Jahre die Mutter des osmanischen Sultans Abdülmecid I. sechs Säulen aus Messing nach Mekka schickte, die fünf Ellen lang waren und eine palmenförmige Spitze hatten. Sie wurden in der Heiligen Moschee verteilt und auf Steinsockel gestellt. An jeder Säule wurden sechs Lampen angebracht. Diese Lampenträger, die „Bäume“ (šaǧar) genannt wurden, verblieben bis Anfang der 1940er Jahre in der Moschee. Außerdem wurden alle Kuppeln des Dachs mit Ketten ausgestattet, die man hinabließ und an denen man Glastöpfe mit Lampen aufhing. Abdülmecit ließ außerdem an den vorderen Säulen der Arkaden Querstangen aus Eisen anbringen, an denen jeweils fünf Lampen angebracht wurden. Diese brannten von Anfang des Monats Ramadan bis zum 20. Dhū l-Hiddscha. Insgesamt waren es 600 Lampentöpfe. Hinzu kamen 384 Lampen in den Säulenhallen, 283 Lampen um den Matāf sowie die Lampen an den Maqāmen, den Kuppeln, den Toren, den Lampenbäumen und den Minaretten. In der Zeit von Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) wurden in der Moschee während des Haddsch insgesamt 1872 Lampen angezündet.
Nach Muhammad Tāhir al-Kurdī (gestorben 1980) bestanden die in der Heiligen Moschee verwendeten Lampen aus halbkugelförmigen Glasgefäßen mit einer kleinen Basis und einer weiten oberen Öffnung ohne Deckel, die leicht mit der Hand zugänglich war. In die Höhlung dieser Gefäße wurde jeweils ein Glas gestellt, das zur Hälfte mit Wasser und zu einem Viertel mit Öl befüllt war, wobei das Öl obenauf schwamm. In der Mitte des Glases befand sich ein feiner Docht, der beim Hereinbrechen der Nacht angezündet wurde. Am Rand der Öffnung des Gefäßes waren drei Henkel, an denen Ketten befestigt waren, mit denen die Lampen aufgehängt werden konnten.
Nachdem sich der Scherif Husain ibn ʿAlī 1916 vom Osmanischen Reich unabhängig gemacht hatte, ersetzte er die Öllampen in der Moschee durch Petroleumlampen der Firma Joseph Lucas & Son. 1920 führte er in der Moschee elektrische Beleuchtung ein, indem er den Matāf durch 105 Glühlampen erleuchten ließ. Sie wurden von einem Generator mit der Leistung von 3 Kilowatt, der in der Umm-Hānī-Madrasa aufgestellt wurde, mit Strom versorgt. 1921 wurde dieser Generator durch einen doppelt so leistungsstarken Generator ersetzt, der insgesamt 300 Lampen in der Moschee mit Elektrizität versorgen konnte. Im Jahre 1927 spendete ein indischer Händler aus Rangun der Moschee einen neuen Generator mit 30 Kilowatt, der noch im gleichen Jahr in Betrieb ging. Da seine Leistung nicht ausreichte, um, wie vorgesehen, 1000 Lampen mit Strom zu versorgen, wurde 1930 auf Befehl des saudischen Königs Abd al-Aziz ibn Saud ein weiterer Generator mit 13½ PS angeschafft. 1934 schenkte schließlich der indische Zamindar Muhammad Muzammilullah Khan (gestorben 1935) der Moschee einen neuen Generator, der von einem Motor mit 52 PS Leistung angetrieben wurde. Sie wurde von dem mekkanischen Elektroingenieur Ismāʿīl Dhabīh in Indien abgeholt. Er brachte auch Kabel, Lampen, Kronleuchter und Scheinwerfer mit, die Muslime aus Lucknow, Kanpur und Karachi der Heiligen Moschee gespendet hatten. Die neue Anlage konnte Ende 1934 in Betrieb genommen werden. Die Leistung des neuen Generators reichte aus, um 1300 elektrische Lampen zu betreiben. Sie hatten die Leuchtkraft von ungefähr 35.000 Kerzen und leuchteten damit die Moschee 20-mal stärker aus als die Öllampen, die 20 Jahre vorher in Betrieb gewesen waren.
Nach der Gründung der Saudi Electricity Company durch die Juffali-Brüder und dem Aufbau eines allgemeinen Stromnetzes in Mekka wurde die al-Harām-Moschee am 14. Safar 1373 (= 23. Oktober 1953) an dieses Stromnetz angeschlossen, wodurch die Möglichkeiten für die elektrische Ausleuchtung des Gebäudekomplexes noch einmal vergrößert wurden. Bei der dritten Erweiterung nach 1988 wurde die Moschee im Inneren mit Kronleuchtern, Laternen und Leuchtstofflampen ausgestattet, und an den Rändern des Daches wurden besonders lichtstarke Scheinwerfer angebracht, die den Innenhof und die Dachflächen erleuchten, „was die Nacht zum Tag macht“.
Sonnenschutzvorrichtungen
Da in Mekka die Sonneneinstrahlung besonders stark ist, gab es immer wieder Bemühungen, den Moscheehof durch schattenspendende Elemente abzuschirmen. So schlugen zum Beispiel schon im späten 7. Jahrhundert die Gefährten von ʿAbdallāh ibn az-Zubair zum Sonnenschutz Zelte im Moscheehof auf. Und während des Kalifats von Hārūn ar-Raschīd (reg. 796–809) wurden an der Moschee Sonnenschutzvorrichtungen für die Muezzine angebracht. Diese hatten bisher sommers wie winters während des Freitagsgottesdienstes auf dem Dach der Moschee in der Sonne gesessen. Hārūn ar-Raschīds Gouverneur ʿAbdallāh ließ für sie auf dem Dach ein Schattendach (ẓulla) errichten, von dem sie aus den Gebetsruf erschallen lassen konnten, während der Imam auf dem Minbar war. Der Kalif al-Mutawakkil ließ dieses Schattendach im Jahre 854/55 bei einer Renovierung der Moschee niederreißen und in größerer Form wiedererrichten.
Der mekkanische Geschichtsschreiber ʿUmar Ibn Fahd (gestorben 1480) berichtet, dass im Jahre 1406 der Sultan von Cambay in Gujarat als Geschenk eine Anzahl von Zelten an den Scherifen von Mekka schickte. In einem Begleitbrief erklärte er, dass ihm zu Ohren gekommen sei, dass die Menschen am Freitag in der Heiligen Moschee nichts fänden, das ihnen beim Hören der Chutba Schatten spenden könnte. Da eine Anzahl von Gelehrten es für gut befunden hätte, dass die Menschen bei dieser Gelegenheit sich gegen die Sonne schützen könnten, habe er die Zelte geschickt. Der Scherif ließ die Zelte für kurze Zeit um die Kaaba herum aufstellen. Dann gab es aber Beschwerden, weil die Menschen über die Zeltstricke stolperten, worauf sie zu ihm gebracht wurden. Im frühen 15. Jahrhundert stellten einige Pilger erneut Zelte im Moscheehof auf, um sich vor der Sonne zu schützen. Da sich in diesen Zelten jedoch gemischte Gesellschaften von Männern, Frauen und Kindern aufhielten, die sich zum Teil sehr laut verhielten, wurden die Zelte verboten.
Das Aufstellen von Zelten im Moscheehof wurde zu Anfang der saudischen Herrschaft kurzzeitig wiederbelebt. Als beim Haddsch des 1927, der auf den Juni fiel, die Anzahl der Pilger besonders groß war und der Platz in der Moschee eng wurde, ließ der saudische König im Moscheehof solche Zelte aufstellen, damit die Betenden darin beim Mittags- und Nachmittagsgebet Schutz vor der Sonne finden konnten. Mehr als 10.000 Pilger verrichteten in diesen Zelten das Gebet. In den Jahren danach ließ ʿAbd al-Azīz während der Wallfahrtssaison an den vier Seiten des Hofs Markisen aufstellen, die den Pilgern Schatten vor der Mittagshitze bieten sollten. Sie wurden nach der Abreise der Pilger wieder entfernt. Nach der ersten Erweiterung der Heiligen Moschee wurden diese Sonnenschutzvorrichtungen ganz entfernt.
An die Moschee angrenzende Bauten
Um Pilgern, die nach dem Ende der Wallfahrt in Mekka blieben, um in der Heiligen Moschee dem Studium religiöser Wissenschaften nachzugehen, eine Unterkunft zu bieten, ließen ab dem 13. Jahrhundert verschiedene muslimische Herrscher und Privatpersonen an den Seiten der Moschee Madrasas errichten. Zu den bedeutendsten Madrasas, die rund um die Heilige Moschee errichtet wurden, gehörten drei, die den vier sunnitischen Lehrrichtungen gewidmet waren, nämlich:
die Ghiyāthīya-Madrasa in der südwestlichen Ecke der Moschee. Sie wurde 1410 von dem bengalischen Sultan Ghiyāth ad-Dīn Aʿzam Schāh (reg. 1390–1410) gestiftet.
die Madrasat al-Aschraf Qā'itbāy zwischen der Moschee und dem Masʿā, also der Laufstrecke zwischen as-Safā und al-Marwa. Sie wurde 1480 von dem mamlukischen Sultan al-Malik al-Aschraf Qā'itbāy (reg. 1468–1496) gestiftet und erhielt einen Sabīl, ein Minarett, ein Ribāt und eine Bibliothek.
die Madāris Sulaimānīya an der nördlichen Seite der Moschee zwischen der nordöstlichen Ecke und dem Bāb az-Ziyāda. Sie wurde zwischen 1565 und 1570 im Auftrag des osmanischen Sultans Süleyman I. (reg. 1520–66) errichtet.
Evliya Çelebi (gestorben 1683) erwähnt, dass sich zu seiner Zeit insgesamt vierzig Madrasas an den vier Seiten der Heiligen Moschee befanden. Allerdings verloren diese Einrichtungen schon relativ bald ihre Funktion als Bildungsinstitutionen, weil sie als Herbergen zweckentfremdet wurden oder ihr Stiftungsvermögen veruntreut wurde. Verwalter und Beamte richteten sich selbst häuslich in den Gebäuden ein, vermieteten die wegen der Nähe zur Moschee geschätzten Wohnungen an vornehme Pilger oder reiche Bewohner von Mekka, so dass von diesen Anstalten nur die Namen übrig blieben. Als sich Christiaan Snouck Hurgronje Ende des 19. Jahrhunderts für mehrere Monate in Mekka aufhielt, rieten ihm viele Mekkaner gleich bei der Ankunft, eine der verfügbaren Madrasas ganz oder teilweise zu mieten. Er resümiert die Situation der mekkanischen Madrasas zu seiner Zeit mit den Worten:
Die meisten Madrasas im Umfeld der Heiligen Moschee waren direkt von ihr aus über kleine Durchgänge in der Moscheemauer zu erreichen. Außerdem befanden sich in der Moscheemauer Türen, die zu Depots und Geschäften von Moscheedienern und Zamzam-Scheiches führten, die diese manchmal für das Bad und die rituelle Waschung von bedeutenden Pilgern mit Zamzam-Wasser benutzten.
Der Name al-masǧid al-ḥarām
Der Ausdruck al-masǧid al-ḥarām, mit dem heute auf Arabisch die al-Harām-Moschee bezeichnet wird, scheint in Arabien schon in vorislamischer Zeit bekannt gewesen zu sein. So schwor Qais ibn al-Chatīm, der wichtigste Dichter im vorislamischen Yathrib, in einem Gedicht „bei Allah, dem Herrn des Masdschid Harām, und dem, was mit jemenitischen Stoffen bedeckt worden ist“ (wa-Llāhi ḏī l-masǧidi l-ḥarāmi wa-mā ǧullila min yumnatin). Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit das mekkanische Heiligtum mit der von der Kiswa verhüllten Kaaba gemeint war.
Aussagen im Koran
Der Ausdruck al-masǧid al-ḥarām kommt insgesamt 15 Mal im Koran vor, davon sechs Mal in Sure 2, drei Mal in Sure 9 und zwei Mal in Sure 48. Rudi Paret übersetzt den Begriff meistens mit „heilige Kultstätte“, Hartmut Bobzin mit „heilige Anbetungsstätte“ oder „heiliger Gebetsort“. Die früheste Erwähnung entstammt der mittelmekkanischen Periode. In Sure 17:1 wird Gott dafür gepriesen, dass er seinen Knecht nachts vom „heiligen Gebetsort“ (al-masǧid al-ḥarām) zum „fernsten Gebetsort“ (al-masǧid al-aqṣā) reisen ließ, eine Aussage, die in der Koranexegese auf Mohammed bezogen wird.
In Sure 2:117 wird es als eine große Sünde gebrandmarkt, dass die Gegner Mohammeds die Gläubigen vom Masdschid Harām fernhalten. In Sure 8:34 wird den Mekkanern, die sich so verhalten, göttliche Strafe angedroht. Drei Textstellen (Sure 2:144, 2:149 und 2:150) legen den Masdschid Harām als neue Qibla fest. Sure 2:191 verbietet den Gläubigen, beim Masdschid Harām gegen ihre Gegner zu kämpfen, wenn sie nicht selbst dort von ihnen angegriffen werden. In Sure 22:25 wird bekräftigt, dass Gott den Masdschid Harām für die Menschen errichtet hat, sowohl für den dort Wohnenden als auch für den in der Wüste lebenden. Demjenigen, der dort Ketzerei betreibt, wird gleichzeitig Strafe angedroht. In Sure 5:2 werden die Gläubigen davor gewarnt, aus Hass gegenüber denjenigen, die sie vom Masdschid Harām abhalten, gewalttätig vorzugehen. In Sure 48:25 werden die Zuhörer daran erinnert, dass es die Ungläubigen waren, die sie vom Masdschid Harām abhielten, in Sure 48:27 wird ihnen in Aussicht gestellt, dass sie – wenn Gott will – den Masdschid Harām in Sicherheit betreten werden, mit geschorenem oder gekürztem Haupthaar, ohne dass sie sich fürchten müssen.
Die drei Textstellen in Sure 9 stammen wahrscheinlich aus der Zeit nach der Einnahme Mekkas im Januar 630. In Sure 9:7 wird ein Vertrag erwähnt, den die Gläubigen mit den Beigesellern beim Masdschid Harām geschlossen haben. Sure 9:19 betont, dass der Unterhalt des Masdschid Harām nicht auf der gleichen Stufe steht wie der Glaube an Gott und der Dschihad auf dem Wege Gottes. Damit wird das Verbot in den beiden vorausgehenden Versen (Sure 9:17f) begründet, dass Beigeseller zukünftig keine Anbetungsstätten mehr unterhalten dürfen. Sure 9:28 spricht das Verbot aus, dass sich die Beigeseller nach Ablauf eines Jahres dem Masdschid Harām nicht mehr nähern dürfen, und begründet dies damit, dass sie unrein seien. Sure 2:196 legt für diejenigen, die nicht beim Masdschid Harām wohnen, Sühneregeln bei Unterbrechung des Weihezustands bei der Wallfahrt fest.
Unter den muslimischen Koran-Exegeten herrscht weitgehende Einigkeit, dass mit dem Ausdruck al-Masdschid al-Harām, der im Koran verwendet wird, nicht die al-Harām-Moschee als Bauwerk gemeint ist, weil dieses zur Zeit Mohammeds noch nicht bestand, sondern das mekkanische Heiligtum. Hierbei zogen sie allerdings die Grenzen unterschiedlich weit. Der basrische Koranexeget Qatāda ibn Diʿāma meinte, dass mit dem in Sure 22:25 genannten Masdschid Harām Mekka gemeint sei. Al-Māwardī (gestorben 1058) war der Ansicht, dass an allen Koranstellen, in denen von al-Masdschid al-Harām die Rede ist, der Haram gemeint sei. Ein Beweis dafür war seiner Meinung nach Sure 17:1, weil man wisse, dass der Ausgangspunkt der Himmelfahrt Mohammeds, auf die sich der Vers beziehen soll, das Haus von Chadīdscha bint Chuwailid gewesen sei. Einzige Ausnahme war seiner Meinung nach die Aussage in Sure 2:144 „Wende dich mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Kultstätte“, weil hier die Kaaba gemeint sei. Auch in der modernen Wissenschaft geht man davon aus, dass der Ausdruck al-Masdschid al-Harām nicht die al-Harām-Moschee meint. Arent Jan Wensinck vermutete, dass sich die koranischen Aussagen, in denen vom Masdschid Harām die Rede ist, allgemein auf Mekka beziehen.
Vom Heiligtum zur Moschee: Diskussionen über den Ausdruck in frühislamischer Zeit
Al-Azraqī berichtet davon, dass es unter den frühislamischen Gelehrten Diskussionen über die Bedeutung des Ausdrucks al-masǧid al-ḥarām gab. Während mekkanische Gelehrte wie ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gestorben 688) und ʿAtā' ibn Abī Rabāh (gestorben ca. 732) weiter die Auffassung vertraten, dass dieser Ausdruck den gesamten Bezirk des Haram von Mekka bezeichnete, zogen andere die Grenzen des Masdschid Harām inzwischen enger. Der Prophetengefährte ʿAbdallāh ibn ʿAmr (gestorben um 684) wird mit den Worten zitiert: „Das Fundament des Masdschid Harām, den Abraham gelegt hat, reicht von al-Hazwara nach dem Masʿā hin bis zum Abfluss der Flut von Adschyād“. Al-Hazwara war der frühere Markt von Mekka. Der Masʿā ist die Straße zwischen as-Safā und al-Marwa, und Adschyād ein niedrig gelegenes Gebiet westlich von as-Safā, in dem bei Überschwemmungen das Wasser ablief. ʿAbdallāh ibn ʿAmr identifizierte al-Masdschid al-Harām also mit dem neu angelegten Moscheegebäude. Abū Huraira meinte, diese Bedeutung des Worts sogar im Koran wiederfinden zu können. Er wird bei Al-Azraqī mit den Worten zitiert: „Wir finden im Buch Gottes, dass die Grenze des Masdschid Harām von al-Hazwara bis zum Masʿā reicht.“
Ein Hadith, den der mekkanische Gelehrte Ibn Dschuraidsch (gestorben 767) von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās überlieferte, besagt, dass „das Haus“, also die Kaaba, die Qibla für die Leute des Masdschid ist, der Masdschid die Qibla für die Leute des Haram, und der Haram die Qibla für die übrigen Erdenbewohner im Osten und Westen aus der islamischen Umma. Dies zeigt, dass man den Masdschid von Mekka in dieser Zeit nicht mehr mit dem Haram identifizierte, sondern als einen engeren Bezirk betrachtete, der die Kaaba unmittelbar umgab.
Für spätere Generationen von Muslimen war selbstverständlich, dass al-masǧid al-ḥarām der Name der Moschee um die Kaaba ist. So erklärt zum Beispiel der schafiitische Rechtsgelehrte az-Zarkaschī (gestorben 1392), der in seinem Moscheen-Buch die verschiedenen koranischen Bedeutungen von al-masǧid al-ḥarām erörtert, dass sie alle nur auf den Koran beschränkt seien, aber nach dem ʿUrf mit al-masǧid al-ḥarām die Moschee gemeint sei, in der man den Tawāf vollziehe. So könne man auch sagen: „Wir waren im Masdschid Harām, wir haben den Masdschid Harām verlassen, wir haben im Masdschid Harām den Iʿtikāf vollzogen, wir haben in ihm übernachtet.“
Religiöse Bedeutung
Hadithe über den hohen Wert des Gebets in der al-Harām-Moschee
In den ersten Generationen der Muslime wurden zahlreiche Hadithe über den hohen Wert des Gebets in der Moschee von Mekka verbreitet. Ein Hadith, der von Abū Huraira überliefert wird und auch in den Sahīh al-Buchārī Aufnahme gefunden hat, besagt, dass das Gebet in der Prophetenmoschee tausend Mal besser sei als ein Gebet anderswo mit Ausnahme der Heiligen Moschee. Daraus haben die muslimischen Gelehrten geschlossen, dass der jenseitige Lohn für den Gottesdienst in der Heiligen Moschee größer ist als in der Prophetenmoschee.
In den mekkanischen Chroniken von al-Azraqī (gestorben 837) und al-Fākihī (spätes 9. Jahrhundert) werden Überlieferungen mit noch konkreteren Angaben zum Wert eines Gebets in der Heiligen Moschee angeführt. In einem Hadith, den al-Azraqī zitiert, wird ausgesagt, dass das Gebet in der Heiligen Moschee 25.000 Mal besser sei als das Gebet in anderen Moscheen. ʿAbdallāh ibn az-Zubair wird mit der Aussage zitiert, der Prophet habe gesagt, dass das Gebet in der Heiligen Moschee von Mekka hundert Mal besser sei als das in der Prophetenmoschee in Medina. Ein Hadith, der über Anas ibn Mālik auf den Propheten zurückgeführt wird, beschreibt eine mehrstufige Hierarchie von Orten mit unterschiedlichen Werten für das Gebet: Demnach hat das Gebet eines Mannes zu Haus den Wert von einem Gebet; wenn er einer Stammesmoschee betet, wie sie in der islamischen Frühzeit üblich waren, zählt es wie 25 Gebete; sein Gebet in einer Freitagsmoschee zählt wie 500 Gebete, sein Gebet in der al-Aqsā-Moschee und der Prophetenmoschee wie 50.000 Gebete, und sein Gebet in der Heiligen Moschee wie 100.000 Gebete.
In einem Hadith, den al-Fākihī nach ʿAbdallāh ibn ʿAbbās zitiert, werden noch höhere Zahlen genannt: ein einzeln verrichtetes Gebet in der Heiligen Moschee soll den Wert von 100.000 gewöhnlichen Gebeten haben, ein Gebet in der Gruppe den Wert von 1.500.000 Gebeten. Wahb ibn Munabbih wird mit der Aussage zitiert, er habe in der Tora geschrieben gesehen, dass Gott demjenigen, der seine fünf Gebete in der Heiligen Moschee verrichte, 12,5 Million Gebete gutschreibe. Der Prophetengefährte ʿAbdallāh ibn Masʿūd, der ansonsten meinte, dass es für Frauen das Beste sei, wenn sie zu Hause beteten, betrachtete das Gebet in der Heiligen Moschee als die einzige Ausnahme, weil dieses seiner Meinung nach auch für Frauen besser war als das Gebet zu Hause.
Zur Herausstellung des hohen Werts des Gebets in der Heiligen Moschee wurden auch Chidr-Geschichten verbreitet. So besagt eine bekannte Überlieferung, die auf den syrischen Traditionarier Schahr ibn Hauschab (gestorben 718) zurückgeführt wird, dass al-Chidr jeden Freitag in der Heiligen Moschee bete. Lediglich in der malikitischen Rechtsschule, in der sich die Lehrtradition von Medina bewahrt hat, beurteilte man den Wert des Gebets in der Heiligen Moschee anders. Hier meinte man, dass das Gebet in der Prophetenmoschee verdienstvoller sei als das Gebet in der Heiligen Moschee.
al-Masdschid al-Harām als die älteste Gebetsstätte auf Erden
Nach einem Hadith, der Aufnahme in verschiedene Sammlungen, darunter auch den Sahīh al-Buchārī, gefunden hat, berichtete Abū Dharr al-Ghifārī, dass er einmal den Gottesgesandten gefragt habe, welches die erste Gebetsstätte (masǧid) sei, die auf Erden errichtet wurde. Daraufhin habe der Gottesgesandte geantwortet: „al-Masdschid al-Harām“. Als Abū Dharr zurückfragte, welches die zweitälteste Gebetsstätte sei, habe jener geantwortet: „al-Masdschid al-Aqsā“, und auf Nachfrage erklärt, dass dieser vierzig Jahre später erbaut worden sei.
Die muslimischen Gelehrten haben diesen Hadith in der Weise verstanden, dass „al-Masdschid al-harām“ die Bezeichnung für das von Abraham errichtete mekkanische Heiligtum ist und „al-Masdschid al-Aqsā“ die Bezeichnung für den von Salomo errichteten Jerusalemer Tempel. Probleme bereitete ihnen nur, dass nach den Geschichtsbüchern der Abstand zwischen den beiden Herrschern erheblich größer war als vierzig Jahre. Der mekkanische Gelehrte Abū Bakr ibn ʿAlī Ibn Zahīra (gestorben 1484) löste das Problem in der Weise, dass er annahm, dass beide Gebäude eine noch ältere Geschichte hatten: Das mekkanische Heiligtum sei von Adam angelegt worden, und das Jerusalemer Heiligtum von einem seiner Nachkommen. Abraham und Salomo hätten dann jeweils nur die Gebäude erneuert.
Ein weiterer Hadith, der über Abū Huraira auf den Propheten zurückgeführt wird, besagt, dass man allein zu drei Heiligtümern reisen solle, der „al-Masdschid al-Harām“ in Mekka, seinem Masdschid in Medina und „al-Masdschid al-Aqsā“ in Jerusalem. Wie Meir Jacob Kister gezeigt hat, ist die eigentliche Intention dieses Drei-Moscheen-Hadiths die Aufzeigung der Gleichrangigkeit von Jerusalem mit den beiden Heiligtümern des Hedschas, an der unter den frühen muslimischen Gelehrten Zweifel bestanden. Der hohe Rang des Heiligtums von Mekka war dagegen unumstritten.
Die al-Harām-Moschee als Gräberfeld der Propheten
In der frühislamischen Zeit kamen auch verschiedene Überlieferungen auf, wonach sich in der Heiligen Moschee die Gräber bekannter Propheten bzw. ihrer Verwandten befinden. ʿAbdallāh ibn az-Zubair soll von einer Auswölbung hinter der nördlichen Ecke der Kaaba gesagt haben, dass sie die Gräber der jungfräulichen Töchter Ismaels enthalte. ʿAbdallāh ibn ʿAbbās wird mit der Aussage zitiert, dass sich in der Heiligen Moschee die Gräber von zwei Propheten befänden, nämlich das Grab von Ismael im Hidschr und das Grab von Schuʿaib. Der mekkanische Gelehrte Muhibb ad-Dīn at-Tabarī (gestorben 1295) führte später Überlieferungen an, wonach sich auch die Gräber von Hūd, Noach und Sālih in der Heiligen Moschee befinden sollen. Insgesamt seien 99 Propheten in der Moschee begraben.
Geschichte des religiösen Lebens
Bestimmung der Gebetszeiten und Gebetsruf
Im frühen 9. Jahrhundert wurden die Gebetszeiten in Mekka durch den Zeitangeber (ṣāḥib al-waqt) ausgerufen. Er nutzte dafür das Minarett der Nordwestecke. Wie die Gebetszeiten bestimmt wurden, ist nicht bekannt.
Im 12. Jahrhundert ließ Dschamāl ad-Dīn al-Isfahānī (gestorben 1164), der Wesir von ʿImād ad-Dīn Zengi, dem Begründer der Zengiden-Dynastie, eine Sonnenuhr für die Bestimmung der Gebetszeiten neben dem Gebäude des Zamzam-Brunnens anbringen. Sie wurde im frühen 15. Jahrhundert Mīzān aš-šams („Sonnenwaage“) genannt. Der Vorsteher der Muezzine (raʾīs al-muʾaḏḏinīn) brachte zu dieser Zeit seinen Gebetsruf vom Minarett oberhalb des Friedenstors zu Gehör, worauf ihm dann die anderen Muezzine folgten. Im 16. Jahrhundert benutzte der Vorsteher der Muezzine dieses Minarett nur noch für den Ruf zum Sahūr in den Ramadan-Nächten sowie für Lobpreisungen und Litaneien. Den Gebetsruf für die fünf Gebete brachte er dagegen vom Dach des Zamzam-Gebäudes aus zu Gehör. Dorthin wurde im 16. Jahrhundert auch die Sonnenuhr verlegt. Im Mai 1669 richtete der maghrebinische Gelehrte Muhammad ibn Sulaimān ar-Rūdānī (gestorben 1683) beim Friedenstor eine Horizontalsonnenuhr mit einem mannshohen Polstab ein. Die Zeichnungen des Ziffernblatts befanden sich auf dem Gehweg des Friedenstors.
Auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich noch eine Sonnenuhr beim Zamzam-Gebäude. Sie war auf der Südseite angebracht, war das Geschenk eines Mannes aus Marrakesch und gab die Zeiten sehr genau an. Der Scheich der Muezzine (šaiḫ al-muʾaḏḏinīn) und Zeitangeber (mīqātī) ließ seinen Gebetsruf nach wie vor vom Dach des Zamzam-Brunnens aus erklingen, wobei ihm dann die Muezzine der sieben Minarette mit ihren Gebetsrufen folgten.
Die Organisation des Gebets und die Rechtsschulen
Eine Besonderheit, die die Heiligen Moschee von allen anderen Moscheen unterscheidet, ist, dass hier die Betenden nicht in geraden Reihen beten, sondern die Gebetsreihen in einem Kreis um die Kaaba herumgeführt werden. Der erste, der diese Gebetsordnung einführte, soll Chālid al-Qasrī gewesen sein, der unter dem umaiyadischen Kalifen al-Walīd Gouverneur von Mekka war. Der mekkanische Rechtsgelehrte ʿAtā' ibn Abī Rabāh (gestorben ca. 732) soll diese Form des Gebets autorisiert haben. Als man ihn fragte, ob er es bei einer geringen Anzahl von Betenden für besser hielt, wenn die Betenden alle hinter dem Maqām Ibrāhīm beteten oder eine Reihe rund um die Kaaba bildeten, entschied er sich für letzteres und verwies auf die koranische Aussage in Sure 39:75 „Und du siehst die Engel auf allen Seiten den Thron umgeben“.
Die Einrichtung von getrennten Gebetsgruppen
Im Laufe des Mittelalters entstand in der Heiligen Moschee eine Gebetsordnung, bei der die Anhänger der verschiedenen Rechtsschulen ihr Gebet in verschiedenen Zonen in getrennten Gebetsgruppen verrichteten. Wann diese Gebetsordnung entstand, ist nicht klar. Der erste bekannte Hinweis auf sie stammt aus dem Jahr 1104, in dem Abū Tāhir as-Silafī auf Haddsch ging. Er berichtet in seinem Muʿǧam as-safar von einem schafiitischen Gelehrten in Mekka, der dort als Imam des Maqām Ibrāhīm als erster betete, und zwar vor den Imamen der Malikiten, Hanafiten und Zaiditen. Die Hanbaliten waren also zu dieser Zeit noch nicht in der mekkanischen Gebetsordnung vertreten. Sie erhielten erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts einen eigenen Imam. Ibn Hubaira (gestorben 1165), der Wesir der Kalifen al-Muqtafī und al-Mustandschid, ließ für ihn in der Heiligen Moschee einen eigenen Pavillon für das Gebet errichten. Mardschān, der Diener al-Muqtafīs, der den hanbalitischen Madhhab hasste, ließ diesen Pavillon bei einer Wallfahrt jedoch wieder herausreißen und beseitigte das hanbalitische Imamat.
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts waren aber die vier sunnitischen Imame in der mekkanischen Gebetsordnung fest etabliert. Der erste Autor, der eine ausführlichere Beschreibung dieser Gebetsordnung liefert, ist der andalusische Pilger Ibn Dschubair, der im Jahre 1191 Mekka besuchte. Er berichtet, dass es zu seiner Zeit in der Heiligen Moschee fünf Imame gab, nämlich vier sunnitische und einen fünften für die „Sekte“ (firqa) der Zaiditen, der die Scherifen von Mekka angehörten. Die Standorte der sunnitischen Vorbeter waren durch mehr oder weniger große Vorrichtungen gekennzeichnet, die im Kreis um die Kaaba angeordnet waren. Die Hanafiten beteten auf der Nordwestseite der Kaaba, die Malikiten auf der Südwestseite, die Hanbaliten auf der Südostseite und die Schafiiten auf der Nordostseite am Maqām Ibrāhīm. Die verschiedenen Gebetsgruppen (ǧamāʿāt) beteten nach einer festgelegten Ordnung nacheinander. Der malikitische Gelehrte Ibn Farhūn (gestorben 1397) berichtet in seinem Manāsik-Werk, dass Anfang des 13. Jahrhunderts einer der abbasidischen Kalifen den Befehl gab, das Gebet in der Heiligen Moschee auf diese Weise abzuhalten, und sich von einer Reihe von malikitischen Gelehrten aus Alexandria in einer Fatwa bestätigen ließ, dass die vier Seiten der Moschee jeweils den Status einer eigenen Moschee mit zugehörigem Imam hatten.
Im Laufe der Zeit wurde die Gebetsordnung immer wieder verändert. Zur Zeit von Ibn Dschubair begann der schafiitische Imam mit dem Gebet, dann folgten der malikitische und der hanbalitische Imam gleichzeitig, und den Abschluss bildete der hanafitische Imam. Nur beim Abendgebet, das kurz nach Sonnenuntergang gesprochen wird und für das nur ein sehr kurzer Zeitraum zur Verfügung steht, beteten alle vier Imame gleichzeitig. Die Zaiditen beteten separat. 1326 wurde jedoch der Maqām der Zaiditen auf Befehl des mamlukischen Sultans abgeschafft und ihr Imam gewaltsam vertrieben. Die Scherifen von Mekka gingen wenig später selbst zum schafiitischen Madhhab über. In den 1390er Jahren wurde der hanafitische Imam bei den Gebeten vorgezogen, so dass nun die Reihenfolge war: Schafiit, Hanafit, Malikit, Hanbalit.
Ein besonders schwieriges Problem war die Organisation des Abendgebets. Da bei diesem alle Gebetsgruppen gleichzeitig beteten, kam es immer wieder zu allgemeiner Verwirrung, weil sich die Stimmen der verschiedenen Imame und der mukabbirūn, die deren Worte in die hinteren Reihen der Betenden übermittelten, miteinander vermischten. Der mekkanische Historiograph Taqī ad-Dīn al-Fāsī äußerte hierzu Anfang des 15. Jahrhunderts:
Der tunesische Gelehrte Ibn ʿArafa (gestorben 1401), der zu den wichtigsten Gelehrten des Hafsiden-Reichs gehörte und 1390 zum Haddsch nach Mekka kam, urteilte, dass ein solcher Gebetsmodus unzulässig sei. Aufgrund der heftigen Kritik von Seiten der Gelehrten beschäftigten sich auch verschiedene Herrscher mit diesem Problem. Einen ersten Reformversuch unternahm der ägyptische Mamlukenherrscher Faradsch ibn Barqūq, der für die Wallfahrt des Jahres 1408 befahl, dass allein der schafiitische Imam das Abendgebet beten solle. Sein Nachfolger al-Mu'aiyad Schaich stellte aber schon sechs Jahre später die alte Ordnung wieder her, weil sich die andere Rechtsschulen übergangen fühlten. Später beschränkte man sich beim Abendgebet auf den hanafitischen und den schafiitischen Imam, die gleichzeitig beteten. Da es auch bei dieser Art der Gebetsdurchführung wieder zur Verwirrung kam, verfügte um die Mitte der 1520er Jahre der osmanische Sultan Süleymān, dass die Gleichzeitigkeit der Gebetsgruppen aufgehoben und eine neue Regelung gefunden werden sollte. Der osmanische Gouverneur von Dschidda hielt daraufhin mit den Qādīs von Mekka eine Versammlung ab, bei der man sich darauf einigte, dass beim Abendgebet zuerst der hanafitische und dann der schafiitische Imam beten sollten. An dieser Regelung wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts nichts mehr geändert.
Beim Morgengebet war im 17. Jahrhundert die Reihenfolge: 1. Schafiit, 2. Malikit, 3. Hanbalit, 4. Hanafit. Malikitische und hanbalitische Gebetsgruppen gab es ganzjährig allerdings nur beim Morgengebet. Lediglich während der Haddsch-Saison wurden sie auf die übrigen drei Gebetszeiten ausgeweitet, wobei dann der Malikit jeweils als erster betete. Später wurde die Voranstellung des hanafitischen Imams auch auf Mittags-, Nachmittags und Nachtgebet ausgeweitet, so dass dann bei diesen Gebeten die Reihenfolge war: 1. Hanafit, 2. Schafiit, 3. Malikit, 4. Hanbalit. Eine hanbalitische Gebetsgruppe bestand ganzjährig weiter nur für das Morgengebet, für die drei anderen Gebetszeiten wurde sie erst Ende des 19. Jahrhunderts wiedereingeführt.
Die Rivalität zwischen Schafiiten und Hanafiten
Obwohl diese Gebetsordnung vom Grundsatz her pluralistisch war, stellte sie nicht alle sunnitischen Lehrrichtungen auf die gleiche Stufe. So war die schafiitische Gebetsgruppe dadurch privilegiert, dass sie das Gebet beim Maqām Ibrāhīm verrichten durfte, einem Ort, der mit dem im Koran (Sure 2:125) genannten und empfohlenen Gebetsplatz Abrahams identifiziert wurde. Auch die Position des hanafitischen Imams war hervorgehoben: Sein Gebetsplatz befand sich gegenüber dem Hidschr und der Regenrinne der Kaaba. Der malikitische Maqām befand sich dagegen auf der Rückseite (dubur) der Kaaba. Wie aus dem Reisebericht Ibn Dschubairs hervorgeht, waren schon zu seiner Zeit die Gebetsplätze sehr unterschiedlich ausgestattet. Der hanafitische Gebetsplatz war durch einen besonders prächtigen Pavillon aus Holz mit einem Mihrāb gekennzeichnet und wurde in der Nacht durch Kerzen und Lampen besonders hell erleuchtet. Ibn Dschubair erklärt das damit, dass das gesamte persische Reich (ad-daula al-aʿǧamīya) – gemeint ist wahrscheinlich der Seldschukenstaat – diesem Madhhab folgte. Die Schafiiten besaßen ebenfalls einen reich geschmückten Holzpavillon. Die Gebetsplätze der zwei anderen sunnitischen Lehrrichtungen nahmen sich dagegen eher bescheiden aus: die Malikiten besaßen nur einen einfachen steinernen Mihrāb, der in der Nacht kaum beleuchtet war und „denen glich, die auf den Straßen errichtet sind“, und die Hanbaliten, die zu dieser Zeit noch an zwei verschiedenen Stellen beteten, verfügten an der einen über gar keine Vorrichtung, an der anderen nur über ein verfallenen Pavillon.
Schafiiten und Hanafiten hatten von Anfang an eine herausgehobene Position in der Gebetsordnung der Heiligen Moschee und rivalisierten miteinander. Diese Rivalität verschärfte sich im Laufe der Zeit noch weiter, weil verschiedene Herrscher, die dem hanafitischen Madhhab folgten, den hanafitischen und Maqām („Standort“) ausbauen ließen. So ersetzten 1399 die tscherkessischen Mamluken der Burdschiyya-Dynastie die frühere Holzkonstruktion durch ein auf vier Steinsäulen ruhendes Gebäude mit einem Dach, das mit Gold und Lapislazuli dekoriert war. Mehrere schafiitische Gelehrte missbilligten jedoch den neuen Bau. Auf Missbilligung stießen unter anderem der hohe Aufwand für seine Errichtung und die Gefahr, dass Leute dort Zerstreuung suchten, weil der Bau ihnen dafür Schutz bot. Der ägyptische Gelehrte Zain ad-Dīn al-Fāriskūrī (gestorben 1406) verfasste darüber eine eigene Abhandlung, und die beiden Gelehrten Sirādsch ad-Dīn al-Bulqīnī (gestorben 1403) und sein Sohn Dschalāl ad-Dīn al-Bulqīnī (gestorben 1421), die zu den wichtigsten Muftis Ägyptens gehörten, urteilten nach 1399 in einer Fatwa, dass der hanafitische Maqām abgerissen werden müsse und jeder, der diesen Bau in einer Fatwa für zulässig erkläre, ein Vergehen begehe und zurechtgewiesen werden müsse. Der verantwortliche Leiter in Ägypten ordnete daraufhin den Abriss des Gebäudes an, doch ließ man aufgrund von Protesten von diesem Plan ab. Hanafitische Gelehrte verteidigten den Bau damit, dass er Schutz vor der Sonnenhitze, Regen und Kälte biete und die gleiche Stellung habe wie die Arkaden der Moschee. Der Emir Sūdūn al-Muhammadī versah 1432 das Gebäude mit einer Kuppel aus Walnussholz, die von außen mit Gips überzogen war.
Die Osmanen ließen das bisherige Gebäude des hanafitischen Maqām kurz nach Errichtung ihrer Oberherrschaft über Mekka im Jahre 1517 abreißen und durch einen hohen Kuppelbau aus gelbem und rotem Schumaisī-Stein ersetzen. Der osmanische Beamte Muslih ad-Dīn, der diese Baumaßnahme durchführte, begründete sie bei einer Versammlung mit mekkanischen Gelehrten und Notablen damit, „dass der größte Imam“ (al-imām al-aʿẓam) Abū Hanīfa es wert sei, dass er in der Heiligen Moschee einen Platz zur Versammlung der Leute und Anhänger seines Madhhabs habe, der größer sei als der bisherige Maqām. In den 1520er Jahren ließ der osmanische Sultan auch die Maqāme der Malikiten und Hanbaliten ausbauen. Nach dem Umbau bestanden sie aus rechteckigen Gebäuden, die auf vier Pfeilern ruhten, mit einem Giebeldach. Da der hanafitische Maqām wegen seiner Pomphaftigkeit und des großen Raums, den er in der Moschee einnahm, auf viel Ablehnung stieß, ließ ihn der Sultan im Jahre 949 (1542 n. Chr.) niederreißen und durch ein bescheideneres Gebäude ersetzen. Der neue Maqām bestand aus einem rechteckigen Bau mit zwei Stockwerken und einem bleibeschichteten Walmdach und hatte wie die anderen Maqāme im Inneren einen Mihrāb. Das obere Stockwerk diente fortan auch als Standplatz der mukabbirūn, die das Gebet in der Heiligen Moschee koordinierten (siehe dazu oben). Der schafiitische Imam hatte insofern ebenfalls eine herausgehobene Position, als er entweder hinter dem Maqām Ibrāhīm oder im oberen Stockwerk des Zamzam-Brunnegebäudes betete.
Die Reform der Gebetsordnung im 20. Jahrhundert
Das nach Rechtsschulen getrennte rituelle Gebet wurde auch während der osmanischen Zeit immer wieder von verschiedenen muslimischen Gelehrten kritisiert, die diese Praxis als eine unrechtmäßige Neuerung betrachteten. Der jemenitische Gelehrte asch-Schaukānī (gestorben 1834) urteilte:
Auch Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gestorben 1792), der Begründer der wahhabitischen Lehre, hatte die Aufteilung der Betenden in der Heiligen Moschee kritisiert. Deshalb war die Abschaffung des nach Rechtsschulen getrennten Gebets eine der ersten Maßnahmen, die von den wahhabitischen Ichwān und saudischen Truppen ergriffen wurden, die im Oktober 1924 Mekka einnahmen. Mit der Verwaltung der Stadt wurde zunächst Chālid ibn Lu'aiy betraut, ein Scherif, der sich dem saudischen König ʿAbd al-ʿAzīz ibn Saʿūd angeschlossen und die wahhabitische Lehre angenommen hatte. Er verbot das Gebet in getrennten Gebetsgruppen in der Heiligen Moschee und ordnete an, dass fortan das Gebet nur noch in einer Gebetsgruppe abzuhalten war, die von einem hanbalitischen Imam geleitet wurde. Da viele Mekkaner daraufhin dem Gebet fernblieben, gab er Anweisung, dass Männer, die nicht zum Gebet kamen, hart bestraft werden sollten. Aufgrund der Proteste der mekkanischen Bevölkerung stellte Ibn Saʿūd nach seiner Ankunft in Mekka im Dezember 1924 die vier Gebetsgruppen wieder her, ordnete aber an, dass diese das Gebet immer nacheinander zu halten hatten, wobei der hanafitische Imam mit dem Gebet begann. Alle, die sich in der Moschee befanden, hatten hinter ihm zu beten. Wenn er mit dem Gebet fertig war, hielt der schafiitische Imam das Gebet, wobei alle mit ihm beteten, die das erste Gebet verpasst hatten. Dann hielten der malikitische und hanbalitische Imam ihr Gebet ab.
Im Oktober 1926 kam eine Anzahl von saudischen Gelehrten zusammen und beschloss eine Neuregelung des Gebets in der Heiligen Moschee, bei der die Gebetsgruppen erneut zu einer vereinigt wurden. Dafür wurden von den Schafiiten, Hanafiten und Malikiten jeweils drei Imame und von den Hanbaliten zwei Imame gewählt. Diese lösten fortan bei den fünf täglichen Gebeten einander ab. Diese Regelung bedeutete, dass diejenigen, die in der Heiligen Moschee beteten, anders als früher oft hinter einem Imam beten mussten, der einem anderen Madhhab angehörte als sie selbst. Im Juli 1929 wurde aber auch dieses System revidiert: Fortan leiteten nur noch zwei Imame salafistischer Ausrichtung die fünf täglichen Gebete. Im Rahmen des Ausbaus der Heiligen Moschee zwischen 1957 und 1963 wurden die Maqāme der vier Rechtsschulen niedergerissen.
Die Freitagspredigt
Ibn Dschubair berichtet, dass es in der Heiligen Moschee ein spezielles Ritual für die Chutba gab. Als erstes wurde der fahrbare Minbar an die Seite der Kaaba zwischen dem Schwarzen Stein und der Irakischen Ecke geschoben. Sodann betrat der Chatīb durch das Tor des Propheten die Moschee. Er trug üblicherweise ein schwarzes golddurchwirktes Gewand und einen Turban in gleichem Stil, die ihm der abbasidische Kalif übersandt hatte. Beim feierlichen Einzug in die Moschee wurde er von zwei bannerschwenkenden Muezzinen begleitet. Vor ihm her lief eine Person, die laut mit der Peitsche knallte, so dass es jeder innerhalb und außerhalb der Moschee hörte. Auf diese Weise wurde den Menschen innerhalb und außerhalb der Moschee der Beginn der Chutba signalisiert. Der Chatīb begab sich nun zunächst zum Schwarzen Stein, küsste ihn und sprach bei ihm ein Bittgebet. Dann schritt er zum Minbar, geführt von dem Vorsteher der Muezzine im Haram, der ebenfalls schwarz gekleidet war. Er trug über der Schulter ein Schwert, das er dem Chatīb umgürtete, wenn dieser die erste Stufe des Minbars hinaufstieg. Nun wurden die Banner an der Seite des Minbars befestigt. Dann stieg der Chatīb die Stufen des Minbars hoch, wobei er auf die drei ersten Stufen und die letzte Stufe jeweils mit der Lederscheide seines Schwertes einmal laut hörbar schlug. Dann sprach er ein leises Bittgebet, begrüßte rechts und links die Menschen und wartete, bis diese seinen Gruß erwidert hatten. Nachdem die Muezzine den Adhān angestimmt hatten, begann der Chatīb mit seiner Chutba. In ihrem Rahmen sprach er auch ein Bittgebet für den Kalifen und den Emir von Mekka. Nach Abschluss der Chutba sprach er das Gebet. Danach verließ er die Moschee, wobei er von den beiden Bannerträgern begleitet wurde und der Mann mit der Peitsche ihm voranlief.
Dieses pompöse Ritual scheint sehr lange bestanden zu haben. Der ägyptische Pilgerführer Ibrāhīm Rifʿat Bāschā (gestorben 1935), der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrfach als Führer der ägyptischen Pilgerkarawane fungierte, berichtet, dass es auch zu seiner Zeit noch vollzogen wurde. Einer der wenigen Unterschiede zu der Situation im 12. Jahrhundert bestand darin, dass die Banner nicht von Muezzinen, sondern von den Eunuchen (aġwāt) des Haram geschwenkt wurden. Außerdem war zu dieser Zeit der Minbar fest im Boden verankert. Ein anderer Bericht erwähnt, dass in der osmanischen Zeit während der Chutba ein Moscheediener auf halber Höhe des Minbar stand und immer, wenn der Chatīb den Propheten Mohammed, seine Gefährten oder den Kalifen erwähnte, die entsprechenden Eulogien bzw. Bittgebete sprach. Der Chatīb war in der osmanischen Zeit etwas anders gekleidet: Üblicherweise trug er eine breitärmelige Dschubba mit einem Turban aus weißem Musselin, der auf eine spezielle Art gewickelt war, die al-Madradsch nannte. Nachdem sich der Scherif Husain ibn ʿAlī 1916 vom Osmanischen Reich unabhängig gemacht hatte, wurde an dem Ritual der Freitagspredigt nichts geändert, doch wurde zum Abschluss der Predigt ein spezielles Bittgebet für Husain gesprochen.
Nach der saudischen Machtübernahme im Jahre 1924 wurde das jahrhundertealte Ritual, das bei der Freitagspredigt vollzogen wurde, abgeschafft und durch ein sehr einfaches Vorgehen ersetzt. Es besteht daraus, dass sich der Chatīb nach dem Gebetsruf allein zum Minbar begibt, ihn hochsteigt und die Chutba hält. Wie das übrige Moscheepersonal trägt er eine Abaya und eine Ghutra. Der Name des saudischen Herrschers wird in der Chutba nicht erwähnt.
Die Tarāwīh-Gebete und die Chatma im Ramadan
Besonders große Bedeutung haben in der Heiligen Moschee auch die Tarāwīh-Gebete in den Nächten des Ramadan. Der umaiyadische Statthalter Chālid al-Qasrī führte für sie im frühen 8. Jahrhundert einen speziellen Ritus ein, bei dem auf zwei Rakʿas mit Koran-Rezitation jeweils eine siebenfache Umkreisung der Kaaba folgte.
Wie aus den Beschreibungen Ibn Dschubairs über das religiöse Leben in Mekka hervorgeht, bestand dieser Ritus auch im 12. Jahrhundert fort, allerdings gab es zu dieser Zeit fünf Tarāwīh-Gebetsgruppen (Schafiiten, Hanbaliten, Hanafiten, Zaiditen, Malikiten). In allen Ecken der Moschee saß ein Koran-Rezitator, der mit seiner Gruppe betete. Auf diese Weise war die ganze Moschee von dem Stimmengewirr der verschiedenen Rezitatoren erfüllt und die Stimmung war emotional sehr aufgeladen. Die Schafiiten waren bei der Verfolgung der gottesdienstlichen Übungen besonders eifrig. Sie vollzogen zunächst zehn Taslīms (= 20 Rakʿas) und führten dann einen Tawāf durch. Nach siebenmaliger Umkreisung und einer Rakʿa knallte der Imam mit der Peitsche, was das Signal für die Rückkehr zu den Tarāwīh-Gebeten war. Als die Gruppe zwei weitere Taslīms gebetet hatte, vollzog sie einen weiteren siebenmaligen Tawāf. Auf diese Weise verfuhren sie weiter, bis sie zehn weitere Taslīms gebetet hatten. Zum Abschluss beteten sie noch das Witr- und das Schafʿ-Gebet. Der hanafitische Gelehrte Ibn ad-Diyā' al-Makkī (gestorben 1450), der in Mekka als Muhtasib tätig war und eine Abhandlung verfasste, in der er verschiedene in der Heiligen Moschee praktizierte Bräuche auflistete, erwähnt diese Tarāwīh-Bräuche ebenfalls. Er berichtet, dass sich die Rezitatoren bei den Gebeten in der Lautstärke üblicherweise gegenseitig zu übertreffen versuchten und sich hinter ihnen Mukabbirūn befanden, die ihre Stimme sehr laut erhoben. An den Sitzungen nahmen gewöhnlich auch Frauen teil, die sich dafür herausputzten und parfümierten.
In den letzten fünf ungeraden Nächten des Monats (21., 23., 25., 27., 29. Ramadan) fand in der Heiligen Moschee eine Chatma, also eine feierliche Rezitation des ganzen Korans statt, zu der sich viele Männer und Frauen versammelten. Einen Teil der Rezitation übernahmen dabei jeweils die Söhne prominenter mekkanischer Persönlichkeiten. Nach der Rezitation hielten sie eine feierliche Chutba auf einem Minbar. Vor ihnen auf den Stufen des Minbar saßen Männer, die die Chutba zu bestimmten Zeitpunkten mit lauten Zwischenrufen „O Herr, o Herr“ (yā Rabb, yā Rabb) unterbrachen. Er setzte sich dann und blieb still, woraufhin die Koran-Rezitatoren weitere Teile des Korans vortrugen. Nach dem Ende der Zeremonie lud der Vater des betreffenden Knaben zu einem feierlichen Essen in seinem Haus ein. Auch diese Bräuche werden von Ibn ad-Diyā' al-Makkī erwähnt. Ihm zufolge erreichten die Feiern am 25. und 27. Ramadan ihren Höhepunkt, wenn auch die Beduinen der Umgebung nach Mekka strömten und an den Versammlungen teilnahmen. Ibn ad-Diyā' bemängelte, dass es bei diesen Versammlungen sehr laut zuging, sich Männer und Frauen vermischten und zwischen ihnen „Verlockungen“ (fitan) eintraten.
Wie den Beschreibungen Christiaan Snouck Hurgronjes zu entnehmen ist, gab es im 19. Jahrhundert in den Ramadan-Nächten in der Heiligen Moschee noch zahlreiche Tarāwīh-Gebetsgruppen. Einzelne davon wurden von 12- bis 15-jährigen Knaben geleitet, die gerade erst die Koranschule absolviert hatten und die Tarāwīh-Gebete dazu nutzten, um als Probeleistung in 20 bis 30 Nächten eine Chatma zu erbringen. Nach Abschluss der Chatma wurden Süßigkeiten gereicht.
Heute gibt es beim Tarāwīh-Gebet in der Heiligen Moschee nur noch eine Gebetsgruppe. Die offiziellen Imame beten 23 Rakʿas zusammen mit dem Witr-Gebet und schließen die Koranrezitation ein oder zwei Tage vor Monatsende ab. Der Imam führt zum Abschluss der Koranrezitation bei der letzten Rakʿa der Tarāwīh-Gebete ein Bittgebet durch. In den letzten zehn Tagen des Monats wird an das Tarāwīh-Gebet noch ein Tahaddschud-Gebet mit zehn Rakʿas angeschlossen. Das Witr-Gebet wird dann damit verbunden. Gewöhnlich lösen sich zwei Imame bei den Tarāwīh ab.
Totengebete
Al-Azraqī berichtet, dass es zu seiner Zeit drei Tore gab, bei denen man das Gebet für die Toten sprach, das al-ʿAbbās-Tor, das Banū-Schaiba-Tor und das as-Safā-Tor. Am al-ʿAbbās-Tor und am as-Safā-Tor befanden sich auch Örtlichkeiten, um die Leichenwaschung durchzuführen. Al-Azraqī berichtet auch, dass man in der vergangenen Zeit für bekannte Persönlichkeiten das Totengebet in der Heiligen Moschee selbst gesprochen hatte.
In späterer Zeit wurde es wieder Brauch, die Toten zum Gebet in die Moschee zu bringen. Der hanafitische Gelehrte Ibn ad-Diyā' al-Makkī (gestorben 1450) berichtet, dass zu seiner Zeit für alle Toten das Totengebet in der Heiligen Moschee gesprochen wurde, und man es für berühmte Persönlichkeiten und Notabeln (aʿyān) bei der Tür der Kaaba sprach. In früheren Zeiten sei dies ein Privileg der Scherifen und der Stammesangehörigen der Quraisch gewesen. Die Toten wurden anschließend durch das „Tor der Leichenzüge“ (Bāb al-Ǧanāʾiz) herausgetragen, das daher seinen Namen hat. Die Scherifen pflegten die Toten zur Zeit Ibn ad-Diyā' al-Makkī auch sieben Mal um die Kaaba herumzutragen, was der Autor selbst als eine hässliche Bidʿa betrachtete. Für Arme und Verstoßene wurde das Totengebet am Hazwara-Tor gesprochen. Wie der mekkanische Geschichtsschreiber Muhammad as-Sabbāgh (gestorben 1903) mitteilt, wurde zu seiner Zeit für alle Menschen, Männer und Frauen, Freie und Sklaven, Gelehrte und Scherifen, das Totengebet bei der Tür der Kaaba verrichtet. Der Leichenzug verließ die Moschee durch das Banū-Schaiba-Tor oder irgendein anderes Tor. Die Toten wurden aber nicht mehr um die Kaaba herumgetragen.
Andere populäre Bräuche
Daneben wurden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit noch verschiedene andere festliche Anlässe in der Heiligen Moschee begangen. Hierzu gehörten die Lailat ar-raghā'ib am Anfang des Monats Radschab, die Nacht zur Mitte des Monats Schaʿbān und die Nacht vor dem Prophetengeburtstag am 12. Rabīʿ al-auwal. In all diesen Nächten fanden religiöse Versammlungen in der Heiligen Moschee statt, bei denen es sehr laut zuging und sich auch die Geschlechter mischten. In der Nacht auf den Prophetengeburtstag versammelten sich die Teppichbreiter (farrāšūn) mit Kerzen und Laternen in der Heiligen Moschee und brachten den Chatīb in einem festlichen Umzug von der Heiligen Moschee zur Moschee am Geburtsort des Propheten, wobei auch Feuerwerkskörper abgeschossen wurden. Die zusätzliche Beleuchtung an den vier Maqāmen in den heiligen Nächten führte dazu, dass dort laute ausgelassene Versammlungen mit Lachen und Geschrei stattfanden. Sehr fröhlich ging es auch zu, wenn es in Mekka zu Regenfällen kam. Wie Ibn ad-Diyā' al-Makkī berichtet, war es dann üblich, dass Erwachsene und Kinder, darunter auch viele Sklavinnen, barfuß mit Schläuchen, Krügen und Kannen in die Heilige Moschee kamen und diese Gefäße unter großem Getöse und Geschrei mit Wasser aus der Regenrinne der Kaaba auffüllten.
Andere populäre Bräuche knüpften sich an die Erwartung, al-Chidr in der Heiligen Moschee treffen zu können. Diese Erwartung existierte, weil es verschiedene Berichte gab, wonach al-Chidr regelmäßig die Heilige Moschee besucht. Der mekkanische Gelehrte ʿAlī al-Qārī (gestorben 1606), der eine Abhandlung über al-Chidr verfasste, berichtet darin, dass sich zu seiner Zeit am ersten Samstag des Monats Dhū l-Qaʿda Frauen und Männer zur Zeit des Abendgebets beim Hazwara-Tor zu versammeln pflegten, in der Annahme, dass der Erste, der zu jenem Zeitpunkt aus der Heiligen Moschee herauskomme, al-Chidr sei. Diese Vorstellung war wahrscheinlich mit endzeitlichen Erwartungen verbunden, denn, wie der Autor in derselben Abhandlung berichtet, sagte man zu seiner Zeit, dass Chidr jeden Freitag in der Heiligen Moschee mit dem Mahdi und Jesus zusammentreffe.
Geschichte des sozialen Lebens: die verschiedenen Personengruppen
Die Verwaltung: vom „Scheich des Haram“ zum Generalpräsidium
Die Verwaltung der Heiligen Moschee lag bis zur Mamlukenzeit in der Hand der Statthalter von Mekka bzw. der scherifischen Emire von Mekka, wenn diese größere Unabhängigkeit gegenüber den die Oberherrschaft ausübenden islamischen Dynastien erlangten. Während der Zeit der osmanischen Oberherrschaft über Mekka (1517–1916) war die Verwaltung der Heiligen Moschee dem osmanischen Gouverneur in Dschidda anvertraut. Er führte den Titel „Scheich des Haram“ (šaiḫ al-ḥaram) und war für die gesamten frommen Stiftungen zur Unterhaltung der Heiligen Moschee zuständig.
Der Gouverneur von Dschidda ernannte ab dem 18. Jahrhundert für die Belange der Heiligen Moschee regelmäßig einen Bevollmächtigten, der vom Emir von Mekka in seinem Amt bestätigt wurde. Dieses Amt des „Haram-Bevollmächtigten“ (nāʾib al-ḥaram) blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf eine Familie beschränkt. Dem Haram-Bevollmächtigten unterstand das gesamte Personal der Heiligen Moschee. Hierzu gehörten die Imame, die Chatībs, die Eunuchen (aġawāt), die Ordnungshüter (mušiddūn), die Zamzam-Scheiche (zamāzima), die Teppichbreiter (farrāšūn), die Kehrer (kannāsūn) und alle anderen Bediensteten.
Im 19. Jahrhundert richteten die Osmanen eine Stiftungsbehörde mit einem eigenen Direktor ein, der als „Direktor der Stiftungen“ (mudīr al-auqāf) bezeichnet wurde. Er war zuständig für die Verwaltung des Stiftungsvermögens und die Auszahlung der Gehälter des Moscheepersonals sowie für Verteilung der jährlichen Nahrungsmittelzuteilungen, die von außerhalb nach Mekka gebracht wurden. Er führte darüber Listen, auf denen die einzelnen Berechtigten verzeichnet waren. Auf dieser Liste standen auch die Pförtner der Kaaba aus der Familie der Banū Schaiba. Die Stiftungsbehörde war verwaltungsmäßig dem Scheich des Haram unterstellt, fiskalisch gehörte sie jedoch zur Stiftungsverwaltung der Hohen Pforte in Istanbul. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es an der Heiligen Moschee insgesamt ungefähr 700 Amtsträger. Die meisten der Ämter waren erblich.
Nach der saudischen Einnahme des Hedschas bestätigte König ʿAbd al-ʿAzīz den „Haram-Bevollmächtigten“ (nāʾib al-ḥaram) as-Saiyid Hāschim ibn Sulaimān ibn Ahmad in seinem Amt und unterstellte ihm als neu geschaffene Behörde für die Verwaltung der Heiligen Moschee das Haram-Direktorium (maǧlis idārat al-ḥaram). Die Gehälter der Moscheebediensteten wurden fortan vom saudischen Staat bezahlt. Nach der ersten Erweiterung der Moschee und der Zunahme der Pilgerzahlen ergab sich die Notwendigkeit einer Neuordnung der Verwaltung und Dienstleistungen, auf die der Staat am 4. Ramadan 1384 (= 7. Januar 1965) mit der Schaffung des „Generalpräsidiums für die religiöse Aufsicht über die Heilige Moschee“ (ar-riʾāsa al-ʿāmma li-l-išrāf ad-dīnī li-l-masǧid al-ḥarām) reagierte. Am 6. Dhū l-Qaʿda 1397 (= 19. Oktober 1977) ging auf königlichen Befehl die Verantwortung über die Heilige Moschee auf die neu geschaffene „Verwaltung der beiden Heiligen Stätten“ (Idārat al-ḥaramain aš-šarīfain) über, der auch die Verwaltung der Prophetenmoschee in Medina übertragen wurde. Diese Behörde wurde am 7. Dschumādā II 1407 (= 7. Februar 1987) in „Generalpräsidium für die Angelegenheiten der Heiligen Moschee und der Prophetenmoschee“ (ar-Riʾāsa al-ʿāmma li-šuʾūn al-masǧid al-ḥarām wa-l-masǧid an-nabawī) umbenannt. Die Behörde wird seit 2012 von ʿAbd ar-Rahmān as-Sudais geleitet. Er fungiert bereits seit 1984 als Imam und Chatīb der Heiligen Moschee.
Das kultische Personal
Zum kultischen Personal der Heiligen Moschee gehörten die Imame, die Chatībs, die Muezzine, die Eunuchen (aġawāt), die Zamzam-Scheiche (zamāzima), die Teppichbreiter (farrāšūn) und die Kehrer (kannāsūn). Wie der mekkanische Geschichtsschreiber al-Fāsī (gestorben 1429) berichtet, erhielten die Bediensteten der Moschee zu seiner Zeit ein Gehalt (ǧāmakīya) aus Ägypten. Im Jahre 1537 gab es an der Heiligen Moschee sieben schafiitische Imame, jeweils drei hanafitische und malikitische Imame und zwei hanbalitische Imame. Im 17. Jahrhundert stieg die Anzahl der hanafitischen Imame auf insgesamt 14 an. Der starke Anstieg erklärt sich daraus, dass das Osmanische Reich der hanafitischen Lehrrichtung folgte.
Die verschiedenen kultischen Ämter in der Moschee waren zum großen Teil bestimmten alteingesessenen Familien vorbehalten. Das Amt des Chatībs zum Beispiel wurde im 16. und 17. Jahrhundert nur in drei Familien weitergegeben, den Tabarīyūn, den Zahīrīyūn und den Nuwairīyūn. Die Anzahl der Chatībs aus diesen Familien war Anfang des 17. Jahrhunderts allerdings so groß, dass jeder von ihnen nur ungefähr alle vier Monate an der Reihe war.
Die Eunuchen werden auch im Reisebericht von Ali Bey erwähnt, der die in Mekka herrschende Situation Anfang des 19. Jahrhunderts beschreibt. Er berichtet, dass zur Heiligen Moschee vierzig schwarze Eunuchen gehörten, die als die Wächter und Diener des Gotteshauses dienten und als Erkennungszeichen einen langen weißen Kaftan trugen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es an der Heiligen Moschee insgesamt 122 Imame und Chutba-Prediger (davon 79 Hanafiten, 24 Schafiiten, 14 Malikiten und fünf Hanbaliten), 52 Eunuchen, 41 Muezzine, acht Lampenanzünder, zwölf Teppichbreiter und 20 Kehrer.
Torwächter und andere Ordnungskräfte
Zur Aufrechterhaltung der Ordnung sind an der Heiligen Moschee zahlreiche Torwächter beschäftigt. Einer der frühesten Belege für die Existenz dieser Torwächter ist ein Dekret des mamlukischen Sultans Barsbay aus dem Jahre 1427. Darin wird verfügt, dass die früheren Torwächter, die Qādīs und Rechtsgelehrte (!) waren, entlassen werden und neue Torwächter ernannt werden sollten, die keinem Handwerk und keinem anderen Gewerbe oder Beruf nachgingen und selber zu den Bedürftigen gehörten. Einem jeden von ihnen wurde ein Tor übertragen, für das er von nun an verantwortlich war. Die Torwächter mussten Tag und Nacht bei ihrem jeweiligen Tor bleiben und durften sich nur im Notfall davon entfernen. Sie mussten ihr Tor regelmäßig fegen, besprengen und säubern und mussten Hunde, Wasserschläuche tragende Sklavinnen und Kamele davon abhalten, die Moschee zu betreten und als Durchgangsweg zu benutzen. Als jährliches Gehalt legte der Sultan für jeden Torwächter einen Betrag von zehn Aschrafis fest, der aus den Haramain-Stiftungen in Ägypten bezahlt und mit der Pilgerkarawane geschickt wurde. Auch die Osmanen wiesen den einzelnen Toren jeweils Torwächter zu. Sie sollten dafür sorgen, dass keine Hunde oder andere Tiere in die Moschee gelangten. Allerdings erfüllten sie ihre Aufgabe wohl nur in unzureichender Weise. ʿAlī at-Tabarī (gestorben 1660) berichtet, dass er häufig in der Nacht und sogar am helllichten Tag Hunde in der Moschee herumstreunen sah. Anfang des 20. Jahrhunderts waren an der Heiligen Moschee 30 Torwächter beschäftigt. Die meisten von ihnen waren Jemeniten, zwei waren Kurden.
Im 15. Jahrhundert gab es verschiedene Personen, die mit Billigung der Obrigkeit in der Heiligen Moschee Hisba-Aktivitäten nachgingen. Einer von ihnen war der türkische Emir Taghrībirmisch ibn Yūsuf (gestorben 1420), der im Jahre 1415 verschiedene Verbote durchsetzte. So durften Muezzine nachts von den Minaretten aus keine Lobgedichte mehr auf den Propheten rezitieren; Lobdichter (maddāḥūn) durften in den Zeiten, in denen sich üblicherweise viele Menschen in der Moschee versammelten, keine Gedichte mehr vortragen; bei den Chatma-Zeremonien in den Ramadan-Nächten durften Knaben keine Ansprachen mehr halten; und in den Heiligen Nächten durften auf den Maqāmen der vier Rechtsschulen keine Fackeln mehr angezündet werden, weil diese Praktiken zu lauten Versammlungen führten, die diejenigen, die zu dieser Zeit den Umlauf vollzogen oder beteten, störten, und sich außerdem bei diesen Anlässen Männer und Frauen vermischten. Ibn ad-Diyā' al-Makkī (gestorben 1450), der in Mekka als Qādī und Muhtasib tätig war, verfasste in dieser Zeit eine Abhandlung, in der er eine Anzahl von in der Heiligen Moschee praktizierten Bräuchen und Verhaltensweisen auflistete, die seiner Auffassung nach verboten gehörten, weil sie mit einem unzulässigen Erheben der Stimme (rafʿ aṣ-ṣaut) verbunden waren. Die Abhandlung hatte den Titel „Bewahrung der Heiligen Moschee von den unzulässige Neuerungen der unwissenden Volksmassen“ (Tanzīh al-Masǧid al-Ḥarām ʿan bidaʿ al-ǧahala al-ʿawāmm) und ist nur in einer Kurzversion (muḫtaṣar) erhalten. Zu den „Verwerflichkeiten“ (munkarāt), die Ibn ad-Diyā' al-Makkī in seiner Abhandlung aufführt, gehörten auch die religiöse Versammlungen, die in der Lailat ar-raghā'ib, in Nacht zur Mitte des Monats Schaʿbān und in der Nacht auf den Prophetengeburtstag stattfanden. Einige von Ibn ad-Diyā's Beschreibungen haben einen hohen alltagsgeschichtlichen Wert. Einen Großteil seiner Abhandlung widmete Ibn ad-Diyā' al-Makkī dem Nachweis, dass das Erheben der Stimme in der Heiligen Moschee verboten ist. Dafür führt er Aussagen aus Koran und Sunna sowie von Prophetengefährten und Gelehrten der vier sunnitischen Rechtsschulen an.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es an der Heiligen Moschee insgesamt zehn Ordnungshüter (mušiddūn) und 30 Torwächter. König Husain ibn ʿAlī stattete 1918 die Heilige Moschee mit einer eigenen Polizeieinheit aus, die die Aufgabe hatte, Dieben und Kriminellen das Handwerk zu legen und aufgefundene Sachen einzusammeln und anzuzeigen. Diese „Polizei der Heiligen Moschee“ (šurṭat al-masǧid al-ḥarām), die bis heute weiterbesteht, wurde unter der saudischen Herrschaft ausgebaut und durch Einsatzkräfte des „Komitees für das Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen“ verstärkt, die ebenfalls in der Heiligen Moschee verstreut sind. Gemeinsam sorgen die Einsatzkräfte der beiden Einheiten für Ordnung, haben ein Auge auf Taschendiebe und andere Kriminelle und nehmen sie gegebenenfalls fest.
Die islamische Gelehrsamkeit
Schon seit der Frühzeit des Islams ist die Heilige Moschee ein Ort für die Pflege der religiösen Wissenschaften des Islams. So war es im 15. Jahrhundert auch verbreitet, dass in der Moschee Knaben unterrichtet wurden, wobei es zum Teil sehr laut zuging. Wenn der Unterricht in der Nacht erfolgte, brachten die Schüler üblicherweise mit einem Windschutz versehene Kerzen mit, die sie im Lehrzirkel vor sich hinstellten, damit sie ihre Bücher lesen konnten.
Der osmanische Gelehrte Eyüb Sabri Pascha berichtet in seinem 1884 veröffentlichten Werk über Mekka, dass es zu seiner Zeit 120 Lehrer im Haram gab. 60 davon waren besoldet, wobei sie jährliche Gehälter von 100 bis 500 Piaster bezogen. Zu den 15 Personen, die das höchste Gehalt von 500 Piaster bezogen, gehörten die Muftis der vier sunnitischen Lehrrichtungen. Wie Snouck Hurgronje berichtet, wurden die Gelehrten der Moschee vom „Scheich der Gelehrten“ (šaiḫ al-ʿulamāʾ) angeführt, der „mit mehr oder weniger Rücksicht auf die Wünsche der Gelehrten“ von der Regierung ernannt wurde. Meistens bekleidete der Mufti der Schafiiten dieses Amt. Der Scheich nahm die den Gelehrten zugedachten Geschenke in Empfang und verteilte sie unter ihnen, bestimmte über die Neubesetzung besoldeter Stellen, erteilte die Lizenzen, die notwendig waren, um in der Moschee Vorlesungen halten zu dürfen, und nahm dafür auch Prüfungen ab. Gelehrte, die gerade ihrer Lehrerexamen bestanden hatten, gaben, wenn sie wohlhabend waren, üblicherweise anschließend in ihrer Wohnung eine festliche Mahlzeit.
Anfang des 20. Jahrhunderts scheint der Lehrbetrieb in eine Krise geraten zu sein. Im Jahre 1913 beauftragte der Scherif Husain ibn ʿAlī den „Vorsteher der Gelehrten“ (raʾīs al-ʿulamāʾ) ʿAbdallāh ibn ʿAbd ar-Rahmān Sirādsch, 15 Gelehrte, einen Sekretär und zwei Inspektoren auszuwählen und ihnen ein monatliches Gehalt festzusetzen, „damit durch sie die Wissenschaft in der Heiligen Moschee wiederbelebt“ werde. Die Maßnahme wurde damit begründet, dass viele Gelehrte vorher aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ihre Lehrtätigkeit in der Heiligen Moschee hatten aufgeben müssen. Der Scheich wurde gleichzeitig beauftragt, eine neue Ordnung für den Lehrbetrieb in der Heiligen Moschee auszuarbeiten. Die neue Ordnung, die 23 Artikel umfasste und am 28. November 1913 von den 15 Gelehrten und den vier Muftis von Mekka angenommen und unterschrieben wurde, hatte den Titel aṭ-Ṭawāliʿ as-sanīya fī niẓām at-tadrīs al-ǧadīd bi-masǧid Makka al-maḥmīya („Die leuchtenden Sterne über die neue Lehrordnung in der wohlbehüteten Moschee Mekkas“).
Nach dieser Ordnung hatten die beiden Inspektoren den Lehrbetrieb in der Moschee zu kontrollieren und sicherzustellen, dass die besoldeten Lehrer ihren Lehrverpflichtungen nachkamen und die Bücher, aus denen die unbesoldeten Lehrer lasen, nicht im Widerspruch zur sunnitischen Lehre und zur guten Sitte standen. Verstöße hatten die Inspektoren dem Vorsteher der Lehrer zu melden. Der Unterricht in der Heiligen Moschee hatte im Allgemeinen auf arabischer Sprache stattzufinden, allerdings durften die Lehrer nicht-arabischen Studenten die Inhalte der Bücher, die sie mit ihnen lasen, in ihrer Sprache erklären. Zugelassene Unterrichtsfächer waren Tauhīd, Koranexegese, Hadith, Fiqh, Usūl al-fiqh, Hadith-Theorie, Arabische Grammatik und Morphologie, Semantik, Rhetorik, Tropenlehre, Logik, Geschichte, frühislamische Biographien und Mathematik. Studenten, die selbst eine Lehrbefugnis zum Unterrichten in der Heiligen Moschee erhalten wollten, mussten sich dafür einer Prüfung in den sechs Fächern Fiqh, Grammatik, Morphologie, Semantik, Rhetorik und Tropenlehre unterziehen.
In den 1920er Jahren gab es in der Heiligen Moschee insgesamt 107 Lehrer. 44 davon waren besoldet und erhielten ein Gehalt von 100 bis 500 Piaster. Die übrigen Lehrer waren ehrenamtlich tätig. Es gab mehrere hundert Studenten, von denen die meisten aus Südostasien stammten. Sie arbeiteten in ihrer Freizeit, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Unter dem saudischen König ʿAbd al-ʿAzīz ging die Aufsicht über die Lehrer der Heiligen Moschee an die Wissenschaftliche Kommission (haiʾa ʿilmīya) über, die unter der Autorität des Ober-Qādīs (raʾīs al-quḍāt) von Mekka gestellt wurde. Diese Kommission organisierte 1928 auch ein spezielles religiöses Trainingsprogramm für in Mekka tätige Wallfahrtsführer (muṭauwifūn).
Geschlechterordnung: Frauen und Männer
In der frühislamischen Zeit war es üblich, dass sich beim Umlauf um die Kaaba die Frauen unter die Männer mischten. Der umaiyadische Statthalter Chālid al-Qasrī ordnete im frühen 8. Jahrhundert jedoch an, dass Männer und Frauen fortan beim Umlauf getrennt wurden. Zur Überwachung dieser Geschlechtertrennung wurden bei jeder Ecke der Moschee Wachen postiert. Sie waren mit Peitschen ausgestattet und trennten damit Männer und Frauen. Diese Ordnung wurde mindestens bis zur frühen Abbasidenzeit aufrechterhalten. Ibn Dschubair beschreibt, dass zu seiner Zeit der Tawāf der Frauen am äußersten Ende des mit Steinplatten ausgelegten Platzes rund um die Kaaba stattfand. ʿAlī ibn al-Hasan al-Hāschimī, der 869/870 zum Statthalter von Mekka ernannt wurde, führte die Neuerung ein, dass auch die Sitzplätze der Frauen und Männer in der Moschee getrennt wurden. Er ließ die Säulen, bei denen die Frauen zu sitzen pflegten, mit Seilen verbinden. Die Frauen nahmen dann hinter diesen Seilen Platz, wenn sie in der Moschee sitzen wollten, die Männer auf der anderen Seite.
Auch bei der Organisation des Gebets trat im Laufe der Zeit eine Verschärfung ein. In frühislamischer Zeit war es noch üblich, dass die Frauen in der Heiligen Moschee beteten. Selbst der Prophetengefährte ʿAbdallāh ibn Masʿūd, der ansonsten urteilte, dass es für Frauen das Beste sei, wenn sie nicht in der Moschee, sondern zu Hause beteten, befürwortete das Gebet von Frauen in der Heiligen Moschee, weil diese Moschee seiner Auffassung nach eine Ausnahme bildete. Bis zum 19. Jahrhundert beteten die Frauen in der Heiligen Moschee zusammen mit den Männern, wobei allerdings die Männer vorne beteten, während die Frauen hinten hinter den Knaben beteten. Der Scherif ʿAun al-Rafīq (reg. 1882–1905) führte erstmals eine Trennung zwischen dem Gebetsort der Männer und der Frauen ein. Er ließ auf dem Hof der Moschee eine Fläche durch eine zwei Meter hohe Scheidewand abtrennen, so dass eine Einfriedung entstand. Der ägyptische Karawanenführer Rifʿat Bāschā sah diese Trennwand 1903. Der mekkanische Gelehrte Muhammad Tāhir al-Kurdī (gestorben 1980) urteilte sogar, dass es in der Gegenwart wegen der „großen Lasterhaftigkeit“ (kaṯrat al-fasād) für Frauen allgemein besser sei, nicht in der Heiligen Moschee, sondern zu Hause zu beten, womit er sich gegen die Auffassung von ʿAbdallāh ibn Masʿūd stellte.
Frauen konnten und können aber in der Heiligen Moschee Unterricht erhalten. Snouck Hurgronje berichtet zum Beispiel, dass in den Jahren 1884/85 ein Gelehrter aus dem Hadramaut namens Muhammad Bā Busail Frauen Unterricht in Fiqh, Glaubenslehre, Hadith und Adab erteilte. Auch heute noch gibt es in der Heiligen Moschee eigene Kurse für Frauen.
Gewerbetreibende und Bettler
Zum Erscheinungsbild der Heiligen Moschee gehörten auch lange Zeit Gewerbetreibende und Bettler. Wie Ibn Battūta berichtet, waren zu seiner Zeit die Steinbänke auf der Nordseite der Heiligen Moschee häufig von Koranrezitatoren, Kopisten und Schneidern besetzt, die hier ihre Dienste anboten. Aus der Hisba-Abhandlung Ibn ad-Diyā' al-Makkīs geht hervor, dass im 15. Jahrhundert in der Heiligen Moschee der Verkauf und Kauf von Waren, besonders während der Haddsch-Saison, sehr verbreitet war. Weitere in der Heiligen Moschee verbreitete Verhaltensweisen, von denen Ibn ad-Diyā' al-Makkī meinte, dass sie bekämpft werden müssten, waren das Anbetteln von Leuten durch Arme, das laute Rufen von Wasserträgern, die den Leuten in der Moschee zu trinken gaben, das Sitzen von Schneidern an den Seiten der Moschee, die dort öfter in laute verbale Auseinandersetzungen verwickelt waren, sowie der Durchzug von Lastträgern, die den Besuchern der Moschee Waren und Speisen verkauften.
Wie John Lewis Burckhardt berichtet, saßen am Anfang des 19. Jahrhunderts arabische Frauen im Moscheehof auf Strohmatten und verkauften Hirse- und Gerstenkörner an die Pilger, die damit die Tauben des Haram fütterten. Burckhardt erzählt, dass einige dieser Frauen „öffentliche Frauen“ gewesen seien, die den Verkauf von Körnern für die „Heiligen Tauben“ nur als Vorwand genutzt hätten, um sich den Pilgern zur Schau zu stellen und mit ihnen Verhandlungen führen zu können.
Der ägyptische Gelehrte Muhammad Labīb al-Batānūnī (gestorben 1938), der 1910 nach Mekka reiste, berichtet, dass sich zu seiner Zeit im westlichen Außenhof der Moschee am Ibrāhīm-Tor tausende (sic!) verarmte Pilger aus Westafrika, Indien und dem Maghreb befanden, die dort von den Almosen der Moscheebesucher lebten. Viele von ihnen waren Invaliden und konnten sich nicht bewegen. Nach al-Batānūnī waren die meisten dieser Invaliden ehemalige Sklaven mekkanischer Haushalte, die von ihren Herren auf die Straße gesetzt worden waren, nachdem sie aus Altersgründen oder aufgrund eines Gebrechens nicht mehr arbeiten konnten.
Überfälle und Entweihungen
Im Laufe der Geschichte kam es mehrmals zu Überfällen auf die Heilige Moschee. So fielen im Jahre 930 die Bahrain-Karmaten während der Wallfahrtszeremonien in Mekka ein, richteten in der Moschee ein Massaker unter den Pilgern an, brachen den Schwarzen Stein aus der Kaaba und entführten ihn nach al-Ahsā' in Ostarabien. Während der Wallfahrt des Jahres 1415 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Emir der ägyptischen Pilgerkarawane und der mekkanischen Schutzwache. Hierbei stürmten während des Freitagsgottesdienstes Männer der Schutzwache auf ihren Pferden in die Moschee und drangen bis zum Maqām der Hanafiten vor, wo ihnen Türken und Pilger entgegentraten. Es entspann sich ein bewaffneter Kampf, der mit der Vertreibung der Mekkaner aus der Moschee endete. Da die Spannungen mit den Mekkanern noch nicht beseitigt waren, ließ der Emir der Pilgerkarawane am Abend die Tore der Moschee bis auf drei zunageln und die Pferde in die Moschee bringen, wo sie in die östliche Halle gestellt wurden. Erst am Folgetag schlossen die beiden Parteien Frieden. Mehrere Männer, die an den Kämpfen beteiligt gewesen waren, starben später an ihren Wunden. Der bewaffnete Kampf, das Blutvergießen und die nächtliche Unterbringung der Pferde in der Moschee, die dort Mist ließen, wurden als eine schwere Entweihung des Gebäudes betrachtet.
Am 26. Ramadan 1081 (= 6. Februar 1671) drang während der Freitagspredigt ein mit einem Schwert bewaffneter Mann in die Moschee an, rief auf Persisch, dass er der Mahdi sei, und griff den Chatīb an. Er wurde von der Volksmenge verprügelt, aus der Moschee gebracht und auf dem al-Muʿallā-Friedhof auf einem Scheiterhaufen verbrannt.
Besonders bekannt ist die Besetzung der Heiligen Moschee am 20. November 1979 durch etwa 500 wahhabitische Ichwān unter Führung von Dschuhaimān al-ʿUtaibī. Die von eschatologischen Vorstellungen angetriebenen Aufständischen erklärten, dass das Ende der Welt bevorstehe und der Mahdi in Gestalt von Muhammad ibn ʿAbdallāh al-Qahtānī gekommen sei. Die Besetzung der Moschee dauerte fast zwei Wochen und konnte nur durch militärisches Eingreifen beendet werden. Viele Angehörige der saudischen Armee und der saudischen Nationalgarde, die bei der Operation zum Einsatz kamen, weigerten sich anfangs aufgrund von religiösen Bedenken, die Heilige Moschee anzugreifen. Dreizehn von ihnen wurden später hingerichtet. Bei der Operation rissen Mannschaftstransportwagen mehrere Tore der Moschee nieder, und es wurden fünf der sieben Minarette der Moschee zerstört.
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Weblinks
ʿImārat al-masǧid al-ḥarām fī l-ʿahd as-Suʿūdī az-zāhir Informationstext des Generalpräsidiums für die beiden heiligen Stätten über den Unterhalt der al-Harām-Moschee in der saudischen Periode (arabisch)
Belege
Bauwerk in Mekka
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3706911 | https://de.wikipedia.org/wiki/Osmanische%20Verfassung | Osmanische Verfassung | Die Osmanische Verfassung (; ) vom 23. Dezember 1876 war die erste und zusammen mit dem Verfassungsgesetz von 1921 („Doppelverfassungsperiode“) die letzte schriftlich fixierte Verfassung des Osmanischen Reiches. Kern des im Zuge des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts entstandenen Grundgesetzes war die Einführung eines Zweikammernparlaments und damit der Weg in die konstitutionelle Monarchie. Der Sultan gab die alleinige Wahrnehmung gewisser Rechte auf („freiwillige Selbstbeschränkung“), bestimmte aber weiterhin über Gesetzgebung und besonders durch sein unbeschränktes Verbannungsrecht aus Art. 113 Satz 3 über das Schicksal seiner Untertanen.
Nach der Schließung des Parlaments im Februar 1878 herrschte Sultan Abdülhamid II. – über dreißig Jahre lang – bis zur erzwungenen Einberufung des Parlaments im Juli 1908 als absoluter Monarch. Die Verfassung blieb aber formell in Kraft und wurde auch weitgehend weiter angewendet. Nur das Parlament wurde nicht mehr einberufen. Mit der Verfassungsänderung vom August 1908 entwickelte sich das System der Verfassung zu einer parlamentarischen Monarchie. Zwischen den Jahren 1921 und 1923 wurde die Verfassung durch das von der Großen Nationalversammlung unter Vorsitz Mustafa Kemal Paschas verabschiedete Verfassungsgesetz samt Anhang und Abänderungen schrittweise außer Kraft gesetzt. Nach der Gründung der Republik Türkei trat schließlich am 24. Mai 1924 die Verfassung vom 20. April 1924 in Kraft, womit das Osmanische Grundgesetz aufgehoben wurde.
Verfassungsgeschichte
Bündnisvertrag
Im Jahr 1807 revoltierten die Janitscharen unter Führung Kabakçı Mustafas, entthronten den „ungläubigen Sultan“ Selim III., der mit Hilfe europäischer Ausbilder die Armee zu reorganisieren versuchte (Nizâm-ı Cedîd), und setzten Mustafa IV. als Herrscher ein. Dieser beabsichtigte, vorangegangene Reformen rückgängig zu machen, woraufhin Alemdar Mustafa Pascha aus Rustschuk mit seiner Armee nach Istanbul marschierte. Um seine bevorstehende Entmachtung zu vereiteln, erließ der Sultan den Todesbefehl über Selim und Mahmud. Während Selim getötet wurde, gelang es Mahmud – neben Mustafa nun der einzige noch lebende legitime Thronanwärter –, den Henkern zu entkommen und am 28. Juli 1808 den Thron zu besteigen. Alemdar Mustafa Pascha selbst wurde der Großwesir des Sultans.
Zu jener Zeit herrschten zwischen der Zentralgewalt und regionalen Machthabern (aʿyān, derebey) in Anatolien und Rumelien „Zustände von Gehässigkeit und Zwietracht“. Der Großwesir lud jene Landherren zu Gesprächen in die Hauptstadt ein, wo sie am 29. September 1808 aufgenommen wurden. Die Teilnehmer trafen zeitgenössischen Berichten nach mit 70.000 eigenen Soldaten in Istanbul ein und wurden außerhalb der Stadt untergebracht. Am 7. Oktober 1808 unterzeichneten sie den sogenannten Bündnisvertrag (, auch ‚Dokument der Einhelligkeit, Allianzpakt‘), durch den der Sultan auf seine Verfügungsgewalt über Leben und Eigentum der Aʿyān und Derebeys verzichtete. Das Dokument gewährte – ähnlich wie die Magna Carta dem Adel in England – den Landherren grundlegende Freiheiten gegenüber dem osmanischen Herrscher. Im Gegenzug erkannten sie die Zentralmacht an und sprachen dem Sultan ihre Treue aus.
Am 14. November 1808 kam Alemdar Mustafa Pascha bei einem Janitscharenaufstand ums Leben. Zur Sicherung seines Throns reagierte Mahmud II. mit der Tötung seines im Kafes befindlichen Halbbruders und Vorgängers Mustafa. Mit dem Tod Alemdar Mustafa Paschas, der treibenden Kraft hinter dem Sened-i İttifāḳ. hatte der als erster Schritt zur konstitutionellen Monarchie geltende und in aller Regel an den Beginn der türkischen Verfassungsgeschichte gestellte Vertrag faktisch seine Gültigkeit verloren. Schließlich weigerten sich auch spätere Großwesire, das Dokument mit materiellem Verfassungscharakter zu unterzeichnen.
Edikt von Gülhane
Nach dem Tod Mahmuds II. folgte ihm am 2. Juli 1839 sein Sohn Abdülmecid I. auf den Thron. Im Einklang mit den ausdrücklichen Anweisungen seines Vaters machte er sich daran, die Reformen durchzuführen, denen Mahmud sich gewidmet hatte. Am 3. November 1839 verlas Außenminister Mustafa Reşid Pascha, der „Vater der Tanzimat“, im Gülhane-Park ein von ihm maßgeblich erarbeitetes und als osmanische Fortsetzung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geltendes Edikt (), mit dem eine Epoche grundlegender Reformen () eingeläutet wurde. Das Handschreiben enthielt die Grundlinien dieser Neuordnung und garantierte unabhängig von der Religionszugehörigkeit den Schutz „des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung“. Des Weiteren versicherte der Sultan die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren, die gerechte Verteilung von Steuern und die Reduzierung der Wehrdienstdauer auf vier bis fünf Jahre.
Im formellen Sinn war dieser Erlass keine Verfassung und ebenfalls kein einklagbares Recht. Gleichwohl spielte das Ḫaṭṭ-ı Şerīf von 1839 eine bedeutende Rolle in der Verfassungsentwicklung des Reiches, zumal es als ein Versprechen der späteren Verfassung angesehen wird.
Erneuerungserlass
Der Erneuerungserlass der Hohen Pforte () wurde am 18. Februar 1856, also 18 Tage nach dem Waffenstillstand im Krimkrieg, verkündet. Er bestätigte und entwickelte die Reformen von Gülhane weiter.
Vorgebliches Ziel des Schreibens war die gänzliche Gleichstellung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Untertanen (Dhimma), indem das Millet-System aufgelöst und allen Religionsgemeinschaften das osmanische Untertansrecht zugesprochen wurde. So wurde Nichtmuslimen der bis dahin, außer der Millet-i Rum („griechische Glaubensnation“), verwehrte Zugang zu Staatsposten sowie die Aufnahme in Militärschulen ermöglicht. Auch hinsichtlich der zu entrichtenden Steuern (vgl. Dschizya) strebte der Staat eine Gleichstellung an. Im Sinne ebendieser Gleichstellung bestimmte das Handschreiben, dass gleiche Rechte auch gleiche Pflichten mit sich bringen. So waren Nichtmuslime nun wehrpflichtig, konnten allerdings zur Befreiung einen Ersatzmann stellen oder eine Wehrsteuer (, später ) entrichten.
Infolge des Handschreibens erarbeiteten die griechisch-orthodoxen, armenisch-orthodoxen und jüdischen Glaubensgemeinschaften zur Regelung ihrer eigenen (vorwiegend administrativen und religiösen) Angelegenheiten Bestimmungen, mit denen eigene Parlamente gebildet wurden. Diese Bestimmungen (offiziell Rum Patrikliği Nizâmâtı von 1862, Ermeni Patrikliği Nizâmâtı von 1863 und Hahamhâne Nizâmâtı von 1865) wurden von ihnen und im Westen jeweils als „Verfassung“ (constitution) tituliert. Krikor Odian, Mitverfasser der armenischen „Nationalverfassung“ ( Azgayin sahmanadrowt'iwn), betätigte sich später als Berater auch im Ausschuss für die Osmanische Verfassung.
Verfassung
Erste Verfassungsperiode
In den Jahren 1875 und 1876 brachen in der Herzegowina und Bulgarien Aufstände (siehe Aprilaufstand) aus. Außenpolitisch näherte man sich im Palast Russland an, das den Rebellen allerdings Unterstützung zusagte. Ein Protest Mitte Mai 1876 gegen diese Annäherung führte unter anderem zur Entlassung des Großwesirs Mahmud Nedim Pascha und der Neubesetzung der obersten Posten. Zum Großwesir wurde Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha, zum Scheichülislam Hasan Hayrullah Efendi und zum Kriegsminister Hüseyin Avni Pascha erhoben. Diese setzten zusammen mit Midhat Pascha, dem Vorsitzenden des Staatsrates, den Herrscher Abdülaziz am 30. Mai 1876 ab und seinen Neffen Mehmed Murad Efendi als Murad V. ein. In den folgenden Tagen führten grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen Hüseyin Avni Pascha, der sich gegen eine Konstitution aussprach, und dem Verfassungsbefürworter Midhat Pascha zu einer Spaltung. Großwesir Rüşdi Pascha sprach sich für die Seite Avni Paschas aus und vertrat die Ansicht, dass die Annahme einer Verfassung in Anbetracht der psychischen Störungen Murads V. unangebracht sei und nicht in Frage komme. Am 15. Juni 1876 wurde Hüseyin Avni Pascha während einer Versammlung im Haus Midhat Paschas von einem Anhänger des abgesetzten und ermordeten Abdülaziz angeschossen und erdolcht.
Am 30. Juni 1876 erklärten die Fürstentümer Serbien (siehe Serbisch-Osmanischer Krieg) und Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg. Mittlerweile drängte Großbritannien zur Abhaltung einer Konferenz, um einen drohenden Russisch-Osmanischen Krieg zu verhindern und den Aufständischen größere Autonomie zuzusprechen. Um einem etwaigen ausländischen Eingriff entgegenzuwirken und einer solchen „Drohung die Spitze abzubrechen“, drängte Midhat Pascha auf die baldige Ausrufung einer Verfassung, die vor der geplanten Konferenz in Kraft treten und allen osmanischen Untertanen gleiche Rechte gewähren sollte.
Um den kranken Murad V. absetzen zu können, nahm Midhat Pascha Gespräche mit dessen Bruder Abdülhamid auf und bot ihm, unter der Bedingung einer Verfassungsannahme, den Thron an. Als Abdülhamid verlautbaren ließ, dass er die neue Verfassung annehmen werde, wurde er am 31. August 1876 als Abdülhamid II. auf den Thron gebracht. Der neue Sultan ließ sich nun jedoch mit der Einlösung seiner Versprechen, insbesondere der Einberufung eines Verfassungsausschusses, Zeit, willigte letztendlich aber auf weiteren Druck Midhat Paschas ein.
Ein erster Beratungsausschuss, der das weitere Vorgehen bestimmen sollte und dem 20 Ulama und höhere Staatsbeamte angehörten, wurde am 30. September 1876 per kaiserlichen Erlass einberufen. Den Vorsitz führte Midhat Pascha. Dem Ausschuss wurden Midhat Paschas 59 Artikel umfassendes „Neues Gesetz“ () sowie Said Paschas auf der Übersetzung französischer Verfassungsgesetze (diejenigen von 1848 und 1852) basierender Entwurf vorgelegt. Da sich unter den Ausschussmitgliedern auch Verfassungsgegner befanden, kam es zu heftigen Streitereien, worüber auch die Presse berichtete. Nur eine Woche nach Gründung beschloss der Ministerrat daher die Auflösung des bestehenden und die Einberufung eines neuen Ausschusses. Am 8. Oktober 1876 wurden die Namen der Mitglieder des Verfassungsausschusses, auch „Spezialausschuss“ genannt, bekanntgegeben. Die Zahl der Mitglieder wird in einer Vielzahl von Quellen mit 28 angegeben: zwei Militärs, zehn Ulama und 13 muslimische sowie drei christliche Beamte. Tatsächlich bestand die Kommission zunächst aus 25 Personen (am 15. Oktober 1876 stieg die Anzahl auf 33, am 4. November 1876 auf 38) unter Vorsitz Server, wahrscheinlicher aber Midhat Paschas. Um effizienter arbeiten zu können, wurden Arbeitsgruppen, etwa für Regelungen bezüglich der Verwaltung, gebildet.
Bei der Erstellung eines Verfassungsentwurfs wurden, neben den erwähnten Werken Midhat und Said Paschas, Süleyman Hüsnü Paschas „Grundgesetzentwurf“ () sowie möglicherweise die Belgische und die Preußische Verfassung herangezogen. Die erarbeiteten Verfassungsentwürfe (insgesamt gab es drei) wurden auf Wunsch des Sultans auserwählten Beamten im Yıldız-Palast, wie etwa Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha, und dem Ministerrat zur Überarbeitung vorgelegt. Der letzte Entwurf wurde am 1. Dezember 1876 fertiggestellt und am 6. Dezember vom Ministerrat angenommen. Im Yıldız-Palast bestand man allerdings auf einem Verbannungsrecht des Sultans. Somit fand Art. 113, durch den dem Sultan dieses Verbannungsrecht mit Satz 3 zugesprochen wurde, Eingang in die Verfassung. Diese Entwicklung rief bei einigen Mitgliedern des Spezialausschusses, insbesondere bei den Jungosmanen Namık Kemal Bey und Ziya Pascha, Empörung hervor. Midhat Pascha, der auf die Ausrufung der Verfassung drängte, gelang es schließlich, die erzürnten Gemüter zu besänftigen. Am 19. Dezember 1876 wurde er zum Großwesir ernannt.
Am 23. Dezember 1876 trat die Verfassung durch kaiserlichen Erlass in Kraft und erschien neben türkischer auch in französischer Sprache. Außenminister Saffet Pascha unterbrach die begonnene Konferenz von Konstantinopel und erklärte, begleitet von 101 Salutschüssen, dass eine neue Verfassung ausgerufen werde, die alle osmanischen Untertanen gleichstelle und ihnen ihre Rechte und Freiheiten garantiere.
Die Großmächte und Konferenzteilnehmer, allen voran der russische Gesandte General Ignatjew, blieben jedoch gegenüber dem Osmanischen Reich misstrauisch und betrachteten die Verfassung als vorgeschobene Scheinlösung. Am 5. Februar 1877 setzte der Herrscher Midhat Pascha ab und machte ihm gegenüber zum ersten Mal von seinem Verbannungsrecht Gebrauch. Knapp elf Wochen später führte die anhaltende Balkankrise zum Russisch-Osmanischen Krieg, der mit einer Niederlage des Osmanischen Reiches und dem aus türkischer Sicht katastrophalen Präliminarfrieden von St. Stefano (teilweise revidiert durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878) endete.
Bereits zwei Wochen nach dem Waffenstillstand von Edirne hatte Abdülhamid II., der befürchtete, vom Parlament für die Niederlage persönlich verantwortlich gemacht zu werden, die Gelegenheit genutzt und die Volksvertretung mit einer „außergewöhnlichen politischen Krise“ rechtfertigend auf unbestimmte Zeit geschlossen. Der Sultan gab der Schließung ( oder ) des Parlaments gegenüber einer Auflösung () den Vorzug und vermied auf diese Weise die Durchführung vorgesehener Neuwahlen, vgl. Art. 7, 73. Eine Einberufung ( oder ) und dem Wortlaut der Art. 43, 7 nach erforderliche Eröffnung ( oder ) des Parlaments blieb im November 1878 und in der Folgezeit aus. Zwar trat die Verfassung formal nicht außer Kraft und wurde im jährlichen Reichsalmanach abgedruckt, doch herrschte der sich vor Anschlägen fürchtende und deswegen sich immer öfter in den Yıldız-Palast zurückziehende Herrscher in den folgenden drei Jahrzehnten mit Hilfe der ihm faktisch unterstehenden Geheimpolizei sowie dem Ausbau des Spionage- und Spitzelwesens absolutistisch über das Reich. Midhat Pascha, der „Vater der Verfassung“, wurde auf Befehl Abdülhamids II. am 8. Mai 1884 im Ta'ifer Exil von Soldaten erdrosselt.
Zweite Verfassungsperiode
Als zweite osmanische Verfassungsperiode gilt der Zeitraum zwischen der Machtübernahme der Jungtürken im Jahre 1908 und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg.
Jungtürkische Revolution
Am 3. Juli 1908 zog der Offizier Ahmed Niyazi Bey, der an einer Verschwörung gegen das absolutistische Regime Abdülhamids II. beteiligt war und um die Aufdeckung dieser Beteiligung fürchtete, mit 200 bzw. 400 bewaffneten Männern in die Berge und verlangte offen die Wiederinkraftsetzung der Verfassung. Unterstützung erfuhr er dabei vom Komitee für Einheit und Fortschritt unter Führung Enver Beys, von der Armenischen Revolutionären Föderation sowie von albanischen, griechischen und bulgarischen Gemeinden. Die durch Ahmed Niyazi Bey angestoßene jungtürkische Revolution fand in Makedonien, vor allem in den Vilâyets Kosovo, Monastir und Saloniki, statt. Als Reaktion entsandte der Sultan Şemsi Pascha, der mit seiner 18. Division gegen Ahmed Niyazi Bey ziehen sollte, allerdings am 7. Juli vom Jungtürken Atıf Bey erschossen wurde. Der Sultan entließ nun, um den Aufständischen entgegenzukommen, seinen Großwesir Mehmed Ferid Pascha und ernannte am 22. Juli Mehmed Said Pascha, dessen Übersetzungen französischer Verfassungstexte im Jahr 1876 bei der Verfassungsausarbeitung Berücksichtigung gefunden hatten. Allerdings befanden sich in seinem Kabinett ausschließlich Monarchisten.
Am 23. Juli 1908 proklamierte das Komitee für Einheit und Fortschritt bei Demonstrationen mit hoher Teilnehmerzahl in mehreren Städten Makedoniens die „Freiheit“ (). Gleichzeitig trafen in Istanbul Nachrichten mit dem Inhalt ein, dass die Verfassung innerhalb von 24 Stunden wieder in Kraft zu treten habe, ansonsten die Zweite und die Dritte Armee in die Hauptstadt marschieren würden. Auf Anraten des Kabinetts ordnete der Sultan noch am selben Tag per Ferman die Einberufung des Parlaments an. Eine Woche später erklärte der Palast das Ende von Spionage und Zensur. Das Großherrliche Handschreiben vom 1. August 1908 bestätigte nochmals die Gültigkeit der Verfassung und ergänzte diese zum Teil. Zunächst wurden nur die Revoltierenden amnestiert. Später folgte eine Amnestie für diejenigen politischen Häftlinge, die zwei Drittel ihrer Haftzeit abgesessen hatten. Auf Grund von Protesten erfolgte jedoch eine Generalamnestie, die wiederum eine Demonstration in Form eines Marsches von etwa 2000 Personen zur Hohen Pforte nach sich zog. Etwa zwei Wochen nach seiner Ernennung trat Said Pascha am 5. August 1908, unter anderem wegen seiner kritischen und gegenteiligen Meinung zur Generalamnestie, jedoch vorwiegend auf Grund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt, als Großwesir zurück. Sein Nachfolger wurde der als anglophil und liberal bekannte Kâmil Pascha.
Der Senat und das neu gewählte Abgeordnetenhaus versammelten sich am 17. Dezember 1908. Präsident des Abgeordnetenhauses wurde der aus dem Exil zurückgekehrte Ahmed Rızâ. Insgesamt waren 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, 4 Juden und 10 Slawen vertreten. Zu den Abgeordneten zählten auch Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt wie etwa Talât Bey. Die führenden Persönlichkeiten Enver und Cemal Bey wurden hingegen keine Abgeordneten, behielten aber großen Einfluss auf die Politik. Mitte Februar 1909 wurde Großwesir Kâmil Pascha mittels Misstrauensvotum mit 198 zu 8 Stimmen im Abgeordnetenhaus durch Hüseyin Hilmi Pascha ersetzt, nachdem er ohne Konsultation des Komitees für Einheit und Fortschritt zwei neue Minister ernannt hatte.
Gegenputsch: „Das Ereignis vom 31. März“
Schon bald nach der Revolution erhoben sich infolge diverser Territorialverluste kritische Stimmen gegen die Jungtürken. Die Gunst der Stunde nutzend, hatte die kretische Regierung einseitig den Anschluss an Griechenland proklamiert, Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina annektiert (vgl. Bosnische Annexionskrise) und Ferdinand I. das Fürstentum Bulgarien zum unabhängigen Zarentum Bulgarien erklärt (vgl. Unabhängigkeit Bulgariens).
Auch in religiös-traditionellen Kreisen herrschte und wuchs, insbesondere in Istanbul, der Unmut über die von den Jungtürken erklärte „Freiheit“. Derwisch Vahdetî, Gründer der İttihad-ı Muhammedî Fırkası („Mohammedanische Einheitspartei“) und Herausgeber der Zeitung Volḳan („Vulkan“), etwa propagierte, dass der Bestand des Islams gefährdet sei. Dass Frauen zwar noch immer mit Çarşaf, aber ohne Gesichtsschleier öffentlich auftraten, stieß auf Unverständnis und führte zu Übergriffen. Am 14. Oktober 1908 lynchte eine aufgebrachte Menschenmenge einen griechischen Gärtner, als bekannt wurde, dass er und eine Muslima heiraten wollten. Ferner stellten sich Theologiestudenten, die bislang vom Militärdienst befreit waren, nun wegen eines Gesetzentwurfes bezüglich ihrer Wehrpflicht gegen die Jungtürken. Insbesondere standen den Jungtürken, denen vorwiegend Absolventen von Militärakademien, Mektebli genannt, angehörten, aus dem Soldatenstand hervorgegangene Regimentsoffiziere ohne derartige Ausbildung (Alaylı) gegenüber. Die Alaylı fühlten sich zunehmend von den „westlich“ ausgebildeten Mektebli verdrängt, denen Unglaube vorgeworfen wurde, weil sie, bedingt durch ihre zeitraubende Ausbildung, das Gebet vernachlässigten.
Die Ermordung des regierungskritischen Journalisten Hasan Fehmi Bey von der Zeitung Serbestī („Unabhängigkeit“) am 7. April 1909 brachte das Fass in der ohnehin schon aufgeheizten Stimmung schließlich zum Überlaufen. In der Nacht zum 13. April 1909greg./31. März 1325rūmī übernahmen sultanstreue Alaylı die Führung eines Gegenputsches, der seitens Abdülhamid II. – in der Hoffnung, zum absolutistischen Status quo ante zurückzukehren – zumindest wohlwollend geduldet wurde. Etwa 5.000 bis 6.000 Soldaten und hunderte Studenten und Hodschas versammelten sich auf dem Sultan-Ahmed-Platz und skandierten şeriat isteriz, padişahımız çok yaşa („wir fordern die Scharia, lang lebe unser Padischah“). In der ganzen Stadt wurden jungtürkische Politiker ermordet. Justizminister Nâzım Pascha, der mit dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses Ahmed Rızâ verwechselt wurde, und der Abgeordnete Arslan Bey – auf Grund seiner Ähnlichkeit mit dem jungtürkischen Journalisten Hüseyin Cahid Bey – fielen dem Mob zum Opfer. Marineminister Rıza Pascha kam mit schweren Verletzungen davon. Zusammen mit dem gesamten Kabinett trat Großwesir Hüseyin Hilmi Pascha zurück. Ahmed Tevfik Pascha übernahm das Amt und bildete am 14. April eine neue Regierung, die allerdings keine Anerkennung durch das Komitee erhielt.
In Saloniki, der Hochburg der Jungtürken, nahm man die Nachrichten aus Istanbul mit Entsetzen auf. Bereits am 15. April machte sich die 40.000–50.000 Mann starke Interventionsarmee () – als überparteiliche „Hüterin der [konstitutionellen] Freiheit“ – unter der Führung Hüseyin Hüsnü Paschas auf den Weg in die Hauptstadt. Am 22. April übernahm Mahmud Şevket Pascha das Oberkommando über die mittlerweile im Istanbuler Vorort Yeşilköy eingetroffene Armee, die schließlich in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1909 in die Stadt einmarschierte und den Aufstand blutig niederschlug: Es starben etwa 100 Soldaten und 230 Aufständische. Wenige Tage später beschloss das Parlament in geheimer Sitzung mit 136 zu 59 Stimmen und im Einklang mit einer zuvor eingeholten Fatwa des Scheichülislam Mehmed Ziyaeddin Efendi die Absetzung () Abdülhamids II. An die Stelle des nach Saloniki Verbannten trat am 27. April 1909 der politisch unambitionierte Marionettenherrscher Mehmed V. Am 5. Mai wurde Hüseyin Hilmi Pascha, der auf Druck der Aufständischen zurückgetreten war, erneut Großwesir. Zu den Mitgliedern im neuen Kabinett gehörten nun auch führende Angehörige des Komitees, etwa als Finanzminister Mehmed Cavid Bey (ab Juni) und als Innenminister Talât Bey (ab August).
Nach Verhängung eines neun Jahre anhaltenden Belagerungszustands () im Sinne des Art. 113 in Istanbul wurden die Anführer und andere maßgeblich am „Vorfall“ Beteiligte, darunter auch Derwisch Vahdetî, von Militär-Standgerichten () zum Tode verurteilt (insgesamt 75 Personen) und nach ihrer Hinrichtung öffentlich zur Schau gestellt. Einem Prozess gegen den abgesetzten Abdülhamid stellte sich die Regierung entgegen.
An die Opfer des Ereignisses vom 31. März erinnert heute das im Jahr 1911 eingeweihte Abide-i Hürriyet in Istanbul, das bis in die republikanische Zeit als zentrale nationale Gedenkstätte diente.
Verfassungsänderungen
Im August des Jahres 1909 verabschiedete das Parlament eine tiefgreifende Verfassungsänderung, sodass in diesem Zusammenhang auch von der „Verfassung von 1909“ gesprochen wird. Durch die Abänderung von 21 Artikeln, die Streichung von Art. 119 und das Hinzufügen dreier Artikel wurden hauptsächlich die Herrscherrechte des Sultans beschränkt und die Befugnisse der Volksvertretung erweitert. So erfuhr des Sultans Recht zur Auflösung des Parlaments erhebliche Einschränkungen, sodass diese ausschließlich unter den Voraussetzungen des Art. 35 sowie nur mit Zustimmung des Senates erfolgen durfte; die obligatorischen Neuwahlen mussten innerhalb von drei (vorher sechs, Art. 73) Monaten beendet sein, Art. 7 i. V. m. Art. 35. Die Schließung war gemäß Art. 7 i. V. m. Art. 43 nur noch zum festgesetzten Zeitpunkt (Anfang Mairūmī) möglich. Ferner konnte das grundsätzlich nicht mehr zwingend einberufene, sondern lediglich durch Erlass eröffnete (vgl. Art. 7, 43, 44) Parlament nun nach Art. 53 die Aufstellung neuer und die Abänderung bestehender Gesetze vorschlagen. Der Sultan verlor durch die Streichung des Art. 113 Satz 3 sein Recht, Verbannungen auszusprechen. Die Präventivzensur wurde verboten und den Bürgern und Arbeitern wurde ein beschränktes politisches Vereins- und Versammlungsrecht sowie das Streikrecht zugesprochen.
Weitere Änderungen folgten in den Jahren 1914 bis 1918. Der Sultan nahm zusätzliche Machteinbußen hin; so konnte er das Abgeordnetenhaus nur noch unter der Auflage, dass es innerhalb von vier Monaten wiedergewählt wurde, auflösen. Die Ernennung der Regierung erfolgte nun mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses, wobei die Minister diesem gegenüber verantwortlich waren. Zudem war das Parlament nun berechtigt, mit einer Zweidrittelmehrheit vom Sultan zurückgewiesene Gesetzesentwürfe anzunehmen.
Aufhebung
Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Mudros am 30. Oktober 1918 hatte das Osmanische Reich beträchtliche Gebietsverluste hinzunehmen. Die verbliebenen Gebiete – Kleinasien und Thrakien – wurden großteils von den Siegermächten besetzt. Gegen diese Besetzung entstand eine von Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) geführte Widerstandsbewegung. Im Verlauf des so genannten Befreiungskrieges gründeten die Widerständler am 23. April 1920 die Große Nationalversammlung in Ankara. Am 20. Januar 1921 ratifizierte diese Gegenregierung das Gesetz Nr. 85, die „De-facto-Verfassung der Widerstandsbewegung“. Dieses Verfassungsgesetz, das die Nation zum Souverän erklärte (Art. 1 Satz 1), hob das Osmanische Grundgesetz nicht auf, sondern ergänzte es und setzte es teilweise außer Kraft (lex posterior derogat legi priori). Das Sultanat blieb formell zwar unangetastet, doch die Große Nationalversammlung erhob mit Art. 2 den Anspruch auf die ausschließliche Ausübung der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt (Gewalteneinheit). Unberücksichtigt blieb die rechtsprechende Gewalt, wobei den während des Befreiungskrieges gegründeten Unabhängigkeitsgerichten (İstiḳlāl Maḥkemeleri) eine besondere Bedeutung zukam. Die Frage der Staatsform des erstmals verfassungsrechtlich „Türkei“ genannten Staates ([!] ) blieb zunächst offen.
Einhergehend mit der institutionellen Trennung von Sultanat und Kalifat bezeichnete die Nationalversammlung in ihrem Beschluss vom 1. November 1922 das Sultanat als seit dem 16. März 1920 für immer der Geschichte angehörig. Da Mehmed VI. die freiwillige Abdankung verweigerte, drohte ihm ein Verfahren wegen Landesverrats, sodass er sich zur Flucht ins Exil gezwungen sah. Nachdem mit dem Änderungsgesetz vom 29. Oktober 1923 die Republik (Art. 1 Satz 3; ) als Staatsform festgelegt und das Amt des Präsidenten der Republik (Art. 10, 11; ) eingeführt worden war, erfolgte am 3. März 1924 schließlich die Aufhebung des Kalifats.
Letztendlich wurden das Ḳānūn-ı Esāsī und das Verfassungsgesetz von 1921 am 24. Mai 1924 mit Art. 104 der Verfassung vom 20. April 1924 aufgehoben. Art. 1 dieser Verfassung bestimmte die Republik als Staatsform und wurde durch Art. 102 Abs. 4 einer Verfassungsänderung entzogen (vgl. auch Ewigkeitsklausel). Die in Art. 1 Satz 1 des Verfassungsgesetzes von 1921 verankerte Volkssouveränität wurde nun in Art. 3 festgehalten. Die gesetzgebende Gewalt wurde von der Großen Nationalversammlung (Art. 6), die ausführende Gewalt vom Staatspräsidenten und Rat der Vollzugsbeauftragten (İcra Vekilleri Heyeti; später: Ministerrat, Bakanlar Kurulu) (Art. 7) ausgeübt. Art. 8 bestimmte die Unabhängigkeit der türkischen Gerichtsbarkeit.
Inhalt
Allgemeines
Der Verfassung wurde ein – ursprünglich an Midhat Pascha gerichtetes – Ḫaṭṭ-ı Hümāyūn als Präambel vorangestellt. Das Grundgesetz war in zwölf Titel unterteilt und umfasste zunächst insgesamt 119 Artikel (sing. ). Durch die Streichung eines und das Hinzufügen dreier Artikel im August 1909 erhöhte sich die Anzahl auf insgesamt 121.
Staatsorganisation
Im ersten Abschnitt der Verfassung wurde in Art. 1 die Einheit und Unteilbarkeit des Osmanischen Staates () erklärt und in Art. 2 als Hauptstadt festgelegt. Die Herrschaft des Sultans beruhte auf dem monarchischen Prinzip. Das Sultanat sowie das Kalifat wurde in Art. 3 dem Geschlechte Osmans () zugesprochen und, wie seit der Herrschaft Ahmeds I. gewohnheitsrechtlich, nun nach gesatztem Recht an den ältesten männlichen Angehörigen der Dynastie () vererbt (Senioratsprinzip). Art. 4 charakterisierte den Sultan als Beschützer des Islams () und als Herrscher und Padischah aller osmanischen Untertanen (), der gemäß Art. 5 in seiner Person als heilig und niemandem verantwortlich () anerkannt war. Artikel 6 schützte die Freiheitsrechte der Sultansfamilie sowie ihr bewegliches und unbewegliches Privatvermögen und ihre lebenslangen Zivillisten.
Schließlich wurden dem Souverän in Art. 7 umfangreiche, nicht erschöpfend aufgezählte Hoheitsrechte zugestanden. Der Wortlaut in der Fassung von 1876 war folgendermaßen:
Grundrechte
Im zweiten Abschnitt (), der dem Titel II der Belgischen sowie der Preußischen Verfassung entsprach und dem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum Vorbild diente, waren die Grundrechte in den Artikeln 8 bis 26 sowie ab dem August 1909 zusätzlich in den Artikeln 119, 120 geregelt.
Art. 8 definierte zunächst den Begriff . Osmanen waren demnach „alle Untertanen des osmanischen Reiches, welcher Religion oder Sekte sie auch angehören mögen“. Dabei konnte diese „Staatsangehörigkeit“ auch erworben oder verloren werden. Sofern nicht Freiheitsrechte Dritter verletzt wurden, war die persönliche Freiheit () gewährleistet und das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich vor Angriffen und staatlicher Willkür geschützt, Art. 9, 10. Artikel 11 bestimmte zwar den Islam als Staatsreligion, sprach jedoch allen Zugehörigen anerkannter Religionen freie Ausübung zu, sofern dies nicht gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verstieß. Die Pressefreiheit, solange gesetzeskonform, und ab 1909 das Verbot der Vorzensur waren in Art. 12 verankert. Eine auf Handel, Gewerbe und Landwirtschaft beschränkte Vereinigungsfreiheit () wurde durch Art. 13 und ab 1909 ein beschränktes politisches Vereins- und Versammlungsrecht () durch Art. 120 garantiert. Nach Art. 14 hatte jeder osmanische Untertan das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen an die zuständigen Stellen und an das Parlament zu wenden () und nach Art. 15 freien Unterricht zu erhalten oder zu erteilen. Alle Schulen wurden unter staatliche Kontrolle gestellt (Art. 16). Des Weiteren wurden alle Osmanen vor dem Gesetz gleichgestellt und ihnen wurden gleiche Rechte und Pflichten gegenüber dem Reich (Art. 17) zugesprochen beziehungsweise auferlegt. Der Zugang in den Staatsdienst war allen Untertanen (wie seit dem Ḫaṭṭ-ı Hümāyūn von 1856) offen (Art. 19), jedoch von der Beherrschung des Türkischen, der amtlichen Sprache, abhängig (Art. 18). Steuern wurden „allen osmanischen Untertanen im Verhältnis zu ihrem Vermögen auferlegt“ (Art. 20), Eigentum unter Schutz gestellt und Enteignung nur im öffentlichen Interesse () und, dem Gesetz entsprechend, gegen eine Entschädigung () gestattet (Art. 21). Die Unverletzlichkeit der Wohnung wurde in Art. 22 verankert, das Recht auf den gesetzlichen Richter in Art. 23 geregelt. Vermögenskonfiskationen () und Corvée () wurden mit Art. 24, Folter und andere Misshandlungen mit Art. 26 verboten. Gemäß Art. 25 durften unter anderem Steuern nur auf Grund eines Gesetzes erhoben werden (siehe: Gesetzmäßigkeit der Besteuerung).
Ministerrat
Mitglieder des Ministerrats (; Art. 27–38, Abschnitt 3) waren der Großwesir, der Scheichülislam, der Präsident des Staatsrates sowie die Außen-, Bau-, Finanz-, Handels- und Landwirtschafts-, Innen-, Justiz-, Kriegs-, Kultus- und Marineminister. Weitere Mitglieder waren der Minister der frommen Stiftungen und der Minister der Post, der Telegrafen und Telefone.
Großwesir und Scheichülislam wurden direkt vom Sultan, die übrigen Mitglieder per kaiserlichen Erlass ernannt (Art. 27). Der Rat trat unter dem Vorsitz des Großwesirs, der die Aufgaben des Regierungschefs () übernahm, zusammen (Art. 28). Die Minister waren zunächst nur dem Herrscher, nach der Verfassungsänderung des Jahres 1909 „für die allgemeine Politik der Regierung gemeinsam und für die Geschäfte ihres Amtes einzeln dem Abgeordnetenhause gegenüber verantwortlich“ (Art. 30) und konnten von diesem durch Misstrauenserklärung abgesetzt werden, Art. 38. Auch die Ernennung wurde 1909 geändert. Die Ämter des Großwesirs und des Scheichülislams wurden zwar weiterhin vom Sultan übertragen, doch die übrigen Mitglieder ernannte der Großwesir.
Des Weiteren mussten die Minister nun nach Art. 35 bei grundlegenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Abgeordnetenhaus entweder zurücktreten oder aber den Beschluss der Abgeordneten annehmen. Im Mai 1914 wurde Art. 35 erneut geändert. Dieser Änderung zufolge entschied der Sultan bei Vorliegen geschilderter Situation, ob neue Minister eingesetzt oder das Abgeordnetenhaus aufgelöst, dann allerdings innerhalb von vier Monaten erneut gewählt, wurde. Am 9. März 1916 entfiel Art. 35 restlos.
Die Mitglieder des Rates waren berechtigt, den Parlamentssitzungen beizuwohnen und zu jeder Zeit das Wort zu ergreifen, Art. 37.
Beamte
Beamte (; Art. 39–41, Abschnitt 4) konnten, „solange ihr Betragen keinen gesetzlichen Grund zu ihrer Absetzung bildet und sie nicht selbst zurücktreten oder für die Regierung ein zwingender Grund zu ihrer Absetzung nicht besteht, weder abgesetzt noch entlassen werden“ (Art. 39). Nach Art. 41 waren sie gegenüber Vorgesetzten „zu Respekt und Ehrfurcht verpflichtet“ und hatten deren Weisungen zu befolgen (Gehorsamspflicht), sofern diese nicht gegen Gesetze verstießen. Bei Befolgung in gesetzwidrigen Fällen war der Beamte für ebendiese verantwortlich.
Parlament
Das Parlament (; Art. 42–59, Abschnitt 5) bestand nach Art. 42, 43 aus zwei Kammern, dem Senat und dem Abgeordnetenhaus, die jährlich per kaiserlichen Erlass (seit 1909 ohne Einberufung) eröffnet von Anfang November bis Anfang Märzrūmī (ab August 1909 „Anfang Mai“; ab Februar 1915 „vier Monate“, also erneut Anfang März) zusammentraten. Der Sultan konnte das Parlament auch vor diesem Zeitpunkt einberufen bzw. eröffnen sowie schließen und so die Sitzungsdauer verlängern () oder verkürzen (), vgl. Art. 44. Ab dem August 1909 konnte die Sitzungsdauer sowohl durch kaiserlichen Entschluss als auch durch schriftliches Verlangen der Mehrheit der Abgeordneten nur durch vorzeitige Eröffnung oder verspätete Schließung verlängert, jedoch nicht mehr verkürzt werden. Am Tag der Eröffnung mussten der Sultan oder zumindest der Großwesir als sein Vertreter sowie die Minister und die Mitglieder beider Kammern anwesend sein (Art. 45). Letztere wurden an diesem Tag beeidigt und schworen „dem Vaterlande treu zu dienen, alle Pflichten zu erfüllen, die ihnen die Verfassung und ihr Mandat auferlegen, und sich aller Handlungen zu enthalten, die diesen Pflichten zuwiderlaufen“ (Art. 46).
Art. 47 gewährleistete das freie Mandat, das heißt die Freisprechung von einer Bindung an „Versprechungen oder Instruktionen“, sowie die Indemnität der Parlamentarier. Des Weiteren genossen Abgeordnete eine auf die Sitzungsdauer beschränkte Immunität, welche nur mit Stimmenmehrheit des Parlamentes aufgehoben werden konnte, Art. 79. Die Mitglieder des Parlaments konnten nicht beiden Kammern gleichzeitig angehören und kein anderes Amt bekleiden (Art. 50).
Das Initiativrecht lag grundsätzlich bei den Ministern (Art. 53), wobei dem Parlament (bis zum August 1909) nur ein beschränktes, von der zumindest stillschweigenden Zustimmung des Sultans abhängiges Initiativrecht zustand. Auf Verlangen des Senats oder des Abgeordnetenhauses, aber erst mit Erlass des Herrschers, arbeitete der Staatsrat Gesetzesentwürfe aus (Art. 54), die dann zunächst vom Abgeordnetenhaus beraten und dann zum Senat weitergeleitet (Art. 55) wurden. Gesetzeskraft erhielten diese allerdings nur durch kaiserlichen Erlass (Art. 54). Die Parlamentssitzungen mussten in türkischer Sprache erfolgen (Art. 57).
Das erste Parlament wurde am 19./20. März 1877 mit einer von Said Pascha vorgetragenen Rede des Sultans im Festsaal des Dolmabahçe-Palastes eröffnet. Von den insgesamt 155 Parlamentariern stammten 119 aus dem Abgeordnetenhaus. Die Zahl der Nichtmuslime betrug 58.
Senat
Die Gesamtanzahl der Mitglieder des Senats (; Art. 60–64, Abschnitt 6) war auf höchstens ein Drittel der Anzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses beschränkt; Präsident sowie die Mitglieder des Senats wurden vom Sultan auf Lebenszeit ernannt (Art. 60). Sie mussten mindestens 40 Jahre alt sein (Art. 61) und konnten „auf eigenes Verlangen vom Staat in ein anderes Amt versetzt“ werden (vgl. Art. 62). Das monatliche Gehalt der Senatoren betrug 10.000 Kurūsch (Art. 63). Die Aufgabe des Senats bestand darin, vom Abgeordnetenhaus vorgelegte Gesetzes- und Budgetentwürfe auf Verstöße „gegen den Glauben, die Souveränitätsrechte des Sultans, die Freiheit, die Verfassung, die territoriale Einheit des Staates, die innere Sicherheit im Lande, die zum Schutze und zur Verteidigung des Vaterlandes ergriffenen Maßnahmen oder gegen die öffentliche Sicherheit“ zu prüfen und gegebenenfalls an das Abgeordnetenhaus zurückzusenden oder an den Großwesir weiterzuleiten (Art. 64). Zudem stand das Auslegungsrecht () bezüglich der Verfassung nach Art. 117 dem Senat zu.
Der erste Präsident des 32-köpfigen Senats war Server Pascha.
Abgeordnetenhaus
Die Gesamtanzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses (; Art. 65–80, Abschnitt 7) war so begrenzt, dass auf etwa 50.000 männliche Einwohner je ein Abgeordneter entfiel (Art. 65).
Nach Art. 66 hatten die Wahlen nach speziellem Gesetz zu erfolgen. Ein provisorisches, sieben Artikel umfassendes Wahlgesetz wurde bereits am 15. Oktober 1876 vom Sultan abgesegnet, trat am 28. Oktober bzw. 6. November 1876 in Kraft und sollte nach einmaliger Anwendung gemäß Art. 119 der Verfassung außer Kraft treten. Doch auf Grund eines fehlenden neuen Gesetzes wurde das provisorische Wahlgesetz ein weiteres Mal angewandt. Für Istanbul und Umgebung, dazu zählte auch Izmir, galt dabei ein spezielles, Beyānnāme genanntes Gesetz, das am 1. Januar 1877 verkündet wurde. Wahlgesetz und Beyānnāme enthielten Regelungen, die zur Verfassung im Widerspruch standen. So bestimmte etwa Art. 69 der Verfassung eine Mandatsdauer () von vier Jahren; die Wahlgesetze sahen jedoch jährlich stattfindende Abgeordnetenwahlen vor.
Das Abgeordnetenwahlgesetz () von 1877 übernahm weitgehend die Regelungen des provisorischen Wahlgesetzes, trat aber mangels kaiserlicher Approbation erst in der Zweiten Verfassungsperiode in Kraft. Nach Art. 66 der Verfassung in Verbindung mit Art. 8, 21 des Abgeordnetenwahlgesetzes fanden die Wahlen gleich und indirekt, frei und geheim, jedoch nicht allgemein statt. Frauen etwa hatten kein Wahlrecht. Bis zu 500 Wähler (Müntehib-i Evvel) wählten mit relativer Mehrheit einen Wahlmann () (Art. 21, 43, 45, 46 des Abgeordnetenwahlgesetzes). Die Wähler durften nicht Angehörige einer fremden Nation sein oder dies behaupten und mussten das 25. Lebensjahr vollendet haben. Zudem durften sie zur Zeit der Wahl nicht im Dienstverhältnis zu einer anderen Person oder unter einem Sachwalter stehen, ihre politischen Rechte eingebüßt haben oder Gemeinschuldner sein. Die Wahlmänner mussten zusätzlich Untertanen des Reiches sein und durften nicht im Dienste einer anderen Nation stehen. Für Abgeordnete galt zusätzlich ein Mindestalter von 30 Jahren (im Wahlgesetz 25) und die Beherrschung der türkischen Sprache. Des Weiteren durften sie nicht für einen „sittenlosen Lebenswandel bekannt“ sein (vgl. Art. 68). Ihre Wiederwahl war möglich (Art. 69).
Der Präsident sowie zwei Vizepräsidenten wurden aus je drei vorgeschlagenen Kandidaten vom Sultan ernannt, Art. 77. Nach der Verfassungsänderung von 1909 erfolgte die Wahl des Präsidiums unmittelbar und der Sultan wurde lediglich über das Ergebnis in Kenntnis gesetzt. Die Abgeordneten erhielten eine jährliche Entschädigung von 20.000, ab 1909 30.000 und nach 1916 50.000 Kurūsch aus der Staatskasse sowie eine monatliche Reiseentschädigung von 5.000 (ab 1916 4.000) Kurūsch, Art. 76.
Zum ersten Präsidenten des Hauses ernannte Abdülhamid II., entgegen dem in Art. 77 gebotenen Prozedere, den ihm treuen Ahmed Vefik Pascha. In der zweiten Legislaturperiode wurde zunächst Art. 1 der Geschäftsordnung () entsprechend der älteste Abgeordnete, Gümüşgerdan Mihalaki Bey, Präsident. Später konnte sich Hasan Fehmi Efendi gegen Rıfat Efendi und Scheich Bahaeddin Efendi, der Erster Vizepräsident wurde, durchsetzen. Zweiter Vizepräsident wurde Hüdaverdizâde Hovhannes Allahverdian.
Gerichtsbarkeit
Im Abschnitt (Art. 81–91) wurde die Unabhängigkeit der Gerichte (vgl. Art. 86) und die Sicherheit der Richter garantiert. Art. 81 regelte zunächst die Ernennung, Versetzung, Pensionierung und die Absetzung von Richtern, wonach diese per Dekret ernannt und nicht absetzbar waren, jedoch freiwillig auf das Amt verzichten konnten. Weiteres war einem speziellen Gesetz zu entnehmen. Gerichtsverhandlungen mussten grundsätzlich unter Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgen; Urteile durften veröffentlicht werden. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit war, in im Gesetz geregelten Fällen, zulässig (Art. 82). Jedem stand es zu, vor Gericht von den notwendigen gesetzlichen Mitteln Gebrauch zu machen (Art. 83).
Art. 87 bestimmte, dass „Prozesse, die sich auf das Scheriatrecht beziehen, […] vor den Scheriatgerichten, jene, welche nach dem bürgerlichen Gesetze entschieden werden, vor den Zivilgerichten geführt“ wurden.
Hoher Gerichtshof
Gemäß Art. 92 war das Hohe Gericht (; Art. 92–95, Abschnitt 9) für Verfahren gegen Minister, Mitglieder des Kassationshofes und gegen Personen, „die gegen die Person oder die Rechte des Sultans zu handeln oder die Sicherheit im Staate zu gefährden versuchen“, zuständig. Dem aus zwei Kammern bestehenden Gericht gehörten je zehn Mitglieder aus dem Senat, dem Staatsrat () und aus dem Kassations- und Appellationshof (), also insgesamt 30 Mitglieder an (Art. 92). Die Anklagekammer () bestand aus neun (Art. 93), die Urteilskammer () aus 21 Richtern (Art. 95). Nach Art. 94 hatte die Anklagekammer mit einer Zweidrittelmehrheit zu entscheiden, ob überhaupt Klage erhoben wurde. Bei Erhebung einer Klage entschied die Urteilskammer ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit nach geltendem Gesetz, wobei die Urteile weder appellabel noch kassierbar waren (Art. 95).
Finanzen
Steuern durften nur auf der Grundlage von Gesetzen erhoben werden (Art. 96). Budgetentwürfe wurden unmittelbar nach Eröffnung des Parlaments dem Abgeordnetenhaus vorgelegt (Art. 99) und nach Prüfung im Parlament entweder an das Abgeordnetenhaus zurückverwiesen oder approbiert und an den Großwesir weitergeleitet (Art. 98 i. V. m. Art. 64). Die Gültigkeit des Budgets betrug grundsätzlich ein Jahr, konnte jedoch im Falle eines aufgelösten Abgeordnetenhauses durch kaiserlichen Erlass und Beschluss der Minister um ein Jahr verlängert werden (Art. 102). Zudem wurde ein Rechnungshof () gegründet und war für die Überprüfung der mit Finanzen betrauten Beamten (Art. 105) zuständig. Der Rechnungshof bestand aus zwölf Mitgliedern, die vom Sultan ernannt und nur durch das Abgeordnetenhaus entlassen werden konnten (Art. 106).
Verschiedene Bestimmungen
Im zwölften und letzten Abschnitt (Art. 113–119 bzw. 121) fanden sich die „Verschiedenen Bestimmungen“ (). Nach Art. 113 Satz 1, 2 konnte die Regierung bei Bedarf einen örtlich und zeitlich begrenzten Belagerungszustand () verhängen und dem Sultan stand bis zum August 1909 aus Art. 113 Satz 3 das Verbannungsrecht zu. Primärunterricht (birinci mertebe) war für alle Osmanen verpflichtend (Art. 114). Art. 115 schützte die Verfassung vor Suspendierung und Außerkraftsetzung. Eine Verfassungsänderung konnte nur auf Vorschlag des Ministerrats, des Senats oder des Abgeordnetenhauses durch eine Annahme mit Zweidrittelmehrheit im Senat und eine Bestätigung der Annahme mit Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhaus sowie mit Zustimmung des Sultans vorgenommen werden (Art. 116). Für Justizangelegenheiten war der Kassations- und Appellationshof, für Verwaltungsangelegenheiten der Staatsrat und für Verfassungsfragen der Senat zuständig (Art. 117).
Ab dem August 1909 schützte Art. 119 das Briefgeheimnis, Art. 120 garantierte einerseits die Vereinigungsfreiheit und verbot andererseits Vereine, „die gegen die Moral und die guten Sitten verstoßen oder dem Zwecke dienen, den territorialen Bestand des osmanischen Reiches zu verletzen, die Form der Verfassung und Regierung zu ändern, gegen die Bestimmungen der Verfassung zu handeln und die verschiedenen osmanischen Volksteile politisch zu trennen“. Auch wurde die Gründung geheimer Gesellschaften verboten. Sitzungen im Senat hatten nach Art. 121 grundsätzlich öffentlich zu sein, konnten aber auf Antrag der Minister oder fünf Senatoren mit Stimmenmehrheit nichtöffentlich abgehalten werden.
Bedeutung und Kritik
Durch diese Verfassung wurde erstmals im Osmanischen Reich der Versuch unternommen, der religiösen Legitimation der Herrschafts- und Staatsgewalt mit demokratischen Elementen die Absolutheit abzusprechen. Dieser misslang jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass die Verfassung von einem direkt durch den Sultan einberufenen Ausschuss erarbeitet und die Entwürfe seitens Monarchisten wie Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha oder Ahmed Cevdet Pascha überprüft wurden. Das Dokument schützte schließlich die Rechte und Privilegien des Herrschers gegenüber Volk und Parlament. Der Sultan blieb theokratisch legitimierter Herrscher, auf den die Staatsorganisation zugeschnitten war. Somit herrschte der Sultan trotz einer de jure gültigen Verfassung im absolutistischen Sinne. Dies zeigte sich insbesondere in der Schließung des Parlaments nur elf Monate nach Inkrafttreten der Verfassung. Die per Ferman verkündete Verfassung wurde erneut durch ein Ferman faktisch außer Kraft gesetzt. Die in der Verfassung – allerdings auch schon in vorausgehenden Erlässen – garantierten Grundrechte waren in der Osmanischen Rechtsgeschichte zwar nicht belanglos, allerdings wegen des Verbannungsrechts nach Art. 113 Satz 3 durch das Gutdünken des Herrschers stark beschränkt.
Wie stark sich die über dreißig Jahre währende faktische Unwirksamkeit der Verfassung auf die Pressefreiheit auswirkte, machte sich nach dem Verbot der Pressenzensur im Jahr 1908 bemerkbar. So stieg die Anzahl erscheinender Periodika nach der Wiederinkraftsetzung der Verfassung schlagartig. In den Jahren 1908 und 1909 wurden 330 Werke gezählt (siehe dazu auch Artikel über Mehmed Memduh).
Literatur
Gotthard Jäschke: Die Entwicklung des osmanischen Verfassungsstaates von den Anfängen bis zur Gegenwart. In: Die Welt des Islams. Band 5, Heft 1/2, Brill, August 1917, S. 5–56.
Gotthard Jäschke: Die rechtliche Bedeutung der in den Jahren 1909–1916 vollzogenen Abänderungen des türkischen Staatsgrundgesetzes. In: Die Welt des Islams. Band 5, Heft 3, November 1917, S. 97–152.
Christian Rumpf: Das türkische Verfassungssystem. Einführung mit vollständigem Verfassungstext. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1996, ISBN 3-447-03831-4, S. 37–57.
Bülent Tanör: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri. 18. Auflage. Yapı Kredi Yayınları, Istanbul 2009, , S. 41–220.
Festschrift:
Armağan. Kanun-u Esasî’nin 100. Yılı. Ankara Üniversitesi Siyasal Bilgiler Fakültesi Yayınları, Ankara 1978.
Gesetzestexte:
Suna Kili, A. Şeref Gözübüyük: Türk Anayasa Metinleri. Sened-i İttifak’tan Günümüze. 3. Auflage. Türkiye İş Bankası Kültür Yayınları, Istanbul 2006, ISBN 975-458-210-6, S. 33–51 (türkisch in Lateinschrift, unkommentiert).
Grégoire Aristarchi: Législation ottomane ou recueil des lois, règlements, ordonnances, traités, capitulations et autres documents officiels de l’Empire ottoman. Band V, Constantinople 1878, S. 1–25 (amtliche französische Übersetzung).
Bibliothèque nationale de France (BnF) Gallica: volumes 1, 2, 3, 4, 5, 6, and 7
mit Universität Kreta
mit HeinOnline
Abdolonyme Ubicini: La constitution ottomane du 7 zilhidjé 1293 (23 décembre 1876). Expliquée et Annotée par A. Ubicini. A. Cotillon et Co., Paris 1877, ia800308.us.archive.org (PDF; 61 MB)
Friedrich von Kraelitz-Greifenhorst: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Aus dem Osmanisch-türkischen übersetzt und zusammengestellt. Verlag von Rudolf Haupt, Leipzig 1909, S. 28–53.
Neubearbeitung: Friedrich von Kraelitz-Greifenhorst: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen. Mit einer genealogischen Tabelle des kaiserl. Hauses Osman. Verlag des Forschungsinstitutes für Osten und Orient, Wien 1919, S. 28–50 (Osten und Orient. 4. Reihe, Quellenwerke in Übersetzungen. 1. Abteilung, Sammlung türkischer Gesetze. 1. Heft)
Auszug in: Andreas Meier (Hrsg.): Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1994, ISBN 3-87294-616-1, S. 71–78.
Türkischer Text (in Lateinschrift) und deutsche Übersetzung vieler Artikel und der Präambel in: Tunay Sürek: Die Verfassungsbestrebungen der Tanzimât-Periode. Das Kanun-i Esasî – Die osmanische Verfassung von 1876. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2015, ISBN 978-3-631-66899-3, S. 178–206.
Scientific English translation directly from the Ottoman Turkish version of the constitution, done by Max Bilal Heidelberger: Tony Brown; "The Basic Law [Kanūn-ı Esāsī] of the Ottoman Empire of December 23, 1876"; S. 341-352 - from the copy published in the Düstūr (Ottoman Official Gazette) 1st series (tertïb-i evvel), Volume 4, Pages 4–20.
Weblinks
Kanun-ı Esasi auf den Webseiten der Großen Nationalversammlung der Türkei
Gesetzestexte:
Ursprungsfassung (PDF; 828 kB)
Endfassung (PDF; 649 kB)
Verfassungstext in lateinischer Schrift (ohne Präambel)
Deutsche Übersetzung des Verfassungstextes (Übersetzung von Kraelitz-Greifenhorst)
French translation (the basis of translation into non-Muslim languages) published in:
Documents diplomatiques: 1875–1876–1877. Ministerium (Frankreich) für Äußeres, Imprimerie National, Paris 1877, S. 272–289,
Documents historiques. In: Revue générale treizième année, volume 25, Chapter 10, Imprimerie E. Guyott, Brussels Februar 1877, S. 319–330,
G. Pedone (Hrsg.): Annuaire de l’Institut de droit international. Paris 1878, S. 296–316 catalogue.bnf.frRead online. Text available abgerufen am 17. Januar 2011
Greek Non-Muslim languages (PDF; 9,9 MB) at the Veria Digital Library - From Sismanoglio Megaro of the Consulate Gen. of Greece in Istanbul; Bulgarian (PDF; 1,5 MB)
Darstellungen:
Vedat Laçiner: Die erste türkische Verfassung von 1876 Kanun-i Esasi. turkishweekly.net.
Einzelnachweise und Anmerkungen
Rechtsquelle (Türkei)
Rechtsquelle (19. Jahrhundert)
Verfassung
Rechtsquelle der Neuzeit
Verfassungsgeschichte (Türkei)
1876
Verfassung nach historischem Staat |
4094187 | https://de.wikipedia.org/wiki/Teltow | Teltow | Teltow [, ] ist mit rund 28.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt im brandenburgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark. Sie liegt direkt am südwestlichen Stadtrand von Berlin.
Der Ort Teltow wurde erstmals in einer Urkunde von Markgraf Otto III. im Jahr 1265 erwähnt und war 1375 auch im Landbuch Karls IV. verzeichnet. Wahrzeichen Teltows ist die in der Altstadt gelegene Stadtkirche St. Andreas, deren Ursprünge in das 12. Jahrhundert zurückreichen. Nach der Eröffnung des Teltowkanals im Jahr 1906 entwickelte sich die kleine Ackerbürgerstadt zu einer Industriestadt. Die Teltower nennen ihre Stadt selbst auch Rübchenstadt nach den Teltower Rübchen, einer seit über 300 Jahren rund um Teltow angebauten Speiserübe.
Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung und die Bedeutung als Wohnstadt durch die Nähe zu Berlin gefördert.
Die Teltower Altstadt wurde zwischen 1994 und 2011 weitgehend saniert und steht seit 1997 vollständig unter Denkmalschutz.
Geografie
Teltow wird im Norden vom Teltowkanal begrenzt, nur an der Brücke zu Kleinmachnow ragt das Stadtgebiet ein kleines Stück über den Teltowkanal nach Norden hinaus. Im Norden liegt der Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf, im Osten und Süden Großbeeren, im Westen Stahnsdorf und im Nordwesten Kleinmachnow. Die Entfernung von Teltow zur Potsdamer Innenstadt beträgt etwa 17 Kilometer, die zu Berlin-Mitte zirka 20 Kilometer.
Die Gesamtfläche der Stadt teilt sich in folgende Nutzungsarten auf:
Geologie
Teltow liegt auf der Grundmoränenhochfläche Teltow, die den südwestlichen Teil Berlins und den angrenzenden Teil Brandenburgs einnimmt. Diese Grundmoräne entstand in der letzten Eiszeit, der Weichsel-Eiszeit, vor etwa 21.000 Jahren. Im Bäketal formten die Wasserströme ein besonders bewegtes Relief mit kleinräumigen Hügelketten aus Geschiebemergel und Schmelzwasserrinnen, die heute mit Pfuhlen und Tümpeln durchsetzt sind. Diese aus geologischer Sicht verhältnismäßig lockere Ablagerung und die von der Bäke vorgeformte Bachrinne erleichterten den Bau des Teltowkanals erheblich. Der Kanal folgt der ursprünglichen Bäke fast vollständig.
Der Buschgraben ist eine schmale eiszeitliche Schmelzwasserrinne am südwestlichen Rand von Berlin. Der südliche Teil verläuft in nord-südlicher Richtung zwischen Berlin-Zehlendorf und Kleinmachnow und mündet nordwestlich von Teltow in den Teltowkanal. In Teltow gibt es mit dem Röthepfuhl und dem Grimmspfuhl zwei Kleingewässer, die aus Toteislöchern entstanden sind.
Klima
In Teltow herrscht ein gemäßigtes Klima, das von Norden und Westen vom atlantischen Klima und aus dem Osten vom kontinentalen Klima beeinflusst wird. Wetterextreme wie Stürme, starker Hagel oder überdurchschnittlicher Schneefall sind selten.
Stadtgliederung
Zur Stadt Teltow gehören der Ortsteil Ruhlsdorf und die Wohnplätze Birkengrund, Seehof, Sigridshorst und Städtlersiedlung.
Geschichte
Namensgebung
Der Name Teltow geht nach Gerhard Schlimpert entweder auf den germanischen Flussnamen Telte, eine alternative Bezeichnung des Bäkefließes, oder auf die geographische Bezeichnung Tilithi zurück. In der erstgenannten etymologischen Variante hätte der Teltow als „Land an der Telte“ ursprünglich das Umland der Bäke bezeichnet. Telte wäre demnach entweder der ursprüngliche Name der Bäke (deren Name schlicht „Bach“ bedeutet) oder verdankte sich einer späteren Umbenennung dieses Baches. Der Flussname Telte ist seinerseits vielleicht mit der germanischen Wurzel *tel- „spalten“ zu verknüpfen; hingegen findet sich in Hans Bahlows Ortsnamenlexikon die Bedeutung „Sumpf, Moder“ für zahlreiche Orts- und Flussnamen mit Tel- (u. a. Tellmer, bei Lüneburg, der Telandros in Kleinasien, der Telavius in Dalmatien, der Telonno in Ligurien).
Eine andere Herleitung verbindet den Teltow mit dem Namen des sächsischen Tilithigaus (oder Gau Tilithi) an der Weser und deren Mündungsarmen Nordertill, Ostertill und Westertill, welche später auch als „Oster Telte“ und „Wester Telte“ belegt sind. Schlimpert sieht daneben eine mögliche Beziehung zum mecklenburgischen Teldau bei Hagenow. Sollte der Name Tilithi den Ursprung von Teltow bilden, so bleibt der erste Bestandteil in seiner Herkunft unsicher, während *-ithi eine gebräuchliche Ortsnamenendung darstellte, die im Sinne eines Kollektivmorphems auf die Häufung eines Phänomens hindeutet.
Im Folgenden wurde der Landschaftsname Teltow vermutlich auf den Ort Teltow übertragen. Beim Suffix -ow handelt es sich wahrscheinlich um eine Entlehnung aus dem slawischen Wort Teltova, welche dem ursprünglichen, germanischen Wortstamm Telte während der Zeit der slawischen Besiedlung angefügt wurde. Demzufolge würde Teltow dann „mit größter Wahrscheinlichkeit das ‚Land an der Telte‘“ bedeuten. Die Endung -ow kann daneben auch germanischen Ursprungs sein und wäre dann an die Namen auf -au anzuschließen. Ableitungen des gesamten Namens Teltow aus dem slawischen tele für „Kalb“ beziehungsweise „Kälberwiese“ und weitere in der Literatur vorhandenen Versuche zur Begriffsklärung sind nach Gerhard Schlimpert als sehr unwahrscheinlich anzusehen.
Frühgeschichte und Mittelalter
Wie große Teile der geologisch jungen Oberfläche der Mark Brandenburg war das Bäketal weitgehend versumpft, gleichwohl wie viele Flusstäler bevorzugter Siedlungsraum. Die Ortslage Teltows am Schönower See, der später durch den Bau des Teltowkanals trockengelegt wurde, bot natürlichen Schutz und genügend Raum für eine größere Ansiedlung. Auf dem Stadtgebiet Teltows gibt es Bodenfunde, die darauf schließen lassen, dass 300 bis 400 Jahre v. Chr. Ansiedlungen existierten. Nachdem im Zuge der Völkerwanderungen im 4. und 5. Jahrhundert die Sueben, der elbgermanische Teilstamm der Semnonen, ihre Heimat an Havel und Spree verlassen hatten, zogen im späten 7. und 8. Jahrhundert slawische Stämme in den vermutlich weitgehend siedlungsleeren Raum ein.
Die slawische Zeit ging mit der Gründung der Mark Brandenburg durch den Askanier Albrecht I. im Jahr 1157 und dem folgenden deutschen Landesausbau nach Osten zu Ende. Im Zuge der Siedlungspolitik der askanischen Markgrafen wurden weitere Teile des Bäketales erschlossen. Die von der Spree durchflossenen Gebiete Barnim und Teltow, die der slawischen Landschaft Zpriauuani entsprechen, sind erstmals in einer Urkunde der Askanierfürsten aus dem Jahr 1232 erwähnt.
Die Stadt Teltow wurde zum ersten Mal in einer Urkunde von Markgraf Otto III. vom 6. April 1265 erwähnt, die der Stadt Innungsrechte verlieh. Die Stadt verblieb nur wenige Jahrzehnte als Immediatstadt unter askanischer Herrschaft, da sie gemeinsam mit sieben umliegenden Dörfern 1299 zur Tilgung einer Schuld von 300 Mark Silber an den Bischof von Brandenburg und somit an das Hochstift Brandenburg fiel. Die Stadt blieb Teil des Hochstifts bis zu dessen Aufgehen in das Kurfürstentum Brandenburg. Durch die fehlende Nähe zu bedeutenden Handelswegen versank die Stadt Teltow in den nächsten zirka 250 Jahren zunehmend in der Bedeutungslosigkeit. Das Siegel der Stadt Teltow im Jahr 1337 zeigt ein von Eichenzweigen umgebenes Adlerschild der Markgrafen von Brandenburg mit der Unterschrift „S(igillum) civitatis Teltowe“. Teltow wurde 1375 im Landbuch Karls IV. aufgeführt. Zu dieser Zeit bestand Teltow aus etwa 120 Familien, die vom Ackerbau, Viehzucht, Brauen und Handwerken lebten. Die Hauptgewerke waren Leineweber, Schneider, Schuhmacher, Stellmacher, Tischler, Zimmerleute und Schmiede.
Adlige, Geistliche und Bürger gründeten vor 1300 in Teltow wie in anderen Städten der Mark die religiöse Bruderschaft Der Kaland. Der Kalandgesellschaft gehörten Männer und Frauen an. Sie kamen am ersten Tag des Monats zusammen, hielten gemeinsame Andachten ab und widmeten sich sozialen Aufgaben. Hans von Berne wurde 1438 als Lehnrichter in den Kaland aufgenommen. 1468 kam Teltow unter die Lehensherrschaft der Familie von Schwanebeck.
Neuzeit bis 1900
Mit dem Übertritt des Bischofs Matthias von Jagow und des Lehnrichters Joachim von Schwanebeck zum Luthertum endete am 31. Oktober 1539 der Kaland. 1571 ging die Stadtherrschaft nach der Reformation wieder an den Kurfürsten zurück. Zur gleichen Zeit wurde die Stadt der Verwaltung des Domänenamtes Ziesar mit Sitz in der Burg Ziesar unterstellt. Die Pest wütete 1566 in Teltow, später forderte die Seuche nochmals in den Jahren 1612, 1626, 1631 und 1638 ihre Opfer.
Da die Häuser zum größten Teil aus Holz gebaut und mit Stroh oder Schindeln eingedeckt waren, blieb Teltow nicht von Stadtbränden verschont. In den Jahren 1612, 1643 und 1673 kam es zu Feuersbrünsten. Am 16. Juni 1711 blieben nach einem großen Stadtbrand nur der adlige Wilmersdorfsche Hof, das Pfarrhaus und ein Baderhaus stehen. König Friedrich I. verzichtete drei Jahre auf den Pachtzins der Bürger und unterstützte den Wiederaufbau mit Bauholzspenden. Am 17. August 1801 kam es zum erneuten Stadtbrand, bei dem 30 Häuser, die Andreaskirche, das Rathaus, die Schule und der Ritterhof abbrannten.
Während des Dreißigjährigen Krieges wurde Teltow 1631, 1634, 1637 und 1640 geplündert. Als Folge des Krieges war Teltow 1652 entvölkert und zählte nur noch 27 Hufner und 39 Gärtner. Bis 1737 war die Altstadt von Doppelwällen umgeben, die mit Eichen bepflanzt waren. Eine wehrhafte Burg oder eine Stadtmauer hatte Teltow nicht. Im Osten wurde der Wall durch das Berliner Tor und das Machnower Tor (später Potsdamer Tor) durchbrochen. Teltow lag an der Handelsstraße Wittenberg–Saarmund–Berlin-Kölln, die über eine Landzunge durch das versumpfte Gelände zu einem Spreeübergang führte. Die Tore dienten der Kontrolle des Verkehrs und wurden 1816 beseitigt.
Die Entwicklung in Teltow wurde mehrere Jahrhunderte durch die Familien Schwanebeck und von Wilmersdorf bestimmt, bis 1808 die Stein-Hardenbergschen Reformen eine neue Städteordnung mit sich brachte. Ein zentraler Punkt der Reformen waren die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger durch Einführung der Selbstverwaltung in Provinzen, Kreisen und Kommunen. Die Bürger Teltows konnten nach 1813 durch einen selbst gewählten Magistrat mit entscheiden. 1815 stieg Teltow zur Kreisstadt des neu gebildeten Landkreises Teltow auf. Von 1819 an hatte das Landratsamt seinen Sitz in der Ritterstraße, das 1870 nach Berlin verlegt wurde.
Von einer kleinen Anhöhe am südöstlichen Rande Ruhlsdorfs befehligte der schwedische Thronfolger Bernadotte am 23. August 1813 die schwedischen und russischen Truppen in der Schlacht bei Großbeeren. Zur Erinnerung an dieses Ereignis steht an dieser Stelle die Bernadotte-Linde. Die Schlacht war Teil der Befreiungskriege, die Niederlage der Franzosen verhinderte ein erneutes Vordringen der napoleonischen Truppen nach Berlin und beendete die französische Herrschaft in der Mark.
Am südöstlichen Ufer des ehemaligen Teltower Sees entstanden ab 1856 das Gut Seehof und zwischen 1872 und 1890 die Villenkolonie Seehof, eine Badeanstalt und ein Kurhaus. Später wurde der Teltowkanal mitten durch den See gebaut. Die Kanalisierung führte zum Austrocknen des Rests des Teltower Sees.
Schleusenbau und Industrialisierung
Der Bau des Teltowkanals von 1901 bis 1906 und der Schleuse Kleinmachnow war eine wichtige Initialzündung zur Industrialisierung der Stadt. Gleichzeitig galt die Schleuse als große Attraktion für Berliner Wochenendausflügler. Während des Kanalbaus wurde 1904 eine Porzellanfabrik gegründet, die ab 1908 Isolatoren für Elektroprodukte unter dem Warenzeichen Dralowid herstellt.
1911 wurde am Großbeerener Weg ein Versuchsflugplatz gebaut, von dem Übungsflüge zwischen Teltow und Johannisthal durchgeführt wurden. Die Flüge wurden 1919 wegen des Versailler Friedensvertrages gestoppt.
Zuvor wurde 1888 die Dampfstraßenbahnlinie von Groß-Lichterfelde (Anhalter Bahn) nach Teltow eingeweiht und 1901 der Bahnhof Teltow an der Anhalter Bahn eröffnet. Die Teltower Kreisbahnen entstanden am 1. April 1906, als der damalige Landkreis Teltow zwei Straßenbahnbetriebe käuflich erwarb. Einen Teil bildete die Straßenbahn Berlin-Lichterfelde–Seehof–Teltow–Stahnsdorf–Kleinmachnow (Schleuse). An die ehemalige Straßenbahnlinie 96 erinnerte seit 1999 am Rande der Potsdamer Straße ein 1929 gebauter Straßenbahn-Triebwagen. Der Wagen wurde am 13. Juni 2009 als Dauerleihgabe der Stadt Teltow nach Kleinmachnow verlegt, um dort in unmittelbarer Nähe zur Kleinmachnower Schleuse als Informationszentrum der ehemaligen Straßenbahnlinie zu dienen. 1909 erhielt Teltow einen Hafen mit Gleisanschluss der Teltower Eisenbahn. Mit der Gründung von Groß-Berlin 1920 und der Zusammenfassung aller dortigen Straßenbahnen endete die Selbständigkeit der Teltower Kreisbahnen. Die Stadt Teltow gab mit Wirkung vom 1. Oktober 1920 die elektrische Straßenbahn und die Industriebahn ab. Am 16. April 1921 übernahm die neue Stadtgemeinde Berlin den Betrieb.
Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise musste die Porzellanfabrik infolge ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage 1929 mit der Steatit-Magnesia AG aus Berlin fusionieren. Als Nachfolgebetrieb der 1931 eingestellten Porzellanproduktion entstand ab 1929 das Dralowid-Werk. Der Name stand für Drahtlose Widerstände, das Hauptprodukt des Betriebes. In den Jahren 1929 bis 1937 wurden die bebauten Flächen in den Stadtteilen Seehof und Sigridshorst beiderseits der Mahlower und Ruhlsdorfer Straße und der Iserstraße erheblich ausgeweitet.
Zweiter Weltkrieg
Während des Zweiten Weltkrieges setzte der Rüstungsbetrieb Ernst Heinkel Flugzeugwerke (heute Heinkel Systemservice für Energieanlagen) in Berlin-Reinickendorf Zwangsarbeiter ein. In Ruhlsdorf befand sich ein Lager für zivile Zwangsarbeiter, dessen Insassen auch für die Firma Curt von Grueber Maschinenbauanstalt (heute Teltomat Maschinenbau GmbH) in Teltow arbeiten mussten. Das Dralowid-Werk wurde Ende 1939 auf Rüstungserzeugnisse umgestellt. Der Betrieb produzierte Zünder für Granaten und Bomben, unter anderem für die V1- und V2-Waffe. Im Sommer 1940 trafen französische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit im Dralowid-Werk ein. Bis Februar 1943 erhielt das Werk 157 polnische und sowjetische Frauen zur Zwangsarbeit. Ende 1944 waren es etwa 300 Arbeiterinnen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden 1943 große Teile der Stadt durch Luftangriffe zerstört. Vom ursprünglichen Teltow ist heute nur noch der Altstadtkern erhalten. Kurz vor Ende des Krieges im April 1945 wurden durch unmittelbare Kriegseinwirkungen hunderte von Bürgern getötet, alle Teltowkanalbrücken gesprengt und die öffentlichen Verkehrseinrichtungen zerstört. Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde Albert Wiebach als Bürgermeister eingesetzt.
Geteiltes Deutschland
Max Malecki (1949) und Herbert Pucher (1952) waren die ersten beiden 1. Sekretäre der SED-Kreisleitung in Teltow. Auf der Grundlage der Verwaltungsreform in der DDR wurde 1952 der Kreis Teltow aufgelöst und Teltow dem Kreis Potsdam im neugebildeten Bezirk Potsdam zugeordnet. In der Zeit der sowjetischen Besatzungszone und der DDR kam es bis 1961 zu einem erheblichen Bevölkerungsverlust. Nach dem Mauerbau 1961 bildete der Teltowkanal an der nördlichen Teltower Gemarkungsgrenze die Grenze nach West-Berlin. Im Osten Teltows begrenzte die Mauer die Ortsteile Seehof und Sigridshorst. In den Wohngebieten nahe der Grenze zu West-Berlin wurden nach dem Mauerbau vor allem SED-Mitglieder und andere Linientreue angesiedelt, von denen das Regime annahm, dass sie nicht aus der DDR flüchten würden. Die Wohnbebauung an der Grenze war nur unter strenger Zugangsbeschränkung erreichbar. Bei dem Versuch, von der DDR über die Mauer nach West-Berlin zu gelangen, waren bis zum Fall der Mauer in Teltow mit Hans-Jürgen Starrost, Klaus Garten und Roland Hoff drei Maueropfer zu beklagen.
Ein wichtiges Ereignis für die Entwicklung von Teltow war im Januar 1946 die Gründung der Askania Feinmechanik und Optik GmbH, die Systeme zur Automatisierung industrieller Prozesse entwickelte. 1948 wurde Askania wie alle größeren Betriebe in Volkseigentum VEB Mechanik Askania Teltow überführt und 1954 in VEB Geräte- und Reglerwerke Teltow (GRW Teltow) umbenannt. Die GRW Teltow erhielt 1962 durch Beschluss des Volkswirtschaftsrates die landesweite Verantwortung für die Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regelungstechnik (BMSR-Technik) in der DDR. Der Betrieb wuchs bis auf etwa 12.000 Beschäftigte in den 1970er Jahren an und war das Zentrum der Automatisierungstechnik der DDR.
Der zweite industrielle Großbetrieb in Teltow war der VEB Elektronische Bauelemente „Carl v. Ossietzky“ (CvO), der aus der Überführung des Dralowid-Werkes 1948 in VEB Dralowid und der Umbenennung 1953 in VEB Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik „Carl von Ossietzky“ (WBN) entstand. Bis 1955 wurden in Handfertigung 30 Millionen Schichtwiderstände pro Jahr gefertigt. Die Produktionszahl konnte in den nachfolgenden Jahrzehnten bis 1989 auf drei Millionen Widerstände pro Tag gesteigert werden.
Im WBN fiel 1951 der Startschuss für den Aufbau des neuen Industriezweiges Halbleitertechnologie in der DDR mit ersten Forschungsarbeiten zu Halbleitern. Unter Leitung von Matthias Falter stellten die Mitarbeiter der WBN-Forschungsabteilung 1953 die ersten Muster von Spitzentransistoren her.
Stadtplanungen der 1960er Jahre sahen für das Sanierungsgebiet Innenstadt einen flächendeckenden Abriss und eine fast vollständig neue Struktur aus Zeilenbauten vor. Einzig die Kirche, das Kino und ein Teil der Kuppelmayrschen Siedlung sollten erhalten bleiben. In den 1980er Jahren setzte in Teltow ein Prozess des Umdenkens ein. Zunächst wurden Einzelobjekte unter Denkmalschutz gestellt, im Jahr 1986 Teile der Altstadt zu Flächendenkmalen erklärt.
Begleitend zur gewerblichen Entwicklung wurden neue Gebiete für den Wohnungsbau erschlossen und entwickelt: 1961 bis 1965 die Neue Wohnstadt, 1970 die Grundsteinlegung für den Wohnkomplex Bodestraße im Flussviertel; 1987 bis 1989 das Wohngebiet Ruhlsdorfer Platz, 2005 das Musikerviertel, 2006 das Baufeld Mühlendorf mit im Endausbau möglichen 442 Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäusern. Ende 2008 verfügte Teltow über 21 Wohngebiete.
Jüngere Vergangenheit
Fünf Tage nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 wurde die Grenzübergangsstelle Philipp-Müller-Allee (benannt nach dem Kommunisten Philipp Müller, heute Lichterfelder Allee) nach Lichterfelde geöffnet. Der Westen hatte diesen Übergang für den Fahrzeugverkehr geschlossen, nachdem das Ministerium für Staatssicherheit 1952 den Juristen Walter Linse über diesen Grenzübergang über Teltow nach Ostberlin und später nach Moskau verschleppt hatte, wo er im Dezember 1953 hingerichtet wurde. Am 23. Juni 1990 wurde rund 29 Jahre nach dem Mauerbau die wiederaufgebaute Knesebeckbrücke nach Schönow geöffnet.
Die Stadtverwaltung kam 1993 zu dem Ergebnis, dass die Altstadt ihre Funktion als einstiges Stadtzentrum verloren hatte und aus eigener Kraft nicht in der Lage war, wieder ein baulich intakter und funktionsfähiger Stadtteil zu werden. Daher wurde die Altstadt 1994 zum Sanierungsgebiet erklärt. Seit Juni 1997 steht die komplette Altstadt unter Denkmalschutz. Die Stadterneuerung soll im Wesentlichen bis zum Jahr 2011 abgeschlossen sein. Der zuletzt im Jahr 2004 fortgeschriebene Rahmenplan enthält nähere Erläuterungen zum Stand der Sanierung und ausführliche Informationen zu den Entwicklungs- und Handlungskonzepten. In der Altstadt wurden von 1992 bis einschließlich 2007 etwa elf Millionen Euro aus dem Bund/Länder-Programm Städtebauförderung investiert. Bis 2011 sollen weitere fünf bis sechs Millionen Euro eingesetzt werden. Knapp die Hälfte der Mittel floss in die Erneuerung von Gebäuden, etwa ein Viertel wurde für die Erneuerung und Umgestaltung von Straßen, Wegen und Plätzen aufgewendet.
Das erste rekonstruierte Objekt war 1994 das Älteste Haus aus dem Jahr 1711 im Hohen Steinweg 13, das heute das Heimatmuseum beherbergt. Es folgten unter anderen das neue Bürgerhaus und das historische Rathaus im Jahr 2005, das neue Rathaus mit Bürgerzentrum 2007 und die Außensanierung der St.-Andreas-Kirche 2008.
Ruhlsdorf wurde 1994 ein Ortsteil von Teltow. Die Bürger hatten sich in einem Bürgerentscheid mit 61,3 % für die Eingemeindung nach Teltow entschieden.
Nach 1990 wurde das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung der damaligen Bundesregierung angewandt (siehe Offene Vermögensfragen). Wohnungen und Grundstücke standen in der DDR unter staatlicher Zwangsverwaltung, was der Regelfall bei sogenannten Westgrundstücken war. Die Auseinandersetzungen zwischen den Eigentümern, die die Rechte an ihren Grundstücken und Häusern zurückerhielten, und den Mietern machten im Fall Sabersky viele Schlagzeilen: Über die Eigentumsverhältnisse von rund 1000 Grundstücken nördlich der Lichterfelder Allee in Teltow-Seehof wird seit 1990 ein Rechtsstreit geführt, einer der größten vermögensrechtlichen Rückübertragungsfälle in Deutschland. 1870/1871 hatten der jüdische Kaufmann Max Sabersky und sein Bruder das 84 Hektar große Gut Seehof erworben. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten verkauften sie zwischen 1933 und 1939 den Grundbesitz. Im Kern wird darüber gestritten, ob die Saberskys die Grundstücke zwangsweise verkaufen mussten, weil sie Juden waren, oder ob sie dies freiwillig als Kaufleute taten. Dies führte zu mehreren Gerichtsverfahren bis vor das Bundesverwaltungsgericht. Viele der heutigen Grundstückseigentümer haben sich mit der Erbengemeinschaft individuell geeinigt. Einzelne Grundstücke wurden an die Sabersky-Erben zurückgegeben. Über vier Hektar Grün- und Waldfläche im Besitz der Stadt Teltow wird weiter gestritten.
Bevölkerungsentwicklung
Der Charakter eines beschaulichen Ackerbürgerstädtchen vor den Toren Berlins blieb bis Anfang der 1900er Jahre erhalten. Die Bevölkerungszahl lag unterhalb von 3000 Einwohnern. Durch den 1906 eröffneten Teltowkanal wurde Teltow zu einer Industriestadt. Die Bevölkerungszahl stieg von etwa 2900 um die Jahrhundertwende auf 12.100 im Jahr 1939 an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die Großbetriebe VEB Geräte- und Reglerwerke Teltow und VEB Elektronische Bauelemente „Carl von Ossietzky“, und die Bevölkerungszahl wuchs von 11.600 im Jahr 1950 auf 15.300 im Jahr 1971. Der erhebliche Bevölkerungsverlust durch Flucht bis 1961 wurde durch den Zuzug neuer Bürger mehr als ausgeglichen.
Nach der Wiedervereinigung hielt sich die Bevölkerungszahl bis 1996 auf konstantem Niveau. Aufgrund der verstärkten Klärung von Rückgabeansprüchen von Alt-Eigentümern und der attraktiven Lage Teltows am Rand von Berlin kam es ab Mitte der 1990er Jahre bis heute zu einem Bevölkerungsanstieg von etwa 35 Prozent. Ausdruck dieser neuen Ansiedlung ist z. B. die direkt südwestlich der S-Bahn seit Anfang der 2000er Jahre entstandene Eigenheimsiedlung Mühlendorf. Den jüngsten Schub als Arbeits- und vor allem als Wohnstandort erhielt Teltow 2005 durch den Anschluss an das Berliner S-Bahn-Netz mit dem S-Bahnhof Teltow Stadt der Linie S25.
Gebietsstand des jeweiligen Jahres, Einwohnerzahl: Stand 31. Dezember (ab 1991) ab 2011 auf Basis des Zensus 2011
Die Zahlen der Tabelle basieren auf Daten des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg.
Religion
Die Mark Brandenburg entsprach in ihrer territorialen Ausdehnung gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht der heutigen Fläche, sondern bestand lediglich aus der Altmark, dem östlichen Havelland und der Zauche. In den folgenden 150 Jahren gelang es den Askaniern, die Mark Brandenburg bis zur Oder auszudehnen. Bei der schrittweisen Erweiterung nach Osten über die Flusslinie Havel-Nuthe in den Teltow flankierten die Mönche des Zisterzienser- und des Dominikaner-Ordens mit der Christianisierung der verbliebenen Slawen und mit ihren Kirchenbauten die askanische Siedlungspolitik.
1539 führte der Kurfürst von Brandenburg Joachim II. die Reformation ein. Der Übertritt Brandenburgs zum Luthertum im April des Jahres wurde in Teltow mit der Teltower Einigung vorbereitet. Danach war Brandenburg über Jahrhunderte eine überwiegend protestantisch geprägte Region. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis neben der reformierten Kirche.
Evangelisch
Durch den Mauerbau bedingt wurden die in der DDR gelegenen Kirchengemeinden des ehemaligen Kirchenkreises Zehlendorf 1962 im neu gegründeten Kirchenkreis Teltow zusammengefasst. Nach dem Mauerfall kam es 1998 zur Fusion von Kirchengemeinden des Kirchenkreises Teltow mit dem in Berlin (West) verbliebenen Kirchenkreis Zehlendorf. Im dann fusionierten Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf leben etwa 154.000 Menschen, davon zwei Drittel im Teil Zehlendorf und ein Drittel im Teil Teltow. Im Teil Teltow leben 13.000 Gemeindemitglieder in 11 Kirchengemeinden, die teilweise zu Pfarrsprengeln zusammengefasst sind. Zum Pfarrsprengel Teltow gehören drei Kirchengebäude, die St.-Andreas-Kirche, die Siedlungskirche (evangelisches Gemeindezentrum) sowie die Dorfkirche in Ruhlsdorf.
Eine Besonderheit bildet das Evangelische Diakonissenhaus Berlin Teltow Lehnin in der Lichterfelder Allee. Das Diakonissenhaus ist laut Kirchenrecht eine selbstständige „Anstaltskirchengemeinde“, in der die 280 Bewohner des Geländes in Teltow, Diakonissen, Mitarbeiter und Bewohner der Alten- und Behinderteneinrichtungen, zusammengefasst sind. Im damaligen 1841 gegründeten Magdalenenstift, das sich der Erziehung von jungen sozial benachteiligten und gefährdeten Frauen widmete, war eine solche Gemeinde im Juli 1906 errichtet worden.
Katholisch
Mit dem Bau des Teltowkanals kamen viele Arbeiter aus katholischen Regionen des Deutschen Reiches, vor allem aus Oberschlesien. So entstand nach 350-jähriger Unterbrechung eine neue katholische Gemeinde. Sie erhielt ihre erste Organisation in dem im Jahr 1905 gegründeten Arbeiterverein, betreut von der Gemeinde Heilige Familie in Lichterfelde. Bis zur Fertigstellung der ersten Notkirche in Teltow 1920 vergingen noch 15 Jahre. 1938 wurde Teltow selbständige Kuratie, sie umfasste das Gebiet der Stadt Teltow, die Landgemeinden Stahnsdorf, Kleinmachnow und Ruhlsdorf.
1957 wurde das neue Gotteshaus auf dem Pfarrgrundstück in der Ruhlsdorfer Straße durch Julius Kardinal Döpfner konsekriert. Die Kirche erhielt als Patronatsnamen Sanctissima Eucharistia, zwei Jahre später wurde Teltow eine eigenständige Pfarrei. Seit der Gemeindefusion 2003 gehören die Katholiken der Region in Stahnsdorf, Kleinmachnow, Teltow und Großbeeren zur römisch-katholischen Pfarrgemeinde Sanctissima Eucharistia Teltow mit den Kirchen St. Thomas Morus in Kleinmachnow und Ss. Eucharistia in Teltow.
Freikirchlich
In Teltow existieren zwei evangelische Freikirchen, die sich ein Gemeindezentrum an der Potsdamer Straße 67 teilen. Dabei handelt es sich um die aus der Tradition der Brüderbewegung stammende Christliche Gemeinde Teltow sowie um die Kirche für Jedermann, deren Gründerfamilien ihre Wurzeln in der Adventbewegung hatten. Die Christliche Gemeinde trifft sich am Sonntag zum Gedächtnismahl, an das sich der Predigtgottesdienst anschließt. Die Kirche für Jedermann feiert ihren Gottesdienst am Samstagvormittag.
Das Gemeindezentrum, das in einem der historischen Teltower Höfe liegt und in dem sich neben dem Gottesdienstraum eine Reihe von Gruppenräumen für die Kinder- und Jugendarbeit der beiden Gemeinden befinden, war ursprünglich eine Tischlerwerkstatt.
Weitere
In der Beethovenstraße liegt die Neuapostolische Kirche.
Muslimische und jüdische Gemeinden gab und gibt es in Teltow nicht. Zwar wohnten vor dem Zweiten Weltkrieg einige Juden in Teltow, aber anscheinend zu wenige für ein Minjan.
Politik
Stadtverordnetenversammlung
Die Stadtverordnetenversammlung von Teltow besteht aus 32 Stadtverordneten (zuvor 28, die Erhöhung war nach Kommunalwahlrecht durch die gestiegene Einwohnerzahl Teltows nötig geworden) und dem hauptamtlichen Bürgermeister. Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte zu folgendem Ergebnis:
1 2003 PDS
Bürgermeister
1994–2001 Siegfried Kluge (parteilos)
seit 2001 Thomas Schmidt (SPD)
Schmidt wurde in der Bürgermeisterstichwahl am 15. Oktober 2017 mit 60,8 % der gültigen Stimmen für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigt.
Wappen
Flagge
Die Flagge ist Rot - Weiß - Rot (1:2:1) gestreift und mittig mit dem Stadtwappen belegt.
Dienstsiegel
Das Dienstsiegel zeigt das Wappen der Stadt mit der Umschrift: „STADT TELTOW • LANDKREIS POTSDAM-MITTELMARK“.
Stadtlogo
Seit Oktober 2013 hat die Stadt Teltow ein Logo. Dieses spiegelt die Charakteristik der Kommune wider und vereint die Stärken der Stadt auf den ersten Blick und mit Hilfe eines Leitspruches in sich. Außerdem soll es zu fest verankerten Assoziationen beim Betrachter führen. Grafisch leicht und mit freundlicher Farbgebung soll das Logo ein neues Selbstverständnis der Stadtverwaltung jenseits behördlicher Strenge vermitteln und Identität bei den Bürgerinnen und Bürgern zu stiften. Das Stadtlogo hat neben dem traditionellen Wappen Bestand, welches nach wie vor als städtisches Hoheitszeichen beispielsweise auf Urkunden Verwendung findet. Alle übrigen Publikationen der Stadt tragen das Logo.
Das Logo vereint aus Sicht der Stadt die drei wichtigsten Hauptmerkmale in sich, die die Teltower mit ihrer Stadt verbinden:
Das Wasser: Teltow liegt am bekannten Teltowkanal, einer wichtigen und bedeutsamen Wasserstraße für die Region. Die Farbe blau signalisiert darüber hinaus die stetige und fließende Bewegung, Entwicklung und Weltoffenheit, die für Teltow aus Sicht der Stadt als wesentlich betrachtet wird.
Das Rübchen: Teltow ist die Heimat des Teltower Rübchens. Das Symbol des Wurzelgemüses steht gleichwohl für fest „verwurzelt sein“. Die Farbe grün offeriert dem Betrachter gleichzeitig die Ruhe, Natürlichkeit und den Grünraum Teltows.
Die Technologie und Wissenschaft: Die bunte Mischung aus Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft und Hightech macht Teltow zu einem idealen Standort. Bereits 1920 begann die Historie des Forschungsstandortes Teltow. Bei dem gewählten Symbol, dem Atom, handelt es sich um ein gängiges Zeichen für Forschung, Wissenschaft und Biotechnologie. Die Farbe Orange-Rot ist dabei zukunftsweisend und soll die Technologie und Wissenschaft als Motor und innovative Kraft sowie den stetigen Energiefluss symbolisieren.
Der Leitspruch „Tradition trifft Technologie“ stellt in Ergänzung zu den Elementen den Stolz der Bewohner Teltows auf ihre Stadt mit Sicht auf deren bewegte Geschichte, lange Tradition und Bedeutung als wichtiger Technologie- und Wissenschaftsstandort für die Region dar. Auf kleinem Raum treffen hier alte Werte und gelebte Traditionen auf innovative Zukunftstechnologien und moderne Wissenschaften – und gehen eine Symbiose ein, die dazu beiträgt, dass die Stadt Teltow auch weiterhin einer positiven Zukunft entgegen blicken kann.
Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden
Zu einer Fusion der Stadt Teltow mit den Nachbargemeinden Kleinmachnow und Stahnsdorf gab es schon 1967 in der DDR Überlegungen. Ab 1972 bildete die Region verwaltungsorganisatorisch einen Gemeindeverband, in dem die drei Gemeinden ihre rechtliche Eigenständigkeit behielten. Seit der deutschen Einheit 1990 hält die Diskussion um die geeignete funktionale Struktur an. Dabei schwankt das Spektrum der Meinungen zwischen informeller Zusammenarbeit, vertraglich vereinbarter Kooperation und Fusion zur Großgemeinde. Von der in den Jahren 2000 bis 2003 in Brandenburg durchgeführten Gemeindegebietsreform blieb Teltow unberührt.
Die Diskussion wird durch die Verabschiedung des Landesentwicklungsplanes Berlin-Brandenburg 2007 belebt, der ein neues zweistufiges System der zentralen Orte für Brandenburg mit vier Oberzentren und 50 Mittelzentren vorsieht. Der Entwicklungsplan weist von den drei Gemeinden ab 2008 nur Teltow als Mittelzentrum aus, was für Stahnsdorf und Kleinmachnow reduzierte Fördermittel bedeutet. Ein Ergebnis der seit Jahren geführten politischen Diskussion ist nicht zu erkennen.
Die Kommunen Kleinmachnow, Teltow und Stahnsdorf gründeten 1999 die kommunale Arbeitsgemeinschaft Der Teltow (KAT). Diese soll eine Vertiefung der gemeindeübergreifenden Zusammenarbeit in den Bereichen räumliche Entwicklungsplanung, Verkehr und Verwaltungstätigkeit sowie in den sozialen, gesundheitlichen, kulturellen, schulischen und sportlichen Einrichtungen erreichen. In grundlegender und struktureller Hinsicht konnte die KAT die Region bislang nicht prägen.
Der Teltowkanal bildet die Grenze zwischen den Gemeinden Kleinmachnow, Stahnsdorf und Teltow sowie Berlin und Potsdam. Er wird bisher wenig für Naherholung, Freizeit und Wassersport genutzt. Die Interessensgemeinschaft Teltowkanalaue strebt die Neuanlage durchgängiger Wander- und Radwege zwischen dem S-Bahnhof Teltow-Stadt und dem Potsdamer S-Bahnhof Griebnitzsee an. Durch die Anlage eines interkommunalen Grünzugs sollen Gemeindegrenzen überwunden und die regionale Zusammenarbeit der drei Orte gestärkt werden. Die Teltowkanalaue ist integraler Bestandteil des räumlich übergreifenden Teltowparks, welcher durch die gemeinsame Landesplanung bereits als Regionalpark vorgeschlagen wurde.
Städtepartnerschaften
Partnerstadt Teltows ist seit 1991 die Stadt Ahlen, die im Münsterland liegt und rund 55.000 Einwohner hat. Hinzugekommen ist im Jahr 1999 als Partnerstadt die französische, in der Normandie nahe Le Havre gelegene Stadt Gonfreville-l’Orcher, die rund 10.000 Einwohner hat und mit der schon seit den 1960er Jahren Kontakte bestehen. Die dritte Städtepartnerschaft wurde im Mai 2006 mit der 27.000 Einwohner zählenden Stadt Żagań in Polen unterzeichnet. Żagań ist die Geburtsstadt des Landrates Ernst von Stubenrauch. Eine vierte Partnerschaft besteht seit September 2018 mit dem Kreis Rudong in der chinesischen Provinz Jiangsu.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Bauwerke
Die Stadtkirche St. Andreas in der Teltower Altstadt, deren Ursprünge in das 12. Jahrhundert zurückreichen, ist das Wahrzeichen der Stadt. Im Verlaufe der Zeit wurde die Kirche von mehreren Stadtbränden erheblich beschädigt, so dass heute nur noch das Mauerwerk aus der Zeit der Erbauung stammt. Nach dem Stadtbrand von 1801 wurden der Innenraum und der Turmaufsatz unter der Regie des berühmten Baumeisters Karl Friedrich Schinkel im klassizistischen und neugotischen Stil gestaltet. Diese Ausstattung wurde 1910 von einem Brand vernichtet. Das Kirchenschiff erhielt danach ein hölzernes Tonnengewölbe, das unter der flachen Kassettendecke eingezogen wurde. Im September 2006 wurde die Turm- und Außensanierung begonnen und Ende 2007 abgeschlossen.
Die ehemaligen maroden Eisenhartgussglocken sind im angrenzenden Pfarrhaus in der Ritterstraße 11 zu betrachten. Das sanierte Kellergewölbe des Pfarrhauses weist an seinen teilweise erhaltenen historischen Gründungen Spuren der verschiedenen Stadtbrände auf.
Am Ostende des Dorfangers in Ruhlsdorf steht die um 1250 gebaute Ruhlsdorfer Dorfkirche. Dem ursprünglichen Feldsteinbau aus behauenen Granitfindlingen mit lang gestrecktem Schiff und eingezogenem, gerade geschlossenen Chor wurden Backsteinanbauten angefügt. Der schlanke Turm, der sich innen in einer Patronatsloge öffnet, wurde 1759 erbaut, die Vorhalle im Norden kam 1929/39 hinzu. Die Innenausstattung ist 1931 stark verändert worden. Es sind noch Reste mittelalterlicher Ausmalung und drei Weihekreuze vorhanden. Die Seitenkanzel aus dem Jahr 1594 ist mit alten Gemälden und plastischen Engelköpfen verziert. Sie wurde 2002 aufwändig restauriert.
Denkmäler
Auf dem Marktplatz der Stadt steht der Stubenrauch-Brunnen, der 1908 vom Bildhauer Ferdinand Lepcke geschaffen wurde und die Inschrift „Dem Schöpfer des Teltowkanals – Landrat von Stubenrauch – 1908“ trägt. Dem Werk fehlen die beiden Seitenteile, Bronzereliefs mit Frauenskulpturen, die die verbundenen Schwesterflüsse Havel und Spree symbolisieren sollten. Das Denkmal, das in der Zeit der DDR 1974 einem VVN-Denkmal weichen musste, hatte über Jahrzehnte an der Potsdamer Straße/Ecke Elbestraße gestanden und kehrte im Juli 1998 auf seinen angestammten Platz zurück. Das Denkmal für die Opfer des Faschismus wurde an anderer Stelle in der Stadt aufgestellt.
Auf dem Friedhof an der Potsdamer Straße erinnern zwei Gräberfelder an NS-Opfer: Vor dem Sowjetischen Ehrenfriedhof sind 24 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter begraben. Auch die elf tschechoslowakischen Opfer in einer weiteren Anlage, die bei einem Bombenangriff 1943 starben, mussten während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit verrichten.
Das Kriegerdenkmal auf dem „Zickenplatz“ zwischen Breite und Berliner Straße in der Altstadt wurde vom Teltower Bildhauer August Mattausch (1877–1945) entworfen und 1913 anlässlich der Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig eingeweiht. Steinfindlinge aus der Mark Brandenburg und dem Harz sowie ein griechischer Helm sind aufgetürmt. Unterhalb des Eisernen Kreuzes – 1813, zu Beginn des Krieges gegen Napoleon von König Friedrich Wilhelm III. für alle Dienstgrade gestiftet – befindet sich eine Bronzetafel. Verzeichnet sind darauf die Namen der gefallenen Teltower Bürger aus den Befreiungskriegen 1813 bis 1815, dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864, dem Deutsch-Österreichischen Krieg 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.
Am Japaneck befindet sich im Ortsteil Sigridshorst ein Gedenkstein, der an die Sakura-Campaign mit der Pflanzung von über 1000 japanischen Kirschbäumen an der TV-Asahi-Kirschblütenallee erinnert.
Natur und Naturdenkmale
Der Anteil der Wohngebiete an der Stadtfläche beträgt 21 Prozent. 62 Prozent der Fläche stehen als Wald, Sport-, Grün-, Wasser- oder Biotopfläche der Erholung zur Verfügung. Der Anteil der Straßen, Gewerbe- und Sondergebiete ist mit 16 Prozent vergleichsweise klein.
Die Buschwiesen, auch Hollandwiesen genannt, sind ein offener Landschaftsbereich im Süden Teltows, der als Naherholungsgebiet genutzt wird. Die Buschwiesen befinden sich in einer geologischen Senke. Mündlichen Überlieferungen zufolge existierte bis zu den 1960er Jahren ein kleiner See in dieser tiefer gelegenen Ebene. Diese offene Wasseransammlung versiegte, als man in den 1960er Jahren ein größeres Graben- und Abflusssystem errichtete. Die Buschwiesen gelten als Einzugsgebiet für Regenwasser aus den umliegenden Ortsteilen. Die Wiesen mit ihren kleinen Wäldchen, besonders der „Pappelwald“, bilden ein wichtiges Biotop für Hasen, Rebhühner, Rehe, Füchse und Wildschweine. Der Pappelwald ist ein aufgeforsteter Wald. Seine Gründungsgeschichte hängt mit dem Plan zusammen, die Berliner Bahntrasse von Lichterfelde-Ost bis nach Stahnsdorf zu verlängern. Zu Zeiten des Dritten Reiches errichtete man einen Bahndamm und schüttete hierzu große Mengen Sand auf. Das Schienenprojekt wurde jedoch infolge der Kriegskatastrophe nicht vervollständigt, man pflanzte später Pappeln auf dieser unnatürlichen Erhebung an. Hierbei wurde die Grundlage für die Entstehung des kleinen „Pappelwaldes“ in den Buschwiesen geschaffen. Er gilt als Rückzugsgebiet und Hort der Tier- und Pflanzenwelt im Herzen Teltows.
Der Röthepfuhl ist ein Teich in Ruhlsdorf, der seinen Namen vermutlich durch die Ruhlsdorfer Flachsbauern bekam. Im 19. Jahrhundert wurde die Flachsernte zum Einweichen ans Wasser gebracht, damit die Fasern in den Halmen sich lösten. Das Wasser bekam eine rötlich-braune Farbe, danach wurde der Flachs getrocknet. Dieser Vorgang hieß „röthen“ oder „röten“. Im Röthepfuhl gibt es Graureiher, Stockenten, Erdkröten, Teichrohrsänger und Nachtigallen. Es wachsen Schilfrohr und Seerosen, Flatter- und Sumpfbinsen, scharfer Hahnenfuß steht neben wilden Stiefmütterchen. Nach Auskunft des Anglervereins Teltow gibt es im Pfuhl Rotfeder, Schleien und Hechte.
Museen
Das Heimatmuseum im Hoher Steinweg, eingerichtet in dem nach dem großen Stadtbrand von 1711 erbauten ältesten Gebäude der Stadt und betreut vom Heimatverein Stadt Teltow 1990 e. V., zeigt seit 1994 ein Spektrum historischer Stadtgeschichte. Ausstellungsschwerpunkte sind die Ackerbürger und ihre Arbeitsgeräte, Werkzeuge und Maschinen verschiedener Handwerker und die Veränderung der Stadt nach dem Bau des Teltowkanals.
Das Deutsche Schweinemuseum im Ortsteil Ruhlsdorf präsentiert als einziges Museum seiner Art über das Schwein als Nutztier die historische Entwicklung der Schweinehaltung und -züchtung in Deutschland. Es befindet sich auf dem Gelände der 1918 gegründeten ersten Versuchswirtschaft für Schweinehaltung. Der Besucher erhält Einblicke über die Herkunft und Entwicklung der alten und der Kultur-Rassen, die Fütterung, die Haltung, die Besamung, die Leistungsprüfung, den Transport, die Schlachtung und die Verwertung des wichtigsten Fleischproduzenten. Die Gesellschaft für Agrargeschichte fördert die Erhaltung der historischen Zeugnisse bäuerlichen Wirtschaftens und hat das Museum als Deutsches Agrarkulturerbe eingestuft.
Mitarbeiter des Betriebes Geräte- und Reglerwerke gründeten 2005 den Verein Industriemuseum Region Teltow e. V. Dieser bewahrt die Erinnerung an die einstigen Firmen und die industrielle Entwicklung der Region. Die Ausstellungsräume befinden sich in der Oderstraße.
Das Teltower Wassermuseum der Mittelmärkischen Wasser- und Abwasser GmbH befindet sich in der Oderstraße in einem als Baudenkmal eingestuften historischen Pumpwerk aus dem Jahr 1910. Es zeigt die Geschichte der Wasserversorgung und -entsorgung.
Regelmäßige Veranstaltungen
Die größte Veranstaltung in Teltow ist das seit 1989 ausgerichtete dreitägige Teltower Altstadtfest. Es findet jährlich um den Tag der Deutschen Einheit statt. Wegen der Sanierung der Altstadt wurde das Fest 2005 in den Gewerbepark Techno-Terrain-Teltow verlegt und in Teltower Stadtfest umbenannt. In der Altstadt findet weiterhin der von den dortigen Bewohner mit Unterstützung der Stadt organisierte Tag der offenen Höfe am letzten Sonntag im August statt.
Initiiert durch die Arbeitsgruppe Altstadt der Lokalen Agenda 21 bietet der Heimatverein Führungen durch die Altstadt von Teltow an. Die Lokale Agenda 21 ist ein Handlungsprogramm, das die Stadt in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln soll. Im April 2002 hat Teltow ihre Konzeption zur nachhaltigen Entwicklung in der Stadtverordnetenversammlung bestätigt.
Anlässlich des Mauerfalls organisierte eine japanische Mediengruppe eine Spendenaktion Sakura-Campaign mit dem Ziel, den Grenzstreifen mit einer Kirschbaum-Allee zu verschönern. Mit den Spenden wurden in Berlin und Brandenburg etwa 10.000 Zierkirschbäume angepflanzt, davon 1.000 im ehemaligen Grenzstreifen bei Sigridshorst, wo seit 2002 jährlich Ende April das Kirschblütenfest stattfindet.
Kulinarische Spezialität
Das Teltower Rübchen ist eine besondere Form der Speiserübe. Sie ist benannt nach der Stadt Teltow, in deren Umland sie angebaut wird und gilt als landestypisches Edelgemüse der Mark Brandenburg. Die ersten Rezepte für Teltower Rübchen wurden 1723 im Brandenburgischen Kochbuch veröffentlicht. Der 1998 gegründete Förderverein für das Teltower Rübchen e. V. hat sich zum Ziel gesetzt, das seit über 300 Jahren angebaute Wurzelgemüse als kulinarische und regionale Spezialität wieder einem größeren Publikum näherzubringen. Seit 1999 gibt es jedes Jahr um den 1. Oktober herum ein Rübchenfest in Ruhlsdorf.
Wirtschaft und Infrastruktur
Zur Zeiten der DDR war Teltow mit dem GRW Geräte- und Reglerwerk und anderen Industrien ein landesweit bedeutender Standort der Mikroelektronik. Diese Entwicklung brach mit der Wiedervereinigung ab. Das einstige GRW-Gelände, am Teltowkanal gegenüber der Zehlendorfer Teltow-Werft gelegen, wurde 1990 in das Techno Terrain Teltow (TTT) umgewandelt. Mit der Lage im TTT wurde Anfang 1991 das Technologiezentrum Teltow (TZT) als erstes Innovations- und Gründerzentrum des Landes Brandenburg eröffnet. Als Starthelfer und Dienstleister für Unternehmensgründungen will das Zentrum innovative und marktfähige Ideen vor allem im Bereich von Technik und Technologie unterstützen. Sechsmal seit 1992 haben Unternehmen des TZT und des TTT den Innovationspreis Berlin-Brandenburg erhalten.
Auf dem Techno Terrain Teltow haben sich innovative, auf Zukunftsbranchen orientierte Unternehmen angesiedelt. Im mit über 600.000 Quadratmeter Grundfläche größten innerstädtischen Büro- und Gewerbepark des Landes Brandenburg befinden sich etwa 200 Betriebe mit rund 7000 Beschäftigten. Nach Jahren niedriger Ansiedlungserfolge bauten mehrere Autohäuser nach der Idee einer „Automeile“ neu im Gewerbepark. Die geplante Ansiedlung eines großen Verbrauchermarktes und die Veränderung der Verkehrsführung sorgte im benachbarten Kleinmachnow und Stahnsdorf für kontroverse Diskussionen.
2002 gründete der britische Versicherer Direct Line seine deutsche Tochterfirma in Teltow. Der auf Kfz-Versicherung fokussierte Direktversicherer beschäftigt 350 Mitarbeiter.
Auch die AOK für das Land Brandenburg hat sich nach der Wende in der Potsdamer Straße in Teltow niedergelassen.
Verkehr
Der Bahnhof Teltow liegt an der Bahnstrecke Berlin–Halle. Die Stadt liegt an den Landesstraßen 40 und 76. Die L 76 verläuft vom Ortskern Stahnsdorf durch Teltow. In der Ortsmitte trifft die Straße auf den Ruhlsdorfer Platz, als Knotenpunkt der Landesstraße mit der Verbindung von Berlin-Zehlendorf nach Ruhlsdorf. Vom Ruhlsdorfer Platz wendet sich die Straße südöstlich und trifft bei Großbeeren auf die Bundesstraße 101.
Der Güteraußenring führte durch Teltower Gebiet. Zudem war Teltow Ausgangspunkt der Teltower Eisenbahn. Diese Strecken sind stillgelegt.
Die L 40 durchquert das südliche Ende des Stadtgebietes und erschließt das südliche Berliner Umland über Stahnsdorf, Teltow, Mahlow, Schönefeld nach Berlin Treptow-Köpenick. Sie verbindet Teltow mit den Bundesstraßen 101, 96 und 179. Die in Bau befindliche Verlängerung der Nutheschnellstraße (L 40n) verläuft als Ortsumfahrung Stahnsdorf/Teltow südlich an diesen vorbei, wobei die neue Trasse nördlich der existierenden Landstraße durch Güterfelde errichtet wird und bei Großbeeren in die alte Landstraße mündet.
In sechs Kilometer Entfernung liegt die Autobahn 115, Anschlussstelle 5 Kleinmachnow. Die A 115 verbindet den Berliner Stadtring (A 100) im Südwesten von Berlin mit dem Berliner Ring (A 10). Die Entfernung zum Flughafen Berlin Brandenburg beträgt rund 20 Kilometer.
Den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bedienen acht Buslinien der Regiobus Potsdam Mittelmark GmbH, zwei Linien der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) sowie eine Linie der Verkehrsgesellschaft Teltow-Fläming. Alle Linien liegen in den Tarifgebieten Berlin C bzw. Potsdam C des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg.
Seit 2010 ist das Busliniennetz des Raumes TKS (Teltow, Kleinmachnow, Stahnsdorf) neu sortiert worden. Die Linien wurden neu geordnet und die Takte verdichtet. Die Buslinien fahren meist im 20-Minuten-Takt. Die Linien im Anschlussnetz (Fahrten nach Güterfelde oder in die einzelnen Wohngebiete) fahren alle 60 Minuten. Manchmal werden auch Rufbusse eingesetzt. Die Linien fahren folgendermaßen:
X1: S Potsdam Hauptbahnhof ↔ Teltow, Bahnhof
X10: Teltow, Rammrath-Brücke oder S Teltow Stadt ↔ S Zehlendorf ↔ S+U Berlin Zoologischer Garten
184: Teltow, Warthestraße ↔ Berlin-Lichterfelde Ost ↔ Tempelhof ↔ S Berlin Südkreuz
600: S Teltow Stadt ↔ S Mahlow ↔ S Waßmannsdorf
601: S Potsdam Hauptbahnhof ↔ Teltow, Sigridshorst
602: S Potsdam Babelsberg ↔ Teltow Havelstraße (Mo–Fr, zwei Einzelfahrten im Früh-Berufsverkehr)
620: S Berlin Wannsee ↔ S Teltow Stadt
621: S Teltow Stadt ↔ Ludwigsfelde, Bahnhof (Mo–Fr)
624: Teltow, Warthestraße ↔ Saarmund, Bergstraße (nur im Berufsverkehr und an Schultagen)
625: Teltow, Ruhlsdorf ↔ Teltow, Postviertel (Paul-Lincke-Straße)
626: Teltow, Bügertreff (Heinersdorfer Weg) ↔ Stahnsdorf, Waldschänke
629: Teltow, Nuthestraße ↔ Stahnsdorf, Waldschänke
704: S Teltow Stadt ↔ S-Blankenfelde (Mo–Fr)
2005 erhielt Teltow mit dem S-Bahnhof Teltow Stadt (Linie S25) Anschluss an das Berliner S-Bahn-Netz. Das Zentrum Berlins am Potsdamer Platz ist umsteigefrei in 23 Minuten erreichbar. Seit dem 18. Juli 2011 fährt die S-Bahn im 10-Minuten-Takt. Dieser war durch das Land Brandenburg bereits 2009 bestellt worden. Aufgrund fehlender Fahrzeuge konnte die S-Bahn Berlin die dichtere Taktfolge jedoch nicht früher darstellen. Seit Dezember 2017 werden Züge nach Waidmannslust als Linie S26 eingesetzt. Diese fahren wie die S25 im 20-Minuten-Takt. 2032 soll die S-Bahn nach Stahnsdorf verlängert werden.
Der im Jahr 1901 eröffnete Bahnhof Teltow an der Anhalter Bahn (Bahnstrecke Berlin–Lutherstadt Wittenberg) wird von der Regional-Express-Linie RE 3 (Stralsund/Schwedt–Berlin – Ludwigsfelde – Jüterbog – Lutherstadt Wittenberg Hauptbahnhof) bedient.
Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17 (Bundeswasserstraßenverbindung Hannover–Magdeburg–Berlin) hat zum Ziel, den Teltowkanal entsprechend Binnenwasserstraßenklassifizierung Vb für Großmotorgüterschiffe bis zu 110 Meter Länge und Schubverbände bis zu 185 Meter Länge befahrbar zu machen. Verschiedene Umweltverbände protestieren seit 1992 wegen der befürchteten massiven Eingriffe in die Uferlandschaften gegen den Ausbau.
Öffentliche Einrichtungen
Die Stadt setzte ein Schlüsselprojekt für mehr Leben in der Altstadt um: Der denkmalgeschützte Gebäudekomplex unmittelbar am Marktplatz, die so genannte Kuppelmayrsche Siedlung, wurde zum Rathaus mit Bürgerzentrum umgebaut. Dort ist seit September 2007 die gesamte Stadtverwaltung konzentriert, die früher auf verschiedene Standorte verteilt war. Das Standesamt befindet sich im Historischen Rathaus, ebenfalls am Marktplatz. Die Stadtbibliothek mit Sitz in der Jahnstraße verfügt über einen Bestand von rund 28.000 Medieneinheiten.
Das seit 1898 in der Ritterstraße 10 bestehende Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr wurde 2005 zum Bürgerhaus umgestaltet. Die 1992 eröffnete Jugendkunstschule hat ihr Domizil im Bürgerhaus und ermöglicht Kindern und Jugendlichen künstlerische Betätigung. Darüber hinaus finden im Bürgerhaus jährlich bis zu sechs Kunstausstellungen von Künstlern der Region, Prominententreffs und Buchlesungen statt. Seit September 2005 hat dort der Seniorenclub seinen Sitz.
Das Jugendhaus Schifferkinderheim in der Boberstraße wurde im Januar 1996 von JOB e. V. (Jugend, Orientierung und Beruf) als Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe im Landkreis Potsdam eröffnet. Das Konzept des Hauses ist für Mädchen und Jungen im Alter von 10 bis 27 Jahren bestimmt mit einem Bandprobenraum, einem Atelier, einer Theatergruppe und häufig wechselnden Ausstellungen. Ein wichtiger Aspekt ist die Jugendberatung. Die Mädchenzukunftswerkstatt ist ein geschlechtsspezifisches Hilfe- und Unterstützungsangebot zur Lebensplanung und zur Berufsorientierung für Mädchen im Alter von 10 bis 19 Jahren. Der Jugendtreff Teltow „jtt“ ist seit Jahren ein offenes Angebot für alle Jugendlichen zwischen 6 und 27 Jahren.
Etwa im Jahre 2020 soll der Stadthafen Teltow Wassersportler vom Teltowkanal zum Besuch in die Stadt locken und für die Bewohner für einen attraktiven Treffpunkt am Wasser sorgen.
Bildung
Alle kommunalen Kindertagesstätten, acht kombinierte Krippen und Kindergärten mit insgesamt 1196 Plätzen sowie ein Hort, werden durch das Unternehmen Kindertagesstätten betrieben. Zusätzlich bestehen mit dem evangelischen Kindergarten der St.-Andreas-Kirchengemeinde und zwei Kitas im Evangelischen Diakonissenhaus (davon einer Integrationskita) drei Kindergärten in freier Trägerschaft.
Mit der Ernst-von-Stubenrauch-Grundschule, der Anne-Frank-Grundschule und der Grundschule „Am Röthepfuhl“ gibt es drei gemeindliche Grundschulen.
Zu DDR-Zeiten gab es in Teltow Polytechnische Oberschulen (POS) mit zehn Klassen als allgemeiner Schulform im Bildungssystem der DDR. Seit 2005 gibt es im Land Brandenburg die Brandenburger Oberschule, eine Gesamtschule ohne gymnasiale Oberstufe, die als Schulform nur im Bundesland Brandenburg existiert. Die Gesamtschule Teltow (ehemals Mühlendorf-Oberschule) im Wohngebiet am Ruhlsdorfer Platz ist eine Integrationsschule, in der in einigen ausgewählten Klassen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen.
Mit der Wiedervereinigung wurde eine Filiale des Weinberggymnasiums Kleinmachnow eingerichtet und im Schuljahr 1993/1994 in ein Gymnasium umgestaltet. Seit 1996 trägt es den Namen Immanuel-Kant-Gymnasium Teltow und wird von zirka 650 Schülern besucht.
Ergänzt wird die Schullandschaft durch das OSZ Teltow, das berufliche Oberstufenzentrum Technik Teltow des Landkreises Potsdam-Mittelmark. Die Schwerpunkte liegen in den Berufsfeldern der Elektrotechnik, der Informations- und Medientechnik, der Metalltechnik, der Kfz-Technik, der Versorgungstechnik und des Wasserbaus.
Darüber hinaus bietet die staatlich anerkannte Berufliche Schule für Hotellerie und Gastronomie des Ausbildungsverbund Teltow e. V. die Möglichkeit der Beschulung der gastronomischen IHK Ausbildungsberufe, als Ersatzschule zum staatlichen OSZ. Der Ausbildungsverbund Teltow e. V. ist weiterhin ein zertifiziertes Aus- und Weiterbildungszentrum, welches 1991 aus dem ehemaligen VEB Geräte- und Reglerwerke Teltow (GRW) hervorging.
Weiterhin gibt es die Akzent GmbH, eine Berufsfachschule für Wirtschaft, die Hans-Christian-Andersen-Förderschule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche, die Evangelische Grundschule Teltow Seehof und die Evangelische Fachschule für Sozialwesen Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Das Potsdam Kolleg ist eine Schule des Zweiten Bildungsweges, die Erwachsenen die Möglichkeit zum nachträglichen Erwerb der allgemeinen Hochschulreife bietet. Sie wird seit dem 1. August 2007 von der Landeshauptstadt Potsdam getragen.
Medien
Die Teltower Stadt-Blatt Verlags- und Presse GmbH gibt das Monatsmagazin lokal.report für die Gemeinden Teltow, Kleinmachnow, Stahnsdorf, Großbeeren und Berlin-Steglitz-Zehlendorf mit einer Auflagenstärke von 7000 Exemplaren heraus. Des Weiteren versorgt derselbe Verlag die Region bis einschließlich Berlin-Bezirk Steglitz-Zehlendorf, Großbeeren, Nuthetal, Blankenfelde-Mahlow, Schönefeld und Ludwigsfelde mit dem auflagengeprüften, zweiwöchentlichen Anzeigenblatt Regional Rundschau mit einer Auflagenstärke von 70.000 Stück. In wechselndem zweijährlichen Turnus erscheinen aus demselben Hause die Informationsbroschüren Wirtschaft kompakt mit einer Auflage von 2000 Exemplaren und die Brandenburg.vernetzt als Repräsentationsmedium für die regionale Wirtschaft.
Sport
Die Kiebitzberge in Kleinmachnow sind das regionale Sport- und Naherholungsgebiet mit Freibad, Sportstätten, Rodelberg und Wald. Ein 2004 gegründeter Förderverein setzt sich für den Erhalt des renovierungsbedürftigen Freibades ein.
Der Regionaler SV Eintracht Teltow-Kleinmachnow-Stahnsdorf 1949 e. V. ist mit zirka 2100 Mitgliedern in zwölf Abteilungen der mitgliederstärkste Verein des Landkreises Potsdam-Mittelmark. Die leistungsstärkste Mannschaft des Vereins spielt in der 2. Bundesliga Basketball. 22 Prozent der aktiven Mitglieder kommen aus Teltow, der Rest im Wesentlichen aus Stahnsdorf und Kleinmachnow.
Darüber hinaus bieten ein Dutzend weitere Vereine verschiedene Sportarten an. Die Sportstätten liegen entweder in Teltow oder im angrenzenden Kleinmachnow beziehungsweise Stahnsdorf. Der Teltower FV 1913 ist der Fußballverein Teltows.
Der Sportverein Ruhlsdorf 1893 e. V. ist einer der ältesten Sportvereine der Region.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
Die Ehrenbürgerschaft der Stadt Teltow wurde an folgende Personen verliehen:
1906: Ernst von Stubenrauch (1853–1909), 1885 bis 1908 Landrat des Kreises Teltow, „Vater des Teltowkanals“
1934: Wilhelm Kube (1887–1943), Oberpräsident der Provinz Brandenburg, 2014 aberkannt
1936: Joseph Goebbels (1897–1945), Reichspropagandaminister, 2014 aberkannt
1956: Erich Correns (1896–1981), Direktor des Instituts für Faserstofforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Teltow
1968: Albert Wiebach (1893–1974), erster Bürgermeister Teltows nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
1975: Konstantin Fjodorowitsch Tschaika, (* 1923), 1945 einer der ersten Rotarmisten, die Teltow erreichten. Bei einem Granatenangriff wurde er in Teltow lebensgefährlich verletzt und verlor ein Auge.
Im Januar 2014 wurde Joseph Goebbels und Wilhelm Kube durch einstimmigen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung die Ehrenbürgerwürde postum aberkannt.
Söhne und Töchter der Stadt
Otto von Schlabrendorf (1650–1721), preußischer General
Konrad von Heuduck (1786–1866), preußischer Generalmajor
Erich Koschny (1846–1875), Verleger und Buchhändler
Friedrich-Wilhelm Siebeke (1922–2013), Rechtsanwalt
Günther Feustel (1924–2011), Autor von Kinder- und Jugendliteratur
Wolfgang Hegemeister (1924–2020), ehemaliger Bundesleiter und Mitbegründer der Deutschen Waldjugend
Klaus Hoppe (1938–2006), Ingenieur
Peter Reusse (1941–2022), Schauspieler und Schriftsteller
Harry Zedler (* 1946), Fußballspieler
Mit der Stadt verbundene Persönlichkeiten
Johann Christian Jeckel (1672–1737), von 1701 bis zu seinem Tode 1737 Pfarrer in Teltow, Autor der Teltowgraphie, einer Chronik über die Stadt und den Landkreis Teltow.
Gustav Witte (1870–1912), Pilot, siedelte 1911 nach Teltow über und eröffnete seine eigene Flugschule. 1912 startete er vom Teltower Flugfeld den ersten offiziellen Nachtflug in der deutschen Fluggeschichte.
August Mattausch (1877–1945), deutscher bildender Künstler, lebte in Teltow
Gertrud Dreyfuss (1885–1968), Malerin, lebte in Teltow
Erich Correns (1896–1981), Chemiker und Präsident des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, 1951 bis 1962 Direktor des Instituts für Faserstofforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Teltow-Seehof
Matthias Falter (1908–1985), Physiker, leitete die Entwicklung des ersten in der DDR hergestellten Germanium-Transistors, während er 1951–1964 in Teltow arbeitete
Karl Erich Koch (1910–2000), Maler und Grafiker, lebte in Teltow
Peter Brock (1916–1982), Kinder- und Jugendbuchautor, lebte von 1960 bis zu seinem Tode 1982 in Teltow-Seehof
Christel Schulze (* 1936), Sängerin, lebt in Teltow
Markus Lüpertz (* 1941), Maler und Bildhauer, hatte in Teltow sein Atelier
Literatur
Friedrich Wilhelm August Bratring: Statistisch-topographische Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg. Band 2: Die Mittelmark und Uckermark enthaltend. Berlin 1805, S. 348–351.
Lieselott Enders: Historisches Ortslexikon für Brandenburg: Teltow (= Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Band 4). Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1976.
Gaby Huch: Die Teltowgraphie des Johann Christian Jeckel. Böhlau Verlag, Köln 1998, ISBN 978-3-412-01293-9.
Manfred Pieske: Teltow. Bebra-Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-930863-56-1.
Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch. III.: Die Ortsnamen des Teltow. Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972, ISBN 3-7400-0575-0.
Frank-Jürgen Seider: Häuserbuch der Stadt Teltow. Besitz- und Baugeschichte der Altstadtgrundstücke. Stiftung Stoye, Marburg 2008, ISBN 978-3-937230-13-9 (= Schriftenreihe der Stiftung Stoye. Band 49); genealogy.net (PDF; 1,3 MB).
Weblinks
Homepage
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Potsdam-Mittelmark
Ehemalige Kreisstadt in Brandenburg
Stadt in Brandenburg
Deutscher Ortsname slawischer Herkunft
Ersterwähnung 1265
Teltowkanal |
4357257 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz%20ohne%20Armee%3F%20Ein%20Palaver | Schweiz ohne Armee? Ein Palaver | Schweiz ohne Armee? Ein Palaver ist ein Prosatext in Dialogform des Schweizer Schriftstellers Max Frisch aus dem Jahr 1989. Er wurde unter dem Titel Jonas und sein Veteran für die Bühne bearbeitet und unter der Regie von Benno Besson am 19. Oktober 1989 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Der Prosatext entstand aus Anlass einer von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee herbeigeführten Volksinitiative zur Abschaffung der Schweizer Armee. In Form eines Palavers zwischen einem namenlosen Großvater, der mit Details aus Frischs eigener Biografie ausgestattet ist, und seinem Enkel Jonas werden Sinn und Unsinn der Schweizer Armee, Zustand und Zukunft der Schweizer Gesellschaft sowie die Aussichten der Volksabstimmung diskutiert.
Frisch setzte mit Schweiz ohne Armee? seine in zahlreichen Texten geführte kritische Auseinandersetzung mit der Schweiz und ihrer historischen Sonderstellung fort. Er thematisierte erneut seinen eigenen Militärdienst als Kanonier während des Zweiten Weltkriegs, dem er in den Blättern aus dem Brotsack noch weitgehend patriotisch-unkritisch gegenübergestanden hatte, während er diese Haltung in der späteren Aufarbeitung im Dienstbüchlein revidiert hatte. Obgleich Frischs letzter umfangreicher Text als literarisch wenig bedeutend gewertet wird und die Bühnenadaption bei der Theaterkritik eine skeptische Aufnahme fand, wurde Schweiz ohne Armee? zum Politikum in seinem Heimatland. Frisch rückte noch einmal in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten, die sich um seine Person wie um die Aufführung des Theaterstücks und den seine Entstehung begleitenden Film Palaver, Palaver rankten.
Inhalt
Jonas besucht seinen Großvater. Er berichtet ihm von der Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee. Der Großvater hält diese Nachricht für einen Witz. Im Unterschied zu seinem Enkel kann er sich, obwohl kritisch gegenüber dem Militär und den herrschenden Verhältnissen in der Schweiz eingestellt, eine Schweiz ohne Armee nicht vorstellen. Der Enkel zieht ein Buch aus dem Regal, das der Großvater einst geschrieben hat, und das er „lässig“ findet: Max Frischs Dienstbüchlein. Daraus zitiert er kritische Passagen über das Schweizer Selbstverständnis und ihre Armee.
Der Großvater berichtet von seinen eigenen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs in einer Artillerieeinheit auf dem Mutschellen. Für ihn liegt der Einsatzort der Schweizer Armee nicht im Äußeren, sondern im Inneren. Die Kader der Schweizer Gesellschaft seien identisch mit den Kadern ihrer Armee. Die Volksabstimmung diene bloß dem Glauben, es sei eine Demokratie, die von der Armee geschützt werde. Dann deklamiert er Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Ingeborg Bachmann. Er zählt fünf Gründe auf, warum die Armee für die Schweiz unverzichtbar sei: Die Armee werde gebraucht als „Schule des Lebens“, als „Schule des Mannes“, als „Schule der Nation“, als „Leibgarde“ der herrschenden „Plutokratie“ sowie als Brauchtum für das schweizerische Selbstbewusstsein, man habe ein Militär wie alle anderen auch.
Jonas sind die alten Werte, auf denen sein Großvater beharrt, fremd. Er interessiert sich für Informatik und möchte in Kalifornien studieren. Von Patriotismus fühlt er sich bloß genervt, auch von dem seines Großvaters. In der Armee lerne man aus seiner Sicht nur eines: Kriechen. Stattdessen wünscht er sich einen Zivildienst in der Schweiz. Die Volksabstimmung ist ihm wichtig als Aufforderung zu einer künftigen Friedenspolitik. Doch seinen Großvater kann er am Ende nicht bewegen, zur Wahl zu gehen. Der argumentiert, er befände sich stets bei der Minderheit beim Urnengang. Indem er der Abstimmung fernbleibe werde er zum Teil der Mehrheit. Nachdem Jonas gegangen ist, zitiert der allein zurückgebliebene Großvater das Fazit des Dienstbüchleins: er wagte nicht zu denken, was denkbar sei; er wollte lieber glauben statt zu wissen. Er wirft das Buch ins Kaminfeuer und resümiert: man sei schon ziemlich feige.
Form
Schweiz ohne Armee? ist als reiner Dialog zwischen Jonas und seinem Großvater aufgebaut. Die zumeist einzeiligen erzählenden Einsprengsel erinnern in ihren knappen, nüchternen Beschreibungen an Regieanweisungen eines Theaterstücks. Kursiv sind in den Text Passagen aus Frischs Dienstbüchlein montiert. In 26 längeren Anmerkungen kommentiert Frisch den Dialog und gibt Hintergrundinformationen zu Namen oder Fakten.
Jürgen H. Petersen wertete, der Text erinnere eher an ein Feature als an ein Drama, folge „ersichtlich keinem ästhetischen Konzept, erhebt keine dichterischen Ansprüche und läßt sich nur schwer als fiktionaler Text begreifen.“ Die Handlung lasse nur für wenig spielerische Elemente Raum, etwa das Anzünden des Kamins oder das Trinken einer Flasche Wein. Im Vordergrund stehe die eindeutig kritische Ausrichtung des Textes. Auf eine schlüssige Figurenkonstellation werde verzichtet, da beide Dialogpartner im Grunde der gleichen Meinung seien. Die Einwände des Großvaters für den Erhalt der Armee wirkten wie gespielte Ironie, der Dialog werde zum Monolog, einem „Pamphlet mit verteilten Rollen“.
Interpretation
Im Dialog zwischen Jonas und seinem Großvater nahm Max Frisch nach Walter Schmitz, dem Mitherausgeber seiner Gesammelten Werke, die Poetik des Fragens aus seinem zweiten Tagebuch 1966–1971, dort unter anderem in wiederholten Fragebögen an den Leser, wieder auf. Die Frage „Bist Du sicher?“ sei schon damals eine Kernfrage gewesen. Nur scheinbar sei der Dialog zwischen Enkel und Großvater privat, tatsächlich stelle Frisch mit dem Gespräch der Generationen Öffentlichkeit her. Frisch selbst, der alte, berühmte Schriftsteller, stelle sich den Fragen einer jungen Generation. Der Dialog werde ein sokratischer Dialog mit aufklärerischer Absicht. Mit dem öffentlich gemachten privaten Gespräch postuliere Frisch eine politische Existenz, die nicht zwischen privatem und öffentlichem Leben trennt. Nur durch die politische Existenz der Bürger wäre eine „andere Schweiz“, eine „lebendige und künftige Schweiz“ möglich.
Die Schweizkritik Frischs beruht laut Schmitz auch auf einer Sprachkritik: „hinzu kommt, daß nicht alle von uns dieselbe Schweiz meinen…“ Bereits in Andorra habe Frisch in einem Modell der Schweiz die Festlegung der Wirklichkeit durch die Andorraner thematisiert. Auch in Schweiz ohne Armee? sei für viele Bürger gewiss, was „ein rechter Schweizer nicht tut“. Frisch wolle in seinem Text der offiziellen öffentlichen Sprache, die die Wirklichkeit durch feste Schablonen festlege, einen offenen, lebendigen Dialog entgegensetzen. Dazu benutze er Fragen sowie die verfremdete Verwendung von Zitaten, die gerade dadurch ihren Inhalt in Frage stelle.
Die abschließende Geste des Großvaters, der sein früheres Dienstbüchlein „leichthin“ ins Feuer des Kamins wirft, ist auf verschiedene Arten gedeutet worden: Erstens Frisch verbrenne tatsächlich sein Schweizer Dienstbüchlein, den Schweizer Armeeausweis, in einer Geste wie etwa einige US-Amerikaner ihren Einberufungsbefehl zum Vietnamkrieg demonstrativ verbrannten. Zweitens Frisch sehe letztlich in einer Geste der Resignation die Bedeutungslosigkeit des einst Geschriebenen für eine junge Generation ein. Drittens Frisch verkünde die Revidierung des damaligen Textes, der seine Aktualität eingebüßt habe und an die aktuelle Wahrheit angepasst werden müsse.
Walter Schmitz sah im Feuer auch das Zeichen für Vergänglichkeit, ein Bild, das sich durch Frischs Werk ziehe. Die Geschichte gehe über die Lebenszeit des Großvaters hinaus. Nicht er sei die eigentliche Hauptfigur des Spiels, sondern Jonas, dessen Name auf den Schweizer Film Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird verweise. Er stehe für die Zukunft, die sich ohne den Großvater ereignen werde. Der Großvater verbrenne am Ende seine Erfahrung und nehme ihr damit die Allgemeingültigkeit. Er gebe sie der künftigen Generation nicht als Antwort mit auf den Weg, sondern als Frage und ermögliche somit die Fortsetzung des Prozesses der Aufklärung als ein andauerndes Palaver, ein Gespräch ohne feste Sicherheiten.
Entstehungsgeschichte
Nach der Veröffentlichung seiner letzten Erzählung Blaubart 1982 hatte Frisch seine schriftstellerische Tätigkeit weitgehend aufgegeben. In der 1985 auf den Solothurner Literaturtagen gehaltenen Rede Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb verkündete er, dass er „aufgehört habe zu schreiben. Müde, ja. Verbraucht.“ Auch in Schweiz ohne Armee? ließ Frisch den Enkel fragen: „Stimmt es, Großvater, dass du gar nichts mehr schreibst. Außer Briefen. Ich meine: keine Romane und so, kein Tagebuch?“ In der Figur des Großvaters antwortete Frisch: „Das stimmt schon seit Jahren.“
Als sich Mitte der 1980er Jahre die Gruppe Schweiz ohne Armee formierte, eine Initiative mit dem Ziel der Abschaffung der Schweizer Armee, die eine auf den 26. November 1989 terminierte Volksabstimmung über ihr Gesuch erreichte, stand Frisch dem Anliegen erst skeptisch gegenüber. Obwohl selbst seit Jahren Kritiker der Schweizer Politik und ihrer Armee, befürchtete er eine schwere Abstimmungsniederlage der Initiative, die die Armeekritiker auf lange Sicht in die Defensive gedrängt hätte. Erst als ihm die wachsende Zustimmung bewusst wurde, die die Initiative besonders in der jungen Generation erfuhr, änderte Frisch seine Meinung. Er durchbrach seine schriftstellerische Abstinenz und schrieb Schweiz ohne Armee? Ein Palaver in wenigen Wochen im Februar und März 1989 nieder. Allerdings überarbeitete Frisch den Text noch nach der Erstausgabe an einigen Stellen, so in den Gründen, die aus der Sicht des Großvaters für die Schweizer Armee sprechen wie in seiner Auskunft, dass er schon lange nicht mehr schreibe. Frisch widmete sein Buch den Aufklärern Denis Diderot und Ulrich Bräker „in Dankbarkeit“.
Rezeption
Schweiz ohne Armee? Ein Palaver stieß bei seinem Erscheinen im Sommer 1989 auf starkes Interesse der Schweizer Bevölkerung. Die Erstauflage der in den vier Schweizer Landessprachen entstandenen Buchausgabe wurde innerhalb weniger Tage ausverkauft. Auch die Schweizer Presse thematisierte Frischs neues Werk und richtete dabei zumeist den Blick auf die innenpolitische Debatte im Zusammenhang mit der Volksinitiative zur Abschaffung der Armee. Für den SonntagsBlick ließ Max Frisch keine Zweifel aufkommen, wie er der Armee gegenüberstehe. Der „Zorn“ habe Frisch „dazu gebracht, sein Schweigen zu brechen, wieder zu schreiben.“ Im Tages-Anzeiger sah Stefan Howald in dem Text eine „Geste entschiedener Altersradikalität“ wie auch ein „Kompendium von handfesten Anti-Armee-Argumenten“. Stefan Keller fand in der Wochenzeitung „einen völlig resignierten Max Frisch“ sich selber inszenieren. Dennoch nehme am Ende eine Utopie Gestalt an «durch die Aufzählung all dessen, was falsch ist.» Für die Neue Zürcher Zeitung ging Frischs Text über die Initiative für die Abschaffung der Armee hinaus. Er äußere eine „Gesamtkritik, und nicht nur an den schweizerischen Zuständen“, sei aber „so entworfen, dass der vermutliche Ausgang der Abstimmung ihm recht geben wird.“
Die literarischen Beurteilungen von Frischs Prosatext blieben verhaltener. Jürgen H. Petersen sah in Schweiz ohne Armee? einen „kaum als poetisch zu bezeichnenden Text“, der „kaum zu den literarisch gewichtigen Arbeiten Max Frischs“ zähle. Stattdessen dokumentiere er „das Versiegen der literarischen Kraft seines Autors“. Volker Hage hingehen entdeckte im Text „die feinen Widerhaken“, „die unaufdringliche Kraft des Fragens“ und er urteilte, es sei „die Kunst von Frisch, diesen kleinen Dialog wie absichtslos in der Schwebe zu halten. Pausen und Abschweifungen sind beredter als das, was die beiden miteinander sprechen, und kleine Nuancen, winzige Verschiebungen sagen mehr als alle Weisheiten.“
In Zusammenarbeit mit Max Frisch adaptierte Benno Besson Schweiz ohne Armee? unter dem Titel Jonas und sein Veteran für die Bühne und übernahm selbst die bewusst einfach gehaltene Inszenierung, die am 19. Oktober 1989 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Ebenfalls in Zürich folgte am 20. Oktober die Premiere der in Koproduktion mit dem Théâtre Vidy-Lausanne entstandenen französischen Fassung. Eine Woche später traten die Ensembles in umgekehrter Reihenfolge in Lausanne auf. Am 24. Oktober wurde dort die französische Version, am 25. Oktober die deutsche Fassung gespielt.
Die Uraufführung, der Max Frisch im Zuschauerraum beiwohnte, wurde mit Ovationen gefeiert. In der Theaterkritik fand sie allerdings eine skeptische Aufnahme. So wurde für Reinhard Baumgart „alles säuberlich und beflissen wie vom Blatt mitgespielt“ ohne dass der Text Leben fände. Die Inszenierung reduziere ihn „auf seinen baren Inhalt, das Theater zur szenischen Lesung, das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Veteran und Enkel zu einer Polit-Talkshow für zwei Personen.“ Dennoch feierte das Publikum Frisch am Ende „für seinen Bekennermut“. In der deutschsprachigen Uraufführung spielten Jürgen Cziesla als Großvater und Marcus Kaloff als Jonas. Peter Bollag als Souffleur sprach die Anmerkungen des Buches. In der französischsprachigen Erstaufführung spielten Paul Darzac, Mathieu Delmonté und Jean-Charles Fontana.
Im Vorfeld hatte die Aufführung von Jonas und sein Veteran erhebliche Hürden zu überwinden. Zwar unterstützte der Direktor des Zürcher Schauspielhauses Achim Benning die Inszenierung, doch Teile des Verwaltungsrats versuchten die Aufführung zu verhindern, da sie „eine unstatthafte politische Einmischung des Theaters in die Abstimmungskampagne“ der GSoA-Initiative wäre. Frisch kommentierte die Querelen mit der Äußerung: „Da lernen Sie, wie die Freiheit der Kunst bei uns funktioniert. Wir brauchen keine Zensur.“ Als Folge der Theateraufführungen kam es zu Auseinandersetzungen mit Armeebefürwortern, die ihren Niederschlag auch in anonymen Telefonanrufen und Schmähbriefen gegen Max Frisch fanden. In einer öffentlichen Diskussion nach einer Vorstellung brachte Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich heftige Kritik gegen das Stück und seinen Autor vor: „Jonas und sein Veteran […] ist ein wortreiches, aber es ist ein ebenso seichtes Geplauder. Es ist Polemik, Verdächtigung, Gerücht, Lächerlichmachung, Sarkasmus bis zur banalen Primitivität. Da erscheint ein alter, ein verbrauchter, müder und resignierter Max Frisch, der sich vor einen fremden Karren hat spannen lassen. Aus einem ehemals großen Geist ist ein kleiner geworden. Sein geistiger Niedergang wird vordemonstriert. Max Frisch ist nicht faktisch, aber er ist geistig erledigt.“
Auch der Dokumentarfilm Palaver, Palaver – eine Schweizer Herbstchronik von Alexander J. Seiler, der die Entstehungsgeschichte von Jonas und sein Veteran dokumentierte und in Bezug zur Abstimmungskampagne im Vorfeld des Volksentscheids setzte, hatte mit Widerständen bei seiner Realisation zu kämpfen. Der Zürcher Nationalrat Ernst Cincera vermutete, dass „inhaltlich eine Unterstützung der Initianten [der Volksabstimmung] angestrebt wird“ und stellte eine Anfrage, warum der Film vom Bundesamt für Kultur finanziell unterstützt werde. Die Anfrage wurde unter Verweis auf die Kunstfreiheit abschlägig beschieden. Der Film kam im September 1990 in die Kinos, nachdem die Volksabstimmung bereits vorüber war, eine Tatsache, die Peter Bichsel begrüsste, da der Film dokumentiere und nicht agitiere und „eine Darstellung unseres Umgangs mit Politik, mit Opposition, mit Selbstverständlichkeit“ geworden sei. Das Lexikon des Internationalen Films kommentierte: „Das dank einer subtilen Montage komplexe Werk dokumentiert einen demokratischen und künstlerischen Prozeß und vermittelt das politische Klima in einer Schweiz, die durch den öffentlichen Diskurs über eine bisher als tabu geltende Frage in Bewegung geraten ist.“
Am 26. November 1989 stimmten 35,6 % der Abstimmenden, über eine Million Stimmberechtigte, für die Abschaffung der Armee. Das Ergebnis bedeutete für den ursprünglich skeptischen Frisch eine „Riesenüberraschung“. Er hatte zuletzt selbst noch in den Wahlkampf eingegriffen und am 20. November im Basler Theater eine Rede unter dem Titel Der Friede widerspricht unserer Gesellschaft gehalten, in der er allein die Tatsache, dass die Armee in die Diskussion geraten sei, bereits als politischen Erfolg wertete. Auf einem von seinem Freund Gottfried Honegger gestalteten und von Frisch finanzierten Abstimmungsplakat fügte er seinem ursprünglichen Prosatext einen nachträglichen Dialog hinzu: die Frage des Enkels «Wie wirst du denn stimmen, Großvater?» beantwortete er jetzt mit einem groß gesetzten „Ja“.
Walter Schmitz zog das Fazit, Frisch habe in Schweiz ohne Armee? „ganz unprätentiös, ohne lebhafte Geste, gezeigt, wie der Einzelne mit seiner Einsicht zur Bildung der öffentlichen Meinung in einem demokratischen Prozeß beitragen solle: Mit sorgfältigem, ‚unsicheren‘ Prüfen der Argumente; mit Möglichkeitssinn und Erinnerung; im Bewußtsein der Subjektivität, Partialität und der existenziellen Verbindlichkeit der eigenen Wahrheit“, das Ganze „unter dem Horizont utopischer Hoffnung.“
Literatur
Textausgaben
Max Frisch: Schweiz ohne Armee? Ein Palaver. Limmat, Zürich 1989, ISBN 3-85791-153-0 (Erstausgabe).
Suisse sans armée? Un palabre (übersetzt von Benno Besson und Yvette Z’Graggen). Campiche, Yvonand 1989, ISBN 2-88241-012-3 (französisch).
Svizzera senza esercito? Una chiacchierata rituale (übersetzt von Danilo Bianchi), Casagrande, Bellinzona 1989, ISBN 88-7713-017-2 (italienisch).
Max Frisch: Schweiz ohne Armee? Ein Palaver. Suhrkamp-TB 1881, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-38381-7.
Sekundärliteratur
Volker Hage: Max Frisch. rororo 50616, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-50616-5, S. 94–97.
Jürgen H. Petersen: Max Frisch. Metzler, Stuttgart 2002, ISBN 3-476-13173-4, S. 180–182.
Walter Schmitz: Max Frischs „Palaver“ Schweiz ohne Armee? Oder Öffentlichkeit und Unverständnis. In: Daniel de Vin (Hrsg.): Leben gefällt mir. Begegnung mit Max Frisch. Literarischer Treffpunkt, Brüssel 1992, ISBN 90-6828-003-1, S. 59–80.
Weblinks
Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Prolog der gleichnamigen Biografie von Urs Bircher als Textprobe auf der Seite des Limmat Verlags (unter anderem zur Entstehung von Jonas und sein Veteran)
Rezensionen zu Schweiz ohne Armee? Ein Palaver (PDF-Datei; 1,11 MB)
Einzelnachweise
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Werk von Max Frisch
Literarisches Werk
Literatur (Schweiz) |
4469841 | https://de.wikipedia.org/wiki/Multiple%20Sklerose | Multiple Sklerose | Die Multiple Sklerose (MS) oder Encephalomyelitis disseminata (ED) ist eine chronisch-entzündliche neurologische Autoimmunerkrankung mit sehr unterschiedlichen Verlaufsformen, weshalb sie auch als die „Krankheit mit tausend Gesichtern“ bezeichnet wurde. Bei ihr werden die Markscheiden, die elektrisch isolierende äußere Schicht der Nervenfasern im Zentralnervensystem (ZNS), angegriffen.
Die genauen Ursachen dieser Entmarkungserkrankung sind trotz großer Forschungsanstrengungen noch nicht geklärt. Bei der Multiplen Sklerose entstehen in der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark verstreut viele (multiple) entzündliche Entmarkungsherde, die vermutlich durch den Angriff körpereigener Immunzellen auf die Myelinscheiden der Nervenzellfortsätze verursacht werden. Da die Entmarkungsherde im gesamten ZNS auftreten können, kann die Multiple Sklerose fast jedes neurologische Symptom verursachen. Sehstörungen mit Minderung der Sehschärfe bis hin zur Blindheit und Störungen der Augenbewegungen (internukleäre Ophthalmoplegie) sind typisch, aber nicht spezifisch für die Multiple Sklerose. Der Schweregrad der Behinderungen des Patienten wird häufig anhand einer Skala (EDSS) angegeben.
Die MS ist neben der Epilepsie eine der häufigsten neurologischen Krankheiten bei jungen Erwachsenen und von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung. Die Krankheit ist nicht heilbar, jedoch kann der Verlauf durch verschiedene Maßnahmen oft günstig beeinflusst werden. Entgegen der landläufigen Meinung führt die Multiple Sklerose nicht zwangsläufig zu schweren Behinderungen. Auch viele Jahre nach Beginn der Erkrankung bleibt die Mehrzahl der Patienten noch gehfähig.
Medizingeschichte
Es gibt Beschreibungen aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die auf MS hinweisen, beispielsweise bei Lidwina von Schiedam. Eine erstmals genauere Darstellung der Krankheit steht im Tagebuch des Augustus Frederick d’Este (1794–1848), eines Enkels des britischen Königs Georg III. Die Aufzeichnungen über seine Krankheit erstreckten sich von 1822 bis 1846.
D’Este beschreibt zunächst eine bei ihm im Alter von 28 Jahren erstmals vorübergehend geminderte Sehschärfe:
In der Folge traten schubförmig weitere typische Symptome der Krankheit wie Doppelbilder, eine Schwäche der Beine und Taubheitsgefühle auf:
Eine der ersten medizinischen Beschreibungen der Multiplen Sklerose wird William MacKenzie (1791–1886) zugeschrieben. Der schottische Augenarzt berichtete 1840 die Krankengeschichte eines 23-jährigen Mannes, der, nachdem zunächst Sehstörungen aufgetreten waren, wegen zunehmender Lähmungen in das Londoner St Bartholomew’s Hospital aufgenommen worden war. Zusätzlich entwickelten sich eine Sprechstörung (Dysarthrie) und eine Harninkontinenz. Alle Symptome waren jedoch nach zwei Monaten wieder weitestgehend verschwunden.
Der deutsche Arzt Friedrich Theodor von Frerichs diagnostizierte die Krankheit 1849 erstmals an einem lebenden Patienten.
Im Jahre 1868 beschrieb Jean-Martin Charcot die Krankheit nicht nur umfassend klinisch, sondern auch detailliert pathologisch: etwa das Verteilungsmuster multipler sklerosierender Herde in der Nachbarschaft der Hirnventrikel und im Hirnstamm sowie mikroskopisch den Verlust der Markscheiden im Bereich dieser Herde. Er bezeichnete die Krankheit als la sclérose en plaques disséminées.
Bereits 1877 schlug der Neurologe Julius Althaus (1833–1900) vor, die Krankheit nach Charcot zu benennen; das Deonym Morbus Charcot ist jedoch für die Multiple Sklerose außerhalb Frankreichs ungebräuchlich geworden, es wird heute vor allem für die amyotrophe Lateralsklerose verwendet.
Im Jahre 1960 begann man, mit Kortikoiden zu behandeln, 1961 mit ACTH, 1995 mit Beta-Interferon, 2001 mit Glatirameracetat.
Trotz der damals schon umfassenden Beweislage wurde von einzelnen Forschern noch in den 1960er Jahren eine psychische Ursache der Multiplen Sklerose vertreten: Es handele sich aufgrund der vielgestaltigen Symptome, einer typischen Persönlichkeitsstruktur lange vor dem Auftreten der ersten Symptome und eines hohen Anteils von Frauen an den Erkrankungsfällen um eine Konversionshysterie.
Epidemiologie
Krankheitshäufigkeit
Die Multiple Sklerose ist in Mitteleuropa die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Frauen sind in Deutschland (Stand: 2020) laut der DMSG ungefähr dreimal so häufig betroffen wie Männer (Gynäkotropie), in der Altersgruppe bis zum 20. Lebensjahr liegt das Zahlenverhältnis bei 4:1. Noch im Jahr 2000 ging man von einer Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) in Deutschland von 149 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern aus, woraus sich eine Gesamtzahl von etwa 122.000 Erkrankten ergäbe. Die Auswertung der den Gesetzlichen Krankenkassen vorliegenden Daten durch das Bundesversicherungsamt (2014) ergibt jedoch eine Zahl von mindestens 200.000–220.000 MS-Diagnostizierten. Die MSIF nennt 2022 252.000 Betroffene in Deutschland, davon 72 % Frauen.
Für Österreich resultiert vergleichbar eine Gesamtzahl von etwa 8150 Erkrankten, die MSIF nennt 2022 13.500. Für die Gesamtschweiz liegen keine epidemiologischen Untersuchungen vor, für den Kanton Bern wurde jedoch mit 110 Erkrankten pro 100.000 Einwohner eine vergleichbare Prävalenz ermittelt. Die MSIF nennt 2022 15.200 in der Schweiz Betroffene. Weltweit sind etwa 2,8 Millionen Menschen an der MS erkrankt (MSIF 2022).
Die Erkrankung tritt typischerweise im jungen Erwachsenenalter auf, aber 3–5 % erkranken in der Kindheit oder als Heranwachsende. Für eine kindliche Multiple Sklerose ist der schubweise Verlauf mit Remissionen typisch. Die Rezidive (Rückfälle) sind bei Kindern in den ersten sechs Jahren der Erkrankung mehr als doppelt so häufig wie bei Erwachsenen. Die Rezidive sind schwerer als bei Erwachsenen, die Remission aber besser.
Sterblichkeit
Insbesondere bei Patienten, die keine höhergradigen Behinderungen aufweisen, ist die Mortalität (Sterblichkeit) nicht wesentlich erhöht. Die Lebenserwartung von MS-Patienten liegt in Gegenden, für die ein vollerhebendes MS-Register existiert (wie zum Beispiel Dänemark und Teile Kanadas), unter der von Nichterkrankten vergleichbaren Alters. In den letzten Jahrzehnten ist in Dänemark jedoch ein deutlicher Rückgang der Sterblichkeit zu verzeichnen.
Eine Ausnahme ist hier die maligne Form der MS, die sogenannte Marburg-Variante (nach Otto Marburg), von der vor allem junge Patienten betroffen sind: Diese akute schwere Verlaufsform der Erkrankung ist sehr selten. Schon zu Beginn treten bei diesem MS-Typ schwere Schübe auf. Der schnelle Verlauf führt innerhalb von Wochen oder wenigen Monaten zu einer hochgradigen Behinderung und häufig auch zum Tod des betroffenen Menschen, letzteres insbesondere in den Fällen, in denen Herde im Hirnstamm auftreten. Die Abgrenzung der malignen Sonderform der MS von der akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) ist schwierig, jedoch fehlt im Gegensatz zur ADEM bei der Marburg-Variante oft eine vorausgegangene Virusinfektion.
Geografische Verteilung
In der äquatorialen Zone ist die Erkrankungshäufigkeit geringer als in den nördlichen und südlichen Breiten. Menschen, die als Kinder oder Jugendliche aus MS-reichen Zonen in MS-arme Zonen übersiedeln (zum Beispiel von Europa nach Südafrika oder von Amerika oder Europa nach Israel), übernehmen das Erkrankungsrisiko des Ziellandes, während ältere Personen die Krankheitshäufigkeit ihres Herkunftslandes behalten. Dieser Befund stellt ein wichtiges Argument für die Beteiligung eines Umweltfaktors im Kinder- und Jugendlichenalter an der späteren Entstehung der Erkrankung dar (Infektionshypothese).
Neuropathologie
Neuropathologisch ist die MS durch herdförmige (fokale), entzündlich-entmarkende Läsionen im ZNS mit unterschiedlich ausgeprägtem Verlust an Axonen und reaktiver Gliose gekennzeichnet. Möglicherweise führen verschiedene immunologische Mechanismen zum Verlust der Markscheiden: Histologisch definierten Lassmann und Mitarbeiter vier verschiedene Subtypen, wobei Patienten mit einer primär immunologisch induzierten Entmarkung (Subtypen I und II) und solche mit einer primären Erkrankung der Oligodendrogliazellen (Subtyp III und IV) unterschieden werden. Ob sich im Laufe der Chronifizierung der Erkrankung die Ausprägung der Subtypen ändert, bleibt unklar. Jedoch spricht der Nachweis signifikanter Unterschiede im Liquorprofil zwischen Subtyp I einerseits und den Subtypen II und III andererseits – und dabei v. a. das Fehlen oder nur temporäre Vorliegen liquorspezifischer oligoklonaler Banden in den beiden letztgenannten Gruppen – dafür, dass es sich tatsächlich um unterschiedliche immunopathogenetische Entitäten handelt. Der Nachweis von Autoantikörpern gegen humanes Volllängen-Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein bei einigen Patienten mit Subtyp-II-Läsionen, nicht aber bei Patienten mit anderen Subtypen, stützt diese Hypothese, legt aber auch eine Heterogenität innerhalb der histologischen Subgruppe II nahe.
Neue bildgebende Verfahren, wie etwa die Diffusions-Tensor-Bildgebung, aber auch neuropathologische Untersuchungen haben seit einigen Jahren die Schädigung von Axonen bei der MS wieder zunehmend in den Vordergrund gerückt. Die Mechanismen, die zu dieser Art von Schäden führen, sind noch nicht vollständig geklärt. Inzwischen ist man zu dem Ergebnis gelangt, dass es bereits bei noch intakter Myelinhülle zu Schädigungen der Axonen kommen kann. Diese Schäden sind in frühen Stadien noch reversibel.
Klinische Beobachtungen haben gezeigt, dass die individuellen, entzündlich-demyelinisierenden Läsionen, welche die Schub-bezogenen neurologischen Störungen verursachen, nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der chronisch-progressiven Behinderung stehen.
In weit höherem Maß führt offenbar die Atrophie der grauen Substanz zur zunehmenden Behinderung.
Aus Obduktionen weiß man, dass die sogenannte normal erscheinende weiße oder graue Substanz diffuse pathologische Veränderungen aufweist. Bei Patienten mit ausgedehnter Demyelinisierung zeigt die graue Substanz eine im Vergleich zu gesundem Kortexgewebe um etwa 20 % verminderte neuronale Dichte. Der Volumenverlust im Nervengewebe kann noch vor anderen MS-Symptomen auftreten und auch dann fortschreiten, wenn sich die Krankheit klinisch bessert. Mit den neuen Kernspintechniken wie der Magnetisations-Transfer-Bildgebung (MTR) wurden letzte Zweifel ausgeräumt, dass sich die neurale Zerstörung nicht auf einzelne Läsionen der weißen Substanz beschränkt, sondern diffus im ganzen ZNS vorkommt, auch in der grauen Substanz.
Die Störungen, die bei der Multiplen Sklerose die fortschreitende Behinderung verursachen, sind also nicht nur die Folge eines Oligodendrozyten-Mangels, sondern wesentlich komplexer.
Ursachen und Entstehung
Die Ätiologie (Ursache) der MS ist unbekannt. Hinsichtlich der Pathogenese (Entstehung) existieren zahlreiche Theorien. Die vorliegenden Befunde deuten auf eine multifaktorielle Krankheitsentstehung mit Beteiligung von genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen als Auslöser einer immunvermittelten Schädigung hin.
Genetische Prädisposition
Die MS ist keine Erbkrankheit im klassischen Sinne, d. h., sie ist keine monogene Erkrankung und folgt keinem Mendelschen Erbgang. Seit dem Jahr 2010 wurden in genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) über 110 häufige genetische Variationen (single nucleotide Polymorphismen, SNP) identifiziert, die bei Erkrankten häufiger als in der Gesamtbevölkerung auftreten und möglicherweise zu einer Prädisposition einer Multiplen Sklerose beitragen. Obwohl jede dieser Varianten alleine nur ein sehr geringes Risiko für die Entwicklung Multipler Sklerose bedeutet, machen diese zusammen etwa 20 Prozent der genetischen Komponenten der Krankheit aus. Unter anderem Polymorphismen von am Interleukin-Signalweg beteiligten Genen sind von wissenschaftlichem Interesse. Viele der gefundenen Genvarianten stehen in direkter Verbindung zum Immunsystem (z. B. die TNFR1-Variante rs1800693, der HLA-Typ HLA-DRB1*15:01) einige von ihnen konnten auch bei Autoimmunkrankheiten wie Diabetes Typ 1 oder Morbus Crohn als genetische Risikofaktoren identifiziert werden. Die Genvariante HLA-DR15 erhöht das Risiko für MS um das dreifache. Für den ATP-sensitiven Kaliumkanal KIR4.1 auf der Zellmembran von Gliazellen konnten bei einigen Patienten (46,9 %) auch IgG-Autoantikörper nachgewiesen werden.
Das Erkrankungsrisiko ist auch abhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Epidemiologische Studien aus den Vereinigten Staaten weisen darauf hin, dass dort die Multiple Sklerose bei Hispanics und Afroamerikanern seltener auftritt.
Bei eineiigen Zwillingen von MS-Patienten beträgt das Erkrankungsrisiko etwa 35 %, während die Wahrscheinlichkeit, an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, bei Geschwistern (etwa 4 %) sowie Verwandten ersten Grades (etwa 3 %), zweiten Grades (etwa 1 %) oder dritten Grades (etwa 0,9 %) deutlich niedriger ist. Das Risiko in der Allgemeinbevölkerung beträgt ca. 0,1 %.
Eine Untersuchung dreier eineiiger Zwillingspaare, von denen jeweils nur ein Zwilling an Multipler Sklerose erkrankt war, ergab keine Unterschiede auf genetischer oder epigenetischer Ebene; auch Unterschiede des Transkriptoms fanden sich nicht.
Infektionshypothese
Als auslösender Faktor wurde schon früh eine Infektion in der Kindheit mit einem Erreger, der Kreuzreaktivität mit Proteinbestandteilen des Myelins aufweist, vermutet. Ein überzeugender Nachweis eines spezifischen Erregers konnte nicht erbracht werden. Gegen die Möglichkeit einer direkten Übertragung der MS sprechen Studien an Adoptiv- und Stiefkindern von MS-Patienten, bei denen keine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit nachgewiesen werden konnte.
Zahlreichen Viren (unter anderem Epstein-Barr-Virus und Humanes Herpesvirus 6) ist eine mögliche Bedeutung bei der Krankheitsentstehung zugeschrieben worden. Tatsächlich ist insbesondere bei Kindern mit Multipler Sklerose eine Immunreaktion gegen das Epstein-Barr-Virus häufiger als bei nicht erkrankten Kindern nachweisbar. Auch bakterielle Erreger (unter anderem Chlamydien, Spirochaeten, Rickettsien und Streptococcus mutans) sind mit der Entstehung der Multiplen Sklerose in Zusammenhang gebracht worden.
Die Zunahme der Erkrankungsfälle auf den Färöer-Inseln, die mit der Stationierung britischer Truppen im Jahre 1943 begann und in vier Wellen erfolgte, wird als Hinweis auf eine mögliche infektiöse Ursache angeführt.
Erhöhtes Risiko durch Infektion mit Epstein-Barr-Virus
Eine Längsschnittstudie kam im Januar 2022 zu dem Ergebnis, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV) eine Entstehung von MS begünstigen könne. Das Team um den Epidemiologen Alberto Ascherio von der Harvard University prüfte Blutproben von mehr als 10 Millionen US-Militärangehörigen. Diese wurden im Rahmen regulärer HIV-Proben zwischen 1993 und 2013 regelmäßig auf HIV untersucht. Bei 801 Personen wurde im Untersuchungszeitraum MS diagnostiziert, hiervon zeigten 800 einen positiven EBV-Status. Zudem konnte gezeigt werden, dass sich an MS erkrankte Personen vor Ausbruch der Erkrankung tatsächlich mit EBV infizierten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Infektion mit EBV das Risiko für eine MS um Faktor 32 erhöht. Bei einer Infektion mit dem Cytomegalievirus konnte hingegen kein Zusammenhang für ein erhöhtes Risiko einer MS festgestellt werden.
Zwar sind die Studienergebnisse ein starkes Indiz dafür, dass eine EBV-Infektion Voraussetzung für MS ist. Dennoch ist dadurch nicht gezeigt, dass EBV die (alleinige) Ursache für die Erkrankung ist.
Hygienehypothese
Vermutet wird ein Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung des Immunsystems mit Infektionskrankheiten und einer dadurch verminderten Anfälligkeit für die Multiple Sklerose. Gemäß Hypothese soll eine Verzögerung bestimmter Infektionen (hauptsächlich im Kindesalter), für die Zunahme von allergischen und Autoimmunerkrankungen in modernen Gesellschaften verantwortlich sein. So reduziert das Zusammenleben mit Geschwistern in den ersten sechs Lebensjahren das Risiko, an MS zu erkranken, signifikant, was durch eine vermehrte gegenseitige Ansteckung von Geschwisterkindern mit Infektionskrankheiten erklärt wird.
In modernen Gesellschaften treten auch Endoparasiten wie Darmparasiten selten auf, wodurch eine gegen die Parasiten gerichtete Immunantwort in Form von IgEs nicht mehr stattfinden kann. Eine kleine randomisierte, doppelverblindete klinische Prüfung konnte aber keinen signifikanten Vorteil bei Patienten mit schubförmig remittierender MS sehen, die im Rahmen der Studie mit dem amerikanischen Hakenwurm Necator americanus infiziert wurden.
Vitamin-D-Stoffwechselhypothese
Die in der Äquatorialzone seltener auftretenden Krankheitsfälle werden auch mit dem Vitamin-D-Stoffwechsel zu erklären versucht: Vitamin D entsteht beim Menschen hauptsächlich durch Sonneneinstrahlung in der Haut. Im Kindesalter der Sonne ausgesetzt zu sein sowie ausreichende Vitamin-D-Spiegel im Blut sollen das Risiko senken können, später eine MS zu bekommen. Die niedrige Inzidenz der MS bei traditionell lebenden grönländischen Inuit wurde mit deren Vitamin-D-reicher Ernährung erklärt. Zwei der bekannten Gen-Varianten sind am Vitamin-D-Stoffwechsel beteiligt.
Es gibt Studien, die vermuten lassen, dass durch die Supplementation von Vitamin D das Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken, gemindert werden könnte. Ein kausaler Zusammenhang konnte daher bisher nicht etabliert werden, es könnte sich auch um eine zufällige Assoziation handeln. Ein therapeutischer Nutzen einer Supplementation von Vitamin D bei MS-Patienten konnte bislang nicht gezeigt werden.
Umweltgifte
Für den häufig behaupteten kausalen Zusammenhang der Krankheit mit Umweltgiften gibt es wenig Nachweise. Auch ergab eine Meta-Analyse keinen deutlichen Zusammenhang zwischen Amalgamfüllungen und der Wahrscheinlichkeit zu erkranken.
Rauchen
Ob Zigarettenrauchen das Risiko für MS erhöht, wird seit Jahren erforscht. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass Rauchen vor Erkrankungsbeginn das Risiko steigert. Eine Meta-Analyse ergab eine 1,2- bis 1,5-fache Erhöhung des Erkrankungsrisikos. In einer norwegischen Studie ergab sich eine Steigerung des Risikos um den Faktor 1,8.
Auch auf die Entwicklung eines klinisch isolierten Syndroms (CIS) zur sicheren MS scheint sich Rauchen negativ auszuwirken. So ergab sich bei 129 CIS-Patienten, die über 36 Monate beobachtet wurden, bei 75 % der Raucher, aber nur bei 51 % der Nichtraucher im weiteren Verlauf die Diagnose einer MS.
Weiter wurde untersucht, wie sich der Konsum von Zigaretten mittelfristig auf das Voranschreiten der Behinderung auswirkt, und ob es mit den Verlaufsformen zusammenhängen könnte. Dabei zeigten sich die größten Unterschiede zwischen Patienten, die nie geraucht haben, und denen, die schon sehr früh damit begonnen haben. Frühe Raucher tendieren häufiger und nach kürzerer Erkrankungsdauer zu chronischen Verlaufsformen, und das Risiko eines Voranschreitens der Behinderung ist erhöht.
Welche durch das Rauchen ausgelösten pathologischen Veränderungen die Entwicklung und das Voranschreiten der MS beeinflussen können, ist bisher nicht bekannt.
Übergewicht
Vor allem Übergewicht in der Kindheit scheint ein weiterer Faktor bei der Entstehung von Multipler Sklerose im Erwachsenenalter zu sein.
Flammer-Syndrom
In einer Studie mit 58 Multiple Sklerose-Patienten und 259 gesunden Kontrollpersonen wurden sechs von fünfzehn Symptomen des Flammer-Syndroms von den MS-Patienten statistisch signifikant häufiger angegeben, nämlich gestörte Wärmeregulation, kalte Hände oder/und Füße, Schwindel, reduziertes Durstempfinden, Hang zum Perfektionismus, niedriger Body-Mass-Index.
Impfungen
Ein ursächlicher Zusammenhang von Impfungen – und hier insbesondere der Hepatitis-B-Impfung – und dem Auftreten einer MS ist nicht nachweisbar. Zahlreiche Studien mit großen Patientenkollektiven konnten einen aufgrund von Einzelfallberichten und Studien mit kleinen Patientenkollektiven vermuteten Zusammenhang nicht bestätigen. Eine Auswertung von Versichertendaten aus Bayern hat im Gegenteil ergeben, dass Personen, die an MS erkrankt sind, fünf Jahre vor dieser Diagnose seltener geimpft wurden als eine Vergleichsgruppe ohne MS.
Chronische cerebrospinale venöse Insuffizienz
In den 1930er Jahren kam erstmals eine Hypothese auf, der zufolge MS durch eine chronische Blutabflussstörung im Bereich der Hals- und Brustvenen verursacht würde. Diese Hypothese einer chronischen cerebrospinalen venösen Insuffizienz (CCSVI) als Ursache der MS konnte nicht bestätigt werden. In den 1980er Jahren wurde darüber kurze Zeit erneut diskutiert, wiederum ohne zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen. Seit 2008 wird der Hypothese wieder viel Beachtung zuteil anlässlich neuer Studien, die von einem Zusammenhang zwischen MS und dem Auftreten einer dopplersonographisch nachgewiesenen venösen Insuffizienz berichten, welche über einen nachfolgend erhöhten Hirndruck die typischen Entzündungsherde entstehen ließe. Die Reaktionen aus Fachkreisen darauf blieb zunächst verhalten, zumal die Ergebnisse von anderen Forschungsgruppen nicht reproduziert werden konnten
und weitere Studien erneut erhebliche Zweifel an der Qualität der dieser Theorie zugrunde liegenden Studien aufkommen ließen. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) warnte darum bereits 2010 „… vor sinnlosen und gefährlichen Gefäßeingriffen bei Multiple-Sklerose-Patienten […]“
Diese Einschätzungen wurden 2013 von einer in der Lancet veröffentlichten Studie untermauert, die zusätzlich zu den bisher verwendeten Ultraschalluntersuchungen der Venen die als Goldstandard der bildgebenden Diagnostik venöser Stenosen angesehene Katheter-Venographie einsetzte. Eine CCSVI wurde in dieser Studie durchgehend bei zwei bis drei Prozent der untersuchten Probanden gefunden – ohne Unterschiede zwischen MS-Patienten, deren Geschwistern und einer gesunden Kontrollgruppe. Auch die in Deutschland durchgeführten Studien ergaben laut einer 2013 veröffentlichten Übersichtsarbeit keine Hinweise auf eine venöse Ursache für MS, weshalb weiterhin davon abgeraten wird, außerhalb von kontrollierten klinischen Studien Venenerweiterungen als Therapieversuch von MS einzusetzen.
Experimentelle Tiermodelle
Experimentelle Tiermodelle werden in der Multiple-Sklerose-Forschung eingesetzt, um Mechanismen der Krankheitsentstehung zu untersuchen. Durch gezielte Variation der Experimente kann der Einfluss einzelner Faktoren (beispielsweise Gene und Proteine, die im Immunsystem eine wichtige Rolle spielen) auf die Krankheitsentstehung studiert werden. Auch neue Wirkstoffe mit therapeutischem Ansatz werden zunächst im Tiermodell getestet. Das wichtigste Tiermodell zur MS ist die experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE). Die Krankheit wird vor allem bei spezifischen Stämmen von Mäusen und Ratten untersucht. Die EAE weist neben vielen pathologischen und immunpathogenetischen Ähnlichkeiten auch wichtige Unterschiede zur MS auf, so dass sie mit dieser nicht gleichgesetzt werden darf. So wurde festgestellt, dass die EAE nicht die komplexe Pathologie der MS abbildet. Jedoch spiegeln unterschiedliche Varianten der EAE einzelne immunpathogenetische Aspekte der Multiplen Sklerose wider und können gezielt zur Untersuchung spezifischer Fragen eingesetzt werden.
Einfluss des Mikrobioms
In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass das Mikrobiom des Darms einen Einfluss auf das Immunsystem und auf Autoimmunerkrankungen hat. Es gibt Darmbakterien, die das Immunsystem dämpfen, und solche, die es aktivieren. Eine Veröffentlichung stellt fest, dass die Abbauprodukte von bestimmten Darmbakterien für das Nervensystem wichtig sind und weiter geforscht werden müsse.
Erste Ergebnisse einer Studie der Max-Planck-Gesellschaft zeigen, dass sich durch die Übertragung der Darmflora von MS-Patienten an keimfrei aufgezogene Mäuse in fast allen Fällen eine MS-ähnliche Hirnentzündung auslösen lässt.
Eine Studie will bei an MS Erkrankten eine ungünstige Zusammensetzung des Mikrobioms festgestellt haben. Sie vermutete, dass das ursächlich für die Krankheit ist.
Der Einsatz von Antibiotika wird von einigen Forschern als Risikofaktor betrachtet.
Mikrobiom und kurzkettige Fettsäuren:
Bei nicht vorbehandelten MS-Patienten wurde (besonders nach dem ersten Schub) eine deutliche Verminderung von kurzkettigen Fettsäuren (zum Beispiel Propionsäure) im Blut und im Stuhl festgestellt. In einer neuen Studie wurde diesen Patienten zusätzlich zu einer Immuntherapie oral Propionat gegeben. Hierauf stellte man eine günstige Veränderung der Zelltypen des Darm-Immunsystems fest, die mit einem genetischen Wandel des Mikrobioms zusammenhing. Dies führte offensichtlich zu einer positiven Beeinflussung des gesamten Immunsystems der Kranken, die in der Weiterbehandlung mit zusätzlichem Propionat insgesamt einen milderen Krankheitsverlauf zeigten (Verringerung der Schubanzahl, Verbesserung des gesamten klinischen Bildes).
Verlaufsformen
Die Multiple Sklerose hat unterschiedliche Verlaufsformen. Wichtig für das Verständnis der Erkrankung und der Verlaufsformen ist der Begriff des Schubes. Ein Schub ist definiert als das Auftreten neuer oder das Wiederaufflammen bereits bekannter klinischer Symptome, die länger als 24 Stunden anhalten und denen eine entzündlich-entmarkende Schädigung des ZNS zugrunde liegt. Typischerweise treten neue Symptome bei der MS subakut, also innerhalb von Stunden bis Tagen, auf. Um einen neuen Schub von einem vorangegangenen abgrenzen zu können, müssen definitionsgemäß mindestens 30 Tage zwischen beiden klinischen Ereignissen liegen. Die Dauer eines Schubes beträgt meist einige Tage bis wenige Wochen. Je nachdem, ob sich die aufgetretenen Symptome vollständig oder nur unvollständig zurückbilden, spricht man von einer kompletten oder inkompletten Remission. Von echten Schüben sind sogenannte Pseudoschübe abzugrenzen, die im Rahmen einer Temperaturerhöhung (Uhthoff-Phänomen) oder infektassoziiert auftreten und zu einer vorübergehenden Verschlechterung klinischer Symptome führen können.
Unterschieden werden folgende Verlaufsformen:
Schubförmig remittierende MS (RRMS) und sekundär progrediente MS (SPMS)
Bei der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (englisch relapsing remitting MS, kurz RRMS oder RR-MS) lassen sich einzelne Schübe abgrenzen, die sich vollständig oder unvollständig zurückbilden. Die schubförmig remittierende MS betrifft 85 % bis 90 % der MS-Patienten und beginnt im Durchschnitt im Alter von circa 30 Jahren. 75 % der Betroffenen sind weiblich. Die RRMS kann im weiteren Krankheitsverlauf (ca. 50 % der Fälle nach 10 bis 15 Jahren) in eine sekundär progrediente MS (englisch secondary progressive MS, kurz SPMS oder SP-MS) übergehen, die durch eine langsame Zunahme neurologischer Dysfunktionen gekennzeichnet ist. Zusätzlich können aber auch hier noch Schübe den langsam fortschreitenden Verlauf negativ beeinflussen.
Für einige Faktoren konnte nachgewiesen werden, dass sie die Wahrscheinlichkeit einzelner Schübe erhöhen – diese werden als Triggerfaktoren bezeichnet. Als gesichert gilt, dass im unmittelbaren Zeitraum nach einer Infektion (wie der Grippe oder der durch Viren verursachten Infektionen des Magen-Darm-Traktes) die Schubwahrscheinlichkeit erhöht ist.
Während der Schwangerschaft ist das Schubrisiko (insbesondere im dritten Trimenon) im Vergleich zur Krankheitsaktivität des vorausgegangenen Jahres deutlich reduziert. In den drei auf die Entbindung folgenden Monaten ist es hingegen erhöht. Im Verlauf der folgenden 21 Monate unterscheidet sich die Krankheitsaktivität nicht von der Situation vor der Schwangerschaft.
Kontrovers diskutiert wird der Einfluss psychischen Stresses (wie Beziehungs- und Eheprobleme, Stress am Arbeitsplatz, Verlust eines nahen Angehörigen) auf das Schubrisiko. Vielen früher durchgeführten Studien zu diesem Thema werden methodische Mängel vorgeworfen. Neuere Studien deuten auf einen geringen bis moderaten Einfluss psychischen Stresses auf die Schubwahrscheinlichkeit hin.
Primär progrediente MS (PPMS)
Im Gegensatz zu den anderen Formen der MS beginnt die primär progrediente MS (englisch primary progressive, PPMS oder PP-MS) nicht mit Schüben, sondern mit einer schleichenden Progression der neurologischen Defizite ohne Rückbildung. Selten können im weiteren Verlauf jedoch überlagerte Schübe auftreten. Die PPMS betrifft 10 % bis 15 % der Patienten und beginnt im Durchschnitt im Alter von circa 40 Jahren. Im Unterschied zur RRMS sind Männer und Frauen etwa gleich häufig von PPMS betroffen.
Symptome
Die ersten Symptome treten meist zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr im Rahmen eines Schubes auf. Einige Patienten sind auch etwas jünger. Während sich die Schübe bei Erkrankungsbeginn meist völlig zurückbilden, bleiben im späteren Krankheitsverlauf nach Schüben vermehrt neurologische Defizite zurück. Zu Beginn der Erkrankung werden Seh- und Sensibilitätsstörungen häufig beobachtet. Nicht selten beginnt die Erkrankung zunächst mit einem isolierten Symptom, wofür sich der englische Begriff des klinisch isolierten Syndroms (CIS) eingebürgert hat.
Welches Symptom in einem Schub entsteht, ist abhängig von der jeweiligen Lokalisation des aktiven Entmarkungsherdes im zentralen Nervensystem: So bewirken Entzündungen im Bereich des Sehnervs (Retrobulbärneuritis) Sehstörungen, die sich als Sehunschärfe oder milchiger Schleier bemerkbar machen und auch mit Augenschmerzen (typisches Erstsymptom) einhergehen können. Durch Entzündungsherde im Bereich sensibler Bahnsysteme können Sensibilitätsstörungen wie Missempfindungen (Parästhesien), Taubheitsgefühle und Schmerzen auftreten. Häufig sind hierbei die Hände und Beine (Füße und Unterschenkel) betroffen. Schmerzen können auch durch eine Trigeminusneuralgie, Krämpfe der Muskulatur sowie durch das Lhermitte-Symptom verursacht sein. Das Lhermitte-Zeichen gilt als typisch für die MS und kann ein Hinweis auf Herde im Bereich des Halsteils des Rückenmarks sein. Ist das motorische System betroffen, treten Lähmungserscheinungen (Paresen) der Extremitäten auf, wobei durch eine abnorme unwillkürliche Erhöhung des Muskeltonus (spastische Tonuserhöhung) die Bewegungsfähigkeit des Patienten zusätzlich eingeschränkt sein kann. Herde in Hirnstamm und Kleinhirn können zu Störungen der Augenbewegungen (Doppeltsehen und Nystagmen), Schluckstörungen (Dysphagie), Schwindel sowie Störungen der Bewegungskoordination (Ataxie) und Sprechstörungen (Dysarthrie) führen. Als Charcot-Trias wird der bei Entmarkungsherden im Bereich des oberen Kleinhirnstiels auftretende Symptomenkomplex von Intentionstremor, Nystagmus und skandierender (abgehackter) Sprache bezeichnet. Eine temporale Abblassung der Sehnervenpapillen, das Vorliegen einer Paraspastik und das Fehlen der Bauchhautreflexe wird als Marburg-Trias bezeichnet. Sind vegetative Zentren und Bahnen betroffen, kann es zu Störungen der Kontrolle der Blasen- und Darmfunktion und zu sexuellen Funktionsstörungen kommen.
Bei vielen der Patienten tritt im Verlauf gesteigerte physische oder kognitive Ermüdbarkeit (Fatigue) auf. Diese Ermüdbarkeit tritt unabhängig von körperlicher und psychischer Belastung auf und nimmt im Laufe des Tages zu. Wie auch die anderen Symptome kann sich die Fatigue im Rahmen des Uhthoff-Phänomens (deutlicheres Hervortreten der Symptome durch Temperaturerhöhung) verstärken. Physische Fatigue betrifft über 65 % der Patienten und kann jegliche physische Aktivität beeinträchtigen oder aber nur bestimmte Muskelgruppen (lokale Fatigue). Kognitive Fatigue zeigt sich in Form von abfallenden Leistungen bei anhaltender kognitiver Anstrengung, wobei dann Leistungssteigerungen durch Übungseffekte nicht greifen.
Unterschiedliche muskuläre Defizite können sich in Bewegungseinschränkungen manifestieren. Beispielsweise kann die Kniestabilität in der Standphase durch eine Fehlfunktion der Plantarflexoren und der ischiocrualen Muskulatur herabgesetzt werden. In der Schwungphase kann eine zu geringe Aktivierung der Zehenflexoren eine unzureichende Knieflexion verursachen. Dadurch können in Kombination mit einer gestörten Plantarflexion Probleme beim push off entstehen.
Zudem können kognitive und affektive Störungen auftreten. Kognitive Störungen betreffen über 40 % der Patienten mit MS. Häufig ist die allgemeine kognitive Geschwindigkeit herabgesetzt, was sich in Form erhöhter Reaktionszeiten in kognitiven Tests zeigt. Die allgemeine Intelligenz sowie sprachliche Fähigkeiten gelten als weitgehend unbeeinträchtigt. Etwa 20 % der Patienten mit Multipler Sklerose erfüllen im vollen Umfang die Diagnose-Kriterien für eine depressive Erkrankung und mindestens 30 % zeigten depressive Symptome in potentiell klinisch relevantem Ausmaß. Patienten mit MS seien damit disproportional häufig von Depressivität betroffen, insbesondere auch im Vergleich zu Patienten mit anderen schwerwiegenden chronischen Erkrankungen wie z. B. ALS. Angst-Störungen treten ebenfalls häufig bei Patienten mit MS auf.
Im späten Stadium kann auch eine subkortikale Demenz auftreten. Die Klassifizierbarkeit als Demenz wurde jedoch aufgrund der vergleichsweise milderen und weniger umfangreichen Symptomatik von MS in Frage gestellt.
Ein Mittel zur Quantifizierung der Beeinträchtigungen des Patienten ist die Verwendung der Expanded Disability Status Scale (EDSS). Anhand dieser Skala wird der aktuelle Schweregrad der Behinderungen des Betroffenen eingestuft, wobei zuvor die Beeinträchtigungen in sieben neurologischen Systemen bestimmt werden. Betrachtet man den gesamten Krankheitsverlauf, sind es die Fatigue, Störungen der Blasenfunktion sowie Störungen des motorischen Systems wie Lähmungen und spastische Tonuserhöhungen, die das Leben der Betroffenen häufig am meisten beeinträchtigen. Obwohl EDSS eine gängige Methode ist, wurde sie für einige ihrer Probleme kritisiert.
Diagnostik
Vor der Ära der bildgebenden Verfahren war die Diagnose der Multiplen Sklerose vor allem auf die klinische Einschätzung von Symptomen und Anamnese gestützt. Heute wird die Diagnose nach einheitlichen Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose gestellt. Als Grundlage für die Diagnosestellung dient die zuletzt 2017 überarbeitete Fassung der McDonald-Kriterien.
Klinische Diagnosekriterien
Klinisches Hauptkriterium der Multiple-Sklerose-Diagnose ist der Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Streuung (Dissemination) von Entzündungsherden. Mit räumlicher Dissemination ist das Vorliegen von Entzündungsherden an mehr als einem Ort im zentralen Nervensystem gemeint. Zeitliche Dissemination bedeutet, dass im Verlauf der Erkrankung neue Herde hinzukommen, die zu klinischen Symptomen führen können. Sind weder in der Anamnese noch in der neurologischen Untersuchung Symptome für in der Bildgebung nachweisbare Herde vorhanden, wird von klinisch stummen Läsionen gesprochen. Eine räumliche und zeitliche Dissemination von Krankheitsherden ist zwar typisch für die MS, diese kann jedoch auch durch andere Erkrankungen verursacht werden. Daher wird in den Diagnosekriterien ausdrücklich betont, dass die Diagnose einer MS nicht gestellt werden darf, wenn die Symptome und pathologischen Befunde von einer anderen Erkrankung besser erklärt werden können. Neben Anamnese und klinisch-neurologischer Untersuchung werden eine Reihe von Zusatzuntersuchungen zur Diagnose einer Multiplen Sklerose durchgeführt:
Bildgebende Untersuchungen
In den mittels Magnetresonanztomografie (MRT) gewonnenen Schichtbildern des Gehirns und des Rückenmarks können entzündete und vernarbte Gewebebereiche dargestellt werden. Mithilfe eines gadoliniumhaltigen Kontrastmittels, wie beispielsweise Gadopentetat-Dimeglumin oder Gadotersäure, können akute Krankheitsherde nachgewiesen werden, da in ihrem Bereich im Unterschied zu intaktem Gewebe die Blut-Hirn-Schranke durchlässig für Kontrastmittel ist. Typisch für die MS sind periventrikulär (um die Seitenventrikel) gelegene Entzündungsherde im Marklager des Gehirns und sogenannte Balkenherde.
Die MRT-Untersuchung kann wesentlich zur Diagnose beitragen. Zwar ist nach den McDonald-Kriterien eine Diagnosestellung auch ohne MRT-Bildgebung möglich (bei zwei Schüben und objektivierbaren Funktionsausfällen in mindestens zwei neurologischen Systemen), bei vielen Patienten mit klinischem Erstereignis ist jedoch zur frühen Diagnosestellung eine MRT notwendig. Mit der MRT-Untersuchung können sowohl die räumliche als auch die zeitliche Dissemination der Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark nachgewiesen werden. Die McDonald-Kriterien geben genau an, wie viele Entzündungsherde in welcher Region des ZNS nachweisbar sein müssen, um hinsichtlich der räumlichen Streuung von einem positiven MRT-Befund sprechen zu können. Der Nachweis einer zeitlichen Dissemination mittels MRT gelingt nach der letzten Revision der McDonald-Kriterien jetzt auch bereits mit einer einmaligen MRT, sofern gleichzeitig frische und alte Läsionen zu erkennen sind, die bestimmte zusätzliche Kriterien erfüllen. Die Diagnose einer MS erfolgt üblicherweise nicht allein aufgrund bildgebender Befunde.
Laborchemische Untersuchungen
Blutuntersuchungen
Ein für die Multiple Sklerose spezifischer Biomarker im Blut ist nicht bekannt. Gängige Entzündungsparameter wie die Anzahl der weißen Blutkörperchen, die Blutsenkungsgeschwindigkeit oder das C-reaktive Protein sind bei der MS auch während eines Schubereignisses nicht zwangsläufig erhöht. Ob die Serumbestimmung von Antikörpern, die gegen das basische Myelinprotein (MBP) oder das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) gerichtet sind, zur Diagnosestellung beitragen kann, bleibt umstritten.
Liquordiagnostik
Im Liquor cerebrospinalis hingegen ergibt sich bei über 95 % der Patienten ein pathologischer Befund. Daher ist bei Krankheitsverdacht eine Lumbalpunktion empfehlenswert. Bei 50 % der Patienten findet sich eine leichte Vermehrung lymphozytärer Zellen im Liquor (lymphozytäre Pleozytose). Eine intrathekale Antikörpersynthese mit Nachweis oligoklonaler Banden (OKB) in der isoelektrischen Fokussierung als Hinweis auf einen chronisch-entzündlichen Prozess im zentralen Nervensystem ist bei über 95 % der Patienten nachweisbar. Die genaue Sensitivität des Tests ist allerdings abhängig vom untersuchenden Labor. Eine intrathekale Synthese von Antikörpern gegen Masern, Röteln und Varizella-Zoster-Viren (MRZ-Reaktion) findet sich bei 89 % der Patienten; eine sogenannte 'bi- oder trispezifische Reaktion', d. h. eine intrathekale Synthese von Antikörpern gegen mindestens zwei der drei genannten Erreger, findet sich bei ca. 67 % aller erwachsenen MS-Patienten. Für die bi- oder trispezifische MRZ-Reaktion wurde ein positives Wahrscheinlichkeitsverhältnis von 25,1 berichtet, d. h. ein positiver Befund erhöht die Prä-Test-Odds für die Diagnose MS um den genannten Faktor; die Spezifität wird mit 97,5 % angegeben. Die hier angeführten Befunde (lymphozytäre Pleozytose, OKB, MRZ-Reaktion) gelten als typisch für die MS, beweisen für sich alleine genommen das Vorliegen einer MS aber nicht.
Neurophysiologische Untersuchungen
Eine Verlängerung der Latenzzeiten bei der Untersuchung der evozierten Potentiale (insbesondere der visuell und somatosensorisch evozierten Potentiale) kann auf die durch die Demyelinisierung gestörte Erregungsleitung hinweisen. Bei fortgeschrittener Erkrankung kann, bedingt durch die axonale Schädigung, auch eine Reduktion der Amplitude auftreten.
Differenzialdiagnose
Die Differenzialdiagnose, also die Abgrenzung der MS gegenüber anderen Krankheitsbildern, umfasst eine Vielzahl von Erkrankungen. Neben Infektionskrankheiten (insbesondere die Neurosyphilis, die Neuroborreliose oder die HIV-Infektion) müssen auch andere chronisch-entzündliche Krankheiten (wie Kollagenosen, Vaskulitiden) ausgeschlossen werden. Auch andere entzündlich-demyelinisierende Erkrankungen (zum Beispiel die Neuromyelitis optica, die Tropische Spastische Paraparese oder die Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)) sind zu bedenken. Krankheiten des Stoffwechsels (wie Leukodystrophien) können ebenso zu ähnlichen Symptomen und insbesondere bildgebenden Befunden wie bei einer MS führen. Ein Mangel an Vitamin B12 kann im Rahmen einer Funikulären Myelose Symptome einer MS imitieren. Auch die Möglichkeit, dass den Beschwerden psychiatrische Erkrankungen zugrunde liegen, muss bedacht werden.
Die Diagnose „unklarer Schlaganfall“ bei jungen Patienten kann eine Verlegenheitsdiagnose sein, hier muss man differentialdiagnostisch auch an MS denken.
Obligate Laboruntersuchungen in der diagnostischen Phase umfassen C-reaktives Protein (CRP), großes Blutbild, Blutzucker, Vitamin-B12, Rheumafaktor, Antinukleärer Antikörper (ANA), Antiphospholipid-Antikörper, Lupus-Antikoagulans, Angiotensin-konvertierendes Enzym (ACE), Borrelienserologie und Urinstatus. Fakultativ werden bei klinisch möglicher Differenzialdiagnose durchgeführt: Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper (ANCA), Extractable Nuclear Antigens (ENA), HIV-Serologie, Humanes T-lymphotropes Virus 1- (HTLV-1)-Serologie, Treponema-Pallidum-Hämagglutinations-Assay (TPHA), langkettige Fettsäuren, Mykoplasmen-Serologie.
Therapie
Multiple Sklerose ist bislang nicht heilbar. Ziel aller therapeutischen Maßnahmen ist es, die Unabhängigkeit des Patienten im Alltag zu erhalten und die beste erreichbare Lebensqualität zu gewährleisten. Die bestehenden therapeutischen Möglichkeiten lassen sich in die Schubtherapie, die immunmodulierende Langzeittherapie und die Behandlung symptomatischer Beschwerden unterteilen. Ein Schwerpunkt liegt auch auf der Verhinderung von Komplikationen der MS, die beispielsweise infolge der Immobilität des Patienten auftreten können. Das Erreichen dieser Therapieziele setzt eine gute Zusammenarbeit von Patient, Pflegenden, Umfeld des Patienten, Neurologen, Hausarzt, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Vertretern weiterer Disziplinen voraus. Die Auswahl der therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt immer den individuellen Fall des Patienten.
Schubtherapie
Eine Schubtherapie ist bei funktioneller Beeinträchtigung des Patienten angezeigt. Bei rein sensiblen Schüben ist eine Schubtherapie meist nicht notwendig. Die Gabe von hochdosierten therapeutischen Glucocorticoiden kann während eines Schubes die Rückbildung von Symptomen initiieren und beschleunigen. Glucocorticoide wirken entzündungshemmend. Unter anderem vermindern sie die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, so dass weniger weiße Blutkörperchen in die Entzündungsherde im ZNS einwandern können. Es gibt bis heute keine studiengestützten Hinweise, dass therapeutische Glucocorticoide den Langzeitverlauf der Krankheit positiv beeinflussen.
Üblich ist die intravenöse Therapie mit 1000 mg Methylprednisolon über drei (bis fünf) Tage. Sind nach der ersten Pulstherapie die Auswirkungen eines Schubes nach mindestens zwei Wochen noch immer relevant, soll nach Empfehlung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft eine zweite Pulstherapie mit erhöhter Dosierung bis zu fünf Tage je 2000 mg stattfinden. Häufige Nebenwirkungen der Glucocorticoidtherapie sind Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. Da die Glucocorticoidgabe nur über eine kurze Zeit erfolgt, treten keine Nebenwirkungen auf, die für eine Langzeittherapie mit Glucocorticoiden typisch sind (beispielsweise Cushing-Syndrom).
Sollte auch die zweite Pulstherapie nicht befriedigend wirken, kann zur Beendigung eines akuten Schubes eine Plasmapherese erwogen werden. Die Anwendung der Plasmapherese wird hauptsächlich bei Schüben erwogen, die den Patienten funktionell stark beeinträchtigen (beispielsweise bei Lähmungen). Bei etwa 40 % der Patienten kann durch die Plasmapherese eine Besserung der Beschwerden erreicht werden. Ihre Durchführung bleibt spezialisierten Zentren vorbehalten, da als mögliche Komplikationen Störungen des Herz-Kreislauf-Systems und Infektionen auftreten, die in seltenen Fällen einen schwerwiegenden Verlauf nehmen können.
Verlaufsmodifizierende Therapie
Immunmodulation und Immunsuppression
Die Begriffe Immunmodulation und Immunsuppression werden in der Literatur nicht immer klar abgegrenzt. Immunmodulierende Therapien, die nicht immunsuppressiv wirken, sind Betainterferone und Glatirameracetat. Immunmodulierende Therapien, die immunsuppressiv wirken, sind Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Fumarsäuredimethylester, Natalizumab, Ocrelizumab und Teriflunomid (s. a. Leflunomid).
Zur Reservetherapie bei der Multiplen Sklerose kommen klassische Immunsuppressiva wie Azathioprin, Cyclophosphamid, Methotrexat und Mitoxantron in Frage. Ziel der Langzeittherapie mit diesen Substanzen ist es, neue neurologische Defizite zu verhindern und die Verschlechterung bestehender Defizite zu verzögern. Auf pathophysiologischer Ebene sollen die eingesetzten Wirkstoffe axonale Schäden verhindern, indem sie die Entzündungsreaktion im ZNS dämpfen. Die Immunsuppressiva erreichen dies, indem sie die Vermehrung von weißen Blutkörperchen hemmen. Die Wirkprinzipien der immunmodulierenden Substanzen sind vielfältig und nicht vollständig verstanden. Der Monoklonale Antikörper Natalizumab wurde gezielt als ein Wirkstoff entwickelt, der das Einwandern von weißen Blutkörperchen in das ZNS verhindern soll.
Medikamente, die immunsuppressiv wirken, können das Risiko für Infektionen (in seltenen Fällen auch schwerwiegende Infektionen wie PML sowie opportunistische Infektionen) und Krebserkrankungen erhöhen. Dies wurde bei MS-Therapien, die nicht immunsuppressiv wirken, bisher nicht gezeigt. Allgemein unterscheiden sich die verschiedenen MS-Medikamente ebenfalls in ihrem Sicherheitsprofil beim Einsatz während der Schwangerschaft.
Grundlage der Behandlung im deutschsprachigen Raum ist die Therapieempfehlung der „Deutschen Gesellschaft für Neurologie“, der führende Forscher und spezialisierte Ärzte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angehören. Die Wahl der Therapie richtet sich zunächst danach, ob es sich um eine schubförmig verlaufende oder primär progrediente Form (PPMS) resp. sekundär progrediente Form (SPMS) der Erkrankung handelt.
Als Zusatz zur Immuntherapie wird neuerdings die Gabe von kurzkettigen Fettsäuren diskutiert, die einen günstigeren Krankheitsverlauf bewirken soll.
Für Personen mit Autoimmunkrankheiten oder chronisch-entzündlichen Erkrankungen wird ein umfassender Impfschutz empfohlen. Im Idealfall sollte die Immunisierung vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie abgeschlossen sein. Die Beobachtung, dass Infektionskrankheiten (z. B. Influenza) bei Personen mit MS das Risiko für einen Schub erhöhen können, unterstreicht die Bedeutung eines umfassenden Impfschutzes.
Schubförmiger Verlauf (RRMS)
Grundsätzlich wird bei der RRMS eine frühestmögliche Therapie empfohlen, um bereits im Frühstadium der Erkrankung axonale Schäden zu begrenzen. Für diesen Ansatz spricht auch, dass die frühe Phase der MS meist durch eine besonders hohe entzündliche Aktivität im ZNS gekennzeichnet ist.
Basistherapie: Gleichberechtigte Therapeutika der ersten Wahl sind das Beta-Interferon-Präparate, Fumarsäuredimethylester, Glatirameracetat und Teriflunomid (in der Schweiz ebenfalls Fingolimod). Diese Therapien werden als Basistherapien bezeichnet – bei milden / moderaten Verlaufsformen. Kommt es unter einer dieser Therapien zu einem raschen Fortschreiten der neurologischen Defizite, kann auf eine andere Basistherapie oder eine Eskalationstherapie (Zweitlinientherapie) gewechselt werden.
Seit Herbst 2019 sind die Beta-Interferone (z. B. Rebif) auch zugelassen, wenn eine Schwangerschaft oder Kinderwunsch besteht. Wenn aus klinischer Sicht notwendig, muss die Therapie nicht wegen einer Schwangerschaft unterbrochen oder verschoben werden. Da keine gesundheitsschädlichen Auswirkungen für das Kind zu erwarten sind, ist Stillen uneingeschränkt unter Interferon beta möglich.
Eskalationstherapie: Wirkstoffe der 1. Wahl, die in der Eskalationstherapie eingesetzt werden, sind Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Natalizumab und Ocrelizumab. Wirkstoffe der 2. Wahl sind Mitoxantron und in seltenen Fällen Cyclophosphamid. Nicht für alle Präparate konnte in Meta-Analysen ein überzeugender Wirksamkeitsnachweis geführt werden.
Im August 2017 wurde Cladribin (Markenname: Mavenclad, Merck KGaA) in der EU – als orale Impulstherapie mit lang anhaltender Wirkung (Tabletten) – zur Behandlung der RMS (RRMS und SPMS) bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität zugelassen. Die Zulassung in den USA erfolgte im März 2019.
Nebenwirkungen: Die Therapie wird im Allgemeinen fortgeführt, solange ein positiver Effekt auf die Entwicklung der MS festzustellen ist und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auftreten. Deswegen wurde im März 2018 (das in der EU im Juli 2016 zugelassene) Daclizumab vom Markt genommen. Wenn Kontraindikationen gegen diese Mittel bestehen, können Azathioprin und intravenöse Immunglobuline als Mittel zum Einsatz kommen. Für Mitoxantron gibt es aufgrund schwerer dosisabhängiger Nebenwirkungen (Mitoxantron ist kardiotoxisch) eine begrenzte Lebensdosis, die etwa nach zwei bis fünf Jahren erreicht wird. Bei der Behandlung mit Beta-Interferonen und Natalizumab kann es zur Entstehung von neutralisierenden Antikörpern (nAb) kommen. Während ein möglicher Wirkverlust durch nAbs für die Beta-Interferone umstritten ist, scheinen nAbs die Wirksamkeit von Natalizumab tatsächlich zu verringern.
Eine schwerwiegende Nebenwirkung von Natalizumab und Fingolimod, für die die immunsuppressive Wirkung verantwortlich gemacht wird, ist die durch das JC-Virus ausgelöste progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Im November 2017 veröffentlichte der Hersteller von Fingolimod (Novartis) in einem so genannten Rote-Hand-Brief (RHB) zahlreiche kardiale Kontraindikationen, bei denen Fingolimod bzw. das Novartis-Produkt Gilenya nicht verordnet werden darf. Im September 2019 veröffentlichte Novartis einen weiteren RHB zu einer neuen Kontraindikation bei Anwendung während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die keine wirksame Verhütungsmethode anwenden.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) untersucht seit April 2019 mehrere Fälle von schweren, teilweise tödlichen Nebenwirkungen unter Alemtuzumab. Zwischenzeitlich wurden dazu auch seitens des pharmazeutischen Unternehmens (Sanofi Genzyme) verschiedene Rote-Hand-Briefe (RHB) für Alemtuzumab, u. a. im April 2019 und im Januar 2020 veröffentlicht.
Zu Cladribin-Tabletten gab es seit der Zulassung im September 2017 für die Behandlung der MS keinen Rote Hand-Brief. Auf dem weltweit größten jährlichen internationalen Kongress, der der Grundlagen- und klinischen Forschung bei Multipler Sklerose gewidmet ist, ECTRIMS, hieß es 2019, dass bis dahin keine relevanten Nebenwirkungen gefunden worden seien, auch sind keine PML-Fälle aufgetreten.
Die Beta-Interferon-Präparate und Glatirameracetat sind unter bestimmten Voraussetzungen auch zur Behandlung des Klinisch isolierten Syndroms (CIS) zugelassen.
Chronisch progrediente Verlaufsformen
Für die Behandlung der sekundär progredienten MS (SPMS) können das subkutan verabreichte Betainterferon 1a (bei vorhandener Schubaktivität) sowie Betainterferon 1b zum Einsatz kommen. Zudem kann der für diese Indikation seit 2002 zugelassene Arzneistoff Mitoxantron eingesetzt werden. Nach Erreichen der Höchstdosis von Mitoxantron und fortbestehender Krankheitsaktivität können Therapieversuche mit vierteljährlichen hochdosierten intravenösen Glucocorticoidstößen (üblicherweise Methylprednisolon) oder Cyclophosphamid versucht werden.
Zur Behandlung der primär chronisch-progredienten MS (PPMS), aber auch der schubförmigen MS, wurde im März 2017 durch die FDA in den USA Ocrelizumab zugelassen mit der Auflage, einige Phase-IV-Studien durchzuführen, sowie im September 2017 durch Swissmedic auch in der Schweiz. Die EU-Zulassung erfolgte im Januar 2018.
Hit-hard-and-early-Strategie
Da die Wirksamkeit der Basistherapie (s. o.) mit nur ca. 30–40 % Schubreduktion verbunden ist – im Vergleich zu den (hoch-)aktiven Therapien der Eskalationstherapie (s. o.) in Höhe von ca. 50–70 % Schubratenreduktion, setzt sich die so genannte Hit-hard-and-early-Strategie mehr und mehr durch: Experten empfehlen, gleich zu Beginn mit den Medikamenten der Eskalationstherapie zu beginnen.
Pipeline
Es befinden sich einige Substanzen in der klinischen Entwicklung (Phase III), z. B. die Brutontyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi) Evobrutinib von Merck und Tolebrutinib von Sanofi. Auch Biogen (Orelabrutinib), Novartis (Remibrutinib) und Roche (Fenebrutinib) haben einen BTKi in der Pipeline.
Evobrutinib (M2951) ist ein oraler, hochselektiver Hemmer der Brutontyrosinkinase (BTK) und befindet sich in der klinischen Entwicklung als potenzielle Behandlung für Multiple Sklerose (MS). Es ist der erste BTK-Inhibitor, der in der größten Phase-II-Studie mit einer Nachbeobachtungszeit von mehr als zwei Jahren klinische Wirksamkeit sowie eine Wirkung auf frühe Biomarker für chronische Entzündungen, die mit dem Fortschreiten der Krankheit korrelieren, gezeigt hat. Evobrutinib ist so konzipiert, dass er primäre B-Zell-Reaktionen wie Proliferation und Freisetzung von Antikörpern und Zytokinen ohne direkte Auswirkungen auf die T-Zellen hemmt. Evobrutinib befindet sich derzeit in der klinischen Prüfung und ist weltweit in keiner Indikation zugelassen.
Tolebrutinib (SAR442168) ist ein Bruton-Tyrosinkinase-Hemmer, der im Gehirn wirkt und Konzentrationen im Liquor erreicht, die für eine gezielte Wirkung auf B-Lymphozyten und Mikrogliazellen erforderlich sind, wodurch die Neuroinflammation moduliert wird. Tolebrutinib wird in klinischen Phase-3-Studien für die Behandlung von schubförmiger MS (RMS), nicht schubförmiger sekundär progredienter MS (nrSPMS) und primär progredienter MS (PPMS) untersucht, und seine Sicherheit und Wirksamkeit wurde bisher von keiner Zulassungsbehörde weltweit bestätigt. Im Juni 2022 hat die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA Sanofi aufgefordert, die Studien bei einigen Patienten in den Phase-3-Studien zu stoppen, nachdem Berichte über medikamentenbedingte Leberschäden bei einigen Probanden vorliegen. Der Stopp gilt für Studienteilnehmer, die das Arzneimittel seit weniger als 60 Tagen erhalten.
Ozanimod von Bristol-Myers Squibb ist seit Mai 2020 in der EU zugelassen. Siponimod von Novartis wurde ebenfalls zwischenzeitlich zugelassen.
Symptomatische Therapie
Im Verlauf der MS können viele Symptome zu einer Verminderung der Lebensqualität führen. Die jeweiligen Funktionsstörungen und ihr Ausmaß sind dabei bei jedem Patienten unterschiedlich ausgeprägt. Besonders häufig und einschränkend sind Gehbehinderung, Spastik, Schmerzen, Blasenfunktionsstörungen, Sprech- und Schluckstörungen, eine schnellere psychische und physische Ermüdbarkeit (Fatigue) sowie depressive Störungen.
Zur Behandlung dieser Symptome eignen sich neben Änderungen der Lebensführung physiotherapeutische, logopädische, ergotherapeutische, psychotherapeutische, medikamentöse und operative Maßnahmen, wie die Implantation eines Hirnschrittmachers. Besonders wichtig ist die Prophylaxe schwerwiegender Komplikationen wie Aspirationspneumonien, Lungenembolien, Thrombosen, Osteoporose, Dekubitalgeschwüren, Gelenkkontrakturen, Harnwegsinfektionen und der Exsikkose (Austrocknung). Diese Komplikationen sind mit für die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verminderte Lebenserwartung bei MS-Patienten verantwortlich.
Behandlung der Gehbehinderung
Wenn eine Multiple Sklerose weiter fortgeschritten ist, können die Betroffenen eine Gehbehinderung entwickeln, die durch Krankengymnastik und bestimmte, z. B. krampflösende Medikamente behandelt werden kann. Hat die Gehbehinderung einen bestimmten Schweregrad, kommt eine Behandlung mit Fampridin infrage. Fampridin ist (als Fampyra) in Deutschland seit 2011 für Patienten zugelassen, die als Folge einer multiplen Sklerose eine Gehbehinderung höheren Grades haben (Grad 4–7 auf der EDSS-Behinderungsskala). Fampridin ist ein Kaliumkanalblocker. Er wirkt auf geschädigte Nerven, wo er verhindert, dass geladene Kaliumteilchen aus den Nervenzellen entweichen. Es wird angenommen, dass dadurch die elektrischen Impulse weiter an den Nerven entlang wandern können, um die Muskeln zu stimulieren. Dadurch wird das Gehen erleichtert.
Die Gehbehinderung kann auch durch muskuläre oder kognitive Ermüdbarkeit, die Fatigue, mehr oder weniger stark ausgeprägt sein und je nach Ausprägung zu deutlichen Einschränkungen im Alltag führen. Mit der Zunahme muskulärer Defizite und der Abnahme der Gehfähigkeit steigt auch die Sturzgefahr. Therapiebegleitend kann zur Verbesserung der Gehfähigkeit und zur Erleichterung des Alltags eine Hilfsmittelversorgung mit Orthesen erfolgen. Mit Hilfe einer Orthese soll physiologisches Stehen und Gehen ermöglicht oder wieder erlernt werden. Zudem können Folgeerscheinungen durch ein falsches Gangbild verhindert werden und das Sturzrisiko wird verringert.
Zur Festlegung der notwendigen Funktionen einer Orthese werden im Rahmen der Befundung des Patienten die Kraftgrade der sechs großen Muskelgruppen des zu versorgenden Beins bestimmt. Dafür wird ein Muskelfunktionstest nach Vladimir Janda durchgeführt. Der Grad der Lähmung wird für jede Muskelgruppe auf einer Skala von 0 bis 5 angegeben, wobei der Wert 0 eine komplette Lähmung (0 %) und der Wert 5 eine normale Kraftentfaltung (100 %) angibt. Die Werte zwischen 0 und 5 geben eine prozentuale Reduzierung der Muskelfunktion an.
Bei einer Multiplen Sklerose muss beim Muskelfunktionstest die Fatigue berücksichtigt werden. Dieses erfolgt durch die Anwendung eines standardisierten Gehtests. Hierfür eignet sich der 6-Minuten-Gehtest. Durch diesen Gehtest wird die Ermüdung kontrolliert herbeigeführt. Der Muskelfunktionstest nach Vladimir Janda wird bei Multipler Sklerose doppelt in Kombination mit dem 6-Minuten-Gehtest in folgenden Schritten durchgeführt:
erster Muskelfunktionstest (ohne muskuläre Ermüdung)
6-Minuten Gehtest und direkt im Anschluss
zweiter Muskelfunktionstest (mit muskulärer Ermüdung)
Behandlung der Spastik
Spastische Tonuserhöhungen der Muskulatur kommen durch Herde in der Pyramidenbahn zustande. Sie können direkt Schmerzen oder ein Spannungsgefühl verursachen oder über Folgeerkrankungen wie Muskel- und Gelenkkontrakturen, Fehlstellungen und Immobilität zu Schmerzen führen. Eine Physiotherapie ist bei pathologischen Tonuserhöhungen immer geboten.
Mittels des Bobath-Konzepts lässt sich dabei die tonisch erhöhte Muskulatur inhibieren (hemmen) und detonisierte Muskulatur und Bewegungskoordination aktivieren bzw. fazilitieren (bahnen).
Medikamentös kann oral beispielsweise mit Baclofen oder Tizanidin behandelt werden. Umschriebene spastische Tonuserhöhungen können auch mit Injektionen von Botulinumtoxin behandelt werden. Eine weitere Option besteht in der Gabe von Baclofen oder Triamcinolon direkt in den Subarachnoidalraum im Bereich der Lendenwirbelsäule (intrathekale Applikation). Seit 2011 ist in Deutschland ein Präparat mit den Wirkstoffen Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol als Add-on-Therapie bei mittelschweren und schweren Formen der Spastik zugelassen.
Im Rahmen von „off-label use“ (also außerhalb des in der Zulassung genehmigten Gebrauchs) kann Gabapentin bei Spastik eingesetzt werden, wenn mit den dafür zugelassenen Substanzen bei angemessener Dosierung und Anwendungsdauer keine ausreichende Linderung erzielt werden konnte oder Unverträglichkeit vorliegt. Ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Verordnungsfähigkeit in nicht zugelassenem Anwendungsgebiet ist im März 2014 in Kraft getreten.
Schmerzbehandlung
Schmerzen können bei MS-Patienten vielfältige Ursachen haben. Die direkt durch Entzündungsherde verursachte Trigeminusneuralgie, die anfallsweise auftritt, kann medikamentös mit Carbamazepin, Gabapentin oder Pregabalin behandelt werden. Auch chronische Schmerzen meist der Extremitäten, die vermutlich durch Herde im Rückenmark entstehen, werden durch die MS selbst verursacht und können beispielsweise mit Amitriptylin behandelt werden. Schmerzen können auch indirekt durch Folgen der MS wie eine spastische Tonuserhöhung der Extremitäten oder Harnwegsinfekte verursacht sein. Die Therapie richtet sich in diesen Fällen nach der jeweiligen Ursache.
Behandlung von Blasenfunktionsstörungen
Blasenfunktionsstörungen manifestieren sich in Harnwegsinfekten, imperativem Harndrang, Pollakisurie und Inkontinenz. Den Störungen zugrunde liegen kann eine Speicherstörung, Entleerungsstörung oder eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie der Harnblase. Nach spezifischer urologischer Diagnostik kann eine entsprechende Therapie mit einer Einteilung der Flüssigkeitszufuhr, Beckenbodengymnastik, Katheterisierung und Medikamenten erfolgen. Harnwegsinfekte müssen antibiotisch behandelt werden. Exsikkosen, die dadurch entstehen, dass die Patienten weniger trinken, um die Blasenstörungen zu minimieren, müssen vermieden werden.
Behandlung von Sprech- und Schluckstörungen
Sprech- und Schluckstörungen können zu einer erheblichen Belastung der Patienten führen. Akut im Rahmen eines Schubes entstandene Störungen werden mittels der Schubtherapie behandelt. Bleiben die Beschwerden bestehen, kommen hauptsächlich logopädische Maßnahmen zum Einsatz. Bei ausgeprägten Schluckstörungen können auch eine parenterale Ernährung und die Anlage einer PEG notwendig werden. Ziele hierbei sind eine ausreichende Nahrungszufuhr und das Vermeiden von Aspirationspneumonien.
Behandlung der Fatigue und depressiver Störungen
Die Diagnosekriterien einer Fatigue und einer Depression enthalten ähnliche Elemente. Bei vielen Patienten liegt beides vor. Eine depressive Störung kann medikamentös mit Antidepressiva beispielsweise aus der Gruppe der sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) behandelt werden. Auch eine Psychotherapie kann dazu beitragen, sekundär aufgetretene depressive Störungen zu behandeln und Krankheitsfolgen besser zu bewältigen. Zur medikamentösen Behandlung des Fatigue-Syndroms können neben Antidepressiva auch Amantadin, Acetyl-L-Carnitin, Acetylsalicylsäure, und Modafinil eingesetzt werden. Die Wirksamkeit einiger dieser Präparate für diese Indikation ist jedoch nicht unumstritten.
Behandlung von Störungen der Sexualität
50 bis 90 % der MS-Patienten geben im Verlauf Störungen der Sexualität an, wobei Männer häufiger betroffen zu sein scheinen. Entzündliche Herde können unmittelbar organische Ursache der Störungen sein, indem sie zu Gefühlsstörungen im Genitalbereich führen oder Reflexbögen der Sexualfunktionen (beispielsweise für die Erektion) beeinträchtigen. Auch eine in der Folge der MS eingetretene Spastik der Oberschenkelmuskulatur der Beine oder der Muskulatur des Beckenbodens kann den Geschlechtsverkehr erschweren oder unmöglich machen. Eine verminderte Lubrikation kann zu Schmerzen beim Verkehr führen. Weiterhin können alle Einflüsse, die den Patienten aufgrund seiner Erkrankung in seinem sozialen, psychischen und existenziellen Gefüge betreffen, zu Störungen der Sexualität führen. So kann eine Fatigue oder eine depressive Episode mit einem Libidoverlust einhergehen. Soziale Konflikte, Isolierung und Scham können ebenso die Sexualität beeinträchtigen. Ziel der therapeutischen Sexualberatung ist es, den Patienten (und seinen Partner) über mögliche Gründe der Störungen aufzuklären und mögliche Lösungen im Gespräch zu entwickeln und aufzuzeigen. Organische Ursachen können durch eine Optimierung der entsprechenden symptomatischen Therapie behandelt werden. Erektionsstörungen können – sofern sie nicht hauptsächlich psychischer Genese sind – mit Phosphodiesterasehemmern wie Sildenafil, Tadalafil oder Vardenafil behandelt werden. Weiterhin können Hilfsmittel wie Gleitmittel bei geringer Lubrikation und Vibratoren zur sexuellen Stimulation benutzt werden. Zudem können viele Medikamente, die im Rahmen der symptomatischen Therapie eingesetzt werden, zu Libidoverlust und sexuellen Funktionsstörungen führen.
Ernährung
Eine Meta-Analyse durch Cochrane ergab keinen Hinweis auf einen wesentlichen Effekt von erhöhtem Konsum mehrfach ungesättigter Fettsäuren (z.B. Omega-6-Fettsäuren wie Linolsäure oder Omega-3-Fettsäuren) auf den Krankheitsverlauf.
2017 hat ein weiteres Cochrane-Review keinen überzeugenden Nutzen einer Vitamin-D-Supplementation gefunden.
Therapien außerhalb der evidenzbasierten Medizin
Viele MS-Patienten nehmen neben oder anstelle der evidenzbasierten medizinischen Therapie komplementär- oder alternativmedizinische Behandlungen in Anspruch. Der Gebrauch unkonventioneller Therapien ist häufiger bei Patienten anzutreffen, die stärker durch die MS eingeschränkt sind. Es besteht eine sehr große Zahl von Angeboten (wie beispielsweise spezielle Diäten, Akupunktur, Homöopathie). Für keines der unkonventionellen Therapieangebote ist ein belastbarer Wirksamkeitsbeleg erbracht worden.
Ausblick
Neben den für die Behandlung der Multiplen Sklerose in Deutschland zugelassenen Medikamenten (Interferon beta-1b, Interferon beta-1a s.c., Interferon beta-1a i.m., Fumarsäuredimethylester, Glatirameracetat, Mitoxantron, Azathioprin, Fingolimod, Natalizumab, Alemtuzumab und Teriflunomid) gibt es eine Vielzahl von Wirkstoffen, die sich in verschiedenen Phasen der Prüfung befinden. In Deutschland werden derzeit (Stand 2019) für mindestens 25 laufende klinische Studien Patienten rekrutiert.
Einen wichtigen Schwerpunkt der klinischen Forschung stellt die Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Wirkstoffen dar, die ein Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden. Andere Studien zielen darauf ab, den Anwendungskomfort durch längere Anwendungsintervalle oder eine orale Verabreichung zu erhöhen.
Die Wirksamkeit und Sicherheit aggressiverer Behandlungsformen, die darauf abzielen, das gestörte Immunsystem zu eliminieren, um dann (durch entweder im Knochenmark verbliebene Stammzellen oder durch Reinfusion autologer Stammzellen) ein neues, tolerantes Immunsystem zu etablieren, bleibt im Rahmen randomisierter klinischer Studien zu klären, wird aber sicherlich wenigen spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben. Laut einer am Ottawa Hospital Research Institute durchgeführten klinischen Studie konnte die Autoimmunreaktion durch ein Verfahren der Reinfusion autologer Stammzellen für bislang bis zu 13 Jahre gestoppt werden.
Einen noch experimentellen Ansatz stellen Versuche dar, durch den Einsatz von Wachstumsfaktoren oder eine Modulation von Stammzellen Remyelinisierung und Regeneration zu fördern.
Eine Studie aus Rom konnte zeigen, dass die Tuberkulose-Impfung BCG im Anfangsstadium die Entwicklung von neuen Läsionen verhindern und den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann. Noch sind aber zu wenig Daten vorhanden, um die BCG-Impfung für alle MS-Patienten zu empfehlen.
Wie bei anderen neurodegenerativen Krankheiten sind auch bei Multipler Sklerose Behandlungsansätze mit Stammzellen in der Erprobung. Das Interesse an beispielsweise mesenchymalen Stammzellen gründet auf folgenden Eigenschaften und Funktionen dieser Zellen: 1.) Sie wirken immunmodulierend und immunsuppressiv. 2.) Sie unterstützen die Wiederherstellung der Myelinscheide durch Ernährung der Oligodendrozyten. 3.) Über biochemische Reaktionen sind sie in der Lage, Nervengewebe zu schützen (Neuroprotektion).
Prognose
Bislang ist es zu Beginn der Erkrankung kaum möglich, eine Prognose über den weiteren Verlauf zu stellen, was die betroffenen Patienten belastet. In den letzten Jahren wurden einige epidemiologische Studien zur Prognose der Multiplen Sklerose veröffentlicht. Die Ergebnisse waren überwiegend positiv und zeigten, dass die Erkrankung nicht selten weniger schwer als allgemein angenommen verläuft. Basierend auf den Krankheitsverläufen von 1059 Patienten ist von einer Münchener Arbeitsgruppe ein webbasiertes Computerprogramm zur Bestimmung des individuellen Risikoprofils anhand von Krankheitsverlauf, Expanded Disability Status Scale, Erkrankungsdauer, Schubfrequenz und Alter entwickelt worden.
Sonstiges
Schwangerschaft und Stillzeit
Grundsätzlich ist eine Schwangerschaft bei Diagnose MS möglich. Die MS scheint die Fruchtbarkeit bei Frau und Mann nicht zu beeinflussen.
Eine Schwangerschaft fördert das Fortschreiten der MS vermutlich nicht. Im Gegenteil: Während der Schwangerschaft nimmt die Schubrate meist kontinuierlich ab. Nach der Geburt steigt das Risiko für MS-Schübe aber wieder an. Langfristig wird die Schubrate sich wieder auf dem gleichen Niveau einpendeln, das vor der Schwangerschaft bestand.
Sollte ein Schub auftreten, besteht die Möglichkeit, hochdosiert Kortison zu geben.
MS ist keine „klassische“ Erbkrankheit – die Veranlagung an MS zu erkranken, kann allerdings vererbt werden. Laut Studien bedeutet das: Das Risiko für ein Kind, selbst an MS zu erkranken, bei einem Elternteil mit MS beträgt 2 %. Dieses liegt damit höher als bei nicht MS-betroffenen Eltern (0,1–0,2 %). Wenn beide Elternteile MS haben, steigt das Risiko für das Kind auf 20 % an.
Familienplanung
Die in der folgenden Tabelle verwendeten Informationen stammen aus den offiziellen Berichten der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), die für die Zulassung, Bewertung und Überwachung aller Arzneimittel in Europa verantwortlich ist.
Stammzellspende, Organtransplantation, Blutspende
MS ist (ebenso wie eine Reihe weiterer Erkrankungen) ein Ausschlusskriterium für eine Stammzellspende. Menschen mit einer MS können in der Regel keine Organe spenden. Obwohl die Blutspende eines MS-Patienten wahrscheinlich weder für den Spender noch für den Empfänger mit einem nennenswerten Risiko verbunden ist, rät der ärztliche Beirat der DMSG auch in diesem Punkt grundsätzlich ab. Viele Menschen mit MS werden langfristig mit immunsuppressiven oder immunmodulierenden Medikamenten behandelt und kommen daher ohnehin nicht als Blutspender in Betracht.
Welt-Multiple-Sklerose-Tag
Seit 2009 wird jeweils am letzten Mittwoch im Mai der Welt-Multiple-Sklerose-Tag (World MS Day) begangen. Viele MS-Vereine und Selbsthilfegruppen, in Deutschland allen voran die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft e. V. (DMSG), machen an diesem Tag Aktionsveranstaltungen, um über Multiple Sklerose und ihre Auswirkungen zu informieren sowie um Verständnis für die Belange von Menschen mit MS zu wecken. Anlässlich des ersten Welt-MS-Tags hat die Internationale MS Vereinigung MSIF gemeinsam mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung einen Awareness-Film namens Beautiful Day gedreht. Die Rockband U2 hat dafür ihren gleichnamigen Song zur Verfügung gestellt. Der Film wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat international eine hohe Aufmerksamkeit für die Erkrankung erzielen können.
Literatur
Alastair Compston: McAlpine’s Multiple Sclerosis. Churchill Livingstone, Oxford 2005, ISBN 0-443-07271-X.
Ralf Gold, Peter Rieckmann: Pathogenese und Therapie der Multiplen Sklerose. Uni-Med, Bremen 2004, ISBN 3-89599-785-4.
Volker Limmroth, Eckhart Sindern: Multiple Sklerose. Thieme, Stuttgart 2004, ISBN 3-13-133281-6.
Rudolf M. Schmidt, Frank Hoffmann: Multiple Sklerose. Urban & Fischer, München 2006, ISBN 3-437-22081-0.
Heinz Wiendl, Robert Weißert, Volker Limmroth, Reinhard Hohlfeld: Multiple Sklerose und andere demyelinisierende Erkrankungen. In: Thomas Brandt, Johannes Dichgans, Hans-Christoph Diener (Hrsg.): Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 5. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17-019074-0, S. 654 ff.
Weblinks
Veröffentlichungen des Magazins MS in Focus kostenlos zum Herunterladen
www.dmsg.de: Was ist MS?
Dachorganisationen
MS International Federation
Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft
Website der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft
MS-Gesellschaft Wien, publiziert ein Stichwortverzeichnis für Laien
Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose
Leitlinien und Grundsätze
Einzelnachweise
Autoimmunerkrankung
Neurodegenerative Erkrankung
Rückenmark |
4510423 | https://de.wikipedia.org/wiki/Busmannkapelle | Busmannkapelle | Die Busmannkapelle war eine Seitenkapelle der Sophienkirche in Dresden, die um 1400 angebaut wurde. Zu dieser Zeit war die spätere Sophienkirche noch Teil des Dresdner Franziskanerklosters. Die angesehene Patrizierfamilie Busmann stiftete den Anbau als Familien- und Begräbniskapelle. Der bildhauerische Schmuck der Kapelle war der früheste, der in Dresden nachgewiesen ist. Die Büsten der Stifter auf Konsolsteinen sind die ersten überlieferten bildlichen Darstellungen Dresdner Bürger.
Die Busmannkapelle wurde wie die Kirche bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 zerstört. Ab 1994 existierten Pläne, die Kapelle in moderner Form am ursprünglichen Standort zu rekonstruieren und sie als Erinnerungsort an die zerstörte Sophienkirche zu nutzen. Die Bauarbeiten für die Gedenkstätte Busmannkapelle begannen 2009 und waren 2020 beendet. Im Oktober 2020 wurde die Gedenkstätte unter dem Namen DenkRaum Sophienkirche feierlich eröffnet.
Die Stifterfamilie Busmann
Die Kapelle der Familie Busmann an der Südostseite der Kirche, die sogenannte Busmannkapelle, wurde von Lorenz Busmann und seiner Frau gestiftet. Die Familie Busmann war im 14. und 15. Jahrhundert eine der bedeutendsten und außerordentlich wohlhabenden Patrizierfamilien Dresdens. Lorenz Busmanns Name erscheint erstmals 1362 in einer Urkunde; hier wird er als „Ehrbar Mann“ bezeichnet. Busmann war 1387 in den Rat der Stadt eingetreten und insgesamt viermal (1392, 1400, 1403, 1406) Bürgermeister von Dresden. In der etwa einen Quadratkilometer großen Stadt lebten zu der Zeit knapp 4000 Menschen. Mit der sich entwickelnden Warenproduktion und dem Handel bildeten sich stärkere Klassenunterschiede heraus: von Tagelöhnern über ärmere Handwerker bis hin zu wohlhabenden Bürgern/Patriziern und Adeligen. In den Spätmittelalterlichen Stadtbüchern von Altendresden (Band I beginnt 1404 und Band VIII endet um 1550) findet man wenig Eintragungen zu geschichtlichen Fakten. Schließlich sind es Rechnungs- und Amtsbücher. Hier wird Lorencz Bousmann als Bürgermeister erwähnt.
Im Mittelalter entstanden vielerorts geistliche Bruderschaften des Bürgertums, der Handwerker und Zünfte, die oft von einer Ordensgemeinschaft initiiert waren, an der Spiritualität des Ordens ausgerichtet waren und von den Ordensleuten – wie hier den Franziskanern an der Klosterkirche seelsorglich betreut wurden. Bruderschaften verstanden sich als Gebetsgemeinschaft, nahmen an gemeinsamen Messfeiern, Prozessionen und Gottesdiensten teil und leisteten untereinander und gegenüber Hilfsbedürftigen Beistand. Die Mitglieder legten aber keine Ordensgelübde ab. Nach ihrem Tod war auch in Dresden eine Bestattung auf dem Friedhof des Franziskanerklosters erstrebenswert; viele ließen sich in der grauen Kutte eines Franziskaners beisetzen, wie Ausgrabungen bewiesen. Die Nähe zur Gebetsgemeinschaft der Franziskanerbrüder versprach nach damaligen Glaubensvorstellungen „eine schnellere Rettung aus dem Fegefeuer“. Wohlhabende Vertreter der Oberschicht zeigten dabei mehr Prunk: das Begräbnis in einer Kapelle. Voraussetzung dafür war aber eine großzügige Stiftung zu Lebzeiten an das Kloster, wie es bei dem Ehepaar Busman auch geschah, die mit ihrer Familie einer Bruderschaft beim Franbziskanerkloster angehörten.
Das Todesdatum von Lorenz Busmann ist unsicher, es liegt zwischen 1406 und Anfang 1407. Die Familie lebte in der Webergasse und hinterließ fünf Söhne.
Ein weiterer Lorenz Busmann der 3. Generation verstarb 1440 und wurde in der Busmannkapelle beigesetzt, ebenso wie die Gattin Elisabeth eines Johannes Busmanns 1478. Weitere bekannte Familienmitglieder sind Heinrich Busmann, der dem Herzog Albrecht 1476 in das gelobte Land folgte und auf der Reise verstarb sowie Martin Busmann, der das Franziskanerkloster noch 1486 unterstützte.
Geschichte
Bereits 1351 war eine neue Klosterkirche für das 1272 erstmals erwähnte Franziskanerkloster in Dresden erbaut worden. Am Südchor der zweischiffigen Saalkirche schuf ein unbekannter Baumeister vermutlich zwischen 1398 und 1406 die Busmannkapelle. Sie diente der Familie Busmann als Kapelle und Begräbnisstätte. Bis 1552 hatte die Kapelle einen Altar mit einer Darstellung des Heiligen Grabes.
Nach der Reformation wurde das Kloster profaniert und unter anderem als Zeughaus und Lagerstätte für Nahrungsmittel genutzt. Nachdem die Sophienkirche wieder als Gotteshaus geweiht worden war, richtete man die Kapelle um 1600 als Eingangshalle ein. Um 1720 erhielt die Sophienkirche eine neue Silbermann-Orgel, die ihren Platz auf der Empore über dem Südchor fand. In dieser Zeit wurde auf halber Höhe der Fenster der Busmannkapelle eine Decke eingezogen und der so entstandene Oberraum als Bälgekammer für die Orgel genutzt.
Wahrscheinlich bereits um 1720, sicher aber ab 1737 diente die Kapelle dem Oberhofprediger als Sakristei – die Sophienkirche erhielt 1737 den Status einer evangelischen Hofkirche. In der Kapelle fanden ab dem 17. September 1737 Privatkommunionen statt. Dafür bekam sie einen Zugang durch die Südwand der Sophienkirche. Aus der 1737 aufgelösten Schlosskapelle erhielt die Busmannkapelle den Altar von Wolf Caspar von Klengel sowie einen Taufstein von Hans Walther II.
Es ist umstritten, ob die Kapelle tatsächlich, wie in einem Grundriss vor 1864 sichtbar, von 1737 bis 1864 mit einer Wand unterteilt war: „In den barocken Grundrissen ist diese Trennwand vorgesehen und nach den Plänen von Cornelius Gurlitt auch eingezogen worden“. In der zeitgenössischen Literatur wird die Trennwand hingegen nicht erwähnt.
Bereits 1824 wurde die Kapelle neu ausgemalt und mit Stuck im Stil der Neogotik versehen. Im Jahr 1864 erfolgte der große Umbau der Sophienkirche unter Christian Friedrich Arnold. Die Kapelle erhielt Maßwerkfenster und die Orgel der Sophienkirche bekam ihren neuen Platz an der nördlichen Westempore, sodass die 1737 eingezogene Decke der Kapelle entfernt werden konnte. Die Busmannkapelle war nun wieder einräumig. An der Westwand errichtete man auf den Pfosten der Bälgekammer eine Empore, die „von einer im Seitengang zu den Emporen führenden Treppe aus“ begehbar war. Gleichzeitig wurde der Eingang zur Kapelle verlegt. War zuvor ein direkter Zugang von außen möglich, konnte die Kapelle nun nur noch über den in der Südwand befindlichen und verbreiterten Zugang von 1737 und einen Eingang von den neu geschaffenen Gängen des Seitenschiffs von 1864 betreten werden. Der Holzfußboden der Kapelle wurde durch Steinplatten ersetzt und die Kapelle neu gestrichen. Im Jahr 1875 besserte Arnold die Rippengewölbe aus und ergänzte Maßwerk und Gewände der Fenster. Von 1875 bis 1910 war in der Kapelle das Nosseni-Epitaph aufgestellt.
Bei der Renovierung der Sophienkirche im Jahr 1910 wurde unter der Busmannkapelle eine neue zweiräumige Krypta angelegt, die die alte Krypta der Kirche unter dem Altarbereich ersetzte. Dabei fand man in 4,5 Metern Tiefe Grüfte, in denen sich neben Knochenresten auch Frauentrachten des 15. Jahrhunderts sowie Kutten der Franziskaner erhalten hatten. Da in der Kapelle wahrscheinlich ausschließlich Mitglieder der Familie Busmann ihre letzte Ruhestätte fanden, sind die Kleiderfunde der Familie Busmann zuzuordnen. Die Bestattung männlicher Familienmitglieder im Habit der Franziskaner zeigt, dass zahlreiche Mitglieder der Familie als Tertiaren oder Mitglieder einer beim Kloster bestehenden Bruderschaft eng mit dem Kloster verbunden waren. Die neue Krypta wurde von Hans Erlwein entworfen und durch Paul Rößler ausgemalt. Sie war nur von der Busmannkapelle aus begehbar und enthielt unter anderem die kunstvollen Särge der Wettiner.
Im Februar 1945 brannte die Busmannkapelle wie der Rest der Kirche aus. Die Gewölbe stürzten 1946 zusammen. Einige Architekturfragmente der Kapelle konnten geborgen werden, bevor die Busmannkapelle wie der Rest der Kirche von 1962 bis 1963 abgetragen wurde.
Raumbeschreibung
Die Busmannkapelle war ein hoher, fünf Meter breiter und acht Meter langer Raum. Sie besaß ein sechsteiliges Sterngewölbe, das bei der Überwölbung der Kirche in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden war. „Das Netzwerk des Gewölbes ist namentlich gen Osten von origineller Lösung, feingliederig und an den Kreuzungen mit kleinen runden Schlusssteinen versehen“. Der Kapelleninnenraum war mit Stuck im Stil der Neogotik ausgeschmückt.
Im Osten befand sich eine kleine, aus einem unregelmäßigen Achteck gebildete Choranlage. „Sechs Strebepfeiler wirkten dem Schub des mit einem abgewalmten Satteldach bedeckten Gewölbes entgegen.“ Zwischen den Pfeilern lagen fünf hohe Spitzbogenfenster.
In den Chorecken befanden sich Runddienste, die die Wände gliederten und sich aus den Kehlungen der Fenstergewände entwickelten. Von den Runddiensten wiederum gingen die Rippen des Gewölbes aus. Auf halber Höhe der Dienste waren gestaltete Konsolsteine angebracht. Die Konsolbüsten von Bürgermeister Lorenz Busmann und seiner Frau flankierten dabei den vor dem zweiten Fenster aus östlicher Richtung aufgestellten Altar. Vor dem Altar waren in mehreren Reihen Stühle aufgestellt, in deren Mitte der Taufstein stand.
Auf der Westseite der Kapelle befanden sich auf halber Fensterhöhe „vier sehr eigenartige […], in Stein eine Holzconstruction nachahmende […] Stützen“, die Pfosten des früheren Bälgekammerbodens. Die Stützen nutzte man um 1864 für eine eingebaute, balkonartige Empore, die eine Balustrade mit gotischem Maßwerk trug.
Im Jahr 1824 wurden die Butzenscheiben der Kapelle durch breitere Fensterscheiben ersetzt. Während des Umbaus unter Arnold 1864 erhielt die Kapelle Maßwerkfenster, wobei vier Fenster zweibahnig und das südlichste dreibahnig ausgeführt wurden. Das Maßwerk wurde zwar 1875 ausgebessert, doch merkte Cornelius Gurlitt bereits um 1900 an, dass die Maßwerkfenster nicht mehr erhalten seien.
Der Eingang zur Kapelle erfolgte bis 1864 durch ein Rundbogenportal im Südwesten der Kapelle, über dem sich ein kleines Fenster befand. Während der Umbauten ab 1864 wurde das Portal vermauert. Der Zugang zur Kapelle erfolgte seitdem über einen großen Durchgang vom Kirchenschiff und einen kleineren von den 1864 geschaffenen seitenschiffartigen Gängen.
Ausstattung
Der bildhauerische Schmuck der Kapelle ist der früheste, der in Dresden nachgewiesen ist. Es handelte sich nachweisbar um den bis 1552 in der Kapelle befindlichen Altar mit der Darstellung des Heiligen Grabes, die Figur einer knienden Frauengestalt und verschiedenartig gestaltete Konsolsteine. Während der Altar und die Frauenfigur 1945 zerstört wurden, haben sich vier Konsolsteine erhalten. Fritz Löffler bezeichnete den Altar und die Konsolbüsten als „die frühesten Bildwerke von Bedeutung, die Dresden aufzuweisen hat“. Weitere Einrichtungsgegenstände, wie ein Nachfolgealtar und der Taufstein, stammten aus der alten Schlosskapelle.
Altar
Altar mit dem Heiligen Grab
Das Alter und der Künstler des ersten Altars der Busmannkapelle sind nicht bekannt. Die Entstehungszeit wird auf Anfang des 15. Jahrhunderts geschätzt. Während Albert von Eye in der Skulpturengruppe einen Nachklang der älteren sächsischen Bildhauerkunst vermutete, sah Gurlitt eine Parallele zur schwäbisch-böhmischen Schule und eine innere Verwandtschaft mit dem Heiligen Grab in Schwäbisch Gmünd aus dem Jahr 1410 als gegeben an.
Nach der Säkularisation des Franziskanerklosters und damit der Kirche ging der Altar im Jahr 1552 aus der Busmannkapelle in den Besitz des Bartholomäus-Hospitals über und wurde in der Hospitalkirche St.-Bartholomäus aufgestellt. Als das Hospital 1839 abgebrochen wurde, gelangte das Stück in den Besitz des Königlich Sächsischen Altertumsvereins, der es im Palais im Großen Garten einlagerte. Hier wurde der Altar, von dem sich bereits um 1900 nur Teile erhalten hatten, bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 zerstört.
Der Altar war aus Sandstein gefertigt und bestand aus einem Altartisch mit der Darstellung des Heiligen Grabes auf einer Sockelplatte und einem Aufsatz. Ohne Platte war der Altartisch 105 Zentimeter hoch, 173 Zentimeter breit und 126 Zentimeter tief.
Heiliges Grab
Vier rechteckige Pfeiler trugen eine kräftig profilierte Platte, die am unteren Profil ein Spitzenrundbogenfries hatte. Die Bogen hatten Nasen und endeten in Lilien. Die eigentliche Tumba, auf der Jesus lag, schmückte ein Maßwerkfries. Zwischen den Steinpfeilern an den Schmalseiten und vor dem Grab standen insgesamt vier Wächter.
Der Körper Jesu war 118 Zentimeter lang. Sein Kopf – das Gesicht mit eingefallenen Wangen und geschlossenen Augen – lag auf einem Kissen und die Hände waren auf dem Oberkörper gekreuzt. Die einzige Bekleidung der Figur stellte ein Lendenschurz dar. Gurlitt bezeichnete die Jesusfigur als eine der „edelsten Schöpfungen deutscher Plastik“. Die Figur war teilweise farbig gehalten, so waren die Locken Jesu schwarz bemalt und die Brustwunde zeigte noch um 1900 Spuren roter Farbe.
Hinter Jesus befanden sich drei 63 Zentimeter hohe Frauendarstellungen, die Kopftücher und weite Mäntel trugen. Alle drei hielten Salbbüchsen in der Hand. Zu Kopf und zu Füßen der Jesusfigur stand an den Schmalseiten je ein Engel mit langen Flügeln, der ein Weihrauchbecken schwang.
Möglicherweise ebenfalls zum Grab gehörte eine bis 1945 erhalten gebliebene kniende Frauengestalt, die 72 Zentimeter hoch war. Gurlitt sah in ihr eine Stifterfigur, die ursprünglich links neben dem Grab aufgestellt worden war und deren männliches Pendant bereits um 1900 verloren gegangen war. Otto Wanckel bezeichnete sie als Magdalenengestalt, die zu einer Kreuzigungsgruppe über dem Heiligen Grab gehörte; eine Deutung, die Fritz Löffler als „die wahrscheinlichere“ bezeichnete.
Predella
Auch die 35 Zentimeter hohe Predella des darauf stehenden Altaraufsatzes hatte sich um 1900 erhalten und besaß seitlich das Wappen der Familie Busmann. Die Predella war mit Tempera bemalt und zeigte eine Heilandsfigur sowie zu dessen Seite je sechs Apostel. Die Figuren besaßen unverhältnismäßig große Köpfe und unbeholfen oval dargestellte Heiligenscheine, sodass das Werk als die Arbeit eines „handwerksmäßigen Künstlers“ eingeordnet wurde. Der um 1900 darüber stehende Schrein gehörte nicht zum ursprünglichen Altar, sondern stammte nach Gurlitt möglicherweise von der Dreikönigskirche.
Altar der Schlosskapelle
Im Jahr 1737 bzw. 1738 erhielt die Busmannkapelle den Altar der säkularisierten Schlosskapelle. Er stammt aus dem Jahr 1662 und „ist wohl zweifellos ein Werk des Oberbaumeisters Wolf Caspar Klengel“. Klengel hatte 1659 untersucht, welche sächsischen Edelsteine noch vorhanden und welche Marmorbrüche noch ergiebig sind. Die Bestrebungen Kurfürst Friedrich Augusts I., vermehrt einheimische Gesteine zu verwenden, zeigte sich am Altar, dessen Hauptschmuck verschiedene sächsische Gesteinsarten waren. Eine Ausnahme bildeten die vier Säulenschäfte aus grünem Gestein. Sie wurden der Legende nach aus einem Marmorblock gehauen, den Herzog Albrecht 1476 aus dem Heiligen Land mit nach Sachsen gebracht hatte und der ihm dort als ein Rest des Tempels zu Jerusalem geschenkt worden war.
Der Altartisch hatte eine Platte aus rotem, weißgeadertem Marmor, die von schweren Pilastern aus schwarzem Marmor getragen wurde. Zwischen den Pilastern befand sich eine Bogenarchitektur aus Serpentin und Felder aus rotem Marmor.
Der Altaraufsatz hatte auf Postamenten aus rotem Gestein je zwei Säulen. Deren Basis war aus rotem Kalkstein, ein mit Blattwerk verziertes Zwischenglied aus Alabaster aus Weißensee und die 97 Zentimeter hohen Schäfte aus grüner, möglicherweise Jerusalemer Brekzie. Darüber befanden sich Kompositkapitelle, die ebenfalls aus Weißenseer Alabaster geschaffen waren. Ein stark verkröpftes Gebälk aus Crottendorfer Marmor schloss den Altar in einem Rundbogen ab. Zwischen den Säulen befand sich eine einfache, leere Platte aus rotem Gestein, vor der später ein Kruzifix stand.
Nach der Bombardierung Dresdens wurde der Altar bereits nach Kriegsende 1945 vermessen und der zu dem Zeitpunkt vermutlich weitgehend unbeschädigte Aufbau des Altars geborgen. Altartisch und Mensa verblieben in der Busmannkapelle, wo sie beim Einsturz der Gewölbe erheblich beschädigt wurden. Sie sind heute nicht mehr erhalten. Das Kruzifix konnte geborgen werden, allerdings ist sein derzeitiger Standort unbekannt.
Der Altaraufbau wurde vermutlich bei Umlagerungen beschädigt. Seine Überreste lagern derzeit im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Erhalten sind neben den vier Säulen die Zwischenglieder und Kompositkapitelle aus Alabaster, weite Teile des verkröpften Gebälks und einzelne Ab- und Anschlussplatten. Nicht erhalten haben sich die Postamente und die zwischen den Säulen befindliche Platte. Es wird vermutet, dass sie, entgegen den Angaben Cornelius Gurlitts, nicht aus rotem Marmor bestand. Die Fläche der Platte wäre zum einen ungewöhnlich groß gewesen. Zum anderen lassen fehlende Überreste im Gegensatz zum sonst weitgehend erhaltenen Aufbau darauf schließen, dass die Platte nur gemauert und verputzt gewesen ist bzw. eine Marmorierung aufgemalt wurde. Der Altar soll auf Grundlage der 1945 vorgenommenen Vermessungen rekonstruiert und anschließend in der derzeit entstehenden neuen Schlosskapelle aufgestellt werden.
Taufstein
Im Jahr 1737 bekam die Busmannkapelle den Taufstein der im selben Jahr säkularisierten Schlosskapelle. Es handelte sich um ein Werk aus Sandstein von Hans Walther II aus dem Jahr 1558. Der Taufstein wurde 1602 mit farbigen Steinen, unter anderem Jaspis, verschiedenen Marmorsorten und Serpentin verziert und erhielt möglicherweise erst zu der Zeit den Säulenschmuck auf dem Kelch. Der Taufstein soll im Jahr 1606 erneut verändert worden sein. Er wurde bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 schwer beschädigt. Die Rekonstruktion des Taufsteins aus zahlreichen erhaltenen Fragmenten erfolgte 1988 und 1989 durch die Dresdner Bildhauerwerkstatt Hempel und das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Der fragmentarisch erhaltene Taufstein befindet sich heute im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen in Dresden.
Der Taufstein ist 115 Zentimeter hoch und hat einen maximalen Durchmesser von 88 Zentimetern. Der Fuß wird durch vier Pilaster geteilt, die mit Bögen verbunden sind. In den Bögen befinden sich Putten in Trauerkleidung. Den Bauch des kelchartigen Taufsteins gliedern vier Doppelhermen, zwischen denen sich Blumengirlanden mit Putten und Vögeln befinden. Darüber liegt eine durchgehende Reihe mit Diamantquadern in unterschiedlichen Marmorarten.
Den Kelch gliedern viermal zwei ionische Säulen, zwischen denen sich sowohl Nischen in Serpentin als auch vier vergoldete Alabasterreliefs befanden. Sie zeigten die Sintflut mit der Arche Noah, den Gang durch das Rote Meer, die Taufe Jesu und die Kindersegnung. Während das Taufbecken aus rotem Marmor geschaffen ist, war der Taufdeckel mit Löwenfratzen, Rankenwerk und Mäanderrand aus Holz verziert. Der Taufdeckel, der als mittigen Abschluss vergoldet das ruhende Lamm Gottes besaß, ist nicht erhalten. Gurlitt sah Fuß, Relief und Taufdeckel als Werk Walthers an, während er die anderen Teile als Ergänzungen aus der Zeit nach 1600 einordnete.
Konsolsteine
Die konsolartigen Bauglieder befanden sich in den Chorecken. Sie ragten in halber Fensterhöhe in den Raum. Gurlitt vermutete, dass die Konsolen ursprünglich Statuen trugen. Die Konsolsteine besaßen eine unterschiedliche Ausführung. Sie waren als Oberkörper einer Frau, eines Mannes, als geflügelter Mensch, Blattwerk und Adler gestaltet. Robert Bruck vermutete 1912, dass an um 1900 leeren Chorecken weitere Konsolsteine befestigt waren. Analog zum Adler (Sinnbild des Apostel Johannes) und dem Menschen (Sinnbild des Matthäus) ging Bruck davon aus, dass die fehlenden Steine einen Löwen (Sinnbild für Markus) und einen Stier (Sinnbild für Lukas) darstellten. Diese wurden bei dem Durchbruch der Wand zum Kirchenschiff möglicherweise um 1701 mit den Diensten abgeschlagen. Bruck erwähnte zudem weitere sieben Konsolsteine, die um 1910 bei Grabungen gefunden wurden: Vier zeigten Blattwerk, einer einen Kopf mit Blattwerk, einer einen Pelikan mit seinen Jungen und ein weiterer eine Tierdarstellung. Keiner dieser sieben Steine ist erhalten.
Der Stein des Adlers war um 1912 noch vorhanden, ging jedoch verloren. Erhalten haben sich vier Konsolsteine: Zwei Büsten und die Konsole mit dem geflügelten Menschen aus feinkörnigem (Labiatus-)Sandstein, die 1945 geborgen wurden, sowie die Blattwerkkonsole aus grobkörnigem Elbsandstein, die erst in den 1960er Jahren während des Abbruchs der Kapelle geborgen wurde. Alle vier kamen in das Dresdner Stadtmuseum, wo Restauratoren sie von Übermalungen der Jahrhunderte befreiten sowie untersuchten. Insgesamt stellte man dabei acht verschiedene Farbschichten fest, darunter drei Schichten Grau in Kalkfarbe.
Von besonderer Bedeutung sind die Konsolbüsten des Mannes und der Frau, die „für die mittelalterliche Bildhauerkunst in Dresden beachtenswerte Schöpfungen [darstellen], da man an ihnen deutlich erkennt, daß der Künstler Porträtdarstellungen schuf“. Sie sind zudem die frühesten erhaltenen Porträtdarstellungen Dresdner Bürger. Die Büste des Mannes trägt die Hausmarke der Familie Busmann, sodass als sicher gilt, dass es sich bei den Dargestellten um den Stifter Lorenz Busmann und seine Gattin, deren Name nicht bekannt ist, handelt.
Fritz Löffler sah in den Büsten Gemeinsamkeiten mit Werken der Parler-Schule, wie zum Beispiel der Büste des Matthias von Arras oder dem Kopf der Tumba Ottokar II. Přemysls, und bezeichnete sie als „kostbarstes figurales Werk“ der Kapelle.
Gedenkstätte Busmannkapelle
Die Dresdner Stadtverordnetenversammlung beschloss bereits 1994, dass eine Gedenkstätte für die Sophienkirche errichtet werden soll. Eine Grundforderung der Ausschreibung war, dass erhaltene Architekturfragmente der Busmannkapelle in die Gestaltung der Gedenkstätte einfließen sollten. Dazu gehörten:
40 Dienstwerkstücke
6 Rippenanfänger
23 Laibungsbogenstücke
1 Sohlbankstück
21 Gewändestücke
Maßwerkreste der Fenster aus dem Jahr 1864
3 Kragsteine (Westempore)
4 Konsolsteine (Frau Busmann, Lorenz Busmann, Engel, Blattwerk)
Zum Schutz der Originalstücke sollten diese in einem geschlossenen Raum präsentiert werden und „mit der ortsgebundenen Präsentation der erhaltenen Architekturteile […] die Geschichte der Sophienkirche mit der Busmannkapelle fortgeschrieben werden.“
Beim 1995 ausgeschriebenen Architektenwettbewerb setzte sich aus zwölf Bewerbungen ein Entwurf des Dresdner Architektenbüros Gustavs und Lungwitz durch, der eine räumliche Reproduktion der Busmannkapelle am ursprünglichen Ort vorsah. Die Bauplastik soll von einer gläsernen Vitrine umschlossen werden. „Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges zwischen Busmannkapelle und Sophienkirche werden die Strebepfeiler der Franziskanerkirche als stilisierte Stelen errichtet“, so der Entwurf des Architektenbüros. Der Aufbau der ersten vier Stelen begann am 13. Februar 2009; die Einweihung des Gebäudes unter dem neuen Namen DenkRaum Sophienkirche erfolgte am 9. Oktober 2020. Die Kosten für die Gedenkstätte beliefen sich auf über 4,8 Millionen Euro.
Literatur
Robert Bruck: Die Sophienkirche in Dresden. Ihre Geschichte und ihre Kunstschätze. Keller, Dresden 1912.
Wiebke Fastenrath: Zur ehemaligen Busmannkapelle in Dresden. In: Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Denkmalpflege in Sachsen. Mitteilungen des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen. Landesamt für Denkmalpflege, Dresden 1996, S. 5–15.
Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Bd. 21: Stadt Dresden, Teil 1. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1900 – Volltext im Angebot der SLUB
Fritz Löffler: Konsolfiguren in der Busmann-Kapelle der ehemaligen Franziskaner-Kirche Dresden. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Bd. XXII, Heft 3/4, Berlin 1968, S. 139–147.
Weblinks
Seite der Gedenkstätte Busmannkapelle
Einzelnachweise
Busmannkapelle
Busmannkapelle
Busmannkapelle
Kirche in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens
Gotisches Bauwerk in Sachsen
Busmannkapelle
Neugotisches Kirchengebäude
Erbaut im 15. Jahrhundert
Busmannkapelle
Busmannkapelle
Gotische Kirche
Renaissance-Taufbecken
Busmannkapelle
Kapelle in Dresden |
4570195 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich%20von%20Jungingen | Ulrich von Jungingen | Ulrich von Jungingen (* um 1360 vermutlich auf Burg Hohenfels, heute Landkreis Konstanz; † 15. Juli 1410 bei Tannenberg) entstammte dem schwäbischen Adel und war in den Jahren 1407 bis 1410 Hochmeister des Deutschen Ordens. Als Oberster Gebietiger des Deutschordensstaats erklärte er 1409 dem in Personalunion mit dem Großfürstentum Litauen verbundenen Königreich Polen den Krieg und führte das Ordensheer in der Folge zur Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg.
Sein Tod auf dem Schlachtfeld und die schweren personellen Verluste des Ordens, in Verbindung mit eklatanten finanziellen Belastungen aufgrund des späteren Friedensschlusses, markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Ordensstaates. Ulrich von Jungingens taktische Fehler in der Schlacht prägen sein Bild bis in die Gegenwart.
Leben
Aufstieg in der Ordenshierarchie
Die adlige Familie Jungingen stand ab dem 14. Jahrhundert im Dienst des süddeutschen Hochadels, namentlich der Häuser Habsburg und Württemberg. Der um 1360 als jüngerer Nachkomme eines namentlich unbekannten Herrn von Jungingen geborene Ulrich war nicht erbberechtigt und folgte daher dem Beispiel seines ebenfalls nicht erbberechtigten älteren Bruders Konrad: Ulrich wurde ritterliches Mitglied der geistlichen Korporation des Deutschen Ordens. Ob sein Profess bereits im Reich erfolgte oder erst zu einem späteren Zeitpunkt im Ordensland, lässt sich nicht mehr feststellen. Ebenso unbekannt ist der Zeitpunkt seiner Ankunft im Ordensland, dem späteren Preußen. Hier wird er erstmals 1383 als sogenannter Fischmeister bei Drausen und später in seinem Amt als Pfleger von Morteg erwähnt.
Als sicher gilt, dass Ulrich in Preußen die Protektion seines älteren Bruders Konrad genoss, der in der Hierarchie des Ordens bereits verantwortliche Positionen bekleidete. So übernahm Ulrich in den Jahren 1391 bis 1392 den Posten eines Kompans des Hochmeisters Konrad von Wallenrode. Damit etablierte er sich früh auf der Marienburg, dem Machtzentrum des Ordensstaates. Die bedeutende Funktion eines hochmeisterlichen Kompans prädestinierte Ulrich für weitere einflussreiche Ämter. Insbesondere die Wahl seines Bruders Konrad zum 25. Hochmeister im Jahre 1393 wirkte sich vorteilhaft auf Ulrichs Aufstiegschancen aus.
Im Jahr 1396 wurde Ulrich Komtur von Balga, einer der wichtigsten Kommenden im Ordensstaat. Dieses Amt galt im Orden als Grundlage für höhere Weihen. In den Jahren nach 1398 führte Ulrich von Jungingen in dieser Eigenschaft die komplizierten diplomatischen Verhandlungen mit der dänischen Königin Margarethe I. um den Besitz Gotlands. Weiterhin nahm er an diplomatischen Missionen in Litauen und dem Königreich Polen teil.
Ab Ende 1404 führte er nach der krankheitsbedingten Abberufung Werners von Tettlingen als Ordensmarschall und damit als Komtur von Königsberg das Ordensheer. Damit zählte Ulrich zu den fünf Großgebietigern und hatte eines der höchsten Ämter innerhalb des Ordens inne. Der Ordensmarschall führte im Jahre 1405 Aufgebote zur Unterdrückung lokaler Aufstände nach Žemaitien. Die Bevölkerung rebellierte dort gegen die Eintreibung von Kirchenzehnten sowie sonstiger Abgaben. Žemaitien war mit dem Vertrag von Sallinwerder von 1398 vom litauischen Großfürsten Vytautas dem Orden übereignet worden. Ulrich zeichnete sich durch pragmatisches Handeln aus, was im Widerspruch zur verbreiteten Ansicht späterer Chronisten, Ulrich sei unbeherrscht und arrogant gewesen, steht. Von Jungingen verfolgte in Žemaitien das in vergangenen Jahrhunderten im Kampf gegen die Prußen bewährte Konzept: zielgerichtete deutsche Besiedlung in Verbindung mit Gewinnung oder Korrumpierung des ansässigen Adels. Örtlichen Widerstand ließ der Ordensmarschall dabei rücksichtslos ersticken. Dieses Konzept erwies sich aber in der Folge aufgrund des geringen Zustroms von Siedlungswilligen als untauglich.
Nach dem unerwarteten Tod seines Bruders, des Hochmeisters Konrad von Jungingen, am 30. März 1407 musste ein neuer Hochmeister bestimmt werden. Wegen der wachsenden Spannungen mit dem Königreich Polen infolge des Erwerbs der Neumark im Jahre 1402 musste dies schnell geschehen. Es war der amtierende Statthalter des Hochmeisters und zugleich vom Ordenskapitel bestätigte Wahlkomtur Werner von Tettlingen, der als Nachfolger den Ordensmarschall Ulrich von Jungingen vorschlug. Am 26. Juni 1407 wählte das Ordenskapitel Ulrich von Jungingen einstimmig zum 26. Hochmeister des Deutschen Ordens. Dieser soll sich gegen die bereits vollzogene Wahl mit dem Argument gewehrt haben, er sei des hohen Amtes nicht würdig. Sein Verhalten gilt als ungewöhnlich, da das Ordenskapitel in mittelalterlich-religiösem Zeitgeist die Wahl als „himmlische“ Offenbarung betrachtete. Bei der Wahl fehlten Repräsentanten aus dem Reich, wie der Deutschmeister Konrad von Egloffstein, sowie einige Vertreter des Livländischen Ordenszweiges aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen mit der russischen Adelsrepublik von Pskow.
Hochmeister
Innenpolitik
Ulrich von Jungingen bemühte sich wie seine Vorgänger um eine geordnete Verwaltung seiner Ländereien. Hier konnte er auf bewährte Verwaltungsstrukturen wie die Komtureien zurückgreifen, die dem Hochmeister direkt verantwortlich waren. Doch auch Ulrich ergriff keine Maßnahmen, um den sich seit Jahrzehnten abzeichnenden Grundwiderspruch zwischen autoritärer Ordensherrschaft und den preußischen Landständen zu überwinden. Die Landstände, Vertreter der Städte und des Landadels, forderten ein Mitspracherecht bei der Verwaltung, was der Orden mit Hinweis auf überkommene Rechtsauslegungen strikt verweigerte. Gerade Kaufleute der Hansestädte, wie Danzig oder Thorn, sahen sich bei der Ausübung freien Handels durch eigene Handelsbevollmächtigte des Ordens, die Großschäffer, benachteiligt. In Anbetracht der militärischen Macht des Ordens beugten sich die ständischen Vertreter dennoch dem Anspruch der Ordensritter. Die Landstände, wie beispielsweise die Bürgerschaft von Danzig, trugen dem Hochmeister als nominellem Landesherrn regelmäßig ihre Anliegen oder Beschwerden vor. Das Ersuchen um karitative Hilfestellung durch die, dem Orden äußerst distanziert gegenüberstehende, Hansestadt Danzig bestätigt noch die Anerkennung der Oberhoheit des Ordens.
Der Hochmeister sowie die Großgebietiger sahen über den aufkeimenden Gegensatz hinweg. Es existieren keine Quellen, die über Ansätze zur Lösung in der Amtszeit Jungingens berichten. Eine Ausnahme bildete die Landesordnung des Hochmeisters aus dem November des Jahres 1408. Sie beruhte auf beim Ständetag im Mai desselben Jahres vorgebrachten Forderungen. Im Wortlaut der Landesordnung beschränkte sich der Hochmeister allerdings auf marginale Konfliktpunkte, wie auf juristischer Behandlung diverser Schadensersatzforderungen oder sogar die Strafbarkeit bei Entführung von Jungfrauen. Im Grunde beinhaltete die Landesordnung von 1408 zum größten Teil ausschließlich die Wiederaufnahme älterer Bestimmungen. Ulrich kümmerte sich hingegen persönlich um Minderung der Schäden eines verheerenden Frühjahrshochwassers der Weichsel im Jahre 1408 im Umland von Graudenz.
In den Jahren 1407 bis 1409 intensivierte der Hochmeister die Rüstungsanstrengungen des ohnehin militärisch schlagkräftigen Ordensstaates erheblich. Das Gewerk zur Herstellung von Steinbüchsen, die Former der Steinkugeln sowie die Pulvermühle auf der Marienburg sollen mit Ausnahme hoher kirchlicher Feiertage rund um die Uhr gearbeitet haben. Ein Dispens des Hochmeisters erlaubte den dort Beschäftigten sogar die Umgehung des Fastengebotes, um die Arbeitsleistung nicht zu mindern.
Eine Reihe Fester Häuser an der litauischen Grenze wurde weiter befestigt und zum Teil mit einer neuartigen Artillerie, den so genannten Steinbüchsen, bestückt.
Diplomatie
Der Herrschaftsantritt und die gesamte Amtszeit des neuen Hochmeisters wurden durch die wachsenden Spannungen mit dem Königreich Polen und insbesondere dem Großfürstentum Litauen überschattet. Der polnische Adel drängte schon seit Generationen aufgrund der Annektierung von Pommerellen im Jahre 1308 und wegen des Erwerbs der Neumark zu kriegerischen Gegenmaßnahmen. Dazu unterstützte der litauische Großfürst Vytautas Unabhängigkeitsbestrebungen in dem vom Orden besetzten Žemaitien.
Jungingen sowie seine Berater unterschätzten die wiederholt vom Ordensvogt in Žemaitien, Michael Küchmeister von Sternberg, übermittelten Warnungen vor gärender Unzufriedenheit in seinem Verwaltungsbereich. Bereits seit 1402 gab es dort einen Kleinkrieg zwischen den aufbegehrenden Žemaiten und Streitkräften des Ordens. Obwohl Vytautas offiziell die im Vertrag von Sallinwerder eingegangenen Verpflichtungen einhielt, unterstützte er im Verborgenen den unzufriedenen Adel Žemaitiens.
Jungingen musste dabei in Betracht ziehen, dass ein massives Eingreifen in Žemaitien erhebliche Risiken barg: Ein Feldzug gegen die Aufständischen würde einen Konflikt mit Litauen provozieren. Eine kriegerische Konfrontation mit dem Großfürstentum Litauen musste zudem fast zwangsläufig einen Krieg mit Polen nach sich ziehen. König von Polen war nämlich seit 1386 Władysław II. Jagiełło, ein Verwandter des Großfürsten, der die polnische Königin Jadwiga geheiratet hatte. Ein gemeinsames Vorgehen beider Mächte hätte jedoch eine äußerst ungünstige Kräftekonstellation für den Ordensstaat bedeutet. Die lange Grenzlinie mit beiden Reichen erwies sich als strategischer Schwachpunkt. Hinzu kam das immense personelle Potential der Kontrahenten; strategische Nachteile also, welche die beträchtlichen militärischen Ressourcen des Ordensstaates überstiegen.
Innerhalb des Führungszirkels des Ordens gab es schon ab 1403 konträre Ansichten. Einige Würdenträger befürworteten einen Präventivkrieg gegen Polen. Andere sprachen sich strikt gegen solch aggressive Maßnahmen aus. Der verstorbene Hochmeister Konrad zählte zu den Letzteren und meinte um 1406: „Ein Krieg ist bald angefangen, aber schwer beendet…“. Ulrich von Jungingens Rolle in diesen Kontroversen ist unbekannt. Sein Handeln als Hochmeister spricht jedoch dafür, dass er einen kriegerischen Konflikt bis zum Sommer des Jahres 1409 zu vermeiden suchte.
Inwieweit dieses Verhalten am unbedingten Festhalten des bestehenden Status quo zu bewerten ist, bleibt umstritten. Ein Fürstentag zu Kaunas am 6. Januar 1408 unter persönlicher Beteiligung des Hochmeisters sowie des Großfürsten und des Königs von Polen erbrachte keinerlei Ergebnis. Diplomatische Aktivitäten des Ordens am Ende der ersten Dekade des 15. Jahrhunderts zeigen intensive Bündnisgespräche mit europäischen Fürsten, wie mit dem späteren Kaiser Sigismund von Luxemburg. Sigismund, jüngerer Sohn des Kaisers Karl IV., erschien dem Orden aufgrund seiner 1387 erfolgten Krönung zum König von Ungarn als besonders wichtiger Verbündeter. Auch dieser Fürst neigte traditionell dem Orden zu, schon sein Großvater Johann von Luxemburg weilte einige Male als Heidenfahrer gegen das damals noch heidnische Litauen im Staat des Deutschen Ordens.
Schon Mitte 1408 waren seitens des Ordens Werbungen von Söldnern im Reich, namentlich in Lübeck, zu verzeichnen. Das lässt vermuten, dass die Führung des Ordens sich auf einen kriegerischen Konflikt mit dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen vorbereiten wollte. Der Verzicht auf Gotland zu vergleichsweise konzilianten Bedingungen, um einen schwelenden Konflikt im Westen beizulegen, spricht ebenfalls dafür. Im Jahre 1408 wurde endlich ein Ausgleich mit der dänischen Königin Margarethe I. über den Besitz der umstrittenen Ostseeinsel erreicht.
Ein im Frühjahr 1409 ausgebrochener allgemeiner Aufstand in Žemaitien ließ den Konflikt eskalieren. Die Führungsriege des Ordens vermutete in Vytautas von Litauen die treibende Kraft der Rebellion. Diesbezügliche Anfragen an den Großfürsten ließ dieser unbeantwortet. Zudem verschärfte sich der Konflikt mit Polen. Władysław II. Jagiełło ließ durch seinen Gesandten, den Erzbischof Mikołaj I. Kurowski von Gnesen, dem Hochmeister ausrichten, dass im Falle eines Krieges mit dem Großfürstentum Litauen das Königreich Polen seinen Verbündeten unterstützt und die polnische Streitmacht unverzüglich den Ordensstaat angreifen werde.
Ulrich von Jungingen betrachtete Žemaitien als zum Ordensstaat gehörig und damit die litauische Unterstützung für die Aufständischen als eine Einmischung in innere Angelegenheiten seines Staatswesens. Der Hochmeister soll dem königlichen Gesandten geantwortet haben:
Diese Worte markieren den Schlussstrich unter jegliche Bemühungen, den schwelenden Konflikt zu vermeiden bzw. ihn mit friedlichen Mitteln zu lösen. Am 6. August 1409 ließ Ulrich von Jungingen dem König von Polen durch den offiziellen Herold des Meisters seinen und des Ordens Fehdebrief überbringen. Diese Maßnahme markiert den Anfang vom Grossen Streythe, dem in der Ordensterminologie so bezeichneten Krieg gegen das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen.
Krieg gegen Litauen und Polen
Die gesamtpolitische Lage ab Sommer 1409 war für den Orden äußerst nachteilig. Nach dem Tod des deutschen Königs Ruprecht am 18. Mai 1410 eskalierte der Machtkampf um dessen Nachfolge. Der erklärte Verbündete des Ordens, Sigismund von Luxemburg, bewarb sich ebenfalls um die Krone. Sein militärisches Eingreifen zugunsten des Ordens wurde daher unwahrscheinlich.
Durch den Ausbruch der Feindseligkeiten ergab sich eine für Polen und Litauen günstige strategische Situation: Der Orden war auf sich allein gestellt. Doch obwohl sich der Konflikt seit langem abzeichnete, zeigten sich sowohl das Königreich Polen als auch das Großfürstentum Litauen auf eine kriegerische Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt erst ungenügend vorbereitet.
Nach der Erklärung der Fehde nutzte Jungingen umgehend die vorübergehend vorteilhafte strategische Lage. Kontingente des Ordensheeres eroberten im September das Dobriner Land, besetzten Anfang Oktober Kujawien und belagerten Bromberg. Trotz dieser Erfolge stimmte Ulrich einer Vermittlung des böhmischen Königs Wenzel IV. bei der aufgrund des Aufstandes erneut strittigen Frage über den Besitz Žemaitiens zu. Es wurde ein befristeter Waffenstillstand bis zum Johannestag (21. Juni 1410) vereinbart. Der Schiedsspruch des Königs erging auf Grundlage des Vertrages von Sallinwerder sowie der 1404 erfolgten Ratifikation durch die polnische Krone zugunsten des Ordens. Doch das Urteil Wenzels wurde von Polens Kronrat und Litauens Großfürsten als parteiisch aber auch auf Grund der günstigen außenpolitischen Gesamtlage nicht akzeptiert. Weitere Vermittlungsversuche endeten infolge des Nichterscheinens der polnischen Gesandtschaft ergebnislos. Am 30. März 1410 ersetzte der Hochmeister die Gebietiger einiger wichtiger Komtureien durch bewährte Ritter. Im Sommer 1410 sollte nun ein Kriegszug entscheiden.
Nach Ablauf des Waffenstillstands zeigte sich Ulrich durchaus als Stratege. Er verblieb auf der Marienburg, da er über keine genauen Informationen über die Standorte der gegnerischen Heere verfügte. Eindeutig wurde die Lage erst Anfang Juli mit dem Eingang der Entsagungsbriefe ehemals verbündeter Fürsten, abgefasst im Heerlager Władysław II. Jagiełłos in Bieżuń.
Am 2. Juli 1410 verließ Ulrich von Jungingen in voller Rüstung an der Spitze des Rennbanners, einer Eliteeinheit der Ordensritterschaft, die Marienburg mit den angeblichen Worten:
Vermutlich in Absprache mit dem erfahrenen Ordensmarschall Friedrich von Wallenrode sowie den anderen Großgebietigern ließ Jungingen den kriegserprobten Komtur Heinrich von Plauen mit einigen Ordensrittern sowie ungefähr 2000 Söldnern zum Schutz des dortigen Weichselüberganges sowie zur Unterstützung des Ordensvogtes Michael Küchmeister von Sternberg in Schwetz zurück. Sternberg verwaltete die durch polnische Streifscharen gefährdete Neumark.
Tod in der Schlacht bei Tannenberg
Jungingen führte das Heer des Ordens sowie die Aufgebote der preußischen Stände bis nach Kauernick unweit von Soldau, wo die Streitmacht am Ufer des Flusslaufes der Drewenz ein befestigtes Lager bezog. Eine sich bereits dort andeutende Auseinandersetzung vermied das polnisch-litauische Heer, indem es die vorteilhafte Stellung des Ordensheeres entlang des Flusslaufes in nordöstlicher Richtung umging. Nachdem am 13. Juli Gilgenburg durch Litauer und Tataren gestürmt worden war, suchte Ulrich die direkte Konfrontation. Er führte unverzüglich das Ordensheer ebenfalls nach Nordosten, wo er am Abend des 14. Juli bei Frögenau einen weiteren Lagerplatz beziehen ließ. Kundschafter meldeten noch am Abend, dass das gesamte polnisch-litauische Heer am Ufer des Flusses Marense lagerte. Jungingen und sein Kriegsrat beschlossen, das Heer des Deutschen Ordens am folgenden Tag auf der weitgehend unbewaldeten Heidelandschaft zwischen den Dörfern Grünfelde und Tannenberg sowie Ludwigsdorf und Faulen zur Schlacht zu stellen.
Das seit dem Morgen des 15. Juli in Schlachtordnung formierte Ordensheer befand sich in taktisch ungünstiger Position, da es die Initiative dem am sumpfigen Ufer der Marense bzw. in den Wäldern östlich der Tannenberger Heide verharrenden Gegner überlassen musste. Die sommerliche Mittagshitze und das untätige Warten wurden für die gewappneten Krieger zu einer argen Belastung. Insbesondere bei den mit der Kuvertüre, einem so genannten Rossmantel, und bei den höchsten Würdenträgern mit Rossharnischen ausgestatteten Schlachtrossen erwies sich das Ausharren in der Hitze als nicht länger erträglich.
Die höchsten Würdenträger einigten sich darauf, den polnischen König und den litauischen Großfürsten durch die Überbringung zweier blanker Schwerter zum unverzüglichen Kampf herauszufordern. Folgende Botschaft wurde Ulrich von Jungingen zugeschrieben:
Dieses Verfahren entsprach der deutschen ritterlichen Tradition, von den Kontrahenten wurde dies hingegen als Beleidigung und Beweis für den Hochmut des Hochmeisters verstanden. Diese Sicht auf Ulrich von Jungingen wurde durch das maßgebliche Geschichtswerk des polnischen Chronisten Jan Długosz bis in die Gegenwart aufrechterhalten.
Kurz nach der Übergabe der Schwerter begann mit dem Angriff litauischer Banner unter dem Großfürsten Vytautas auf den rechten Flügel des vereinigten Heeres die Schlacht.
Ulrich von Jungingen leitete den Einsatz seiner Banner vorerst hinter den Schlachtlinien von einem Hügel nahe Grünfelde. So befahl er den zunächst erfolgreichen Gegenangriff gegen den litauischen Heerbann unter dem Ordensmarschall, der sich in der Folge jedoch in Verfolgungskämpfe verzettelte. Etwas später beobachtete der Hochmeister einen für das Ordensheer ebenfalls zunächst erfolgreichen Kampf auf dem rechten Flügel unter dem Großkomtur Kuno von Lichtenstein gegen die polnischen Streitkräfte. Unter dem so genannten Krakauer Banner kämpfte dort auch die Elite des polnischen Adels. Nachdem das polnische Königsbanner infolge glücklicher Umstände in die Hände des Ordens gefallen war, soll Ulrich selbst, nunmehr des Sieges gewiss, den Siegeschoral des Ritterordens: „Christ ist erstanden“ angestimmt haben. Das Heer stimmte nach und nach in die Laudatio ein.
Mit dem Einsatz polnischer Reserven änderte sich jedoch die Lage: Der rechte Flügel geriet nach dem Verlust des kurz zuvor eroberten Banners zusehends in Bedrängnis.
Für den bis dahin überlegt agierenden Ulrich ergab sich nun folgende Alternative: Zum einen nach ritterlicher Tradition selbst seine Reserve von 15 Bannern, darunter das Rennbanner, zum Angriff zu führen, zum anderen, die Reiter unter einem subalternen Komtur die entscheidende Attacke reiten zu lassen und die taktische Führung des Heeres selbst in der Hand zu behalten.
Eine gewisse Rolle scheint in der Entscheidungsfindung des Hochmeisters der Aspekt gespielt zu haben, dass sich unter der Reserve das zahlenmäßig besonders starke Banner des Kulmer Landes befand. Unter der Kulmer Fahne diente aber die Masse der Mitglieder des Eidechsenbundes. Diese zum Teil seit Generationen in den Gebieten nahe der Grenze zum Königreich Polen ansässigen Landadligen neigten aufgrund familiärer und wirtschaftlicher Bindungen eher dem Königreich zu. Der Loyalität der Ritter des profanen Adelsbundes der „Eydechsen“ zum Deutschen Orden war sich Ulrich daher nicht sicher.
Ohne eingehende Beratung mit einem der Großgebietiger des Ordens entschied der Hochmeister am frühen Nachmittag: unverzüglicher Angriff unter seiner Führung auf den noch immer von den litauischen Alliierten entblößten rechten Flügel des polnischen Heeres.
Unter Jungingens Führung beschrieben die Banner einen weiten Bogen nach Nordosten, um dem vorgerückten polnischen Heer nach langem Anlauf in die Flanke zu fallen.
Schon während des Anrittes kam es mehrfach zu Unregelmäßigkeiten. So fielen einige Ordensritter des Rennbanners, darunter der vom Chronisten Jan Długosz namentlich erwähnte Leopold von Kötteritz, nach links ab, um ein abseits des Schlachtgeschehens stehendes polnisches Banner zu attackieren. Unmittelbar darauf senkte der Anführer des Kulmer Banners und Wortführer des Eidechsenbundes Nicolaus von Renys die Fahne. Diese Handlung stellte ein vorab vereinbartes Zeichen dar, das Schlachtfeld zu verlassen. Teile des Bundes schwenkten ab. Welche dieser Handlungen der Hochmeister mit seinen vom Chronisten verzeichneten Worten zu verhindern suchte, indem er befahl:
bleibt ungeklärt. Unmittelbar darauf sah sich Ulrich von Jungingen, an der Spitze der Formation reitend, einer Abwehrfront der polnischen Reiterei unter dem Ritter Dobiesław von Oleśnica gegenüber. In diesem Kampf kam Jungingen ums Leben. Inwieweit unmittelbar auf die massive Attacke der 15 Banner des Hochmeisters alarmiertes Fußvolk am Tod des Hochmeisters beteiligt war, kann nicht geklärt werden.
Ohne Führung wurde die Schlacht bei Tannenberg zum Desaster für das Ordensheer.
Unbestritten ist laut Stephen Turnbull, dass Jungingen den Anforderungen an einen umsichtigen Feldherrn bei Tannenberg nicht gerecht wurde. Durch die persönliche Beteiligung an der Attacke des Rennbanners ohne klare Übergabe der Führungskompetenzen an einen Stellvertreter ging das Heer der einheitlichen Führung verlustig. Die Folge war eine weitgehende Aufsplitterung der Kräfte und daraus folgend die Niederlage. Ein rechtzeitiges und geordnetes Zurücknehmen der Kräfte hätte nach gültiger Lehrmeinung zumindest in Teilen die Kampfkraft des Ordensheeres erhalten. In dem Augenblick, als Ulrich sich an die Spitze der letzten Reserven stellte, gab der Hochmeister jegliche taktische Initiative aus der Hand, das Heer wäre auch ohne seinen Tod führerlos gewesen.
Ulrich von Jungingens Leichnam ließ der polnische König Władysław II. Jagiełło würdig in die Marienburg überführen, bevor er die Belagerung der Marienburg begann. Jungingen wurde in der traditionellen Gruft der Hochmeister unter der Sankt-Annen-Kapelle der Ordensburg beigesetzt.
Rezeption
Historische Bewertung
Eine Bewertung des Hochmeisters ist zumeist nur unter dem Gesichtspunkt seines Todes auf dem Schlachtfeld und der Niederlage bei Tannenberg erfolgt. Schilderungen der Persönlichkeit gehen im Grunde auf Chronisten der Schlacht bei Tannenberg wie Jan Długosz sowie auf das Geschichtswerk des Johann von Posilge zurück. Długosz' Chronik Banderia Prutenorum entstand jedoch erst dreißig Jahre später aufgrund der Berichte von Teilnehmern der Schlacht bei Tannenberg. In diesen Geschichtswerken werden unter dem Aspekt der Niederlage dem gefallenen Hochmeister Eigenschaften zugewiesen, die er nachweislich nicht besaß: So beschreibt Jan Długosz Ulrich als jung und heißblütig. Gerade dieser Sachverhalt wurde von der Nachwelt, sowohl von Historikern als auch in der Belletristik immer wieder aufgenommen. Jungingen war zum Zeitpunkt seines Todes allerdings bereits fünfzig Jahre alt, nach zeitgenössischem Verständnis demnach recht betagt.
Andererseits wird Ulrich von Jungingen als tugendhaft und tüchtig beschrieben, ein klassischer Ritter des Mittelalters. Als Argument dient unter anderem sein Verhalten unmittelbar vor Tannenberg. Er verzichtete auf das Überraschungsmoment und unterließ es, die lagernden Feinde anzugreifen, bevor sie sich zur Schlacht formieren konnten. Stattdessen ließ er den gegnerischen Heerführern durch zwei Herolde jeweils ein Schwert überbringen, was traditionell unter Rittern als Aufforderung zur Schlacht galt. Diese Darstellung seiner vorgeblichen Ritterlichkeit ist mittlerweile angesichts der Umstände und des Hergangs des Treffens bei Tannenberg nicht mehr haltbar. Das von schwerer Kavallerie geprägte Heer des Ordens konnte, wie alle Ritterheere seiner Zeit, aufgrund seiner taktischen Grundsätze des geordneten Reiterangriffs nicht in Wald oder Unterholz kämpfen. Nur deshalb erwartete man den Gegner auf freiem Feld.
Ulrichs spontanes Vorpreschen an der Spitze seiner Banner in der kritischsten Phase der Schlacht stellt, je nach Perspektive, einen vermeintlich eindeutigen Beweis seines Mutes oder fatale Unbeherrschtheit dar. Einig sind sich die Chronisten darin, dass der Hochmeister als tapferer Ritter in „ehrlichem Kampfe“ gefallen sei.
Künstlerische Darstellung
Herausragendes Beispiel der Darstellung Jungingens in der Bildenden Kunst ist ein Gemälde des polnischen Historienmalers Jan Matejko. Er fasste auf dieser monumentalen Darstellung der Schlacht bei Tannenberg von 4,26 × 9,87 Metern verschiedene Szenen der Schlacht zusammen. Zentral angeordnet stellt der Künstler den Schlachtentod des Hochmeisters Ulrich durch spärlich gerüstete Fußsöldner dar. Besonders in der Nachkriegszeit wurde das Gemälde in Ehren gehalten. Der Mythos, dass der Hochmeister des Deutschen Ordens von einfachen polnischen Bauern erschlagen worden sei, war eine Art Ventil für verletzte Nationalgefühle und Frust über die Realität im kommunistischen Polen.
Auf preußisch-deutscher Seite erfolgte im 19. Jahrhundert bezüglich der Schlacht bei Tannenberg eine Revision des Geschichtsbildes von relativ neutraler Bewertung hin zur Darstellung einer tragischen Niederlage und damit der Sicht auf den Hochmeister. Diese Aspekte spiegeln sich eindrucksvoll im Roman Heinrich von Plauen von Ernst Wichert wider. Hier wird der heldenhaft-schöne Ulrich von Jungingen als Antagonist seines listig-hässlichen Gegenspielers Władysław II. Jagiełło geschildert. Auch Wichert unterstellt, dass Jungingen jünger gewesen sei als sein Protagonist Heinrich von Plauen, was nicht haltbar ist.
Der bekannte historische Roman Krzyżacy (in deutscher Übersetzung Die Kreuzritter) des späteren Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz schildert Ulrich von Jungingen als impulsiv und kriegswütig. In der Verfilmung des Romans unter der Regie von Aleksander Ford im Jahre 1960 wird der von Stanisław Jasiukiewicz dargestellte Hochmeister in seiner Rolle als Feldherr bei Tannenberg mit negativ behafteten, sogenannten preußischen, Eigenschaften wie Militarismus, Maßlosigkeit sowie Selbstüberschätzung in Szene gesetzt. Ford stellt Jungingen zudem als hinterlistig und rücksichtslos dar.
Zeitgenössische und Neuzeitliche Reminiszenzen
In den Jahren nach der Schlacht wurde auf Weisung des neuen Hochmeisters Heinrich von Plauen am vermeintlichen Todesort Ulrichs eine Kapelle errichtet, welche die Gefallenen des Grossen Streythes, insbesondere aber den ritterlich gefallenen Ulrich ehren sollte. Von diesem sakralen Bauwerk sind heute nur noch die Grundmauern erhalten.
Mit der Errichtung des Jungingensteins im Jahre 1901 wurde Ulrich von Jungingen in der Nähe des neuzeitlich vermuteten Todesortes ein Denkmal in Form eines Findlings mit einer Inschrift gesetzt. Die dem damaligen nationalistischen Zeitgeist entsprechende Inschrift lautete: „Im Kampf für deutsches Wesen, deutsches Recht starb hier der Hochmeister Ulrich von Jungingen am 15. Juli 1410 den Heldentod“. Heute ist der Stein noch vorhanden, allerdings wurde er nach 1945 umgestürzt, die deutsche Inschrift ist daher nicht mehr lesbar. Ein Stein mit neutralisierter Inschrift, auf dem nur noch der Name Jungingen lesbar ist, befindet sich auf dem Areal der heutigen Tannenberg-Gedenkstätte. Ob es sich dabei um die Reste des Jungingensteins handelt, ist umstritten.
In ihrer schwäbischen Heimat, der Gemeinde Jungingen, wird an die beiden Hochmeister Konrad und Ulrich unter anderem in Form der Benennung einer örtlichen Hauptstraße in Hochmeisterstraße erinnert.
Literatur
Zeitgenössische Chroniken
Johannes Longinus (Jan Długosz): Banderia Prutenorum
Jan Długosz: Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae (Chronik Polens, um 1445–1480).
Johann von Posilge: Chronik des Landes Preussen, um 1420
Unbekannter Verfasser: Cronica conflictus Wladislai regis Poloniae cum cruciferis, Anno Christi 1410; Link: Z. Celichowski, Poznań 1911
Quelleneditionen
Theodor Hirsch, Max Toeppen, Ernst Strehlke: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft; Band 3–5, Leipzig 1861–1874.
Monographien
Walter Markov und Heinz Helmert: Schlachten der Weltgeschichte; Leipzig; Edition, 1983.
Erich Maschke: Domus Hospitalis Theutonicorum; Europäische Verbindungslinien der Deutschordensgeschichte. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1931–1963. (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 10).
Erich Maschke: Der deutsche Ordensstaat, Gestalten seiner großen Meister; Berlin 1935
Alexander von Reitzenstein: Rittertum und Ritterschaft; München 1972
Stephen Turnbull: Tannenberg 1410, Osprey Publishing, Campaign 122, Oxford 2003, ISBN 1-84176-561-9
Wolfgang Sonthofen: Der Deutsche Orden; Weltbild, Augsburg 1995, ISBN 3-89350-713-2
Dieter Zimmerling: Der Deutsche Ritterorden; Econ, München 1998, ISBN 3-430-19959-X
Casimir Bumiller, Magdalene Wulfmeier: Konrad und Ulrich von Jungingen, Beiträge zur Biografie der beiden Deutschordenshochmeister, Geiger-Verlag, Horb a. Neckar 1995
Enzyklopädien
Belletristik
Henryk Sienkiewicz: Krzyżacy; [Die Kreuzritter]; 1900.
Ernst Wichert: Heinrich von Plauen – Historischer Roman aus dem deutschen Osten; Deutsche Buch-Gemeinschaft G.m.b.H. Berlin, 1881 (Weblink zu: Heinrich von Plauen)
Weblinks
Auszüge aus: Sławomir Jóźwiak, Adam Szweda Vor dem ‚großen Krieg‘. Die diplomatische Auseinandersetzung zwischen Polen und dem Deutschen Orden im Juni-Juli 1409; 9. Beitrag auf einer Website der Universität Poznań
Das virtuelle preußische Urkundenbuch; Universität Hamburg; Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Jürgen Sarnowski
Die Brüder Ulrich und Konrad von Jungingen in der Geschichte der Gemeinde Jungingen
Einzelnachweise
Hochmeister des Deutschen Ordens
Marschall (Deutscher Orden)
Ritter (Mittelalter)
Geboren im 14. Jahrhundert
Gestorben 1410
Mann |
4715524 | https://de.wikipedia.org/wiki/Otto%20Regenbogen%20%28Philologe%29 | Otto Regenbogen (Philologe) | Otto Regenbogen (* 14. Februar 1891 in Neumarkt in Schlesien; † 8. November 1966 in Heidelberg) war ein deutscher klassischer Philologe.
Er war ein entschiedener Vertreter des Dritten Humanismus und zog als Professor für Klassische Philologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ab 1925 eine große Schülerschaft an sich. Da er die jüdische Abstammung seiner Ehefrau verspätet gemeldet hatte, wurde er 1935 von den Nationalsozialisten zwangsweise beurlaubt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligte er sich rege am Wiederaufbau der Universität Heidelberg und erhielt seine Professur zurück. Seine Forschungsarbeit bezog sich besonders auf die antike Naturwissenschaft und Medizin, die Tragödien Senecas, den Schriftsteller Lukrez sowie auf Einzelfragen zu Aischylos, Homer und Platon. In der Lukrezforschung nimmt er eine Außenseiterrolle ein; seine Interpretation der Seneca-Tragödien führte dagegen im Vergleich zu seinen Vorgängern zu einer positiveren Bewertung des Dichters, die bis heute fortwirkt.
Leben
Otto Regenbogen wurde am 14. Februar 1891 in der schlesischen Kreisstadt Neumarkt als Sohn des Tiermediziners Otto Regenbogen und seiner Frau Karoline geb. Spies geboren. Sein Vater wurde 1898 als ordentlicher Professor an die Tierärztliche Hochschule Berlin berufen. Otto Regenbogen besuchte ab 1900 das Berliner Friedrichs-Gymnasium, wo ihn nach eigenem Bekunden besonders die altsprachlichen Lehrer Heinrich Buermann, Johannes Fischer und Adolf Trendelenburg beeinflussten.
Darum ging Regenbogen nach der Reifeprüfung zum Sommersemester 1909 an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, um Klassische Philologie und Germanistik zu studieren. Das Sommersemester 1910 verbrachte er in Göttingen, wo er unter anderem Mitglied des philologischen Seminars unter Paul Wendlands Leitung war und sprachwissenschaftliche Übungen bei Jacob Wackernagel besuchte. Am meisten beeinflussten ihn seine Berliner Lehrer Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, die ihn auch zu seiner Dissertation anregten: Am 20. Mai 1914 wurde Regenbogen mit der Doktorarbeit Symbola Hippocratea zum Dr. phil. promoviert, in der er sich mit den Schriften des Arztes Hippokrates von Kos beschäftigte. Diese Arbeit war der Beginn seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Medizingeschichte.
Gymnasiallehrer und außerordentlicher Professor in Berlin
Während er sich auf das Staatsexamen vorbereitete, brach der Erste Weltkrieg aus. Regenbogen meldete sich zum Jahresende 1914 freiwillig als Krankenpfleger und trat den Dienst im Januar 1915 an. Am 15. Juni 1915 bestand Regenbogen mit Auszeichnung das Erste Staatsexamen für die Fächer Latein, Griechisch und Deutsch; das Probejahr wurde ihm erlassen. Für seinen Einsatz als Krankenpfleger erhielt er am 27. Januar 1916 das Rote Kreuz für Mediziner (3. Klasse). Im Februar beendete er den Dienst und kehrte nach Berlin zurück, wo er im April am Mommsen-Gymnasium in Charlottenburg sein Seminarjahr begann. Am 1. April 1918 wurde er zum Oberlehrer ernannt. Nebenbei bemühte sich Regenbogen um sein akademisches Fortkommen und betrieb seine Habilitation an der Berliner Universität, die er 1920 erreichte. Seine Antrittsvorlesung Hippokrates und die Hippokratische Sammlung ging auf Diels’ Anregung zurück. Schon damals bot Wilamowitz seinem Schüler eine Stelle an der Universität an, aber Regenbogen lehnte ab, weil er zuvor seine Gymnasialklasse zum Abitur führen wollte.
Als Wilamowitz 1921 emeritiert wurde, ging Regenbogen als nebenamtlicher Privatdozent an die Universität Berlin. Hier lernte er Werner Jaeger kennen, der zum Nachfolger von Wilamowitz berufen worden war. Der Kontakt mit Jaeger war ein bestimmendes Ereignis in seinem Leben. Durch die Eindrücke des Ersten Weltkriegs war Regenbogen in seiner Zeit als Gymnasiallehrer bewusst geworden, dass es seiner Generation an klaren inneren Werten fehlte. Die Dekonstruktion des Humanismuskonzepts aus dem 19. Jahrhundert setzte die Lernenden „dem ewig Vorläufigen“ aus. Darum schloss sich Regenbogen in den 20er Jahren dem neuen Humanismuskonzept an, das von Werner Jaeger in Berlin und Julius Stenzel in Breslau vertreten wurde. Die Neubesinnung bestand darin, dass der Humanismus nicht mehr als absolutes Ideal (klassizistisch), sondern als zeitlich verankertes Beispiel (historisch) verstanden wurde. Der Fixpunkt für den neuen Humanismus Jaegers und seiner Anhänger war das griechische Konzept der Paideia, wie sie von Platon propagiert worden war. Regenbogen nahm sich vor, dieses neue Konzept in der akademischen Lehre umzusetzen. Am 1. April 1923 verließ er das Gymnasium und ging als außerordentlicher Professor für Klassische Philologie an die Berliner Universität.
Professor in Heidelberg
Schon zwei Jahre später erhielt Regenbogen einen Ruf auf den Lehrstuhl für Klassische Philologie an der Universität Heidelberg, der seit dem Tode Franz Bolls (1924) vakant war. Regenbogen nahm den Ruf zum 1. April 1925 an und zog nach Heidelberg, wo er bis an sein Lebensende wirkte. Er arbeitete auf landesweiten Kongressen daran mit, Jaegers Humanismuskonzept weiterzuentwickeln. 1929 wurde er zum Ersten Vorsitzenden des Deutschen Altphilologenverbandes gewählt, dem er seit seiner Gründung (1925) angehörte. Er publizierte auch fachdidaktische Vorträge. In Anerkennung seiner Verdienste für die Forschung wählte ihn die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1929 zum ordentlichen Mitglied ihrer Philosophisch-Historischen Klasse.
Regenbogens akademisches Wirken in Heidelberg wurde schon früh allgemein anerkannt, was sich daran zeigte, dass er von vielen Universitäten als Berufungskandidat gehandelt wurde. So heißt es in einem Gutachten der Universität Freiburg von 1931: „Alle seine Arbeiten … bedeuten eine entschiedene sachliche wie methodische Förderung der Wissenschaft. … Durch die ihm eigene eindringende Kraft des geschriebenen wie gesprochenen Worts versteht R(egenbogen) lebendig anzuregen und sich zu führen. Ein starkes persönliches Ethos im Bunde mit einem in langer Erfahrung erprobten didaktischen Geschick macht ihn zum Lehrer von zündender Wirkung.“ Damals stand Regenbogen an zweiter Stelle hinter Eduard Fraenkel aus Göttingen, der den Ruf erhielt und annahm.
Kurz darauf wurde Regenbogen als Nachfolgekandidat für Fraenkel an der Universität Göttingen gehandelt; den Ruf erhielt jedoch dann Kurt Latte. Einen Ruf der Universität Basel (als Nachfolger Lattes) lehnte Regenbogen ab. 1933 wurde er hinter Wolfgang Schadewaldt als Nachfolger von Alfred Körte in Leipzig gehandelt. Gemeinsam mit Schadewaldt und Werner Jaeger wurde Regenbogen 1934 in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina aufgenommen.
Disziplinarverfahren und Verbannung vom Lehramt 1935–1945
Während der Zeit des Nationalsozialismus wahrte Regenbogen Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie der Machthaber und trat keiner parteinahen Organisation bei. In seinem Amt verhielt er sich möglichst unparteiisch: Trotz seiner politischen Distanz unterstützte er aus fachlichen Gründen die Berufung des ideologienahen Pädagogen Ernst Krieck (1934) und die seines Schülers Hans Oppermann (1935), eines bekennenden Nationalsozialisten, durch positive Gutachten. Im selben Jahr geriet Regenbogen selbst in Bedrängnis: Seit 1929 war er mit Dora Schöll (1880–1967) verheiratet, der Tochter des Heidelberger Philologen Fritz Schöll, deren Großmutter eine konvertierte Jüdin war. In seinem „Ariernachweis“ vom 18. Juni 1935 hatte Regenbogen die Herkunft seiner Frau mit „arisch“ angegeben. Später erklärte er, er habe nicht gewusst, dass die Großmutter seiner Frau erst im Alter von vier oder fünf Jahren getauft worden war und seine Frau somit als „jüdischer Mischling“ galt. Ungeachtet dieser Erklärung leitete der Rektor der Universität Heidelberg, Wilhelm Groh, am 19. September 1935 ein Disziplinarverfahren gegen Regenbogen ein. Gleichzeitig enthob er ihn seines Amtes und kürzte seine Bezüge um 20 %, „weil er die ihm als Beamten obliegende Pflicht, sich durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung und des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, würdig zu erweisen, verletzt hat“.
Der Rektor empfahl Regenbogen, die beim Ministerium geführten Akten zu berichtigen. Regenbogens Anwalt Leonhard wandte sich an den Dekan Hermann Güntert um Unterstützung, der jedoch dieses „dreiste Schreiben“ an den Rektor weiterreichte. Unter wachsendem Druck trat Regenbogen 1936 vom Vorsitz des Gymnasialvereins und des damit verbundenen Deutschen Altphilologenverbandes zurück. Im Januar 1937 bat er um eine Reiseerlaubnis nach Uppsala, die der Dekan unter Hinweis auf das immer noch schwebende Disziplinarverfahren ablehnte. In erster Instanz wurde Regenbogen zu fünf Jahren Dienstentlassung bei 75 % des Ruhegehalts verurteilt; dieses Urteil wurde jedoch revidiert. Als Regenbogen eine Einladung nach Basel erhielt, empfahl ihm der damalige Rektor Krieck, freiwillig abzusagen. Am 22. Juni erhielt Regenbogen einen Verweis und wurde zu einer Geldstrafe von 300 Mark (etwa 30 % eines Monatsgehalts) verurteilt. Das Ministerium erwog, ihn an eine andere Universität zu versetzen. Diese Pläne erübrigten sich, als ihn der Reichsstatthalter am 24. September 1937 gemäß § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand versetzte. Regenbogen unternahm keine weiteren Schritte gegen dieses Urteil, weil er das – wie er dem Rektor Krieck schrieb – für nutzlos hielt. Zu Regenbogens Nachfolger auf dem Lehrstuhl wurde 1937 Hildebrecht Hommel berufen, der 1945 von der US-amerikanischen Besatzungsbehörde abgesetzt wurde.
Über Regenbogens Tätigkeiten von 1937 bis 1945 gibt es keine Untersuchungen. Er war von der akademischen Lehre ausgeschlossen, erhielt jedoch kein Publikationsverbot und veröffentlichte auch in dieser Zeit verschiedene Schriften, darunter den umfangreichen Artikel in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft zu Theophrastos von Eresos (1940) und eine Gedenkschrift für den Bibliothekar Otto Kunzer (1942). Zwei Vorträge über Johann Wolfgang von Goethes Verhältnis zum Griechentum veröffentlichte er ebenfalls 1942.
Nachkriegszeit
Nach Kriegsende bemühte sich Regenbogen sofort um seinen Wiedereintritt in die akademische Lehre. Bereits im April 1945, kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner in Heidelberg, beriet er in der Wohnung des SPD-Politikers Emil Henk mit den Professoren Alfred Weber, Else Jaffé, Karl Jaspers und Alexander Mitscherlich die Zukunft der Universität Heidelberg. Auf Initiative des Counter Intelligence Corps wurde nach kurzer Zeit der sogenannte „Dreizehnerausschuss“ gebildet, der unter der Leitung von Martin Dibelius den Wiederaufbau der universitären Selbstverwaltung organisierte. Im August wurde Regenbogen zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt. Ein Unterausschuss des „Dreizehnerausschusses“, dem auch Otto Regenbogen angehörte, sollte die NS-treuen Professoren und Dozenten politisch bewerten. Diese Arbeit wurde jedoch durch die Entlassungsmaßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht im Zuge der Entnazifizierung von 1945/1946 zunichtegemacht. Regenbogen setzte sich damals für eine differenzierte Behandlung der Dozenten ein: Er wollte nur diejenigen, die sich aktiv für das Naziregime eingesetzt hatten, von der Universität verbannt wissen. Hier nannte er in einem Memorandum an die Besatzungsmacht ausdrücklich den Historiker Paul Schmitthenner, den Volkskundler Eugen Fehrle und den Pädagogen Ernst Krieck, denen er großen Anteil an der zuschrieb. Die übrigen Dozenten wollte er nach Möglichkeit im Lehrbetrieb belassen, auch wenn sie in die NSDAP oder in die SS eingetreten waren.
Am 7. September 1945 wurde Regenbogen wieder in sein Amt als Professor eingesetzt. Er erhielt dafür die Planstelle von Eugen Fehrle, der von den Amerikanern seines Amtes enthoben worden war. Der Lehrstuhl für Volkskunde wurde zum Lehrstuhl für Klassische und Germanische Philologie umgestaltet. Als Dekan wurde Regenbogen 1946 durch Wahl für ein Jahr bestätigt. Am 12. September 1946 wählte ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitglied. Einen Ruf an die Humboldt-Universität zu Berlin (1947) lehnte er ab. Nach dem Ende seines Dekanats fungierte Regenbogen von 1948 bis 1949 als Sekretar der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Von 1951 bis 1954 gehörte er dem Vorstand des Deutschen Altphilologenverbandes an, dessen Ehrenmitglied er später wurde. Im Frühjahr 1953 hielt er sich als Gastprofessor an der Universität Uppsala auf und wurde zum Ausländischen Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften ernannt.
1959 wurde Regenbogen im Alter von 68 Jahren emeritiert. Zu seinem Nachfolger wurde Franz Dirlmeier berufen, der nach seiner Entlassung in München 1945 als Professor in Mainz und Würzburg gewirkt hatte. Er gab 1961 die Kleinen Schriften seines Vorgängers mit einem Porträt und einem Schriftenverzeichnis heraus. In seinen letzten Jahren wurden Regenbogen hohe öffentliche Ehren zuteil: 1962 erhielt er den Königlichen Griechischen Georgsorden, am 25. Mai 1966 das Große Bundesverdienstkreuz. In den letzten Lebensjahren machte Regenbogen ein Nervenleiden zu schaffen, das ihn motorisch einschränkte. Am 8. November 1966 starb Otto Regenbogen im Alter von 75 Jahren. Die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg richtete ihm zu Ehren am 18. Dezember 1966 eine Gedenkfeier aus.
Zu seinen Schülern zählten Hermann Gundert, Hans Oppermann, Viktor Pöschl, Paul Händel, Alexander Kleinlogel, Christoff Neumeister und Gert Preiser.
Leistungen
Otto Regenbogen war auf weiten Gebieten der Altertumswissenschaft tätig. Er beschäftigte sich mit der antiken Philosophie und Naturwissenschaft, besonders mit der Medizingeschichte, sowie mit der griechisch-römischen Geschichtsschreibung und den römischen Dichtern der Klassik und Nachklassik. In seiner Forschung verbanden sich die Einflüsse seiner Lehrer Diels und Wilamowitz-Moellendorff: Von Diels übernahm er das Streben nach Synthese und Strukturierung der Einzelforschung, von Wilamowitz die Universalität des Wissens und die Fähigkeit, das Individuelle jeder Erscheinung wahrzunehmen.
Geschichte der antiken Medizin und Naturwissenschaft
Regenbogens Beschäftigung mit der antiken Medizin geht auf die Anregung von Hermann Diels zurück, der sich sein Leben lang der medizingeschichtlichen Grundlagenforschung widmete und 1907 an der Berliner Akademie das Corpus Medicorum Graecorum/Latinorum begründete. Bereits Regenbogens Dissertation von 1914 war dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos gewidmet. Der Plan, sie in erweiterter Form unter dem Titel Hippocratis qui fertur de morbo sacro libellus zu veröffentlichen, wurde nie ausgeführt. Sein späterer Aufsatz Eine Forschungsmethode antiker Naturwissenschaft (1930) galt als bahnbrechend: In ihm untersuchte er die antike Methodik der Analogie und des Experiments. Dies führte ihn zur Philosophie der Peripatetiker, mit der er sich in den folgenden Jahren intensiv auseinandersetzte. In drei Aufsätzen (1930–1937) trug er dazu bei, moderne Fehldeutungen aufzudecken und die Leistung der Aristoteles-Schüler für die antike Naturwissenschaft darzustellen. Mit seinem umfassenden Artikel über den Philosophen und Naturforscher Theophrastos von Eresos (Schüler und Nachfolger des Aristoteles) in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von 1940 schuf er einen bis lange nach seiner Zeit gültige Grundlage der Theophrastforschung.
Lukrez- und Seneca-Interpretation
Ebenfalls in den dreißiger Jahren beschäftigte sich Regenbogen intensiv mit den römischen Dichtern Lukrez und Seneca. Seine Schriften Lukrez, seine Gestalt in seinen Gedichten (1932), Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas (1930) und Seneca als Denker römischer Willenshaltung (1936) untersuchten das Fortleben und die Weiterentwicklung griechischer Philosophie in der römischen Welt. Im Werk des Lukrez sah er eine unaufhebbare innere Spannung zwischen dem persönlichen, religiösen Gefühl und dem epikureischen Dogma des Dichters. Diese existenzielle Interpretation wurde zwar von anderen Fachwissenschaftlern vielfach angegriffen und hat kaum Anhänger gefunden; aber dennoch sorgte Regenbogens Arbeit für eine verstärkte Beschäftigung der Wissenschaft mit Lukrez.
Der Altphilologe Christoph Kugelmeier nennt Regenbogens Vortrag Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas einen „Meilenstein für die Senecaforschung“. Bedeutend war Regenbogens neuer Interpretationsansatz: Während sich die Forschung bisher nur mit der schriftstellerischen Technik und der Stilistik Senecas beschäftigt und die Ergebnisse mit den klassischen griechischen Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides verglichen hatte, legte Regenbogen den Schwerpunkt auf den Gehalt der Tragödien. Senecas Absicht sei nicht das Übertreffen der griechischen Klassiker bezüglich der Komposition und Spannung gewesen, sondern die Darstellung und Behandlung der Affekte und emotionaler Krisensituationen.
Aischylos- und Homer-Interpretation
Eine Entsprechung zu diesen latinistischen Arbeiten bilden auf gräzistischem Gebiet Regenbogens Arbeiten zur Tragik des Aischylos (1933) und zum Verständnis der Seele bei Homer (1948). In dieser Schrift, ΔΑΙΜΟΝΙΟΝ ΨΥΧΗΣ ΦΩΣ. Erwin Rohdes Psyche und die neuere Kritik. Ein Beitrag zum homerischen Seelenglauben, analysierte Regenbogen den Ansatz seines Heidelberger Vorgängers Erwin Rohde und die daraus resultierende Kontroverse im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Regenbogen wollte am frühgriechischen Denken die Grenzen zwischen dem nicht hinterfragten göttlichen Wirken und der einsetzenden Reflexionshaltung aufdecken. Unter Fortführung von Erwin Rohdes Herangehensweise, der die menschliche Psyche („Seele“) mit dem Leiblichen verknüpft sah, sprach Regenbogen von der „Vital-Seele“.
Geschichtsschreibung: Herodot und Thukydides
Die „stärkste und fruchtbarste Leistung“ Regenbogens (Gundert) konzentriert sich auf die griechischen Historiker Herodot und Thukydides. Bisher hatte die allgemeine Ansicht geherrscht, die Entstehung und der Aufbau ihrer Geschichtswerke sei auf äußere Entwicklungen zur Zeit der Abfassung zurückzuführen. Regenbogen begründete die moderne Auffassung, dass die Entstehung der Werke vielmehr auf eine Struktur geschichtlichen Denkens zurückzuführen sei, auf die jeweilige historiographische Methodik der beiden. Am grundsätzlichen Gegensatz der beiden Geschichtswerke (die bunte Vielfalt bei Herodot und die Konzentration bei Thukydides) erkannte Regenbogen ein Prinzip, das religiös-metaphysische und immanent-politische Geschichtsdeutung gegeneinander stellt. Darüber hinaus veröffentlichte er eine Übersetzung ausgewählter Thukydides-Reden (Politische Reden, Leipzig 1949).
Platon-Interpretation und Wissenschaftsgeschichte der Antike
Die Mitte seines Werkes (zwischen archaisch-frühklassischer griechischer und hochklassisch-nachklassischer lateinischer Literatur) bildet eine Studie über den platonischen Dialog Phaidros von 1950. Regenbogen beantwortete die alte Forschungsfrage, wieso der Dialog mit Eros und Rhetorik zwei thematische Schwerpunkte hat, mit der Vereinigung beider Prinzipien im Logos, den Sokrates dem jungen Phaidros als Bildungsträger empfiehlt. Regenbogen datierte den Phaidros aufgrund dieser komplexen Anlage im Spätwerk Platons (nach dem Philebos). Diese Auffassung wurde von anderen Forschern zurückgewiesen, hauptsächlich aufgrund von sprachstatistischen Untersuchungen.
In seinem Spätwerk befasste sich Regenbogen wieder mit der griechischen Wissenschaft, von der bibliothekarischen Gelehrtenarbeit bis zur Popularhistorie. Er verfasste für Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft vier umfassende Artikel (Pamphila [1], Pausanias [17], Pinax [3], Theophrastos [3]), die auch als Sonderdrucke erschienen.
Schriften (Auswahl)
Symbola Hippocratea. Göttingen 1914 (= Dissertation, Universität Berlin).
mit Emil Kroymann: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander? Leipzig 1928.
Denkschrift über einige Fragen des altsprachlichen Universitätsunterrichts. Berlin 1930.
Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas. Leipzig 1930. Darmstadt München 1963.
Friedrich Gundolf zum Gedächtnis. Heidelberg 1931.
Lukrez. Seine Gestalt in seinem Gedicht. Interpretationen. Leipzig/Berlin 1932.
Zum Gedächtnis von Otto Kunzer. Heidelberg 1942.
Griechische Gegenwart. Zwei Vorträge über Goethes Griechentum. Leipzig 1942.
Humanismus – heute? Ein Vortrag. Heidelberg 1947.
Thukydides: Politische Reden. Leipzig 1949.
Sophokles: Oedipus rex. Heidelberg 1949.
Eine Forschungsmethode antiker Naturwissenschaft. Kleine Schriften, München 1961.
Franz Dirlmeier (Hrsg.): Kleine Schriften / Otto Regenbogen. München 1964 (mit Bild).
Literatur
Festschriften und Sammelbände
Hermeneia: Festschrift Otto Regenbogen zum 60. Geburtstag am 14. Februar 1951 dargebracht von Schülern und Freunden. Heidelberg 1952.
Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932. Hrsg.: Rektorat der Ruprecht-Karls-Universität-Heidelberg. Springer Berlin Heidelberg Tokio. 2012. 324 S. ISBN 978-3-642-70761-2
Nachrufe und Erinnerungen
Gundert 1967a = Hermann Gundert: Otto Regenbogen †. In: Gnomon. Band 39 (1967), S. 219–221.
Gundert 1967b = Hermann Gundert: Otto Regenbogen. In: Gymnasium. Band 74 (1967), S. 105–107.
Gundert 1967c = Hermann Gundert: Otto Regenbogen. In: Heidelberger Jahrbücher. Band 11 (1967), S. 27–39.
Viktor Pöschl: Otto Regenbogen (1891–1966). In: Eikasmós. Band 4 (1993), S. 293–294.
Spezialuntersuchungen
Angelos Chaniotis, Ulrich Thaler: Die Altertumswissenschaften an der Universität Heidelberg 1933–1945. In: Wolfgang U. Eckart, Volker Sellin, Eike Wolgast (Hrsg.): Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus. Heidelberg 2006, S. 391–434 (online).
Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon. Band 2, Berlin/Heidelberg 1986, S. 216–217.
Jürgen C. Heß: Heidelberg 1945. Stuttgart 1996.
Jürgen Malitz: Klassische Philologie. In: Eckhard Wirbelauer (Hrsg.): Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen. Freiburg/München 2006, S. 303–364.
Dorothee Mußgnug: Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933. Heidelberg 1988.
Stephen P. Remy: The Heidelberg myth: The nazification and denazification of a German university. Cambridge (Mass.) 2002.
Birgit Vézina: „Die Gleichschaltung“ der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung. Heidelberg 1982.
Weblinks
(PDF; 4,98 MB; Internet Archive)
Berliner Akademie, mit Foto
Einzelnachweise
Altphilologe (20. Jahrhundert)
Fachdidaktiker (alte Sprachen)
Hochschullehrer (Humboldt-Universität zu Berlin)
Hochschullehrer (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR
Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Leopoldina (20. Jahrhundert)
Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften
Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes
NS-Opfer
Deutscher
Geboren 1891
Gestorben 1966
Mann |
5054958 | https://de.wikipedia.org/wiki/Buxheimer%20Chorgest%C3%BChl | Buxheimer Chorgestühl | Das Buxheimer Chorgestühl ist ein zwischen 1687 und 1691 von Ignaz Waibl geschaffenes hochbarockes Chorgestühl in der Klosterkirche St. Maria im oberschwäbischen Buxheim. Infolge der Auflösung der Kartause im Zuge der Säkularisation kam es 1803 in gräflichen Besitz. Graf Hugo Waldbott von Bassenheim ließ es 1883 in München versteigern. Als das Gestühl 1886 erneut unter den Hammer kam, ersteigerte es der Direktor der Bank von England und schenkte es den Schwestern des St. Saviour’s Hospital im englischen London, die es bei der Verlegung des Hospitals nach Hythe in der Grafschaft Kent mitnahmen. Als das Krankenhaus in Kent aufgelöst wurde, konnte das Chorgestühl 1980 vom Regierungsbezirk Schwaben für 450.000 Pfund Sterling, das entspricht in etwa einem Preis von 1,05 Millionen Euro, zurückgekauft werden. Es wurde von 1980 bis 1994 aufwändig restauriert und steht seitdem wieder an dem ursprünglichen Aufstellungsort in der ehemaligen Kartause in Buxheim.
Das Gestühl ist hufeisenförmig aufgebaut und bestand ursprünglich aus 36 Stallen, von denen noch 31 erhalten sind. Den Hauptanteil der reichen figürlichen Ausstattung bilden die Statuen von Ordensgründern in den Rückwänden der Sitze, den Dorsalen, wobei der Schwerpunkt auf Orden von Eremiten liegt. Das Gesims wird von Skulpturen der zwölf Apostel dominiert.
Geschichte
Vorgeschichte
Der Vorgänger des Chorgestühls von Ignaz Waibl war relativ einfach gestaltet, vergleichbar mit dem Gestühl, das noch in der ehemaligen Kartause Christgarten steht. Nachrichten über vorbarocke Gestühle gibt es nicht. Im Zuge der Erneuerung der Kartausenkirche gab der damalige Prior Johannes Bilstein den Bau eines neuen Chorgestühls in Auftrag, mit dem 1687 begonnen wurde. Bilstein war einer der bedeutendsten Prioren in Buxheim. Er wurde um 1626 in Köln geboren, legte am 22. Juli 1648 seine Profess in Danzig ab, wo er zunächst als Vikar tätig war. Bevor er 1678 Prior in Buxheim wurde, leitete er die Kartause in Schnals in Tirol (1661–1670) und die Kartause Karthaus bei Danzig (1670–1678). Gleichzeitig lernte er als Visitator und Konvisitator zahlreiche Kartausen kennen. Er bereiste neben der niederdeutschen auch die oberdeutsche Provinz, fuhr nach Österreich und Böhmen und in die spanischen Provinzen Katalonien und Kastilien. Inspiriert durch die Eindrücke, die er auf seinen vielen Reisen gesammelt hatte, ließ er in Danzig ein Chorgestühl anfertigen, das zu einem überaus kunstvollen Meisterwerk der Innenarchitektur wurde. Das 1677 vollendete Gestühl ist aus Eichenholz geschnitzt und besitzt einen bis dahin in Kartausen noch nicht gesehenen Reichtum an Figuren und Ornamenten. Neben italienischen Einflüssen ist das Gestühl des Chorherrenstifts in Sitten in der Schweiz erwähnenswert, bei dem Bilstein die Zwischenwangen mit Pflanzendekor und Engelsköpfen bewundert hatte und sie ähnlich in Danzig verwirklichen ließ. Das Buxheimer Chorgestühl ist also bereits das zweite Gestühl, das unter der Leitung von Johannes Bilstein gefertigt wurde. Übereinstimmungen mit dem Danziger Gestühl sind nicht zu übersehen.
Erstellung des Chorgestühls durch Ignaz Waibl
Für die Bildhauerarbeiten am neuen Chorgestühl beauftragte der Prior den Tiroler Bildhauer Ignaz Waibl, für die Schreinerarbeiten Meister Peter aus Memmingen. Dieser Meister erscheint in den Klosterarchivalien als Meister Peter, der Schreiner aus der Stadt, ist jedoch in keinem der noch vorhandenen Memminger Archivalien aufgeführt. Es wird daher davon ausgegangen, dass der Schreinermeister aus einem Dorf unweit der Stadt Memmingen gekommen ist. Warum Bilsteins Wahl auf Ignaz Waibl fiel, ist nicht bekannt. Ob die Entwürfe für das Chorgestühl von Waibl selbst stammen, lässt sich nur vermuten; das ikonographische Programm wurde von den Kartäusern vorgegeben.
Der Bildhauer richtete für sich und seine Gesellen eine Werkstätte in der Kartause ein. Aufgrund unterschiedlicher Qualität geht die Forschung von etwa fünf bis sieben Figurenschnitzern und einigen Gesellen aus, die für das Laubwerk zuständig waren. Johann Georg Dettelbacher aus Ochsenfurt ist der einzige von ihnen, der namentlich gesichert ist. Das Manuale des Priors Bilstein nennt mit Joseph und Johannes die Namen von zwei weiteren Bildhauern, die nicht näher bekannt sind. Privat und beruflich war Waibl mit dem Tiroler Bildhauer Andreas Etschmann verbunden. Es ist denkbar, dass beide zunächst in Buxheim und anschließend in Rot an der Rot zusammengearbeitet haben. Der Beginn der Arbeiten kann aufgrund von Rechnungen auf den Herbst 1687 datiert werden. In den Jahren zuvor hatte schon Prior Petrus von Schneit rund 200 Eichen in den klostereigenen Wäldern fällen und das Holz einlagern lassen. Dass für das Gestühl abgelagertes Holz verwendet wurde, ist vor allem an den Schwundrissen erkennbar, die bereits bei der Bearbeitung ausgespänt wurden und sich seitdem nicht veränderten.
Die beiden ersten Stühle waren im Februar 1688 fertig und wurden am 11. Februar mit 121 Gulden bezahlt. Auf der Rechnung erscheint der Name Ignaz Waibl in Zusammenhang mit dem Chorgestühl zum ersten Mal in den Buxheimer Archivalien. Schreinermeister Peter erhielt für die beiden Stühle 80 Gulden, weitere Stühle wurden ihm im Juli und November 1689 bezahlt. Bei der Rechnung im November ist vermerkt, dass die Schreiner an den 15 Stühlen ein Jahr und acht Monate gearbeitet haben. Ignaz Waibl wurde dafür mit 730 Gulden entlohnt. Das Gestühl mit 36 Stallen, je 15 an der Nord- und Südseite des Chores und 6 an der Westseite vor dem Kreuzganglettner, war 1691 fertig. Im Mai erhielt Waibl die Abschlusszahlung, im Oktober desselben Jahres schnitzte er noch das Portal des Gestühls, was ihm weitere 75 Gulden einbrachte. Der Schreinermeister Peter erhielt ebenfalls 1691 die letzte Zahlung. Schlossermeister Georg Eberhard der Jüngere aus Memmingen stellte im selben Jahr das Schloss, die Beschläge und die Türbänder für das Portal her und wurde dafür mit 60 Gulden entlohnt. Am 17. April bekam Johann Friedrich Sichelbein 7 Gulden und 12 Kreuzer für die Vergoldung und Fassung der Bänder.
Den Zelebrantensitz, auch Priorenstuhl genannt, der für den zelebrierenden Priestermönch bestimmt war, fertigte Ignaz Waibl zwischen 1699 und 1700 an. Aufgestellt wurde der Sitz an der Südseite des Chorgestühls.
Neuaufbau nach der Barockisierung der Kirche
Die barocke Umgestaltung der Kirche machte eine erste Veränderung des Chorgestühls notwendig. Johann Baptist und Dominikus Zimmermann bekamen den Auftrag, die gesamte Klosterkirche zu barockisieren. Das Gestühl musste 1709 für die Umbauarbeiten abgebaut und eingelagert werden. Der gotische Kreuzganglettner wurde um etwa 2,4 Meter nach Osten verlegt, was eine Verkürzung des Priesterchors und damit des Chorgestühls zur Folge hatte. Beim Wiederaufbau wurde auf insgesamt fünf Stühle und die dazugehörigen Pulte verzichtet, die Nordseite wurde auf zwölf, die Südseite auf dreizehn Stallen reduziert. Dabei ging die Symmetrie im architektonischen Aufbau der Dorsalfelder zwischen Nord- und Südseite verloren, die beim Chorgestühl in der Kartause Ittingen, das in der Nachfolge des Buxheimer Gestühls steht, noch vorhanden ist. Über die Skulpturen dieser fünf Stallen ist nichts überliefert.
Vor dem Umbau mussten die Mönche beim Betreten des Priesterchores zwei Stufen hinabsteigen. Diesen Höhenunterschied von etwa 27 Zentimetern entfernte man bei der Barockisierung durch Tieferlegung des Kreuzganges. Das Portal musste dabei um dasselbe Maß nach unten versetzt werden, was zum Verlust der von Waibl geschaffenen harmonischen Verbindung zwischen Portal und Gestühl führte. Über weitere Umbaumaßnahmen ist nichts bekannt, es kann jedoch angenommen werden, dass später nur kleinere Instandsetzungsarbeiten am Gestühl vorgenommen wurden.
Besitzwechsel durch Säkularisation, Versteigerungen und Schenkung
Aufgrund der Säkularisation kam Buxheim 1803 in den Besitz des Grafen Maximilian von Ostein, der die Kartäuser vorerst noch duldete. Nach seinem Tod 1809 wurde die ehemalige Reichskartause Eigentum der Grafen Waldbott von Bassenheim. Diese lösten den Konvent im April 1812 auf. Mit dem Tod des Grafen Friedrich Karl Waldbott von Bassenheim wurde die Kirche 1830 zur Gruftkirche. Da sein Sohn Graf Hugo Philipp Waldbott einen verschwenderischen Lebensstil pflegte, begann er ab 1850 mit der Veräußerung von Kartausenbesitz. Die ersten Verkaufsabsichten für das Chorgestühl sind für das Jahr 1882 belegt. Graf Hugo Philipp bot es dem bayerischen Gewerbemuseum in Nürnberg zum Kauf an. Die dortigen Verantwortlichen baten um fotografische Aufnahmen des Gestühls. Graf Hugo Philipp ließ mehrere Fotografien anfertigen und übersandte sie dem Museum. Ein Verkauf kam nicht zustande.
Der Gesamtbesitz des Grafen wurde am 2. Mai 1883 gerichtlich gepfändet. Damit stand eine Zwangsversteigerung unmittelbar bevor, die auch das Gestühl im Priesterchor betroffen hätte. Um sie zu verhindern, entschloss sich Graf Hugo Philipp zur Versteigerung fast aller verkäuflichen ehemaligen Klosterbesitztümer. Dabei wurden außer dem Gestühl des Priesterchores das Gestühl des Brüderchores, die Bibliothek mit ihren 16.680 Büchern, Altäre, Gemälde und Silbergegenstände angeboten. Am 23. Juni 1883 kamen die Gegenstände in München an. Die Versteigerung des Chorgestühls fand am 14. September 1883 statt, erbrachte mit 42.100 Mark jedoch bei weitem nicht den erhofften Erlös. Der Zelebrantensitz blieb in der Kirche. Nur das Sitzmöbel des Zelebrantensitzes, das so genannte Hockerl, kam für 700 Mark unter den Hammer. Das Chorgestühl wurde an die holländische Händlerfirma Gebrüder Adelaar in Amsterdam verkauft und ging zunächst nach Brüssel. Nachforschungen nach dem Aufbewahrungsort blieben ohne Ergebnis. Möglicherweise war das Chorgestühl für eine Ausstellung in Amsterdam vorgesehen. Im Februar/März 1886 wurde eine Fotografie des Gestühls angefertigt, die das erzbischöfliche Museum in Utrecht 1938 dem Landesamt für Denkmalpflege übersandte. Eine Aufstellung in Holland ist archivalisch nicht gesichert.
In London tauchte das Gestühl 1886 wieder auf. Im August desselben Jahres wurde es in der Times als Versteigerungsobjekt bei Bonhams angeboten. Am 1. September 1886 ersteigerte Edward Howley Palmer, der Direktor der Bank of England, das Chorgestühl für 3500 Pfund und schenkte es den Schwestern des St. Saviour’s Hospital in London, die es mit schwarzem Lack überstreichen ließen. Danach stellten sie 18 der 31 Stallen in der Kapelle ihres Hospitals in Hufeisenform auf, je 7 Stühle an den Längswänden und je 2 Stühle neben dem Portal an der Westwand. Der Rest des Gestühls wurde auseinandergenommen, zersägt, angepasst und als Betpulte, Stühle oder Wandvertäfelungen verwendet. Die Fertigstellung konnte am 1. November 1888 gefeiert werden. Der Konvent in London nutzte das Chorgestühl in dieser Kapelle 75 Jahre lang.
Neubau in Hythe
Wegen einer Straßenregulierung in den Jahren 1963 bis 1964 mussten Kapelle und Hospital abgebrochen werden. Die Schwestern verlegten ihren Standort nach Hythe in der Grafschaft Kent. Die Priorin des Konvents, Reverend Mother Sladys Cathleen Bush, nahm Kontakt mit Buxheim auf. Sie besuchte mit ihrem Architekten die ehemalige Reichskartause im Oktober 1963, um sich ein Bild vom ursprünglichen Ort der Aufstellung des Chorgestühles zu machen. Sie beabsichtigte, in Hythe eine Kapelle nach den Maßen des Buxheimer Priesterchores zu errichten. Als die Kapelle im Jahre 1964 fertiggestellt war, begann man mit dem Einbau des Gestühls. Es wurden dabei Veränderungen gegenüber der Aufstellung in London vorgenommen. Im neuen Aufbau wurden die Längsseiten mit je acht Stallen und einer Pultreihe besetzt. Neben dem Eingangsportal wurde je eine Doppelstalle platziert. Die Rahmung des ursprünglichen Portals wurde als Hochaltar umgestaltet. Am 14. Juni 1965 wurde die Kapelle mit dem eingebauten Chorgestühl eingeweiht.
Im Jahre 1979 entschloss sich der Konvent zur Aufgabe des Hospitals und der Kapelle und zum Verkauf des Chorgestühls. Die Priorin Sladys Cathleen Bush sah es als beste Lösung an, das Chorgestühl an Buxheim zurückzugeben.
Die Rückkehr des Chorgestühls
Die Nachricht von dem bevorstehenden Verkauf und dem Wunsch der Priorin erreichte Peter Burman, damals Sekretär des Council for the Care of Churches. Bei einem internationalen Symposion für Konservierungsfragen berichtete er im Sommer 1979 von diesem Sachverhalt dem Leiter der Restaurierungswerkstätten des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege Dr. Karl-Ludwig Dasser, der sich sofort für das Gestühl interessierte. Zurück in München erhielt er vom Generalkonservator Michael Petzet die Genehmigung für Rückführungsverhandlungen. Der Buxheimer Salesianerkonvent unter Leitung von Pater Herbert Müller stimmte zu. Am 8. Dezember trafen sich Müller, Dasser und Burman mit der Priorin Cathleen Bush zu Verhandlungen in Hythe. Gleichzeitig wurden mit Professor John Withe, einem Mitglied des Reviewing Committee on the Export of Works of Art Kontaktgespräche geführt. Weil die Zeit für den Abbau des Gestühls knapp war, wurde das Auktionshaus Sotheby’s mit dem Verkauf zu einem Schätzpreis von 450.000 Pfund Sterling beauftragt. Die Firmenleitung bekundete, dass es ihre Meinung sei, dass das Kunstwerk an seinen Ursprungsort zurückkehren sollte. Der Freistaat Bayern, der durchaus Interesse an dem Gestühl hatte, konnte in so kurzer Zeit keine haushaltsrechtlichen Voraussetzungen schaffen, um den Kaufpreis zu bezahlen. Um eine erneute Auktion und damit unter Umständen die komplette Zerstückelung des Gestühls zu vermeiden, sagte schließlich auf Bitten Dassers trotz ungeklärter finanzieller Risiken Georg Simnacher telefonisch zu, dass der Bezirk Schwaben als Käufer auftreten werde. Die Kaufabsichtserklärung wurde wenig später unterschrieben. Am 16. Juli 1980 fand die Kaufverhandlung in München statt. Der Schätzpreis von 450.000 Pfund Sterling konnte nicht reduziert werden. Die Hälfte des Preises wurde mit der Lieferung, die andere Hälfte ein Jahr nach Vertragsabschluss fällig. Die Transportkosten betrugen 34.000 Englische Pfund. Über den Kauf fand am 28. Juli 1980 in Hohenschwangau eine Bezirkstagsversammlung statt. Der Erwerb wurde mit 20 zu 3 Gegenstimmen vom Bezirkstag gebilligt. Am 6. August wurde der Kaufvertrag unterschrieben. Aufgrund der Abwertung der D-Mark im Devisenhandel verteuerte sich das Chorgestühl von den veranschlagten 1,8 Millionen auf 2.065.441 DM.
Nach dem Kaufabschluss fuhren die Restauratoren des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege Edmund Melzl und Christoph Müller nach Hythe und dokumentierten den Abbau. Das Chorgestühl musste zuerst in Canterbury zwischengelagert werden, da noch keine Ausfuhrgenehmigung nach dem britischen Denkmalrecht vorlag. Diese Zustimmung wurde nach Intervention des bayerischen Kultusministers in England beschleunigt und noch im Oktober 1980 erteilt.
Neben dem Land Bayern, das einen Zuschuss in Höhe von 690.000 DM aus dem Entschädigungsfonds gewährte, beteiligten sich die Bundesrepublik Deutschland mit 100.000 DM, die bischöfliche Finanzkammer Augsburg mit 100.000 DM, die Bayerische Landesstiftung mit 250.000 DM und der Landkreis Unterallgäu mit 50.000 DM. Aus der Privatwirtschaft kamen Spenden hinzu, so dass der Bezirk selbst 725.442 DM aufbringen musste. In der Gemeinde Buxheim wartete man ungeduldig auf die Ankunft des berühmt gewordenen Gestühls. Am 4. Dezember 1980 begrüßte die Gemeinde den mit Girlanden geschmückten Container auf einem Speziallastkraftwagen mit Glockengeläut und Blasmusik. Die Schulkinder hatten für den Empfang des Chorgestühls schulfrei und konnten zusammen mit den Erwachsenen im Klosterhof der ehemaligen Kartause die Ankunft feiern. Noch im Klosterhof begann der damalige Bezirkstagspräsident Georg Simnacher mit dem Auspacken des Gestühls. Der erste Heilige, der wieder auf Buxheimer Boden begrüßt werden konnte, war der heilige Jakobus der Ältere. Simnacher hielt ihn hoch und schrie in die Menge „Es isch wieder dau!“. In einem Interview für den Rundfunk sagte Simnacher danach „Dies ist eine Stunde des europäischen Verständnisses für Kunst und Denkmalschutz.“
Restaurierung und Wiederaufbau
Nach einem Verzicht des Freistaats Bayern auf ein Miteigentum wurde der Bezirk Schwaben alleiniger Eigentümer des Chorgestühls, das als Dauerleihgabe des Bezirks an seinen Platz in der Kirche zurückkehrte. Weil der Lettner aus liturgischen Gründen nicht wieder geschlossen werden sollte, wurde zunächst nur an einen Teilaufbau am ursprünglichen Platz gedacht. Zuerst wurden gemeinsam mit englischen Restauratoren die zwei Reihen zu je acht Sitzen, wie sie in Hythe aufgestellt waren, mit den dazugehörenden Pulten provisorisch aufgebaut und am 24. Mai 1981 geweiht. Bei einem anschließenden Festakt erhielt die Priorin Cathleen Bush das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Buxheim. Die nicht aufgebauten Teile des Gestühls wurden in der ehemaligen Magdalenenkapelle zwischengelagert.
Restaurierung und Wiederaufbau erfolgten in zwei Phasen und begannen bereits im Frühjahr 1981 unter der Leitung von Edmund Melzl. Bevor der Bezirk Schwaben eine geregelte Finanzierung übernahm, wurden die Arbeiten aus Spendenmitteln finanziert, die der Heimatdienst Buxheim zur Verfügung stellte. In den Jahren 1981 bis 1986 bestand die Hauptarbeit im Entfernen des schwarzen Anstrichs. Das Gestühl wurde mit Hilfe von 3500 Litern Ethylalkohol von der Farbe befreit. Der erste Arbeitsabschnitt verursachte Kosten in Höhe von 880.000 DM. Von 1986 bis 1992 mussten die Arbeiten am Gestühl eingestellt werden, da die Kirche restauriert wurde.
Im Mai 1992 begann der zweite Abschnitt des Wiederaufbaus, für den als Anhaltspunkt lediglich die in den 1880er Jahren zu Verkaufszwecken angefertigten Fotografien herangezogen werden konnten. Mehr Teile als anfangs gedacht mussten nachgeschnitzt werden. Akanthusschmuck, Fruchtgehänge und Masken waren zu ergänzen oder ganz zu erneuern. Für elf Stühle musste ein neues Gebälk angefertigt werden. Von 25 Pulten waren nur noch 21 erhalten geblieben. Für diese Erneuerungen wurden 1991 Eichenholzblöcke aus dem Fränkischen Seenland bestellt und im Kreuzgang gelagert. Insgesamt wurden für die Rekonstruktion etwa zehn Kubikmeter Eichenholz benötigt. Ignaz Waibl hatte etwa achtzig Kubikmeter Holz verarbeitet. Mit den Fortschritten bei der Restaurierung wuchs auch der Wunsch, das gesamte Gestühl in der Fassung von 1883 wiederherzustellen, die wohl weitgehend mit der Aufstellung von 1711 übereinstimmte. Georg Simnacher führte Gespräche mit den Salesianern, die die ehemalige Klosterkirche der Kartäuser gottesdienstlich nutzten, und erhielt von ihnen im März 1993 die Zustimmung zur Schließung des Lettners. Jetzt war der Weg zur Rekonstruktion des gesamten Gestühls frei.
Mit dem Aufbau wurde am Portal zur Sakristei begonnen, das bereits ein Jahr zuvor in einfacher Form anhand alter Fotografien rekonstruiert worden war. Das von Waibl geschnitzte Sakristeiportal ist verschollen. Fotos belegen, dass das Gestühl unmittelbar an die Türstockverkleidung grenzte. Zuerst wurde also die Nordseite errichtet, danach die Südseite, im Spätsommer 1993 wurde mit der Westseite begonnen. Dabei wurde der bei der Restaurierung 1955/56 geöffnete Kreuzgang wieder geschlossen und zum Kreuzganglettner zurückgebaut. Der zweite Arbeitsabschnitt schlug mit 1.200.000 DM zu Buche und damit erreichten die Kosten der Wiederherstellung des Chorgestühls, an denen sich wieder mehrere kommunale Geldgeber und der Freistaat Bayern beteiligten, mit rund zwei Millionen DM die gleiche Höhe wie der Kaufpreis. Nach Abschluss der Arbeiten wurde das Chorgestühl am 24. Juni 1994 im Priesterchor feierlich benediziert. Begünstigt durch die hohe Luftfeuchtigkeit in der Kirche hat sich 2011 ein Schimmelpilz im Chorgestühl eingenistet. Es wird versucht eine Beschichtung zu finden, die eine weitere Ausbreitung des Pilzes verhindern soll.
Beschreibung
Das Chorgestühl besteht aus 31 Sitzen und ist hufeisenförmig in Anlehnung an den Kreuzganglettner aufgestellt. Die Nordseite mit ihren zwölf Stallen hat eine Länge von 10,62 Metern, die Südseite mit dreizehn Stallen ist 11,35 und die Westseite mit sechs Plätzen 8,34 Meter lang. Das Gestühl ist dreistufig gegliedert und besteht aus den Sitzen mit Schulterringen, den darauf aufgebauten Dorsalen und dem nach oben abschließenden baldachinartigen Gebälk. Die Sitze sind bis zu den Schulterringen etwa 1,02 Meter hoch, wobei die Sitzhöhe zwischen 46 und 49 Zentimeter schwankt. Die Dorsale haben eine durchschnittliche Höhe von 1,42 Metern, das Gebälk ragt 47 Zentimeter empor. Ein Sitz hat eine Gesamtbreite von etwa 88 Zentimetern. Das Gestühl steht auf einem Laufboden von 38,5 Zentimeter Höhe.
Sitze und Pulte
Da nur wenige Reste erhalten waren, musste der einstufige Laufboden komplett neu angelegt werden. Die sichtbaren Teile bestehen aus Eichenholz, der Unterbau ist mit Fichtenkanthölzern versteift. Auf dem Holzboden stehen die Sitze. Zwischen zwei Stallenwangen, den Sitzwangen, sind die hochklappbaren Sitzbretter angebracht, die an ihrer Unterseite mit Miserikordien versehen sind, einer Stehhilfe für die Mönche. Die Rückwände sind aus glattem Holz. Die Sitzwangen bestehen aus Akanthusschnitzwerk, das oben in einer konsolenartig geneigten Halbfigur endet, die einem von vier verschiedenen Typen zugeordnet werden kann. Manche Halbfiguren sehen wie Putten mit angelegten Flügeln aus, es gibt einen Tuchtyp mit einem Kopftuch, das den ganzen Rücken bedeckt, einen Tuchtyp mit gekreuzten Armen und eine Gruppe, die durch eine Brustbinde gekennzeichnet ist. Auf den bis zu 44 Zentimeter tiefen Sitzwangen und den Rückwänden liegen Schulterringe.
Vor den Sitzen sind in einem Abstand von 68 Zentimetern Pulte aufgebaut, die zu mehreren Blöcken zusammengeschlossen sind. Um den Zugang zu den Sitzreihen zu ermöglichen, verfügen sechs Stallen über keine Pulte. An der Nordseite stehen zwei Blöcke zu je fünf, am Lettner zu je zwei Pulten. An der Südseite sind einmal fünf und einmal sechs Pulte aneinandergereiht. An den beiden Enden der Blöcke sind auf den schrägen Pultabdeckungen Putten dargestellt, die in Akanthusranken übergehen. Beim Eingangsportal sind es zwei betende Kartäusermönche in der für ihren Orden charakteristischen Variante der Prostratio. Wie die Dorsale sind die Pultvorderseiten architektonisch gegliedert. Die Sockel sind mit Akanthusranken verziert, die sich mittig zu teils bösartig aussehenden Blattmasken formen und dem Dämonischen Ausdruck verleihen. Auf den Sockeln erheben sich aus Blätterwerk Halbfiguren von Gebälkträgern, meist in Engelsgestalt. Die Felder zwischen ihnen sind mit verschiedenen geometrischen Formen geschmückt, mit je einem Engelsköpfchen im Zentrum. Die ersten und letzten Felder der Blöcke auf der Nord- und Südseite sind schmaler und haben eine leere Nische in der Mitte. Puttenköpfe und Akanthusranken füllen die Frieszone des Gebälks.
Dorsale
Direkt über den Sitzwangen stehen auf den Schulterringen die Hochwangen, bei denen sich an Nord- und Südseite zwei Typen von unterschiedlicher Höhe abwechseln. Die niedrigeren sind 1,42 Meter hoch und enden an der unteren Kante des Gebälks, so dass der Eindruck entsteht, sie würden das Gebälk tragen. Die höheren messen 1,57 Meter und reichen bis ins Innere des hohlen Gebälkkastens. In der Mitte der Hochwangen sind, frontal ausgerichtet, hermenartige Engelsfiguren zu finden, die in durchbrochen geschnitztes Akanthusrankenwerk übergehen. Zwischen den Hochwangen befinden sich die Dorsale, die Rückwände der einzelnen Stallen, mit Rundbogennischen, die einen architektonischen Aufbau haben. Die unterste Ebene bildet ein Sockel mit einer Namenskartusche. Über der Kartusche ist eine von einer Muschel bekrönte weitere Nische mit einer Putten- oder Akanthusblattkonsole für die Heiligenfigur angebracht, die dort aufgestellt ist. Diese Nische ist von Stützelementen, meist Säulen oder Pilastern, flankiert, die ein Gebälk mit einer abwechslungsreich gestalteten Giebelzone tragen. Die Zwickel zwischen Rundbogen und Hochwangen sind abwechselnd mit Puttenköpfen oder Akanthusblättern gefüllt.
Auf den Konsolen der Nischen stehen Skulpturen von Christus, Maria, Ordensgründern und Persönlichkeiten, mit denen einzelne Orden verbunden sind. Diese Figuren sind mit 47 Zentimetern nur etwa halb so groß wie die Statuen auf dem Gesims. Da nicht nur zahlreiche Heiligenattribute und drei Skulpturen abhandengekommen sind, sondern auch drei Namen in den Kartuschen fehlen, musste die Reihenfolge der heutigen Aufstellung mühevoll rekonstruiert werden. Immer noch gibt es mehrere Plätze auf der Nord- und Südseite, bei denen die Zuordnung eines bestimmten Heiligen fraglich erscheint.
Westseite
Der Eingang wird von Christus und Maria flankiert. Christus ist südlich des Portals, auf der Epistelseite, mit der Weltkugel in der linken Hand als Salvator mundi dargestellt. Seine Rechte ist zum Segnen ausgestreckt. Diese Stalle ist für den Prior bestimmt. Auf der Evangelienseite rafft Maria mit der Linken ihr überlanges Gewand etwas hoch, während die rechte Hand auf ihrer Brust ruht. Die Plätze neben Christus sind Elija und Paulus von Theben gewidmet. Der alttestamentliche Prophet Elija, der von den Karmeliten als ihr Ordensstifter verehrt wird, tritt mit seinem linken Fuß auf einen abgeschlagenen bärtigen Kopf. Dieses Attribut steht in Bezug zum Gottesurteil auf dem Karmel, als Elija nach seinem Sieg über die Propheten des Baal diese töten ließ . Der Platz des Paulus von Theben ist leer, seine Statue verloren gegangen, nur die Inschrift auf der Namenskartusche erinnert an ihn. Er war der erste Einsiedler und wurde zum Vorbild für die Pauliner. Die Statue von Johannes dem Täufer ist verschollen. Besondere Verehrung brachten ihm die Einsiedler vom heiligen Johannes entgegen, ein Orden, der 1575 von Papst Gregor XIII. bestätigt wurde. Der Name des Täufers auf der Kartusche zeigt an, dass er den Platz neben Maria innehatte, gefolgt von Antonius dem Großen, dem Vater des abendländischen Mönchtums, leicht zu erkennen am Antoniuskreuz auf seinem Umhang und dem Glöckchen in seinen Händen. Auf ihn berufen sich die Antoniter. Sie machten mit dem Läuten des Antoniusglöckchens bei Sammlungen für ihre Spitäler aufmerksam.
Südseite
Auf Paulus von Theben folgt auf der Südseite Basilius der Große, der als Vater des morgenländischen Mönchtums angesehen wird. Als einer der großen griechischen Kirchenlehrer wird er im bischöflichen Ornat mit dem Evangelienbuch dargestellt. Nach seinen Regeln leben die Mönche des griechischen Ritus. Nach der Inschrift auf der Kartusche soll im nächsten Dorsalefeld eine Skulptur des heiligen Augustinus stehen, der meist als Bischof mit einem flammenden Herzen als Attribut abgebildet wird. Die Statue zeigt ihn im Ordensgewand mit einem Buch ohne ein individuelles Attribut, das letzte Sicherheit geben könnte. Im dritten Feld ist der Benediktinerabt und Reformer Odo von Cluny zu sehen, der die Regeln für seinen Orden verschärfte. Neben ihm befindet sich Bruno von Köln, der Gründer der Kartäuser, in seiner Ordenstracht. Der Eremit Wilhelm von Malavalle hebt sich von allen anderen durch seine ungewöhnliche Kleidung ab. Er trägt einen Helm und einen Kettenpanzer unter einem Bußgewand aus Fellen. Seine Hände sind zum Gebet gefaltet. Er ist Vorbild für die Wilhelmiten, deren Orden an seinem Grab gegründet wurde. Die nächste Kartusche ist mit Stephan von Muret, dem Namen des Gründers der Grammontenser beschriftet. Die Skulptur kann ihm nicht mit letzter Sicherheit zugeordnet werden. Dargestellt ist ein Mönch, der mit dem rechten Zeigefinger einen Ring hält. Keine Zweifel gibt es bei Johannes von Matha, dem Mitbegründer der Trinitarier, der mit seinem Ordensgewand bekleidet ist. Auf dem Skapulier ist in Brusthöhe deutlich das Ordenskreuz erkennbar.
Bei der nächsten Stalle fehlt die Namenskartusche und so lässt sich nach Friedrich Kobler nicht belegen, wer dort vorgesehen war. Franz von Paola, der Gründer der Paulaner (Minimen), gehört zeitlich ins 15./16. Jahrhundert und passt nicht zwischen Johannes von Matha und Petrus Nolascus, die beide ins 12./13. Jahrhundert zu datieren sind, da die Personen in den beiden Längsreihen chronologisch von West nach Ost angeordnet sind. Gegen die These, dass es sich bei der Figur um diesen Ordensstifter handelt, spricht, dass seine Tonsur fehlt und er nicht durch einen Strick über dem Skapulier gegürtet ist. Petrus Nolascus ist Mitgründer der Mercedarier und kann durch das Wappen des Königreiches Aragon auf seinem Skapulier eindeutig identifiziert werden. Wegen fehlender Kartusche lässt Kobler die Besetzung der nächsten Nische offen. Zu sehen ist Birgitta von Schweden, die Gründerin des Birgittenordens, die ein Buch in ihren Händen hält. Unter ihrem Kopftuch wird die sogenannte Birgittenkrone sichtbar, die zur Ordenstracht der Birgittinen gehört. Neben ihr steht Kajetan von Thiene, Mitgründer der Theatiner, bekleidet mit einer gegürteten Soutane und einem Mantel mit einem Kragen. Auf ihn folgt im Messgewand und mit ausgebreiteten Armen Ignatius von Loyola, der Gründer der Jesuiten. Gemäß der Inschrift ist Philipp Neri, der den Orden der Oratorianer gründete, der letzte in der bei der Barockisierung verkürzten Reihe. Er trägt einen langen Mantel über der mit dem Zingulum gegürteten Soutane.
Nordseite
Der Kirchenvater Hieronymus nimmt den ersten Platz im Westen der Nordseite ein. Mit dem rechten Fuß auf einem Löwen stehend, dem er der Legende nach einen Dorn aus der Pranke gezogen hatte, wird er nicht, wie oft üblich, als Kardinal abgebildet, sondern als büßender Einsiedler. Er ist spärlich bekleidet, nur mit einem Tuch um seine Hüften, und schlägt als Bußübung mit der rechten Hand mit einem Stein auf seine Brust; mit der linken hält er seine Bibelübersetzung empor. Benedikt von Nursia, mit einem Buch in seiner Rechten, auf dem sich ein zersprungener Becher befindet, war Gründer der Benediktiner und wird ebenso wie Antonius der Große als Vater des abendländischen Mönchtums bezeichnet. Der Becher weist auf die Legende hin, in der berichtet wird, dass Mitbrüder den Heiligen wegen seiner strengen Zucht töten wollten. Als Benedikt den Becher mit vergiftetem Wein segnete, zersprang er und der Wein lief aus. Gemäß den Inschriften sollen auf den beiden nächsten Plätzen Romuald von Camaldoli, der Gründer der Kamaldulenser, und Robert von Molesme, Mitbegründer der Zisterzienser, stehen. Bei beiden Figuren gibt es leichte Unsicherheiten, da sie durch keine charakteristischen Attribute eindeutig bestimmbar sind. Anders ist die Lage bei Norbert von Xanten, dem Gründer der Prämonstratenser, der trotz fehlender Attribute an seiner Kleidung erkennbar ist, die auf sein Dasein als Regularkanoniker und auf seine Tätigkeit als Erzbischof von Magdeburg hinweist.
Ebenso eindeutig identifizierbar ist Guido von Montpellier, der Gründer der Brüder vom Orden des Heiligen Geistes, bekleidet mit Talar, Birett und einem Mantel. Auf Mantel und Talar ist als Ordenszeichen ein Patriarchenkreuz mit gespaltenen Enden zu sehen. Auf ihn folgt Dominikus von Caleruega, Gründer der Dominikaner, mit einem Hund als Attribut zu seinen Füßen.
Seine Mutter hatte geträumt, ihr Sohn wäre ein Hund mit einer Fackel im Maul, die die ganze Welt erleuchtet. Die Fackel an der Statue ist verloren gegangen. Das Dorsalefeld neben Dominikus ist leer; die Kartusche gibt an, dass es der Platz von Philippus Benitius ist, dem Generalprior der Serviten. In der nächsten Nische ist die Statue von Petrus de Murrone aufgestellt, einem Einsiedler, der 1294 zum Papst gewählt wurde und als Coelestin V. bereits nach wenigen Monaten sein Amt wieder niederlegte. Als Attribut hält er den abgelegten Papstmantel auf seinem rechten Arm. Er ist Gründer der später nach ihm benannten Coelestiner-Eremiten. Aufgrund der fehlenden Inschrift ist die Figur neben Petrus de Murrone nicht mehr ermittelbar. In der jetzigen Aufstellung ist der Platz mit Franz von Assisi besetzt, dem Gründer des Franziskanerordens. Er ist erkennbar an seinen Wundmalen. Laut Kartusche stellt die vorletzte Skulptur Johannes von Gott dar, den sich die Barmherzigen Brüder zum Vorbild nahmen. Seine Attribute sind verloren. Mit einer Flamme vor ihrer Brust als Zeichen der Gottesliebe steht Teresa von Ávila als Reformerin der Karmeliten am Ende der verkürzten Nordseite.
Skulpturenprogramm der Dorsalefelder
Bei der Auswahl der Heiligen wurden gemäß der Lebensweise der Kartäuser Einsiedler und Gründer von Eremitenorden bevorzugt. Stichvorlagen für die geschnitzten Figuren hat man bislang nicht gefunden. Eine Identifizierung aller Statuen inklusive ihrer Zuweisung auf die richtigen Plätze ist mit letzter Sicherheit nicht möglich.
Der architektonische Aufbau der Dorsalfelder wechselt von Feld zu Feld. Die einander gegenüberliegenden Dorsale bei der Nord- und Südseite hat Waibl mit großer Ähnlichkeit konzipiert, so dass von einem symmetrischen Aufbau des Gestühls gesprochen werden kann. Bei der Kürzung um fünf Stallen entfernte man nicht nur die letzten Stühle der beiden Reihen, sondern man nahm mitten im Gestühl eine Veränderung vor. Entweder stellte man den Sitz des Franz von Paola in die Südseite willkürlich ein oder man entfernte die ihm gegenüber liegende Stalle auf der Nordseite. Von Westen her sind bis zu dem Paar Dominikus von Caleruega und Johannes von Matha alle Dorsale symmetrisch, Franz von Paola hat kein entsprechendes Gegenüber, dafür gehören die Dorsale von Philippus Benitius und Petrus Nolascus zusammen, und alle folgenden sind unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie ebenso um einen Platz verschoben.
Gebälk
Auf die Dorsalwände und die niedrigeren Hochwangen ist das mit Ornamenten und Figuren geschmückte Gebälk aufgesetzt. Sein Gewicht wird hauptsächlich von Zugankern getragen, die in der Wand des Priesterchores befestigt sind. Der untere Teil des Gebälks besteht aus drei Stufen. Darüber ist eine Frieszone angebracht, gefolgt von einem Kranzgesims. Beim Fries wechseln sich drei Ornamentformen ab, ein Draperietyp mit einem an zwei Seiten durch einen Knoten gerafften Tuch, ein Kartuschentyp mit Akanthusblättern und eine Variation eines Akanthusrankenornaments. Unter dem Gebälk sind zwischen den Hochwangen Girlanden aus Früchten, Blüten und Rankenwerk gespannt.
Auf dem Gesims sind auf der Nord- und Südseite je zur Hälfte die Skulpturen der zwölf Apostel auf kleinen Postamenten platziert. Statt Judas Iskariot gehört sein gewählter Nachfolger Matthias zu ihnen. Sie sind erkennbar an ihren Attributen, von denen etliche verloren gegangen waren und erneuert wurden. Die Bereiche zwischen den etwa einen Meter hohen Aposteln sind mit geschnitzten Engeln, von denen einige Musikinstrumente halten, und Rankenwerk ausgefüllt. Auf der Südseite beginnt die Aufstellung im Westen mit Petrus, der in seiner Rechten zwei Schlüssel als Attribut hält. Neben ihm steht sein Bruder Andreas, mit dem Rücken gegen ein großes Astkreuz, das nach ihm benannte Andreaskreuz, gelehnt. Mit dem Kelch in seiner linken Hand folgt der jugendlich aussehende Johannes. Die nächste Figur stellt Bartholomäus dar, der in der Rechten ein Messer trägt, während über seinen linken Arm die schon abgezogene Haut mit seinem Gesicht gelegt ist. Zwischen Johannes und Bartholomäus halten Engel das von drei Puttenköpfen umrahmte Jesusmonogramm IHS, bei dem der Buchstabe H mit drei Nägeln in einem Herz mit Seitenwunde verankert und mit einem Kreuz überhöht ist. Wegen der Walkerstange in seiner Rechten kann es sich beim nächsten Apostel nur um Jakobus den Jüngeren handeln, der seinen rechten Fuß auf einen Säulenstumpf setzt. Als Letzter in dieser Reihe steht Judas Thaddäus, der sich mit der linken Hand auf seine Keule stützt.
Im Westen der Nordseite steht Matthäus am Anfang der Apostelreihe. Als Attribut ist ihm ein Schwert beigegeben. Kleidung und Ausrüstung eines Pilgers mit Stab, Tasche, Pilgerhut und einer Muschel gehören zu Jakobus dem Älteren. Als Dritter ist Philippus mit dem Kreuzstab in seiner Linken zu sehen, gefolgt von Thomas mit einer langen Lanze. Zwischen ihnen präsentieren zwei Engel ein Marienmonogramm, das von einem Puttenkopf mit Flügeln bekrönt ist. Neben Thomas befindet sich Simon mit einer Säge in der Rechten, die von seinem Postament bis in Schulterhöhe reicht. Den Abschluss bildet Matthias mit einem Beil in der erhobenen linken Hand.
Andreas und Philippus sind die einzigen Apostel, für die eine graphische Vorlage bekannt ist. Es sind Kupferstiche aus dem Apostel-Credo-Zyklus von Hieronymus Wierix (1553–1619), die seitenverkehrt umgesetzt wurden.
Die Skulpturen der Westseite stellen Persönlichkeiten aus dem Alten Testament dar, je zwei zu beiden Seiten des Eingangsportals. Von Nord nach Süd sind es Melchisedech, Aaron, Mose und König David. Melchisedek hält Brote in seiner rechten Hand. Die Weinkanne in seiner linken ist verloren gegangen. Nach Gen 14,18 überreichte er als Priester und König von Salem Abraham Brot und Wein. Aaron trägt ein hohepriesterliches Gewand und hält ein Weihrauchfass in seinen Händen. Sein Bruder Mose präsentiert mit seiner linken Hand die Gesetzestafeln und König David ist als Psalmist an seiner Harfe zu erkennen. Allen Figuren gemeinsam ist eine bewegte Körperhaltung, verbunden mit lebhafter Gestik und einer Leichtigkeit im Auftreten. Bei vielen Figuren ist ein Fuß durch das Betreten von Steinen, Stufen oder eines abgebrochenen Säulenstücks erhöht.
Eingangsportal
Die beherrschende Figur der Westseite ist die des Erzengels Michael über dem Eingangsportal. Sie stammt von einem anderen Schnitzer als die übrigen Gesimsfiguren, wirkt schwerfälliger und mehr der Tradition verhaftet. Der Erzengel steht auf einem erhöhten Postamentaufbau und überragt die anderen Statuen trotz Tieferlegung des Portals bei der Barockisierung. Mit seiner rechten Hand zeigt er auf den Schild in seiner linken mit den Worten QUIS UT DEUS (Wer ist wie Gott?), der lateinischen Form des Namens Michael. Es bedeutet, dass Gott allein die Herrschaft gebührt. Auf dem Postament steht auf einer herzförmigen Fläche der Eigenname Gottes in hebräischen Buchstaben, das Tetragramm, umgeben von den Köpfen der vier Lebewesen, die nach der Offenbarung des Johannes Gottes Thron umstehen. Sie gleichen einem Löwen, einem Stier, einem Menschen und einem Adler und preisen die Heiligkeit Gottes. Ihr Lobgesang steht auf den Spruchbändern, die zwei Engel halten: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabaoth. Das letzte Wort lautet abweichend von nicht „omnipotens“, sondern „Sabaoth“ und weist so auf den Mess-Gesang der katholischen Liturgie hin. Auf der Frieszone des Portals, die ursprünglich mit der des Gestühls auf gleicher Höhe war, sind die vier Jahreszeiten dargestellt. In der Mitte trägt ein Atlant das Postament des Erzengels Michael. Links von ihm quellen aus zwei Füllhörnern Blumen und Getreideähren, Symbole für Frühling und Sommer, rechts verweisen Weintrauben auf den Herbst und ein Mönch, der seine Hände über einem Feuer wärmt, auf den Winter. Kunstvoll verschnörkelt ist mit der Zahl 1691 zwischen den Jahreszeiten das Datum der Fertigstellung des Chorgestühls eingefügt. Die Tür, die mit Engelsköpfen verziert ist, wird von zwei Cherubim flankiert. Abweichend vom erhöht aufgestellten Gestühl steht das Eingangsportal direkt auf dem Steinboden.
Kunstgeschichtliche Einordnung
Die Hufeisenform der Chorgestühle entstand bei den Kartäusern zusammen mit der Entwicklung des Kreuzganglettners in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Als einziger Orden im deutschen Sprachraum behielten sie die Verbindung von Chorgestühl und Lettner bis in den Barock hinein bei. Ohne Ausnahme wurden die Stallen im Zellentypus errichtet, wobei Hochwangen für die Trennung der Mönche sorgten, um Ablenkung zu vermeiden. Bei einem Gestühl mit Hochwangen ist die Gestaltung der Dorsale nur bei frontaler Ansicht einsehbar. In der Schrägsicht rücken die rein ornamental gestalteten Hochwangen optisch zusammen und blenden die Rückwand aus. Wie in allen Kartausen ist das Gestühl einreihig aufgebaut, das Eingangsportal im Westen architektonisch mit dem Gestühl verbunden.
Für das Buxheimer Chorgestühl und sein ikonographisches Programm gibt es keine genauen Vorbilder. Dennoch sind zwei Gestühle erwähnenswert, die Einfluss auf seine Gestaltung hatten. Das eine ist das Chorgestühl der Danziger Kartause Marienparadies, angefertigt unter der Leitung von Prior Johannes Bilstein, der seine Erfahrungen vom Bau des Danziger Gestühls in Buxheim einbrachte. Zwischen den beiden Gestühlen gibt es Übereinstimmungen bei den Hochwangen, bei der Zierarchitektur der Dorsalfelder und der Üppigkeit von Ornamenten und Engelsköpfen. Als zweites kommt das Chorgestühl der Klosterkirche von Weißenau in Betracht, das den wichtigsten Teil des ikonographischen Programms, die Darstellung der Ordensgründer, vorwegnahm.
Zusammen mit den Stuckarbeiten aus der Werkstatt des Johann Schmuzer in Wessobrunn ist das Gestühl in Buxheim eines der frühesten Beispiele für die Entwicklung einer eigenständigen Akanthusornamentik im süddeutschen Raum. Mit den Werken, die nach ihm entstanden sind, gehört es zur figürlich ausgestatteten Gruppe der schwäbischen Akanthus-Chorgestühle. Zu ihnen zählen vor allem die hochwertigen Chorgestühle der Klosterkirchen von Rot an der Rot und Schussenried und das Gestühl des Kapitelsaals in Obermarchtal, an denen Bildschnitzer beteiligt waren, die schon unter Führung von Ignaz Waibl ihre Tätigkeit in Buxheim ausgeübt hatten. Die Akanthuschorgestühle lösten die schwäbischen Bildhauergestühle ab, die als Ornamentform das Knorpelwerk verwendeten. Das Chorgestühl der Kartause Ittingen wurde von einheimischen Meistern ebenfalls nach dem Vorbild Buxheims gefertigt. Der Ittinger Prior Christophorus Schmid ließ sich für sein Chorgestühl von Buxheim inspirieren, als er von 1686 bis 1693 als Konvisitator mit Johannes Bilstein die niederdeutsche Provinz der Kartäuser visitierte und des Öfteren in Buxheim zu Gast war. Kennzeichnend für das Buxheimer Gestühl und seine Nachfolger ist nicht nur das Ornament, sondern auch das seltene Programm der Gründer der wichtigsten religiösen Orden, das es außerhalb dieser Gruppe nur in Weißenau gibt.
Brüderchorgestühl
Unter Prior Petrus Leickart wurde 1720 das Brüderchorgestühl angefertigt. Es bestand aus insgesamt 32 Stühlen, die in U-Form im Brüderchor aufgebaut waren. Je zehn Stühle waren an der Nord- und Südseite, zwölf vor der Empore aufgestellt, wobei ein Eingang in der Mitte freigelassen war. Ob der nördliche und südliche Abschnitt unter der Empore deshalb zugemauert wurden, kann heute nicht mehr geklärt werden. In den Rechnungsbüchern von 1720 wird im Zusammenhang mit dem Gestühl der Maler Gabriel Weiß genannt. Ob dieser jedoch für die gesamte Fertigung des Gestühls verantwortlich war, ist fraglich.
Erst bei der Versteigerung 1883 wurde das Brüderchorgestühl wieder erwähnt. Im Katalog ist Folgendes vermerkt: „302. ein Chorstuhl mit sechs Sitzen in weichem Holze, über den Sitzen eine Boiserie mit sieben caryatidenartigen Figuren versehen, die Brüstung mit zwei Theilen und drei Caryatiden rechts und links, auf den Enden Engelsköpfe mit Arabesken; 303. ein Chorstuhl ditto, Gegenstück zum Vorigen, von gleicher Schönheit und sonstiger Qualität wie jener; 304. ein Chorstuhl in weichem Holze mit 10 Sitzen, rückseitig oben Boiserie mit verkröpftem Gesimse; darüber die Sitze oben und unten durch vorspringende reich geschnitzte durchbrochene Abtheilungen getrennt; über dem Gesimse oben ein prachtvoll durchbrochen geschnittener Ornament-Aufsatz, der jedoch zum Theil beschädigt, aber leicht wieder herstellbar ist. Die Brüstung mit Pult vorne mit sechs grossen, getrennt durch sechs prächtig geschnittene Caryatiden, reich umrahmte Füllungen, an den Enden des Pultes je zwei ebensolche Nischen, die Seitenwangen und Enden der vier Pulte durch Laubköpfe mit Engelsbüsten geschmückt; 305. ein Chorstuhl, gleich dem Vorigen, jedoch mit ganz erhaltenem Aufsatze. Zwei Prachtwerke in ihrer Art und wenn nicht als Chorstühle, doch sehr leicht als Boiserie eines Salons verwendbar.“ Wer bei dieser Versteigerung das Brüderchorgestühl erwarb, ist nicht bekannt.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Kartause Buxheim
Chorgestühl (17. Jahrhundert)
Kirchenausstattung im Landkreis Unterallgäu |
5396169 | https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner%20wissenschaftliche%20Luftfahrten | Berliner wissenschaftliche Luftfahrten | Als Berliner wissenschaftliche Luftfahrten wird eine Serie von 65 bemannten und 29 unbemannten Ballonaufstiegen bezeichnet, die in den Jahren 1888 bis 1899 vom Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt zur Erforschung der freien Atmosphäre durchgeführt wurden. Organisator der Fahrten war Richard Aßmann, Professor am Berliner Meteorologischen Institut, der auch die wichtigsten der eingesetzten Messinstrumente entwickelt hatte. Die Durchführung lag vor allem in den Händen des Militärluftschiffers Hans Groß und des Meteorologen Arthur Berson. 1894 stieg Berson mit dem Ballon Phönix bis in eine Höhe von 9.155 Metern – die größte, die ein Mensch bis dahin erreicht hatte.
Vorgeschichte
Der Stand der Meteorologie in den 1880er Jahren
Die Meteorologie hatte im Verlaufe des 19. Jahrhunderts den Charakter einer lediglich beobachtenden und beschreibenden Wissenschaft verloren. Auf der Grundlage der klassischen Physik, vor allem der Partikel- und Kontinuumsmechanik und der mechanischen Wärmetheorie, war sie dabei, sich zu einer messenden und rechnenden Naturwissenschaft zu entwickeln, zu einer Physik der Atmosphäre. Die Grundzüge der atmosphärischen Thermodynamik waren in den 1880er Jahren bereits ausgearbeitet, die Beschreibung der Dynamik erfolgte aber durch einfache Ansätze wie beispielsweise das Barische Windgesetz.
Die wissenschaftliche Wettervorhersage steckte am Ende des 19. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen. Das lag einerseits an der unzureichenden Kenntnis der atmosphärischen Prozesse, andererseits an einem Mangel verlässlicher Beobachtungsdaten, die außerdem fast nur am Erdboden gewonnen wurden, während über den vertikalen Aufbau der Atmosphäre nur vage Vorstellungen bestanden.
Frühere wissenschaftliche Ballonfahrten
Das Potential des Ballons zur Erforschung der freien Atmosphäre wurde schon früh erkannt. Bereits beim ersten Start eines Gasballons am 1. Dezember 1783 führte dessen Erfinder Jacques Charles ein Thermometer und ein Barometer mit. Schon im darauffolgenden Jahr stellte der Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier im Auftrag der Académie française ein Programm für wissenschaftliche Luftfahrten auf, das allerdings nicht verwirklicht wurde. In Deutschland war es Georg Christoph Lichtenberg, der schon 1784 fünfundzwanzig Thesen über die Nutzung des Ballons aufstellte, deren erste die Erforschung der Atmosphäre thematisiert.
Die erste Ballonfahrt mit dem Ziel, meteorologische Beobachtungen auszuführen, unternahm am 30. November 1784 der amerikanische Arzt John Jeffries gemeinsam mit dem Berufsballonfahrer Jean-Pierre Blanchard. Eine erste systematische Untersuchung der freien Atmosphäre führte zwischen 1862 und 1866 der englische Meteorologe und bedeutende Pionier der Aerologie James Glaisher durch. Auf 28 Ballonfahrten maß er die Temperatur, den Luftdruck, die Luftfeuchtigkeit und die Windgeschwindigkeit bis in eine Höhe von fast 9.000 m. Da er seine Instrumente nicht ausreichend vor der Sonnenstrahlung schützte und er sie innerhalb des Ballonkorbs statt außerhalb anordnete, waren seine Temperaturmessungen besonders in größeren Höhen mit starken Fehlern behaftet. In den folgenden Jahren waren es vor allem französische Wissenschaftler wie Camille Flammarion, Gaston Tissandier und Wilfrid de Fonvielle, die wissenschaftliche Luftfahrten unternahmen. Jedoch blieben die Erforschungen der freien Atmosphäre bis in die 1890er Jahre isolierte Bemühungen vereinzelter Forscher.
Entwicklungen in Berlin
1885 wurde Wilhelm von Bezold zum Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für Meteorologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität und zum Direktor des Preußischen Meteorologischen Instituts in Berlin berufen. Er strukturierte das Institut tiefgreifend um und stellte zum 1. April 1886 drei wissenschaftliche Oberbeamte ein, darunter den Magdeburger Arzt und Meteorologen Richard Aßmann. Dieser arbeitete seit 1883 an einem Messgerät, das die Lufttemperatur auch unter dem störenden Einfluss der Sonnenstrahlung genau bestimmen konnte. Als Aßmann 1887 gemeinsam mit anderen führenden Berliner Meteorologen dem 1881 gegründeten Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt beitrat, lernte er den Ingenieur Hans Bartsch von Sigsfeld kennen, der für die 1884 aufgestellte Luftschifferabteilung, die den Eisenbahntruppen des preußischen Heeres zugeordnet war, am selben Problem arbeitete. Gemeinsam entwickelten sie das Aßmannsche Aspirationspsychrometer, bei dem der Strahlungseinfluss durch Abschirmung und permanente Belüftung ausgeschaltet ist.
Die von Glaisher aufgenommenen Temperaturprofile galten lange als gesichertes Wissen, waren aber vereinzelt auch angezweifelt worden, da sie theoretischen Erwägungen in wichtigen Punkten widersprachen. Aßmann und Sigsfeld sahen nun die Gelegenheit gekommen, Glaishers Resultate mit dem neuen Instrument kritisch zu überprüfen.
Am 2. Juni 1888 hielt Wilhelm von Bezold vor dem Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt auf dessen 100. Sitzung eine Festrede zum Thema Die Bedeutung der Luftschiffahrt für die Meteorologie. Darin skizzierte er ein Programm zur Zusammenarbeit von Meteorologie und Luftschifffahrt bei der Erforschung der freien Atmosphäre, das von den Vereinsmitgliedern wohlwollend aufgenommen wurde. Seine Umsetzung dominierte die Vereinstätigkeit für mehr als ein Jahrzehnt. Bereits am 23. Juni 1888 fand die erste Fahrt mit Sigsfelds Ballon Herder statt.
Finanzierung
Für die Durchführung des Unternehmens waren bedeutende Geldmittel erforderlich. Durch Spenden von Vereinsmitgliedern (Rudolph Hertzog, Werner von Siemens, Otto Lilienthal) konnte der Fesselballon Meteor angeschafft werden. Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften gewährte einmalig einen Betrag von 2.000 Mark. Mehrmals stellten Privatpersonen (Hans Bartsch von Sigsfeld, Kurt Killisch-Horn (1856–1915), Patrick Young Alexander) ihre privaten Ballons zur Verfügung. Insgesamt war der Verein jedoch nicht in der Lage, die benötigten Mittel für den Bau und Betrieb eines geeigneten Ballons aufzubringen. Daraufhin verfasste Mitte 1892 ein „Ausschuss zur Veranstaltung wissenschaftlicher Luftfahrten“, bestehend aus Richard Aßmann, Wilhelm von Bezold, Hermann von Helmholtz, Werner von Siemens, Wilhelm Foerster, August Kundt und Paul Güßfeldt, eine Immediateingabe an Kaiser Wilhelm II., die von der Akademie der Wissenschaften unterstützt wurde. Der Kaiser gewährte die beantragten 50.000 Mark für den Bau und Betrieb des Ballons Humboldt aus seinem „Allerhöchsten Dispositionsfonds“ und nach dem Explosionsunglück des Humboldt weitere 32.000 Mark für den Bau des Phönix. Zur Finanzierung ergänzender Fahrten und für die Publikation der wissenschaftlichen Ergebnisse erfolgte 1895 nach erneuter Immediateingabe die Zahlung weiterer 20.400 Mark. 1897 spendete der Verleger Georg Büxenstein für den Bau des Registrierballons Cirrus II 1.000 Mark.
Eine starke immaterielle Förderung erfuhr das Unternehmen auch durch das preußische Militär, das ein ausgeprägtes Interesse an einer militärischen Nutzung des Luftraums hatte. Offiziere der Luftschifferabteilung übernahmen in den meisten Fällen die Führung der Ballons. Mehrmals wurde den Meteorologen gestattet, an militärischen Ausbildungsfahrten teilzunehmen. Premierleutnant Groß wurde zeitweise von seinen Dienstverpflichtungen freigestellt und war für die Konstruktion der für die Hauptfahrten verwendeten Ballons verantwortlich.
Teilnehmer
Organisator der Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten war Richard Aßmann. Neben seiner Position am Meteorologischen Institut war er seit Anfang 1889 auch Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Luftschifffahrt. Aßmann sorgte für eine exzellente instrumentelle Ausstattung. Er nahm als Leiter des Projekts nur an drei bemannten Luftfahrten persönlich teil.
Sein engster Mitarbeiter am Meteorologischen Institut war seit 1889 Arthur Berson. Er nahm an 50 der 65 bemannten Luftfahrten teil. Er bestritt 31 Fahrten als verantwortlicher Observator und 9 als Ballonführer. Bei 10 Alleinfahrten war er beides in einer Person. Berson hatte auch großen Anteil an der wissenschaftlichen Bearbeitung der umfangreichen Messdaten.
Der Premierleutnant der Berliner Luftschifferabteilung Hans Groß spielte als Konstrukteur der verwendeten Gasballons und in 32 Fällen als Ballonführer eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Luftfahrten. Seine stetigen Verbesserungen der vorhandenen Ballontechnik, z. B. die Einführung einer Reißvorrichtung zum schnellen Ablassen des Füllgases, die auch heutige Gasballons in fast unveränderter Form besitzen, machte die oftmals gefährlichen Unternehmungen zunehmend sicherer.
Neben Berson war auch Reinhard Süring, der spätere Direktor des Meteorologisch-Magnetischen Observatoriums Potsdam, als Observator (zehn Fahrten), Ballonführer (eine Fahrt) und dreimal als Alleinfahrer tätig. Als Observatoren beteiligten sich außerdem in fünf Fällen Otto Baschin, dreimal Richard Börnstein, je zweimal Victor Kremser, Hans Bartsch von Sigsfeld (davon einmal als Ballonführer) und Edmund Köbke sowie je einmal Hermann Stade (1867–1932), Börnsteins Assistent Becker, der Mediziner Braehmer und Abbott Lawrence Rotch, der Direktor des Blue-Hill-Observatoriums Boston.
Beteiligt waren ferner die Berufsluftschiffer Richard Opitz (1855–1892) und Stanley Spencer, der britische Luftfahrtpionier Patrick Young Alexander sowie eine Reihe von Militärluftschiffern wie Major Stephan von Nieber (1855–1920), der Kommandeur der Luftschifferabteilung, und Richard von Kehler.
Technische Ausstattung
Ballons
Bei den 65 bemannten Freiballonfahrten kamen sechzehn verschiedene Ballons zum Einsatz, vom nur 290 m³ Gas fassenden Ballon Falke, der als „Schlechtwetterballon“ diente, wenn starke Winde oder Niederschläge die Gasbefüllung oder den Start eines großen Ballons verhinderten, bis zum 3.000 m³ großen Majestic des Briten Patrick Alexander. Etwa drei Viertel der Fahrten wurden mit den von Groß entworfenen Ballons M. W., Humboldt, Phönix, Sportpark Friedenau I und Sportpark Friedenau II durchgeführt. Als Traggas fand Wasserstoff oder das billigere Leuchtgas Verwendung, häufig auch ein Gemisch aus beiden.
Eine herausragende Bedeutung kam dem Ballon Phönix zu, der von Groß speziell für wissenschaftliche Luftfahrten konstruiert worden war. Er hatte genug Tragkraft, um auch Hochfahrten zu ermöglichen. Seine Hülle bestand aus zwei Lagen gummierten und vulkanisierten Baumwollstoffs. Sie enthielt zwei Ventile unterschiedlicher Größe, wobei das kleinere zum Ablassen von Füllgas beim Manövrieren während der Fahrt benutzt wurde, das größere zum Entleeren der Hülle nach der Landung. Als Reaktion auf die Explosion des Humboldt nach dessen sechster Fahrt hatte Groß den Phönix mit einer neu entwickelten Reißbahn ausgestattet, die vor dem Start mit der restlichen Hülle verklebt wurde. Durch das Ziehen der Reißleine konnte der Ballonführer die Hülle klaffend weit öffnen, was ihre rasche Entleerung bewirkte, ohne sie – im Gegensatz zu früheren Ausführungen – zu beschädigen. Zusätzlich wurde der Ballonstoff auf Vorschlag Bartsch von Sigsfelds regelmäßig mit 10%iger Calciumchloridlösung imprägniert, um ihn elektrisch leitfähig zu halten und eine Funkenbildung durch elektrostatische Entladung zu vermeiden.
Zur sicheren Landung führten die meisten Ballons einen schweren Anker mit. Nach der Einführung der Reißbahn wurde dieser aber entbehrlich, so dass bei den späteren Fahrten oft auf ihn verzichtet wurde. In den meisten Fällen gehörte zur Ausstattung auch ein Schlepptau, das bei den kleineren Ballons etwa 100 m lang war, bei den größeren 150 m. Während der Hochfahrten atmeten die Ballonfahrer, um der akuten Höhenkrankheit vorzubeugen, über Schläuche Sauerstoff aus einer stählernen Gasflasche.
Der Fesselballon Meteor war aus gefirnisster Seide hergestellt und konnte bei Befüllung mit 130 m³ Leuchtgas eine Höhe von etwa 800 m erreichen. Der aus demselben Material hergestellte Registrierballon Cirrus war ein ausgedienter Militärfesselballon mit einem Fassungsvermögen von 250 m³. Auf seiner fünften Fahrt trug er die Messinstrumente in eine Höhe von fast 22 km. Cirrus II war aus gummierter Seide von weniger guter Qualität und hatte ein Volumen von 400 m³.
Messinstrumente
Das Forschungsprogramm sah vor, bei jeder Fahrt die Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit sowie die Strahlungsintensität in verschiedenen Höhen zu messen. Zusätzlich sollten Fahrtrichtung und -geschwindigkeit bestimmt sowie Wolkenbeobachtungen vorgenommen werden. Die Höhe wurde nach der barometrischen Höhenformel aus dem Luftdruck und der Temperatur berechnet. Zur Gewinnung der Messwerte wurden im Allgemeinen folgende Geräte mitgeführt:
ein von Otto Bohne in Berlin konstruiertes Aneroidbarometer,
ein Quecksilbergefäß-Barometer der Firma Rudolf Fuess in Berlin,
ein Aneroidbarograph von Richard Frères in Paris,
ein dreifaches Aspirationspsychrometer der Firma Fuess, bestehend aus einem trockenen und zwei im Wechsel befeuchteten Thermometern, die sich im stetigen Luftstrom eines Ventilators mit Federantrieb befinden,
ein Schwarzkugelthermometer der Firma Fuess.
Weiterhin gehörten zur Grundausstattung ein Kompass, eine Taschenuhr und ein Momentapparat der Firma C. P. Goerz nach Ottomar Anschütz. Um die Temperatur ungestört von der Körperwärme der Passagiere und vom durch die Sonnenstrahlung aufgeheizten Korb messen zu können, war das Aspirationspsychrometer außerhalb des Korbs an einem Ausleger angebracht. Die Ablesung erfolgte mit Hilfe eines Fernrohrs. Zum Befeuchten des Psychrometers wurde der Ausleger etwa alle 30 Minuten kurzzeitig herangezogen.
Das Instrumentarium wurde gelegentlich erweitert oder modifiziert. So wurden bei Hochfahrten, die Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt des Quecksilbers erwarten ließen, Alkoholthermometer verwendet.
Verlauf
Überblick
Die ersten Luftfahrten, Aßmann nennt sie die vorbereitenden, dienten dem Test der Messinstrumente, insbesondere des Aspirationspsychrometers. Da Bartsch von Sigsfeld seinen Wohnsitz Ende 1888 nach München und Augsburg verlegte und den Herder mitnahm, war in Berlin zunächst kein geeigneter Ballon mehr verfügbar. Die Tests fanden ab 1889 in München statt. Aßmann musste sich auf einige Versuche mit dem Fesselballon Meteor beschränken. Mit Beginn des Jahres 1891 stand endlich mit dem M. W. ein Freiballon zur Verfügung, der zwar schwer war und deshalb niemals über eine Höhe von 2.000 Metern hinauskam, mit dessen Hilfe die Tests aber erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Erst als das Psychrometer 1892 in seiner ausgereiften Form vorlag, konnte mit der Ausführung systematisch angelegter Luftfahrten begonnen werden.
In den Jahren 1893 und 1894 fanden die 36 Hauptfahrten statt, davon 23 mit dem Phönix. Diese waren so angelegt, dass sie ein möglichst großes Spektrum von Wettersituationen sowie Tages- und Jahreszeiten überdeckten, um ein umfassendes Bild der physikalischen Verhältnisse der freien Atmosphäre zu erhalten. Neben Einzelfahrten wurden Simultanaufstiege mehrerer Ballons, zum Teil auch international abgestimmt, unternommen. Mit einem erheblichen persönlichen Risiko versuchten die beteiligten Meteorologen, allen voran Arthur Berson, möglichst hohe Atmosphärenschichten zu erreichen.
Die Hauptfahrten hatten ein umfangreiches Datenmaterial geliefert, das in den Jahren ab 1895 ausgewertet werden musste. Weitere Beobachtungen wurden bei gelegentlichen Beteiligungen an Militär- oder Sportfahrten vorgenommen, den ergänzenden Luftfahrten. Zur Absicherung der gefundenen Resultate fanden 1898 noch einmal rein wissenschaftliche Ballonfahrten statt.
Das im Allgemeinen rein meteorologisch ausgerichtete Programm wurde zuweilen für andere wissenschaftliche Untersuchungen erweitert. So führten Baschin und Börnstein mehrmals Messungen des vertikalen Potentialgefälles der Luftelektrizität aus. Am 18. Februar 1897 nahm Süring zur Erforschung der akuten Höhenkrankheit (Ballonfahrerkrankheit) Kaninchen als Versuchstiere mit in den Korb und entsprach damit einer Bitte des österreichischen Physiologen und Luftfahrtmediziners Hermann von Schrötter.
Vorbereitende Fahrten
Am 23. Juni 1888 fand die erste der Luftfahrten mit dem Ballon Herder des Militärluftschiffers und Vereinsmitglieds Hans Bartsch von Sigsfeld statt. Neben ihm nahmen der Berufsluftschiffer Opitz und der Meteorologe Victor Kremser am Aufstieg teil. Die Fahrt führte von der Schöneberger Gasanstalt, wo der Ballon gefüllt worden war, in eine Höhe von fast 2.500 m bis in die Nähe von Bunkenburg, heute Ortsteil von Lachendorf bei Celle. Sigsfeld erprobte dabei verschiedene Arten der Anbringung des Psychrometers am Korb.
Durch die Anschaffung des Meteor versuchte der Verein, den Weggang Sigsfelds nach München und den damit eingetretenen Verlust des einzigen verfügbaren Ballons zu kompensieren. Der kugelförmige Fesselballon war aber nur bei absoluter Windstille verwendbar. Erst Anfang 1891 konnten wieder bemannte Freiballonfahrten stattfinden, als der Inhaber der Berliner Börsen-Zeitung, Kurt Killisch von Horn, sich von Groß den Ballon M. W. entwerfen ließ und diesen dem Verein für wissenschaftliche Fahrten zur Verfügung stellte. Bis November kam es zu fünf Fahrten. Besonders bemerkenswert war die vierte, einerseits, weil als Gast der amerikanische Meteorologe Rotch an der Fahrt teilnahm, andererseits, weil erstmals ein Simultanaufstieg erprobt wurde, indem zeitgleich zum M. W. auch der Meteor aufgelassen wurde. Nach der fünften Fahrt war der M. W. aufgrund von Schäden durch unsachgemäße Lagerung nicht mehr zu gebrauchen, so dass erneut kein Ballon zur Verfügung stand. Es hatte sich allerdings auch herausgestellt, dass der M. W. insgesamt zu schwer war, und, auch wenn sich nur zwei Personen im Korb befanden, lediglich in etwa 1.800 m Höhe aufsteigen konnte.
Insgesamt hatten die vorbereitenden Fahrten die hervorragende Eignung der Instrumente nachweisen können, so dass eine Fortsetzung des Programms erfolgversprechend war.
Hauptfahrten
Mangels eines Ballons fanden 1892 keine Fahrten statt. Das Jahr wurde von Aßmann dazu benutzt, private oder institutionelle Sponsoren für sein Programm zu finden. Ein Immediatgesuch an Kaiser Wilhelm II. war schließlich erfolgreich. 1893 konnte der Ballon Humboldt, wiederum nach Plänen von Hans Groß, gefertigt werden. Mit 2.514 m³ hatte er mehr als das doppelte Fassungsvermögen des M. W. und konnte deshalb größere Höhen erreichen. Der erste Aufstieg des Humboldt fand am 1. März 1893 in Anwesenheit der kaiserlichen Familie statt. Die Fahrt verlief ruhig, aber bei der Landung brach Aßmann sich das rechte Bein. Auch die weiteren Fahrten des Ballons waren von unglücklichen Pannen begleitet, die deutlich machten, welch großes Risiko die Wissenschaftler und Ballonführer eingingen. Nach der sechsten Fahrt am 26. April 1893 verbrannte der Ballon, als sich der Wasserstoff nach der Landung beim Entleeren der Hülle entzündete.
Von besonderer Bedeutung war die zweite Fahrt des Humboldt, die als Hochfahrt geplant war. Man begnügte sich deshalb mit einem kleineren und leichteren Korb und beschloss, zu zweit statt zu dritt aufzusteigen. Der Ballon hob am 14. März bei strömendem Regen mit Groß und Berson an Bord ab. Obwohl er durch den Regen zusätzlich beschwert war, konnte Groß ihn auf eine Höhe von 6.100 m bringen. Da sie keinen Sauerstoff mitführten, litten die Aeronauten stark unter der dünnen Luft. Beim darauffolgenden Abstieg passierte das Malheur, dass die Ventilleine unter Zug geriet und der Ballon sich dadurch während der Fahrt selbsttätig entleerte. Groß hatte keine Möglichkeit, das mehr als einen Meter große Ventil wieder zu schließen, sodass der Ballon mit großer Geschwindigkeit sank. Vom Entdecken dieses Sachverhalts in 2.800 m Höhe bis zum Erreichen des Bodens vergingen nur neun Minuten. Trotzdem kamen beide Ballonfahrer mit leichten Blessuren davon. Rein wissenschaftlich war die Fahrt ein voller Erfolg. Berson hatte die Wolken beim Durchfahren ausgiebig studieren können, und die in großer Höhe gemessenen Temperaturen nährten weitere Zweifel an der Richtigkeit der von Glaisher dreißig Jahre zuvor gemessenen Werte.
Nach zweieinhalb Monaten war der neue, verbesserte Ballon fertig, den man in Anspielung auf das Ende des Humboldt nach dem mythischen Vogel Phönix benannte. Vom 14. Juli 1893 bis zum 4. Dezember 1894 fanden Luftfahrten in schneller Folge statt. In die Serie von Tagesfahrten wurden immer wieder Nacht- und Frühfahrten eingeschoben. Die Nachtfahrt am 14./15. Juli ist auch als erste internationale Simultanfahrt anzusehen, denn am 15. Juli 1893 fanden in Absprache mit den Berliner Meteorologen auch in Stockholm durch Salomon August Andrée und in Sankt Petersburg bemannte Ballonfahrten unter Verwendung der von Aßmann empfohlenen Instrumente statt. Auch im August 1894 gab es gleichzeitige Fahrten mit Andrée in Göteborg und Michail Pomorzew in Sankt Petersburg.
Einige Male wurden auch Fahrten mit mehreren Ballons gleichzeitig durchgeführt, erstmals am 11. Mai 1894. Es sollte versucht werden, mit dem Phönix die größtmögliche Höhe zu erreichen, weshalb dieser mit teurem Wasserstoff statt mit dem üblichen Leuchtgas befüllt wurde. Begleitet wurde der Versuch durch Aufstiege des Militärballons Posen, des unbemannten Ballons Cirrus und des Fesselballons Falke. Tatsächlich konnte eine Höhe von fast 8.000 m erreicht werden. Nur durch das Einatmen von mitgeführtem reinen Sauerstoff konnten Groß und Berson verhindern ohnmächtig zu werden. Durch unterschiedliche Windrichtungen in den verschiedenen Höhen wurde der Posen in südliche Richtung in die Nähe von Rangsdorf getrieben, der Phönix aber gleichzeitig nach Norden in Richtung Greifswald.
Als sich die Erfolge der Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten herumsprachen, kam der britische Luftfahrtpionier und -förderer Patrick Young Alexander nach Berlin, um sich mit seinem Ballon Majestic an den Fahrten zu beteiligen. Er nahm unter anderem an der dreifachen Fahrt am 4. Dezember 1894 von Berlin aus teil. Berson startete an diesem Tag allein mit dem Phönix von Leopoldshall bei Staßfurt, einerseits weil es dort eine bequeme Versorgung mit Wasserstoff gab, andererseits, weil die größere Entfernung zum Meer bei südlicher Windrichtung eine längere Fahrt gestattete. Um das Erreichen einer möglichst großen Höhe zu erlauben, wurde der Korb um alles erleichtert, was nicht unbedingt erforderlich war. So wurde zum Beispiel auf den 40 kg schweren Anker verzichtet. Der für eine einzelne Person schwer zu handhabende Schleppgurt wurde entgegen den sonstigen Gepflogenheiten bereits vor der Fahrt ausgerollt. Gefüllt mit 2.000 m³ Wasserstoff gewann der Ballon schnell an Höhe, nach einer Stunde war bereits die Marke von 5.000 m erreicht. Nach gut zwei Stunden und häufiger zusätzlicher Sauerstoffatmung durch den Piloten kam der Ballon bei 9.155 m Höhe und einer Temperatur von −47,9 °C ins Gleichgewicht. Da der Ballast bis auf eine Notreserve verbraucht war, musste Berson trotz noch guten körperlichen Befindens nun absteigen. Er befand sich an dieser Stelle so hoch wie kein Mensch vor ihm. Nach fünfstündiger Fahrt landete der Phönix in der Nähe von Kiel.
Ergänzende Fahrten
Ende 1894 waren die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel erschöpft. Kaiser Wilhelm II., der den Aufstiegen mehrmals beigewohnt hatte, stellte noch einmal einen Betrag für ergänzende Fahrten und für die Publikation der Ergebnisse zur Verfügung. Das Geld wurde zunächst hauptsächlich für gelegentliche Registrierballonaufstiege verwendet. Daneben durfte mehrmals ein meteorologischer Beobachter an Militärfahrten teilnehmen. Die Frequenz der Aufstiege erhöhte sich, als der Verein zur Förderung der Luftschifffahrt sich eigene Ballons für Sportfahrten anschaffte, die auch von den Meteorologen genutzt wurden.
Auf der Konferenz der Direktoren meteorologischer Institute im September 1896 in Paris wurde die Internationale Kommission für wissenschaftliche Luftschiffahrt gegründet und Hugo Hergesell, der Direktor der Meteorologischen Landesanstalt Elsass-Lothringen, zu ihrem Präsidenten bestimmt. An den von der Kommission organisierten internationalen Simultanluftfahrten, von denen die erste bereits am 14. November 1896 stattfand, beteiligten sich die Berliner Meteorologen regelmäßig mit bemannten und unbemannten Ballons.
Nach den ersten vorläufigen Veröffentlichungen von Ergebnissen der Hauptfahrten, die eine Kritik an Glaishers Messmethodik enthielten, gab es nicht nur Zustimmung, sondern zum Teil erbitterten Widerspruch von Fachkollegen. Der angesehene schwedische Meteorologe Nils Ekholm warf den Autoren eine „verfrühte Verallgemeinerung“ vor. Er hielt die beträchtlichen Unterschiede in den gemessenen Temperaturprofilen der Londoner und Berliner Luftfahrten für real und forderte zusätzliche Vergleichsfahrten in England und Deutschland unter Verwendung von Glaishers und Aßmanns Instrumenten. Die Fahrten fanden am 15. September 1898 statt. Den Aufstieg in Crystal Palace hatte Patrick Alexander organisiert und finanziert. Berson unternahm die Fahrt gemeinsam mit Stanley Spencer im Excelsior. Gleichzeitig stieg Süring im Vereinsballon vom Sportpark Friedenau in Berlin auf. Beide Fahrten waren als Hochfahrten konzipiert und erreichten tatsächlich 8.320 bzw. 6.191 m Höhe. Während am Boden zwischen Berlin und London ein Temperaturunterschied von 7 Grad bestand, verschwand dieser in der Höhe von fünf- bis sechstausend Metern fast vollständig. Die tiefste im Excelsior gemessene Temperatur lag bei −34 °C, die einst von Glaisher in 8.000 m Höhe gemessene bei −20,6 °C. Die Ergebnisse bestätigten vollauf die vorherigen Schlussfolgerungen Aßmanns und Bersons.
Ergebnisse
Wissenschaftliche Ergebnisse
Durch entscheidende Fortschritte in der instrumentellen Ausstattung und Messmethodik konnten erstmals systematisch angelegte Ballonfahrten durchgeführt werden, bei denen zu jeder Tageszeit und bei allen Witterungsbedingungen verlässliche Werte der Lufttemperatur und -feuchte gemessen wurden. Es konnte gezeigt werden, dass die bei früheren Luftfahrten gemessenen Temperaturwerte in großen Höhen stark fehlerbehaftet waren, was hauptsächlich auf einen ungenügenden Schutz der Thermometer vor der Sonnenstrahlung zurückzuführen war. Die Berliner Luftfahrten setzten damit Qualitätsstandards für die regelmäßige Sondierung der freien Atmosphäre mit Registrierballons und Wetterdrachen. Durch internationale Simultanaufstiege begründeten sie eine Synopse der freien Atmosphäre, die durch die Erschließung der dritten Dimension zu einer Verbesserung der Wetterprognosen führte.
Die Luftfahrten boten günstige Voraussetzungen, die Schichtung der Troposphäre zu studieren. Die gleichzeitige Messung von Temperatur, Druck und Luftfeuchte konnte mit Beobachtungen der horizontalen und vertikalen Windrichtung sowie der Wolkenform und -schichtung kombiniert werden. Dass das Projekt nicht durch die Entdeckung der Stratosphäre gekrönt wurde, liegt daran, dass die bemannten Fahrten nicht in diese Region vordrangen, und dass Aßmann den von den Registrierballons durchaus gemessenen Temperaturanstieg in Höhen über 10.000 m als einen Fehler durch unvollständige Abschirmung der Sonnenstrahlung auffasste. Erst durch die Fahrt auf 10.800 m Höhe, die Berson und Süring am 31. Juli 1901 mit dem Ballon Preussen unternahmen, und durch den gleichzeitigen Aufstieg eines Registrierballons kam Aßmann zu einer anderen Bewertung. Am 1. Mai 1902 legte er der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Arbeit Über die Existenz eines wärmeren Luftstromes in der Höhe von 10 bis 15 km vor. Drei Tage zuvor hatte bereits der französische Meteorologe Léon-Philippe Teisserenc de Bort in Paris über dieselbe Entdeckung berichtet. Man geht heute davon aus, dass die beiden Forscher miteinander abgestimmt haben, diese bahnbrechende Entdeckung gleichzeitig in ihren jeweiligen Heimatländern zu veröffentlichen.
Publikation
Unmittelbar nach Ausführung der einzelnen Luftfahrten wurden die Ergebnisse in Fachzeitschriften wie Das Wetter, Zeitschrift für Luftschifffahrt und Physik der Atmosphäre und Meteorologische Zeitschrift veröffentlicht. Allein von Aßmann und Berson stammen 12 bzw. 18 Artikel. Eine Zwischenbilanz nach 49 Fahrten gab Aßmann 1895 in der Meteorologischen Zeitschrift.
Eine vollständige Publikation der Messdaten aller 94 bemannten und unbemannten Ballonfahrten und eine ausführliche wissenschaftliche Analyse und Diskussion derselben erfolgte in drei Bänden unter dem Titel Wissenschaftliche Luftfahrten im Jahre 1899 (Band 1) und 1900 (Band 2 und 3). Als Herausgeber traten Aßmann und Berson auf. Mitgewirkt haben außerdem Baschin, von Bezold, Börnstein, Groß, Kremser, Stade und Süring. Das Werk enthält nach einem geschichtlichen Überblick über meteorologische Beobachtungen bei früheren Ballonfahrten eine Beschreibung des eingesetzten Ballonmaterials, der verwendeten Instrumente und der Berechnungsmethoden. Sehr breiten Raum nimmt die detaillierte Beschreibung jeder einzelnen Fahrt in tabellarischen Übersichten, graphischen Darstellungen sowie ausführlichen Berichten des jeweiligen Ballonführers über den Fahrtverlauf und des Observators über die angestellten Beobachtungen ein. Dies füllt die Hälfte des ersten Bandes und den gesamten zweiten Band. Der dritte Band enthält die zusammenfassende Darstellung und wissenschaftliche Diskussion des Beobachtungsmaterials getrennt nach Lufttemperatur, Verteilung des Wasserdampfes, Wolkenbildungen, Geschwindigkeit und Richtung des Windes, Sonnenstrahlung und Luftelektrizität. Das Werk endet mit einer theoretischen Schlussbetrachtung von Bezolds.
Das erste Exemplar der Wissenschaftlichen Luftfahrten wurde Kaiser Wilhelm II. am 10. Juni 1900 durch von Bezold, Aßmann, Berson und Hauptmann Groß übergeben. In Anerkennung ihrer Leistungen ernannte der Kaiser von Bezold zum Geheimen Oberregierungsrat und Aßmann zum Geheimen Regierungsrat. Berson und Kremser erhielten den Roten Adlerorden IV. Klasse und Süring den Kronenorden IV. Klasse.
Die Wissenschaftlichen Luftfahrten wurden von der internationalen Gemeinschaft der Aerologen sehr positiv aufgenommen. Von Hugo Hergesell, dem Präsidenten der Internationalen Kommission für wissenschaftliche Luftfahrt, erschien 1901 eine zwanzigseitige Rezension. In der Wiener Luftschiffer-Zeitung würdigte Viktor Silberer, der Präsident des Wiener Aëro-Clubs, Wissenschaftliche Luftfahrten als das . Die Königlich-Niederländische Akademie der Wissenschaften verlieh Aßmann und Berson 1903 die Buys-Ballot-Medaille, die nur einmal pro Jahrzehnt für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Meteorologie vergeben wird.
Literatur
Richard Aßmann, Arthur Berson (Hrsg.): Wissenschaftliche Luftfahrten, ausgeführt vom Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt in Berlin, 3 Bände, Vieweg, Braunschweig 1899 (Band 1) / 1900 (Band 2 und 3).
Karl-Heinz Bernhardt: Zur Erforschung der Atmosphäre mit dem Freiballon – die Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten (1888–1899). In: Eckart Henning (Hrsg.): Dahlemer Archivgespräche. Band 6, Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 2000, S. 52–82.
Sabine Höhler: Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt in Deutschland, 1880–1910. In: Campus Forschung, Band 792, Campus, Frankfurt am Main / New York, NY 2001, ISBN 3-593-36840-4 (zugleich Dissertation an der Technischen Universität Braunschweig 1999).
Hermann Stade: 40 Jahre Berliner Verein für Luftschiffahrt, Berlin 1921.
Einzelnachweise und Anmerkungen
Ballonfahren (Deutschland)
Forschung in Berlin
Berliner Geschichte (19. Jahrhundert)
Geschichte der Luftfahrt (Berlin)
1880er
1890er
Meteorologische Beobachtungseinrichtung
Meteorologisches oder klimatologisches Forschungsprojekt
Veranstaltung (Luftfahrt)
Forschungsprojekt in Deutschland |
5545188 | https://de.wikipedia.org/wiki/Landschaftspark%20Gr%C3%BCtt | Landschaftspark Grütt | Der Landschaftspark Grütt (auch Grüttpark) ist eine 51 Hektar große Grünfläche in Lörrach. Im Jahr 1983 fand auf dem neu gestalteten Gelände die baden-württembergische Landesgartenschau statt. Der größte Park in Lörrach gilt als Naherholungsgebiet für die Stadt und ihr Umland. (→ Grün- und Parkflächen in Lörrach) Gleichzeitig sind große Teile der Parkfläche ein Wasserschutzgebiet mit mehreren Tiefbrunnen. Insgesamt umfasst das Areal eine Fläche von rund einem Quadratkilometer. Die naturnahen Binnengewässer einschließlich ihrer Ufervegetation sind gesetzlich geschützte Biotope.
Zum Freizeitangebot des Grüttparks gehören neben Spiel- und Sportplätzen und Grillgelegenheiten auch ein Café sowie Spazier- und Fahrradwege. Am Rande des Parkgeländes befinden sich Messehallen, diverse Freizeitanlagen, das Grüttpark-Stadion und weitere Sportstätten. Der Park wird durch die zur A 98 gehörende Wiesentalbrücke und eine Querspange zur Bundesstraße in zwei Abschnitte geteilt, die durch einen Steg und eine Fußgänger- und Fahrradunterführung verbunden sind. Der Park ist Standort mehrerer Kunstwerke im öffentlichen Raum.
Geschichte
Vor der Gestaltung zum Park
Vor der Parkeröffnung im Jahr 1983 war das Grütt Teil einer nur mit wenigen Wegen erschlossenen Auenlandschaft. Der Name Grütt leitet sich vom Wort rütten ab, was roden bedeutet.
Die Flussniederung und der Auwald waren in diesem Gewann in früheren Zeiten abgeholzt worden, die Wiese mit einer Vielzahl von Nebenläufen schlängelte sich durch das Gebiet. Nach der Flussbegradigung in den Jahren 1806 bis 1823 durch den badischen Wasserbaumeister Johann Gottfried Tulla entstanden Wiesen und überwiegend landwirtschaftlich genutzte Äcker in der Aue, womit auch eine reiche Artenvielfalt verloren ging.
Am Rande des heutigen Grüttparks befand sich von November 1920 bis Juli 1921 der Flugplatz Lörrach mit Passagier- und Postverkehr. Aufgrund einer Weisung, die aus dem Friedensvertrag von Versailles resultierte, folgte die Stilllegung. Der verwaiste Platz wurde letztmals am 24. März 1954 für einen Flugtag genutzt. Das Gelände ist seither vollständig überbaut. Am 7. Januar 1925 ereignete sich ein Flugzeugabsturz auf dem Flugplatz Lörrach, bei dem der Pilot starb. An das Unglück und den Flugplatz erinnert ein Denkmal am nordwestlichen Rand des Grüttparks. Seine Einweihung fand am 10. Oktober 1988 durch den damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner statt.
Das Gebiet zwischen Brombach und der Lörracher Innenstadt dient seit 1967 der städtischen Wasserversorgung. Der erste Tiefbrunnen im Grütt wurde 1968 in Betrieb genommen, nachdem im Vorfeld umfangreiche Wasserleitungsbauten vorgenommen wurden. In den Folgejahren wurde die Versorgung mit Tiefbrunnen stufenweise ausgebaut und damit auch eine Grundsatzentscheidung für die Wasserversorgung der Stadt getroffen und das Versorgungsnetz weiter ausgebaut.
Nach 1960 beginnt sich der südliche Teil des Grütts zu einem Sportgelände zu entwickeln. Da der Tennisclub der Schwimmbaderweiterung weichen muss, entstehen 1961 neue Tennisanlagen an der Arndtstraße. Ein Jahr später siedelt auch der Schützenverein ans Grütt, da der alte Platz am Hünerberg wegen der neu entstehenden Wohnbebauung weichen muss. Entscheidend wird allerdings der Umzug des TSV Rot-Weiss Lörrach, dessen Sportplätze sich vormals an der Brombacher Straße, etwa auf Höhe der Einmündung zur Schwarzwald Straße, befanden. Ebenfalls aufgrund des Platzbedarfs der wachsenden Stadt erhält der Sportverein ein großzügig gestaltetes Stadiongelände mit Laufbahn, Tribüne, Gaststätte, Gymnastikhalle und Sanitäranlagen. Am 5. November 1966 wird das Grüttpark-Stadion eröffnet, das damals noch den Namen Rot-Weiß-Stadion trug. Damit genügte das moderne Stadion erstmals auch Wettkampfansprüchen.
Bewerbung zur Landesgartenschau
Am 29. September 1978 nannte der damalige Oberbürgermeister Egon Hugenschmidt drei Beweggründe für die Kandidatur Lörrachs für die Landesgartenschau:
Erstens wollte man mit der dauerhaften Ausweisung des rund 100 Hektar großen Geländes als Grünfläche eine Ausgleichsmaßnahme zu den Verkehrsbauten der A 98 und der neuen B 317 schaffen. Die Beeinträchtigungen des Landschaftsraums in Lörrach könnten damit kompensiert werden. Zweitens schaffte eine grenzüberschreitende Grünfläche entlang des Flusses Wiese und der Langen Erlen in Riehen und Basel eine Verbindung zum Nachbarstaat. Drittens ergreife man aufgrund der besonderen Lage im Dreiländereck Frankreich-Schweiz-Deutschland die Chance, sich zu präsentieren.
Als Termin für die Landesgartenschau hätte sich das 300-jährige Jubiläum der Stadtrechtsverleihung 1682/83 angeboten. Gemeinsam mit externen Beratern und Vertretern der Wasserwirtschaft formulierte die Stadtplanung die Zielvorgaben für die Wettbewerbsfläche, die auch als wichtiges Wassereinzugsgebiet der Stadt dient. Bedeutsam wäre etwa die Sohlenisolierung der Gewässer, wie Teiche und Bäche und die Platzierung der Gebäude. Als Naherholungspark sollten die nördlichen Stadtteile Brombach, Haagen, Hauingen und Tumringen mit der südlich gelegenen Kernstadt verbunden und das bis dahin herrschende Grünflächendefizit reduziert werden.
Ein halbes Jahr nach der Bewerbung erteilte am 27. März 1979 Baden-Württemberg den Zuschlag für Lörrach gegenüber 30 Mitbewerbern.
Wettbewerb, Planung und Bau
Das Land und die Stadt schrieben nach der erfolgreichen Bewerbung am 22. August 1979 einen offenen Ideen- und Realisierungswettbewerb für die Gartenschau aus. Von 15 eingereichten Arbeiten mussten drei wegen Mängeln ausscheiden, so dass dem Preisgericht zwölf Arbeiten zur Beurteilung vorlagen. Unter dem Vorsitz des Garten- und Landschaftsarchitekten Horst Wagenfeld aus Düsseldorf wurden am 18. und 19. Januar 1980 die ersten drei Preisträger prämiert. Den ersten Preis errangen Bernd Meier, Landschaftsarchitekt aus Freiburg im Breisgau, E. Riedel, Landschaftsarchitekt aus Lahr, Manfred Morlock, Architekt aus Schallstadt und Hubertus Bühler, Architekt aus Freiburg.
Die Stadtratsfraktionen der CDU, SPD und Freien Wähler trugen das Projekt von Anfang an mit. Die Grünen und eine Interessensgruppe aus Naturschützern und engagierten Bürgern kritisierten, dass das Konzept zu parkartig sei und nicht den Anforderungen an ein Wasserschutzgebiet genüge. Außerdem bringe die Nutzung durch die Landwirtschaft und gärtnerische Anpflanzungen zusätzlichen Düngereinsatz. Zudem ließen die mit der Landesgartenschau verbundenen Verkehrsbauwerke das Projekt vom Gesichtspunkt des Naturschutzes aus unglaubwürdig erscheinen.
Für die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit entschied man sich für einen ortsfremden Journalisten. Als schweres Versäumnis wertete man im Nachhinein die unterlassene Werbung bei den Busunternehmen, was dazu führte, dass wenige Besucher über Reiseunternehmen den Weg nach Lörrach fanden. Komplett versäumt hatte man es, rechtzeitig Pressearbeit in der benachbarten Schweiz zu veranlassen. Dies stellte sich als Missgriff heraus. Man löste das Engagement mit dem Journalisten auf und betraute zwei ortsansässige Journalisten in Nebentätigkeit mit der Aufgabe.
Im August 1982 wählte eine Fachjury das Logo des Basler Grafikers Francis Rusterholz für die Landesgartenschau. Es besteht aus drei ineinander greifenden Grafikelementen aus Blau- und Grüntönen. Links trägt es den blauen Buchstaben „L“, in der Mitte stellt ein stilisierter Bogen in Dunkelgrün die geografische Nähe Lörrachs zum Rheinknie dar, rechts oben soll ein hellgrünes Blatt den Park und die Natur symbolisieren. Das Signet verwendete man auf allen Plakaten, Banderolen, Aufklebern und weiteren Werbeträgern; es war auch das Logo der neu gegründeten Landesgartenschau Lörrach 1983 GmbH.
Am 2. September 1981 fand der Spatenstich am Landesgartenschaugelände statt. Oberbürgermeister Hugenschmidt fuhr zusammen mit Bürgermeister Edmund Henkel an diesem Tag ein Raupenfahrzeug als symbolischen Auftakt der Bauarbeiten. Im Dezember des Jahres waren die Aushubarbeiten für den Grüttsee und den Bachlauf vollendet. Die brach liegenden, vorher meist landwirtschaftlich genutzten Flächen, renaturierte man und richtete ein Wegesystem für Spaziergänger ein. Die von der Bevölkerung gestifteten Bäume pflanzten am 20. März 1982, dem Tag des Baumes engagierte Bürger.
Landesgartenschau 1983
Eröffnung und allgemeine Daten
Am 15. April 1983 wurde anlässlich des 300-jährigen Stadtrechtsjubiläums die Landesgartenschau feierlich im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth und des Oberbürgermeisters Hugenschmidt eröffnet. Die Deutsche Bundesbahn ließ zur Eröffnung eigens einen Sonderzug (Gartenschau-Kurier) von Karlsruhe bis zum Bahnhof in Lörrach-Haagen an das Ausstellungsgelände fahren. Nach einem Festakt am Lörracher Rathaus stieg die Prominenz am Hauptbahnhof Lörrach zusammen mit einer Trachtenabordnung in diesen Sonderzug und ließ sich zum Gartenschaugelände fahren. Ein Kuriosum am Rande war der Umstand, dass der hohe Politikgast Späth auf dem Gartenschaugelände zwar das obligatorische Band zur Eröffnung durchschnitt, aber sich die Gartenschau gar nicht anschaute. Er flog zurück nach Stuttgart und versprach, die Gartenschau zu einem späteren Zeitpunkt zu besuchen. Späth soll einige Wochen danach sehr spät nach Lörrach gereist sein, so dass es wieder nicht zu einem Bummel durch die Ausstellung reichte, wobei es dabei dann auch blieb.
Die Landesgartenschau dauerte bis zum 16. Oktober 1983 und verzeichnete 1.045.000 Besucher. Damit blieb die Zahl rund 400.000 Besucher hinter den Erwartungen. Die Gartenschau begann bei starkem Dauerregen, gefolgt von einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Abgesehen vom Wetter wird die ungeschickte Werbung und die Fehleinschätzung des Schweizer Publikums für das Besucherdefizit verantwortlich gemacht.
Motto der Gartenschau war des alemannische „Chumm go luege“ – „Komm, schau Dir’s an“; präsentiert von der Gans „Lörli“ als Maskottchen. Die Gestaltung der Grünflächen geht unter anderem auf den Stadtbaudirektor Klaus Stein zurück.
Neben dem Gartenschau-Kurier war der Blütenexpress der zweite Sonderzug, der während der Landesgartenschau von Heidelberg bzw. Offenburg nach Lörrach und zurück verkehrte. Die Namen der beiden Sonderzüge wurden durch einen Wettbewerb bestimmt, den die Landesgartenschau GmbH ins Leben gerufen hatte.
Zum Auftakt gab die Deutsche Bundespost am 15. April einen großen Rundstempel heraus, der auf Ersttagsbriefen auf die Landesgartenschau aufmerksam machte. Gleichzeitig erschienen auch vier Gartenschau-Sonderpostkarten und zwei historische Postkarten mit Motiven von Lörrach um die Jahrhundertwende.
Infrastruktur
Bei der Landesgartenschau in Lörrach war nur der östliche Teil kostenpflichtig und umzäunt. Der Haupteingang befand sich im Nordosten, am heutigen Sport- und Freizeitzentrum. Am Westeingang (Eingang „Grütt“), östlich des Wasserwerks, befindet sich heute eine Wiese.
Neben der Möglichkeit, mit dem Zug zur Landesgartenschau zu kommen, stellten die LGS-Organisation am Gelände rund 1600 PKW- und 40 Busparkplätze zur Verfügung.
Im Parkgelände gab es acht Restaurants, davon fünf im umzäunten Bereich. Insgesamt standen 1000 überdachte und 600 Außenplätze den Besuchern zur Verfügung.
Eine elektrisch betriebene, gummibereifte Ausstellungsbahn des Herstellers Intamin verband den Haupteingang mit dem rund 3,5 Kilometer entfernten Westrand des Grüttparks. Die Unterführung am Eingang „Grütt“ war ursprünglich für die Ausstellungsbahn zu steil, so dass sie abgeflacht werden musste.
Ein provisorisches Gebäude am Haupteingang diente als Informations- und Pressestelle. Dort gab es neben Telefonen einen Briefkasten, eine Hundeaufbewahrungsmöglichkeit, einen Rollstuhlverleih und Toiletten. Acht Toilettenhäuschen waren auf dem Gelände verteilt. Eine behindertengerechte Toilette befand sich am Haupteingang. Dort waren auch Hilfsdienste, Sanitäter, Bewachung und Polizei stationiert. Für den Unterhalt der Gartenanlage waren zwölf Arbeitskräfte einem Kolonnenführer unterstellt. Nach dem Ende der Landesgartenschau verblieben acht dieser Kräfte als Gärtner beim städtischen Gartenbauamt.
Ausstellungen und Aktionen
Im nordöstlichen Teil des Gartenschaugeländes wurde durch den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) ein Biotop angelegt. Dort fanden auf 2000 Quadratmeter die Hallenschauen und Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen statt. Neben einem Dauerprogramm folgten in zweiwöchigem Wechsel 26 gärtnerische Sonderschauen. Im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ standen gärtnerische Ausstellungsthemen im Vordergrund, unter anderem: Ikebana und Bonsai, Beeren- und Kirschsortenschau, Florale Objekte und Textile Bilder – Florale Objekte. Weitere Ausstellungen gab es zur Flurbereinigung und deren Nutzen, zum Biotopschutz, zur Landschaftspolitik, zum Schutz des Menschen vor dem Wasser, zum Hochwasserschutz und die Vorstellung der Naturschutzkampagne Rettet die Frösche des BUND.
Die gestalterische Konzeption des Parks versuchte eine landschaftliche Bindung des Umlandes zu realisieren. Es gab eine Ausstellungsreihe zum Thema Wasser im neuen Wasserwerk im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ und in der Eishalle. Dem Thema Land- und Forstwirtschaft trug man mit einem Lehrpfad Rechnung. Die Landwirte, deren Äcker (etwa 20 ha) man während der Gartenschau gepachtet hatte, pflanzten die Flächen mit Mais, Raps, Getreide, Klee und Sommerblumen an. Das Thema Weinbau war mit einem nachgestellten historischen Weinberg und einer neuzeitlichen Rebanlage vertreten. Dabei stellte man alte und neue Rebsorten, Kulturmethoden und Erträge von früher und heute gegenüber.
Neben einer Reihe von Skulpturen und weiteren Kunstinstallationen gab es ein Aktionswochenende Junge Künstler stellen sich vor und den Beitrag „Kunsthandwerk in Baden-Württemberg“ sowie Kunstausstellungen in der Villa Fehr und auf der Burg Rötteln zum Thema Kunst.
Die Landesgartenschau behandelte auch weitere Themen in einer Reihe von Ausstellungen, darunter: Solidarität mit der Dritten Welt, Gesund und fit ins hohe Alter, Gesund bleiben – aktiv werden, Die Museen der Region stellen sich vor, zwei Aktionswochenenden der Landfrauen, Bundesverband für den Selbstschutz, Trachtenpuppen zum Kreistrachtenfest sowie der Schülerwettbewerb des Landtages von Baden-Württemberg „Mach’ mit“.
Veranstaltungen und Programme
Sowohl für Laien- wie Fachpublikum gab es verschiedene Veranstaltungen und Informationen. Dem Laienbesucher bot man donnerstags im „Treffpunkt Baden-Württemberg“ wöchentlich wechselnde Vorträge, Filme, Dia-Schauen zu den Themen Gartenanlage, Obst- und Gemüsebau, der Schädlingsbekämpfung und zum Naturschutz wie der Floristik dar. Für das Fachpublikum gab es im Zentrum an der Gärtnerinformation einen umzäunten Ausstellungsbereich für den fachlichen Austausch. Außerdem fanden im Gartenschaujahr in Lörrach mehrere gärtnerische Fachtagungen statt.
Mittwochs hielt man spezielle Aktivitäten für Kinder und Jugendliche ab. Neben einem Spiele-Nachmittag auf dem Spielplatz am „Treffpunkt Baden-Württemberg“ und „Grütt-Treff“ fanden Rollschuh-Discos in der Eishalle, Jugendnachmittage, Kinderpartys, Märchennachmittage, Puppentheater, Ferienprogramme und ein Kinderzirkus statt.
Neben den Aktionen und Programmen direkt auf dem Gartenschaugelände nutzten auch andere Einrichtungen das erhöhte Besucheraufkommen für besondere Veranstaltungen aus. Beispielsweise fand vom 6. bis zum 8. Mai 1983 eine Oldtimer-Auto-Rallye statt. Die Landesbausparkasse veranstaltete vom 11. bis zum 17. Juni ein mehrtägiges Radrennen für Amateure, das von Mannheim bis Lörrach lief. Die Schlussetappe von Bonndorf bis Lörrach endete an den Sportstätten im Grütt. Die Siegerehrung hielt man auf dem Landesgartenschaugelände ab. Darüber hinaus fand am 28. und 29. Juni der Badische Gärtnertag statt und vom 16. bis zum 18. September wurde das Turnfest Landesgymnaestrada abgehalten.
Am 20. Juli 1983 ehrte man den 500.000sten Besucher der Lörracher Landesgartenschau.
Kosten und Fazit
Nicht alle erforderlichen Flächen befanden sich im städtischen Besitz, Teile pachtete man für die Dauer der Veranstaltung. Die Kosten hierfür betrugen 7,4 Millionen DM. Eine externe Erschließungsmaßnahme war der Bau eines provisorischen Bahnsteiges am Bahnhof Haagen.
Der Investitionshaushalt wurde innerhalb des städtischen Vermögenshaushaltes abgewickelt. Zusammen mit dem Landeszuschuss in Höhe von 5 Millionen DM beliefen sich die Gesamtkosten auf 17.569.518 DM (entspricht einer heutigen Kaufkraft von Euro). Kosten für flankierende Baumaßnahmen schlugen mit gut 8 Millionen DM zu Buche. Die Kosten gliedern sich grob in drei Hauptposten auf:
Dem gegenüber standen Einnahmen aus dem Kartenverkauf in Höhe von 2.855.185 DM und aus Miete, Provisionen und Spenden von 1.887.061 DM. Die für die Stadt Lörrach zu tragende Unterdeckung belief sich auf rund 5,3 Millionen DM.
Neben 25.000 Dauerkarten verkaufte man 350.000 Einzelkarten und 450.000 Sonderkarten. Der reguläre Eintrittspreis betrug 7,50 DM, für Kinder von 6 bis 14 Jahren waren 3 DM zu bezahlen, eine Familienkarte kostete 17 DM. Ab 17:30 Uhr gab es einen um gut die Hälfte reduzierten Abendbeitrag.
Das Urteil über die Landesgartenschau fiel durchwegs positiv aus. Der Park sei für die Lörracher Bevölkerung nützlich, urteilte das Fachmagazin Heim + Garten, und beschrieb in einem mehrseitigen Artikel das Angebot der Landesgartenschau. Bezüglich der Kostenproblematik kam das Blatt zu dem Schluss, dass die Mittel für die Grünsicherung der Autobahnbrücke hätten ohnehin eingesetzt werden müssen. Allein durch das dauerhaft geschaffene Grün seien die Mehrausgaben gerechtfertigt. Trotz ausgebliebenem Besucherrekord müsse man den Beteiligten ein hohes Lob zollen, konstatierte das Fachblatt Deutscher Gartenbau in seiner August-Ausgabe 1983. Es sei eine progressive Lösung, in der Planung nicht das gesamte Gelände als Ausstellungspark gestaltet zu haben und auch die Trennung des Ausstellungsteils vom Landschaftspark sei gut gelungen. Dazu sei für eine Stadt wie Lörrach, die kein grünplanerisches Gesamtkonzept besitze, die Schaffung dieses Landschaftsparks eine bemerkenswerte Leistung, die ohne die Gartenschau in der Form nicht möglich gewesen wäre. Die Gartenabozeitschrift Mein schöner Garten nannte die Landesgartenschau in Lörrach die „kleine Schwester der IGA“, die im selben Jahr in München stattfand. So wohlwollend und lobend die Fachpresse das Ereignis im zeitüberdauernden Kontext sah, so kritisch urteilte die Lokalpresse über die unmittelbaren finanziellen Auswirkungen der Gartenschau. Das Oberbadische Volksblatt prangerte an, das kalkulierte Defizit habe sich nahezu verdoppelt und die Zahlen sollten der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Ein „Schlussverkauf“ von während der Gartenschau verwendetem Inventar, solle wohl das Desaster in Grenzen halten. Der letzte Besuchstag der Landesgartenschau war der 17. Oktober 1983.
Nach Ende der Landesgartenschau
Nach dem Ende der Gartenschau wandelte man bereits ab dem 1. Oktober 1983 auch den Ausstellungsbereich im Osten in einen öffentlichen Park um. Die Wiesen des Parks blieben als Wasserschutz- und Wassereinzugsgebiet teilweise naturbelassen. Da die städtischen Jugendverbände den „Jugendtreff Grütt“ ablehnten, wurde dieser in einen städtischen Kindergarten (aktuell: Waldorfkindergarten) umgewandelt.
Seit 1972 organisieren der SV Weil und der FV Lörrach-Brombach ein internationales Fußball-Nachwuchsturnier. Die Altersklassen der U10- bis U14-Junioren spielen dabei sowohl in der Halle wie auf dem Feld. Neben der Sporthalle der Markgrafenschule in Weil am Rhein finden die meisten Spiele in der südlich zum Grütt angrenzenden Wintersbuckhalle und den Kunstrasenplätzen am Grüttpark-Stadion statt. Teilnehmer des traditionellen Fußballturniers sind u. a. Nachwuchsmannschaften von FC Barcelona, Juventus Turin, FC Chelsea, Bayern München, Borussia Dortmund und FC Basel. Das Sponsoring der Sportveranstaltung wird seit einigen Jahren von einem Lörracher Immobilienunternehmen übernommen.
Von 2005 bis 2015 fand auf den Grünflächen im Nordteil das regionale Metal-Freiluftkonzert Baden in Blut statt. Da die Besucherzahl in den letzten Jahren stetig stieg und die Verschmutzung zunahm, gestattete die Stadt Lörrach das Festival nicht mehr im Wasserschutzgebiet. Der „Tag des Pferdes“ ist eine seit 1925 federführend vom Reiterverein veranstaltete Reitshow. Sie war ursprünglich ein Pferdemarkt und fand an wechselnden Standorten in Lörrach statt. Sie fand bis 2013 im Grüttpark statt. Mit mehreren tausend Besuchern hat sie eine Art Volksfestcharakter.
Seit 1997 wird im Grüttpark durch den TuS Lörrach-Stetten der „Grüttlauf“ veranstaltet mit einem 800 Meter langen Kurs für Kleinkinder und einem zehn und fünf Kilometer langen Hauptlauf. Start und Ziel ist das Grüttpark-Stadion. An der Veranstaltung nahmen 2019 rund 500 Läufer teil.
Am 17. Juni 2023 fand zum 40-jährigen Bestehen des Grüttparks ein Aktionstag statt, bei dem sich Sportvereine und Lörracher Institutionen präsentierten. Neben den Veranstaltungen wurden auch kostenfreie Führungen angeboten.
Beschreibung und Nutzung
Der Landschaftspark im nördlichen Teil der Lörracher Kernstadt dient heute als Naherholungsgebiet. Neben Wegen für Spaziergänger und Fahrradfahrer führt ein Naturlehrpfad mit zehn Stationen durch die Anlage. Durch den Grüttpark verläuft außerdem ein Abschnitt des Hebel-Wanderwegs; eine Station befindet sich am Südufer des künstlich angelegten Grüttsees. Das teilweise asphaltierte und teilweise geschotterte Wegenetz im Park umfasst über zehn Kilometer.
Der Park ist eben, praktisch ohne natürliche oder künstliche Hügel. Der größte Teil des Parks liegt auf einer Höhe von , der Grüttsee hat eine Höhe von . Lediglich an den Rändern führen teilweise in sanften Rampen Wege zum – verglichen mit dem Stadtgebiet – etwas tiefer gelegenen Parkgelände.
Die 51 Hektar große Parkanlage unterteilt sich in folgende Teilflächen:
Am Ostrand des Grüttparks befindet sich eine Kleingartenanlage mit einer Fläche von rund 8000 Quadratmetern. Die Parzellen sind an einen Verein verpachtet. Die Verwaltung der Hütten mit Strom und Wasseranschluss obliegt der Stadt.
Einrichtungen und Bauwerke
Durch den Park und den Grüttsee fließt der Grüttbach. Beide Gewässer wurden künstlich angelegt. Der Grüttbach entspringt einem künstlichen, begehbaren Quelltrog. Der Bach fließt fast durch den kompletten Park von Nordost nach Südwest. Kleinere Stege und Brücken überqueren ihn. In der Parkanlage befinden sich vier als Pavillons gestaltete Schutzhütten. Eine Kneipp-Anlage am Bachlauf wurde 1982/83 als flankierende Maßnahme für die Gartenschau installiert.
Am westlichen Ende liegen ein 1970 eingerichteter Campingplatz mit Wohnmobilstellplätzen, Tennis- und Fußballplätze. Dort steht auch das 1964 bis 1966 erbaute Grüttpark-Stadion. In der Nähe des Haupteingangs zum Stadion befindet sich ein Restaurationsbetrieb.
Im südlichen Bereich steht neben einem Abenteuerspielplatz die St.-Peters-Kirche. Die moderne Kirche mit dem 42 Meter hohen Glockenturm steht etwas exponiert und ist fast im ganzen Park sichtbar. Der Kindergarten westlich der Kirche gehört zur katholischen Pfarrei. In der Nähe des Grüttparkstadions befindet sich ein Waldorfkindergarten, der von 2020 bis 2022 umgebaut wurde. Östlich der Kirche ist ein Rosengarten; daneben befindet sich ein Café.
Weitere kleine Kinderspielplätze liegen im östlichen Teil des Parks. Mit einem Seilfloß für Kinder knapp 50 Meter südlich vom Quelltopf kann man sich mit der eigenen Muskelkraft über den Grüttbach ans gegenüberliegende Ufer ziehen.
Durch den Landschaftspark Grütt verlaufen drei Stromleitungen, die teilweise zu den überregionalen Stromtrassen gehören. Die hohen Freileitungsmasten stehen im Ostteil des Parks über dem Wiesental.
Der größte Gebäudekomplex am Grüttpark sind das Sport- und Freizeitzentrum und die Messehallen am Nordostrand des Geländes. Neben einem Hotel sind dort mehrere Sporthallen untergebracht, die unter anderem die Indoor-Ausübung von Tennis, Badminton, Squash, Fußball, Bowling und Kegeln ermöglichen. Im Außenbereich sind Anlagen für Beachsoccer und Beachvolleyball vorhanden. Außerdem ist in dem Gebäude eine Taekwon-Do-Schule und ein Fitnessstudio untergebracht.
Nordwestlich des Freizeit- und Messezentrums steht die im Jahr 1900 erbaute Villa Feer auf dem Parkgelände. Sie war bis 1983 im Privatbesitz und wurde zur Landesgartenschau von der Stadt Lörrach als Restaurant umgebaut. Seit 2005 ist das Haus nicht mehr im Besitz der Stadt, dient aber nach wie vor als Restaurant. In einem Nebengebäude der Villa – dem ehemaligen Ökonomietrakt – ist das Vereinshaus des Jazzclub Lörrach mit dem Clublokal Jazztone untergebracht. Während seines 60-jährigen Bestehens traten international bekannte Jazzkünstler auf. Auch das Jazzlokal wurde im Zuge der Landesgartenschau 1983 ins Leben gerufen.
Im Jahr 1984, ein Jahr nach der Landesgartenschau, fand die erste REGIO-Messe, damals mit fünf Hallen, auf dem Messegelände im Grütt statt. Mittlerweile hat die Messe drei permanente Hallen, die bei Bedarf um temporäre Zelthallen erweitert werden. Die REGIO-Messe ist die größte Messe in Lörrach. Sie hat eine Ausstellungsfläche von 29.000 Quadratmetern und wird von über 400 Ausstellern beschickt. Die Messehallen befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Sport- und Freizeitzentrums. Der an die Hallen nördlich angrenzende Festplatz wird außerhalb von Messen für Zirkus-Gastspiele oder anderen Freiluftveranstaltungen genutzt.
Grüttsee und -bach
Das Gewässersystem des Grütts wird unter anderem durch die Heilisauquellen gespeist. Die Quellen auf rund 340 Meter Höhe liegen etwa 50 Meter höher als der Park und werden von den unterirdisch fließenden Bächen nördlich in den Park eingeleitet und südlich wieder ausgeleitet. Der von Norden nach Süden fließende, etwa 2 Kilometer lange Grüttbach tritt aus einem künstlich angelegten Quelltopf in der Nähe der Messehallen hervor.
In der Mitte des Parks liegt der rund 12.000 Quadratmeter große und nur wenige Meter tiefe Grüttsee. Sein Seespiegel ist auf Höhe angelegt. Ursprünglich war zur Landesgartenschau ein zweiter, etwa 3100 Quadratmeter großer See („Modellbootsee“) geplant, um den Grüttsee nicht durch Freizeitaktivitäten zu stören. Aus ökologischen Gründen verzichtete man später bei der Planung auf diesen zweiten Flachsee. Im Grüttsee ist nach der Umweltschutzverordnung das Baden, Bootfahren, Surfen, Fischen, die Benutzung von Modellbooten sowie das Eislaufen und Betreten von Eisflächen verboten.
Der Grüttsee erhielt nach etwa 27 Tagen der Zuleitung Anfang September 1982 seinen maximalen Stand.
Rosarium
Südlich des Grüttsees liegt an einer Niederterrassenkante der etwa 1 Hektar große Rosengarten, dessen Standort aufgrund der städtischen Schutzverordnung festgelegt wurde. Das Rosarium enthält etwa 2500 Rosenbüsche aus 170 Arten und Sorten, die verschiedene Formationen ergeben. Im Hang zum See pflanzte man rund 7500 Rosen aus 30 Arten. Den verschiedenen Rosenklassen dienen unterschiedliche Rankhilfen und Gerüste. Der Hauptgang unter einem Rosenbogen führt zum Café Rosengarten. Die Beetformen sind quadratisch, rechteckig und rund. Im Zentrum des Rosengartens steht ein Brunnen des Freiburger Künstlers Bollin. Den Platz umsäumen zehn Kugelakazien. Von dort führen sternförmig Wege zu den halbkreisförmig angelegten Beeten. Die Beete, die im Sommer vielfältige Farben und Formen aufweisen, sind durch grüne Rasenflächen getrennt. Der Rosengarten ist in Richtung Wohnbebauung mit Eiben, Eichen, Hainbuchen und Japanischen Zierkirschen begrenzt.
Flora
Der Landschaftspark Grütt, der naturräumlich noch zum Markgräfler Hügelland bzw. zu den Ausläufern des Dinkelbergs gehört, zeichnet sich durch weiträumige Wiesenflächen aus. Die Rasen- und Pflanzenflächen machen über 80 % der gesamten Parkfläche aus. Insbesondere um den Grüttsee und am Quelltopf des Grüttbachs umsäumen Pflanzen die Gewässer. Am Grüttsee geht durch Röhricht die Wasser- zur Landfläche über. Heimische und exotische Bäume und Sträucher bilden die pflanzliche Vielfalt der Anlage. Entlang des Weges in Richtung Wasserwerk befinden sich mehrere Mammutbäume (u. a. Riesenmammutbaum, Urweltmammutbaum). Gegenwärtig stehen rund 60.000 Bäume und Sträucher aus rund 60 Arten im Grüttpark – zur Landesgartenschau waren es rund 25.000. Neben den heimischen Pappeln und Erlen gibt es im Grütt Bitterorangebäume, Sumpfzypressen, Mispeln, Schlangenhautahorn und Ginkgobäume.
Sowohl der naturnahe Bachlauf des Grüttbachs und das Feldgehölz am Grüttsee sowie zwei kleineren Randgebiete sind nach § 30 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) und § 33 Naturschutzgesetz Baden-Württemberg (NatSchG) am 20. Oktober 1993 durch das Land Baden-Württemberg als Biotope kartiert, insgesamt sind es rund 1,32 Hektar geschütztes Gebiet. Der renaturierte Bachlauf ist zwischen drei und vier Meter breit und nur an wenigen Stellen mit Steinen befestigt. Er enthält teilweise kleine Stufen und Kiesbänke. Die angepflanzten Galeriewäldchen, zum überwiegenden Teil aus Grau-Erlen, sind sehr mit Lücken durchsetzt, so dass sie keine Auwälder sind. In Biotopen sind vor allem folgende Pflanzenarten anzutreffen: Schwarz-Erle, Grau-Erle, Gelbe Schwertlilie, Rohrglanzgras, Sal-Weide und Gewöhnlicher Schneeball.
Folgende Flächen stehen im Park unter besonderem Schutz:
Skulpturen und weitere Installationen
Im Park, insbesondere im Ostteil, sind Skulpturen, andere Kunstwerke und weitere Installationen aufgestellt.
Die Skulptur Hüter des Wassers von Konrad Winzer von 1983 steht am künstlichen Quelltopf des Grüttbachs. Am Ufer weist das 2,50 Meter hohe und 1200 Kilogramm schwere Kunstwerk aus Wachauer Marmor auf die Schutzwürdigkeit des Elementes Wasser hin.()
Die Bronzeskulptur auf einem Steinsockel Begegnung der Formen stammt von Herbert Bohnert aus Lörrach-Haagen, der sie von 1982 bis 1983 schuf. ()
Vier aufgetürmte, von stilisierten Tulpenmotiven ausgestanzte Würfel bilden die Skulptur Feuer-Tulpen-Turm von Max Meinrad Geiger aus Inzlingen. Das Kunstwerk wird zweimal jährlich, zur Sommer- und zur Wintersonnenwende, mit Holzscheiten gefüllt und angezündet. Das Feuerspektakel wird oft musikalisch untermalt. ()
Am Ostrand des Grüttparks gibt es ein Rasenlabyrinth mit sieben Umgängen entlang einer Achse. Es entstand vom 7. bis 29. Mai 2001 im Rahmen des REGIO-Mädchenprojektes Herzklopfen von Schülerinnen und Schülern sowie Unterstützern in zwei Wochen gemeinschaftlicher Arbeit. Im Durchmesser von 20 Metern beherbergt es einen 300 Meter langen und 70 Zentimeter breiten Pfad, der durch tiefe Spatenstiche entstand und der mit Granitsplit aufgefüllt wurde. ()
An einem zentralen Wegkreuzungspunkt im Südteil des Parks, unweit der Peterskirche, steht eine Statue des Franz von Assisi. Die Steinskulptur eines unbekannten Künstlers trägt die Aufschrift „Gelobt seist du Herr durch all deine Geschöpfe“ – ein Franz von Assisi zugeschriebenes Zitat. ()
Das südliche Eingangstor zum Landschaftspark Grütt, bestehend aus drei mehrere Meter hohen parallelen Holzrahmen, die von Pflanzen überwuchert sind, hat Manfred Morlock aus Schallstadt gestaltet. ()
In der Mitte des Rosengartens steht im Zentrum von konzentrisch angelegten Wegen ein Wasserspiel des Künstlers Jörg Bollin. ()
Ebenfalls im Rosengarten, am Rand des äußeren halbkreisförmigen Umgangs, befinden sich drei Brunnenplastiken aus Carrara-Marmor, gestaltet von Hans-Peter Wernet aus Freiburg. (, , )
Am 10. Oktober 1988 weihte man einen Gedenkstein zur Erinnerung an den Mitte der 1950er Jahre abgetragenen Flugplatz Lörrach und den Flugzeugabsturz am 7. Januar 1925 im Grütt ein. Auf dem Naturstein sind eine bronzene Inschriftentafel und ein dreiflügeliger Propeller angebracht. Das Denkmal steht in der Nähe des Eingangs zum Grüttpark-Stadion. ()
Wasserversorgung
Das 1982 am Südrand des Parks erbaute Wasserwerk bereitet für die städtische Versorgung jährlich rund 3,2 Millionen Kubikmeter Wasser auf. Das Wasser läuft dort aus vier im Park verteilten Tiefbrunnen zusammen, die ihr Wasser bis zu einer Tiefe von 20 Metern hochpumpen. Das gesamte Stadtgebiet Lörrachs verfügt über sieben dieser Tiefbrunnenanlagen. Damit ist das Grütt von zentraler Bedeutung für die Wasserversorgung der Stadt. Das Lörracher Wasserwerk mit der markanten blauen Fassadenverkleidung wurde Ende 1982 zunächst testweise in Betrieb genommen und löste am 29. April 1983, vom damaligen Oberbürgermeister Egon Hugenschmidt eingeweiht, den hundert Jahre alten Vorgängerbau, der seither für Veranstaltungen genutzt wird, in der Tumringer Straße ab. Das im Rohbau 10,9 Millionen Euro teure Wasserwerk verfolgt den Zweck der Gewinnung, Aufbereitung und Verteilung des Wassers in der Stadt. In der Zeit der Landesgartenschau fanden im Wasserwerk Veranstaltungen zum Thema Wasser statt.
Verkehrswege
Die Wiesentalbrücke überführt im östlichen Teil des Landschaftsparks die A 98. Die Pfeiler sind vor allem im südlichen Abschnitt durch eine waldähnliche Bepflanzung umsäumt. Die Flächen der 56 Brückenpfeiler sind seit Anfang August 2010 von der Stadt für legales Graffiti freigegeben. Die etwa 110 mehrere Meter hohen Bilder – manche sind bis zu 20 Meter hoch – wurden von internationalen Sprayern kreiert und sind als Bridge-Gallery bekannt.
Östlich der Autobahn befindet sich die Gartenanlage Weidenpalast und daran angrenzend das Sport-, Freizeit- und Messezentrum Grütt. Im Nordostteil verläuft der Park fast bis an den Homburger Wald, einem bewaldeten Höhenzug, der Teil des Dinkelbergs ist. Nordwestlich wird der Landschaftspark von der in diesem Abschnitt parallel zur Wiese verlaufenden B 317 begrenzt. Der Grüttpark wird im östlichen knappen Drittel durch die Querspange zwischen der B317 und dem Kreisel zur Brombacher und Lörracher Straße in zwei Teile getrennt. Die Querspange kann im Norden von einer schmalen Brücke parallel zur Bahnstrecke sowie im Süden durch eine barriere- und stufenfreie Unterführung hinübergewechselt werden.
Eine 1983 erbaute und Ende Juli 2016 für knapp eine Million Euro komplett ersetzte, 85 Meter lange und 2,80 Meter breite gedeckte Holzbrücke mit schmalen Diagonalen aus Stahl für Fußgänger und Radfahrer über den Fluss Wiese und die Bundesstraße verbindet den Park mit dem Ortsteil Haagen. Die Holzfachwerkbrücke besteht aus Fichten- und Lärchenholz, und ist der einzige Zugang an der Nordwestflanke des Parks, der ansonsten an der Bundesstraße grenzt.
Der 200 Kilometer lange Oberrhein Römer-Radweg führt nordwärts von Brombach kommend durch den Grüttpark in die Innenstadt und von dort weiter über die Lucke nach Binzen. Auch der touristische Dreiland-Radweg durchquert den Park, zweigt über die Holzbrücke von Brombach kommend dann direkt über die Lucke ins Markgräflerland ab. Bestimmte Abschnitte des Rheintal-Wegs führen ebenfalls durch das Grütt, so wie die Variante Dinkelberg des Südschwarzwald-Radweges. Darüber hinaus nutzen auch die innerstädtischen Pendlerrouten das Wegenetz des Landschaftsparks Grütt mit.
Sportinfrastruktur
Entlang des Promenadenwegs im Südteil des Grüttparks befindet sich ein im Mai 2014 eingerichteter Bewegungsparcours mit sechs Stationen. Die installierten Geräte sollen für Einsteiger und Fortgeschrittene mit Hilfe von Übungstafeln Ausdauer- und Kraftübungen unter freiem Himmel ermöglichen.
Auf den Grünflächen des Grüttparks ist eine permanente Discgolf-Anlage mit 18 Stationen installiert; sie beginnt am Rosengarten und führt um den Grüttsee herum. Die Anlage wurde 2014 im Park installiert. Im März findet jährlich ein Turnier statt.
Seit 2010 sind mehrere Laufstrecken im Park ausgeschildert. Die blau gekennzeichnete Laufrunde ist 4,5 Kilometer lang und führt weiträumig in alle Teile des Parks. Die kürzere gelbe (2,9 Kilometer) und rote Runde (2,6 Kilometer) beschränkt sich jeweils auf den westlichen Teil des Parks. Dazu werden zwei kleinere Runden um den Weidenpalast (800 Meter) und um den Grüttsee (550 Meter) als Schleifen angeboten. Sämtliche Strecken sind ohne nennenswerte Steigungen.
Im nordwestlichen Teil des Parks am Grüttpark-Stadion ist eine Pumptrack-Anlage für Tretroller, BMX- und Mountainbike-Fahrer installiert. Der Parcours ist sowohl für Kinder als auch für Jugendliche und Erwachsene konzipiert. Ebenfalls am Grüttpark-Stadion gibt es einen Streetball- und Skatepark. Die offene Sportanlage bietet auch Möglichkeiten für Skateboard, Inliner oder Basketball.
Öffentlicher Nahverkehr
Die Linien 5 und 6 der S-Bahn Basel fahren auf der Wiesentalbahn durch das Parkgelände, deren Stationen Schwarzwaldstraße und Haagen/Messe befinden sich beide in Laufnähe zu unterschiedlichen Teilen des Grüttparks. (→ Karte des Landschaftsparks Grütt)
Die Buslinie 7 fährt die Nordstadt an, so dass die Südeingänge des Parks über zwei Haltestellen (Wintersbuckstraße und Karl-Herbster-Platz) in Laufnähe von wenigen Minuten erreichbar sind. Die Ortsbuslinie 10 fährt ebenfalls die Haltestelle Haagen/Messe an, an welchem auch ein P+R-Parkplatz angeschlossen ist.
Literatur
Hubert Bernnat: Das Grütt – vom Auenwald zum Landschaftspark. in: Stadtbuch Lörrach 2020, Verlag Stadt Lörrach, 2020, ISBN 978-3-9820354-3-7, S. 136–143.
Thomas Schwarze: Bäume im Grütt. In: Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach 2008. Lörracher Jahrbuch mit Chronik vom 1. Oktober 2007 bis 30. September 2008., Waldemar Lutz Verlag, Lörrach, 2008, ISBN 978-3-922107-80-4, S. 36–61.
Wolfgang Göckel: Lörrachs grüner Schatz. In: Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach 2008. Lörracher Jahrbuch mit Chronik vom 1. Oktober 2007 bis 30. September 2008., Waldemar Lutz Verlag, Lörrach, 2008, ISBN 978-3-922107-80-4, S. 21–23.
Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.): 4. Landesgartenschau Baden-Württemberg. Lörrach 1983. Dokumentation, 1985.
Stadt Lörrach (Hrsg.): Lörrach: Landschaft – Geschichte – Kultur. Verlag Stadt Lörrach, Lörrach 1983, ISBN 3-9800841-0-8, S. 550–554.
Christian Vortisch: Wässerungsstreit im Grütt. Zusammenarbeit war im Wasserbau schon vor 400 Jahren nötig. In: Das Markgräflerland. 1973, 1/2, S. 38–50. (Digitalisat in der UB Freiburg)
Weblinks
Stadt Lörrach: Naturlehrpfad im Landschaftspark Grütt
Deutsche Digitale Bibliothek: Historisches Bildmaterial zur Landesgartenschau 1983 in Lörrach
Förderungsgesellschaft für die Baden-Württembergischen Landesgartenschauen mbH: Landesgartenschau Lörrach 1983
Einzelnachweise
Grutt, Landschaftsgarten
Grutt, Landschaftsgarten
Biotop
Grutt, Landschaftsgarten
Garten in Europa
Parkanlage in Europa |
6751963 | https://de.wikipedia.org/wiki/Helvetios | Helvetios | Helvetios ( für ‹(die) Helvetier› bzw. ‹(die) Schweizer›, Akkusativ Plural) ist das fünfte Studioalbum der Schweizer Folk-Metal-Band Eluveitie. Es ist das erste Konzeptalbum der Band und behandelt chronologisch die Thematik des Gallischen Krieges. Ausgearbeitet wurde das Konzept mit Hilfe von Historikern über einen Zeitraum von gut zwei Jahren. Zusammen mit den Aufnahmen und der Produktion des Albums vergingen knapp fünf Jahre, bis das Album im deutschsprachigen Raum am 10. Februar 2012 auf dem Plattenlabel Nuclear Blast erschien.
Die Musik auf Helvetios stellt eine Kombination aus Melodic Death Metal und Folk Metal dar. Es finden sich zudem Einflüsse weiterer Genres wie Black-, Thrash-, Gothic- und Symphonic-Metal, aber auch Elemente der aktuellen Popmusik und des traditionellen Folk.
Das Album konnte in mehreren europäischen und amerikanischen Ländern in die Charts einsteigen und wurde von der Fachpresse sehr gelobt. Teilweise wurde es bereits kurz nach der Veröffentlichung als «genredefinierend» oder als «Meilenstein» hervorgehoben. Die Albumpromotion fand von Januar 2012 bis Dezember 2013 im Rahmen der Helvetios World Tour statt, die sich aus mehreren Einzeltourneen zusammensetzte.
Entstehung
Vorgeschichte
Die Idee zu einem Konzeptalbum über den Gallischen Krieg kam Schlagzeuger Merlin Sutter bei einem Telefonat mit Chrigel Glanzmann im Jahr 2007. Er entwarf das Konzept und den Handlungsstrang des Albums bis zum frühen Herbst 2010. Das Songwriting fand während der Everything Remains World Tour statt, und wurde erst unmittelbar vor Beginn der Aufnahmen abgeschlossen. Am 1. September 2011 wurde das Album, inklusive des endgültigen Titels Helvetios, im offiziellen Weblog der Band für 2012 angekündigt.
Aufnahmen
Als Hauptproduzent wurde Tommy Vetterli verpflichtet, in dessen New Sound Studio in Pfäffikon SZ auch die Schlagzeug-, Gitarren- und Gesangsspuren aufgenommen wurden. Vetterli übernahm zudem die Produktion und die Abmischung aller Spuren. Die übrigen Instrumente spielte die Band im Anschluss in den Krienser Soundfarm Studios ein. Dort arbeiteten Anna Murphy und Marco Jencarelli als Produzenten an den Aufnahmen. Kleinere, von ihm selbst gespielte Instrumente wie Tin- & Low Whistle, Uilleann Pipes, die Bardenharfe und die Bodhrán nahm Glanzmann zusätzlich in seinem Heimstudio in Illnau-Effretikon auf. Zusammen mit den Cheapaschips- und echochamber-Studios nutzte die Band insgesamt fünf Tonstudios. Dies hatte vor allem zeitliche und organisatorische Gründe, da sich durch paralleles Arbeiten die Aufnahmezeit deutlich verkürzte. Am 25. November 2011 wurde die komplette Produktion von Helvetios mit dem Mastering durch Dan Suter im Zürcher Echochamber-Studio abgeschlossen.
New Sound Studio
Die Aufnahmen zum Album begannen noch am Tag der Albumankündigung. Zuerst nahm Merlin Sutter dazu die Schlagzeug-Spuren im New Sound Studio bis zum 7. September auf. Es folgten die Gitarrenspuren, die Gitarrist Ivo Henzi am 7. September einzuspielen begann. Bedingt durch anfängliche Komplikationen wurden diese Aufnahmen erst Mitte September abgeschlossen. Grund für diese Verzögerung des Zeitplans waren unter anderem die notwendige Reparatur von Henzis beschädigter Gitarre sowie die Beschaffung von fehlendem Equipment wie weiteren Gitarrenboxen.
Bei allen Instrumenten wurde bei Helvetios verstärkt darauf geachtet, einen natürlichen Klang bei den Aufnahmen zu erzielen. Bevor die eigentlichen Gitarrenaufnahmen beginnen konnten, musste daher ein passender Sound gefunden werden, was mehrere Tage in Anspruch nahm. Dazu wurden nicht nur verschiedene Verstärker, Lautsprecherboxen sowie Mikrofone und deren Positionen, sondern auch verschiedene Instrumente, Gitarrenbauweisen und Stimmungen, Saiten, Plektren und weiteres Zubehör getestet. In ähnlich aufwendiger Weise ging die Band auch bei den anderen Instrumenten vor.
Cheapaschips Studios
Am 23. September nahm der schottische Schauspieler Alexander „Sandy“ Morton für die Lieder Prologue, Meet the Enemy und Epilogue in den Londoner Cheapaschips Studios drei Spoken-Word-Passagen auf. Eluveitie-Frontmann Chrigel Glanzmann wurde auf Morton durch den Film Walhalla Rising aufmerksam, und legte seine Beweggründe zur Verpflichtung des Schauspielers gegenüber der Presse dar: «Die Idee des Textes [der von Morton gesprochen wird] ist, dass ein alter Mann, der in seiner Jugend die Schrecken des Gallischen Krieges auf dem Schlachtfeld hautnah miterlebte, aber all die Kriegsjahre überlebte, an seinem Lebensabend zurückblickt… und erzählt.» Er kommentierte die Aufnahmen zudem wie folgt:
Soundfarm Studios
Die Folk-Instrumente (Drehleier, Geige, Mandola, Dulcimer, Zugerörgeli und Blockflöte), die Akustikgitarre sowie der Bass und die Gesangsspuren von Anna Murphy wurden in den Soundfarm Studios aufgenommen.
Am 1. Oktober 2011 begannen die Drehleier-Aufnahmen in den Soundfarm Studios, die am 5. Oktober abgeschlossen werden konnten. Anna Murphy merkte im Eluveitie-Blog an, „dass [sie] musikalisch noch nie so gefordert war wie bei diesem Album“, und betonte die Komplexität der Kompositionen. Im Anschluss spielte Meri Tadic bis zum 12. Oktober die Geigenstimmen ein. Es folgten die Mandola-Aufnahmen durch Sime Koch, nicht wie üblich durch Chrigel Glanzmann, da dieser die Stimmen aufgrund von Zeitmangel nicht einspielen konnte. Am selben Tag spielte Koch auch die gesamten Akustikgitarrenspuren ein.
Mit dem Einspielen des Basses durch Ivo Henzi in den Soundfarm Studios wurden Mitte November die Aufnahmen zu Helvetios abgeschlossen. Aus nicht bekannten Gründen übernahm Kay Brem, der reguläre Bassist von Eluveitie, diese Aufgabe nicht. Dennoch wird Brem im Beiheft des Albums als Bassspieler gelistet. Da sich die Aufnahmen in ihrer Gesamtheit länger hinausgezögert hatten als geplant, konnte die Produktion des Albums nicht bis zum Beginn der Neckbreaker’s-Ball-Tour am 28. Oktober 2011 abgeschlossen werden. Um den Zeitplan bis zur Veröffentlichung dennoch in etwa einhalten zu können, wurde in der Backlounge des Tourbusses der Band ein mobiles Aufnahmestudio eingerichtet, in dem die Musiker täglich vor den Konzerten noch mehrere Stunden an dem Album arbeiteten, wobei Anna Murphy die Tontechnik übernahm.
Weitere Entwicklung
Promotion-Phase
Zwei Tage nach dem Ende der Neckbreaker’s-Ball-Tour reiste die Band am 21. November 2011 nach Warschau, um dort am 21. und 22. November zu den Liedern A Rose for Epona und Havoc zwei Musikvideos mit der renommierten Filmcrew Groupa 13 zu drehen. Die erste Prelistening-Veranstaltung für ausgewählte Vertreter der Metal-Presse fand am 26. November 2011 in Anwesenheit von Glanzmann und Murphy bei Nuclear Blast in Donzdorf statt.
Den ersten Albumtrailer, in dem das lyrische und musikalische Konzept des Albums vorgestellt wurde, veröffentlichte die Band am 16. Dezember 2011. Als erste Online-Single erschien am 24. Dezember 2011 das Lied Meet the Enemy über das Facebook- und das YouTube-Profil der Band. Erstmals live aufgeführt wurde das Lied am 30. Dezember 2011 beim Festival Eluveitie & Friends im Zürcher Volkshaus zusammen mit Coroner, Korpiklaani, Powerwolf, Excelsis und Blutmond.
Als zweiter Teaser wurde am 4. Januar 2012 das Lied A Rose for Epona veröffentlicht. Bereits kurz nach der Veröffentlichung kursierte im Internet das Gerücht, es handle sich bei diesem Lied um ein Cover- oder Tribute-Lied oder gar um ein Plagiat von Blood Stain Childs Metropolice. Im offiziellen Forum der Band äußerten sich Anna Murphy und Chrigel Glanzmann zu den Hintergründen von A Rose for Epona und der vermeintlichen Ähnlichkeit der beiden Lieder. Laut Glanzmann entstand die Ähnlichkeit durch den simplen Aufbau der beiden Melodiebögen, da es sich nur um einen Vierklang mit sich verändernden Grundtönen und leichter rhythmischer Verschiebung handelt.
Knapp zwei Wochen nach Veröffentlichung des Liedes, wurde am 17. Januar 2012 der Videoclip zu A Rose for Epona, der im November 2011 auf Burg Świny gedreht worden war, erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Zuvor wurden bereits zu Meet the Enemy (9. Januar) und A Rose for Epona (13. Januar) zwei Videos veröffentlicht, die mit Impressionen aus dem Albumartwork und dem jeweiligen Liedtext unterlegt waren. Als weiterer Teaser wurde am 1. Februar 2012 ein Making-of-Video vom Musikclip zu A Rose for Epona veröffentlicht. Das zweite und letzte Musikvideo (zu Havoc) wurde am 6. Februar 2012 veröffentlicht.
Veröffentlichung
In der Dezember-2011-Ausgabe des Metal Hammers wurde Helvetios für den 24. Februar 2012 angekündigt. Wenig später gab die Band am 4. Dezember 2011 bekannt, dass das Album im deutschsprachigen Raum am 10. Februar 2012 erscheinen soll und veröffentlichte auch das Albumcover und die Titelliste. In Japan erschien es am 22. Februar über Columbia, in den USA und dem Rest der Welt am 28. Februar über Nuclear Blast USA. Veröffentlicht wurde Helvetios in folgenden Versionen:
Reguläre Version – nur das Album im Jewelcase
Digital-Download-Version – enthält neben den Liedern der regulären Version zusätzlich noch eine Akustikversion von A Rose for Epona, den Videoclip zum selbigen Lied und eine digitale Version des Beihefts. Diese Version wird exklusiv über den iTunes Store vertrieben.
Helvetios Digipak – Digipak bestehend aus dem Album inklusive der Akustikversion von A Rose for Epona als Bonustitel sowie einer Bonus-DVD.
Helvetios Digipak – CeDe.ch-Version – dem regulären Digipak identisch, jedoch mit Eluveitie-Gitarrenplektrum und nur erhältlich in limitierter Auflage über den Webshop CeDe.ch – inzwischen vergriffen.
Helvetios Mailorder Edition – Exklusiv über Nuclear Blast vertriebene Boxset-Edition, bestehend aus dem Album inklusive eines Bonustitels, einer Bonus-DVD, einer Flagge mit abgebildeten Albumcover und nummeriertem Echtheitszertifikat, limitiert auf 500 Kopien – inzwischen vergriffen.
Helvetios Amazon Edition – Exklusiv über Amazon vertriebene Boxset-Edition bestehend aus dem Album inklusive eines Bonustitels, einer Bonus-DVD und eines Patches – inzwischen vergriffen.
Helvetios Black Vinyl – 2-LP-Version bestehend aus zwei 180 Gramm schweren schwarzen LPs im Gatefold mit DIN-A2-Poster.
Helvetios Grey Vinyl – Exklusiv über Nuclear Blast vertriebene 2-LP-Version bestehend aus zwei 180 Gramm schweren grauen LPs im Gatefold mit DIN-A2-Poster. Streng limitiert auf 150 handnummerierte Exemplare – inzwischen vergriffen.
Regionale Sondereditionen:
Helvetios CD + Shirt – reguläre Jewelcase-Version, kam zusammen mit einem T-Shirt im Albumcoverdesign sowie einem 290 mm × 430 mm großen signierten Poster. Diese Version war nur für den US-amerikanischen Markt erhältlich und musste vorbestellt werden.
Helvetios (Japan Version) der regulären Jewelcase-Version identisch, kommt aber mit japanischem Booklet – erhältlich nur für den japanischen Markt.
Wie für neue Alben üblich, wurden auch mehrere Lieder von Helvetios auf Samplern von Musikmagazinen veröffentlicht. Eine Besonderheit stellt jedoch der Sampler des Legacy-Magazins (Ausgabe Nr. 77, 02-2012) dar, da auf diesem eine anderweitig nicht veröffentlichte „Extended Folk Version“ des Titelliedes Helvetios vorhanden ist.
Tour
Die Promotion des Albums fand in Form einer Welttournee statt, der Helvetios-World-Tour, die sich aus mehreren Einzeltourneen zusammensetzte. Den Tourauftakt bildeten drei Konzerte in Brasilien am 18., 19. und 20. Januar 2012. Es folgte ein Auftritt in Mexiko-Stadt am 21. Januar 2012, bevor die Band weiter nach Miami reiste, wo sie vom 23. bis zum 27. Januar 2012 an der Kreuzfahrt 70000 Tons of Metal teilnahm. Direkt im Anschluss begann am 30. Januar 2012 die Nordamerika-Tour von Children of Bodom, die bis zum 4. März 2012 dauerte. Eluveitie war bei dieser als Co-Headliner dabei. Zeitgleich zur Nordamerika-Tour fanden in Deutschland zwischen dem 10. bis 25. Februar 2012 zahlreiche Release-Partys in diversen Rock- und Metal-Clubs statt, bei denen die Band aber aufgrund der Touraktivitäten nicht anwesend sein konnte.
Der erste europäische Teil der Tour fand im Rahmen der Paganfest-Tour vom 16. März bis zum 1. April 2012 statt, bei der Eluveitie als Headliner dabei war. Das Konzert in Tilburg am 18. März 2012 wurde durch die Londoner Firma Concert Live Ltd aufgezeichnet und am 24. März 2012 als offizielles Eluveitie-Live-Album mit dem Titel Live on Tour veröffentlicht. Im April und Mai fanden nur einige einzelne Konzerte, unabhängig von einer Tour statt und am 18. Mai wurde das Album in der KuFa in Lyss zum ersten Mal in voller Länge live aufgeführt. Im Sommer 2012 trat Eluveitie auf zahlreichen europäischen Festivals, darunter Sonisphere, Metalfest, Metalcamp, Greenfield und Graspop auf. Im Anschluss an die Open-Air-Festival-Saison begleitete Eluveitie vom 7. September bis zum 11. November 2012 die schwedische Band Sabaton auf deren Swedish Empire Tour durch ganz Europa. Ein besonderes Konzert auf diesem Tourabschnitt stellte die Metal Hammer Award Show dar, bei der Eluveitie und Sabaton, ergänzt um Callejon am 14. September in Berlin das musikalische Rahmenprogramm für die Preisverleihung der Metal Hammer Awards darboten. Nach einer rund zweiwöchigen Pause im November, wurde die Helvetios-World-Tour auf dem Nordamerikanischen Kontinent am 28. November 2012 fortgesetzt. Auf diesem Tourabschnitt, der bis zum 21. Dezember 2012 dauerte, wurde die Band von Wintersun und Varg begleitet, die jeweils ihre neuen Studioalben Time I und Guten Tag promoteten. Weitere Auftritte fanden 2013 im Rahmen von Einzelkonzerten, Minitourneen und Festivals unter anderem in Australien, Brasilien, Costa Rica, Volksrepublik China, Taiwan, Russland, Israel, sowie in nahezu allen europäischen Ländern statt.
Lieder
Historischer Hintergrund des Albenkonzepts
Im Jahr 59 v. Chr. ließ sich der römische Konsul Gaius Iulius Caesar mit Unterstützung von Gnaeus Pompeius Magnus und Marcus Licinius Crassus für die Zeit nach dem Konsulat die Verwaltung von drei Provinzen übertragen, darunter Gallia Narbonensis, gelegen im heutigen Südfrankreich. Um sein Ansehen als erfolgreicher Feldherr zu vergrößern und ein ihm ergebenes Heer aufzubauen, griff er militärisch in die bereits angespannten innergallischen Machtverhältnisse ein. Die verschiedenen helvetischen Stämme planten zu dieser Zeit, aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet, gelegen in etwa der heutigen Schweiz, auszuwandern. Grund dafür war die zunehmende militärische Bedrohung durch die Germanen im Norden. Das Ziel dieser Völkerwanderung sollte das Gebiet der Santonen an der Atlantik-Küste sein. Der kürzeste Weg dorthin führte durch Gallia Narbonensis; der Durchzug durch dieses Gebiet wurde von Caesar aber untersagt, der zudem einen Wall zwischen dem Jura und dem Genfersee errichten ließ, so dass die Helvetier einen deutlich beschwerlicheren Weg um die römische Provinz nehmen mussten. Caesar nutze diese entstandene Chance, und es kam im Jahr 58 v. Chr. mit der Schlacht bei Bibracte zur Niederlage der Helvetier. Caesar berichtet, dass er die überlebenden Helvetier in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurückgeschickt habe.
In den Folgejahren fanden in ganz Gallien mehrere Kämpfe zwischen Caesars Legionen und verschiedenen keltischen Stämmen statt. Ab 53 v. Chr. begannen die einzelnen gallischen Stämme, sich gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden. Der Pakt erreichte seinen Höhepunkt unter der Führung von Vercingetorix im Jahr 52 v. Chr. In diesem Jahr fanden mit der Schlacht um Avaricum, der Schlacht von Gergovia und der Schlacht am Armançon bis zum Spätsommer drei der vier bedeutendsten Schlachten des Gallischen Krieges statt. Im September 52 v. Chr. wurde der letzte Aufstand der Gallier durch die Eroberung von Alesia in der Schlacht um Alesia niedergeschlagen. Die letzte gallische Siedlung, Uxellodunum, deren Eroberung für das Kriegsgeschehen eher unbedeutend war, fiel im Sommer 51 v. Chr. an die Römer. Dadurch wurde Gallien endgültig zur römischen Provinz.
Inhalt und Hintergrund der Texte
Eluveitie adaptierte die historischen Geschehnisse folgendermaßen in den Liedtexten zu Helvetios:
Der Prologue wird von Alexander Morton im Spoken-Word-Stil gesprochen und führt den Hörer in die Thematik des Albums ein. Erzählt wird aus der Sicht eines alten Helvetiers, der sich an die Zeit des Krieges zurückerinnert. Im Hintergrund ist das Rauschen des Windes zu hören. Zum Ende hin beginnt eine Dudelsackmelodie, die nahtlos in das darauffolgende Titellied führt.
Helvetios soll dem Hörer den mythologischen Ursprung der Helvetier aufzeigen, wozu zahlreiche Gottheiten mit ihren jeweiligen Attributen vorgestellt werden.
Luxtos dient der Charakterisierung des Volkes. Es wird dort in Anlehnung an die Ausführungen Caesars als tapfer, kriegerisch und mutig dargestellt. Zudem wird das Expansionsbestreben der Helvetier angesprochen, welches das römische Imperium als Bedrohung wahrnahm und daher einer der Gründe für den Gallischen Krieg war. Sarah Wauquiez ist bei diesem Lied als Zugerörgelispielerin zu hören.
Home handelt darüber, wie die Helvetier von barbarischen Stämmen aus dem Norden und den Römern aus dem Süden bedroht werden. Wie auch beim vorherigen und beim nachfolgenden Lied ist der zentrale Aspekt, wie mit dieser Bedrohung umgegangen werden soll, so dass letztlich der Plan entsteht, die Heimat zu verlassen und zu fliehen.
Santonian Shores thematisiert die Verzweiflung des Volkes. Die Handlung spielt an dem Tag vor dem Aufbruch in das Gebiet des Volkes der Santonen an der heutigen westfranzösischen Atlantikküste und stellt damit den Abschluss einer dreijährigen Vorbereitungsphase dar.
Scorched Earth stellt ein reines Folk-Lied dar. Den Gesang bei diesem Lied übernimmt Christoph Pelgen im Gwerz-Stil. Pelgen ist Sänger und Multiinstrumentalist des Tübinger Folk-Ensembles La Marmotte. Das Lied beschreibt die Praxis der Helvetier, beim Abzug Haus und Hof zu verbrennen – ob es sich dabei möglicherweise um eine kultische Handlung handelt, ist nicht geklärt.
Meet the Enemy erzählt vom ersten Aufeinandertreffen der beiden Rivalen. Am Genfersee bat Caesar die Helvetier um einige Wochen „Bedenkzeit“, um seine Armee zu stärken und ihnen letztlich mitzuteilen, dass er sie nicht durch das von ihm kontrollierte Gebiet westlich des Genfersees ziehen lassen werde. Die Helvetier nahmen daraufhin eine Alternativroute über einen engen Gebirgspass und überquerten später den Arar. Als etwa drei Viertel der Stammesangehörigen den Fluss bereits passiert hatten, griffen eines Nachts sechs römische Legionen bei der Schlacht am Arar die Helvetier im Schlaf an und besiegten alle östlich der Arars gebliebenen Helvetier. Als Gastmusiker wirkte bei diesem Lied, wie auch bei Home, Fredy Schnyder von Nucleus Torn als Hackbrett-Spieler mit.
Neverland – Nach mehreren kleineren Gefechten erkannten die Helvetier, dass sie den Römern unterlegen sind und litten unter der stetigen Zurückdrängung durch die feindlichen Truppen.
A Rose for Epona beschreibt den Anruf der keltischen Fruchtbarkeitsgöttin Epona durch eine verzweifelte Helvetierin. Chrigel Glanzmann kommentierte den Hintergrund des Liedes wie folgt:
Havoc schildert, wie Caesar mit acht Legionen im Jahr 57 v. Chr. in das damals noch nicht eroberte Gallien einfiel und das eigentliche Kriegsgeschehen losging.
Ebenso erzählt The Uprising von den meist erfolglosen Schlachten und Aufständen der Helvetier. Es berichtet aber auch von dem Aufstieg von Vercingetorix im Jahr 52 v. Chr., als er zum Anführer der gallischen Aufstände gemacht wurde und die verschiedenen Teilvölker vereinen konnte. Im Mittelteil von The Uprising findet sich erneut ein Spoken-Word-Teil von Sandy Morton.
Hope stellt ein reines Flöten- und Dudelsack-Zwischenspiel dar. Geschrieben wurde es vor dem Hintergrund, dass durch Vercingetorix’ Bemühungen die Gallier wieder neuen Mut fassten, um gegen die Römer zu kämpfen. Inzwischen waren aber bereits zu viele gallische Krieger gefallen, als dass man die Römer noch besiegen könnte, und auch taktisch und technologisch unterlagen sie dem Gegner. Nina Macchi, die Tochter des Eluveitiemanagers, spielte als Gastmusikerin die Blockflöte ein.
The Siege stellt die Ereignisse der Schlacht von Avaricum dar. Vercingetorix hatte seine Taktik geändert und wollte sich nun in der gutbefestigten Stadt Avaricum verschanzen, um die Römer während derer Angriffe auf die Stadt zu besiegen. Um die Nahrungsversorgung der Feinde abzuschneiden, liess der gallische Fürst zudem alle Ortschaften in der Umgebung des römischen Lagers niederbrennen. Dennoch gelang es den Römern durch eine große Belagerungskonstruktion und einer großen Schlacht, Avaricum einzunehmen und mit den dort vorgefundenen Vorräten den Feldzug fortzusetzen.
Alesia befasst sich mit der Schlacht um Alesia. So wird geschildert, wie die Stadt von den Römern umzingelt und von der Außenwelt abgeschnitten wurde. Kurzzeitig sah es nach einer Wende im Kriegsgeschehen aus, als die Römer durch ein Entsatzheer selber belagert wurden, aber auch dieser zweiten Front standhalten konnten. Als durch die Aushungerungstaktik Caesars die Vorräte in Alesia allmählich knapp wurden, schickte man alle Zivilisten aus der Stadt (auch zur damaligen Zeit genossen diese bereits besonderen Schutz im Kriegsfall), damit diese fliehen konnten, jedoch ließen die Römer sie auf Befehl Caesars nicht durch den römischen Ring abziehen. Auch die Gallier wollten oder konnten die Flüchtlinge nicht mehr nach Alesia hineinlassen, so dass diese zwischen beiden Fronten gefangen waren. So verhungerten Frauen, Kinder und alte Leute – insgesamt etwa 20.000 Menschen – direkt vor den Augen der Römer. Laut Murphy und Glanzmann handelt es sich bei Alesia um den emotionalsten Text des Albums.
Tullianum dient als gesprochener Nachsatz zu Alesia und spielt auf den Kerker in Rom an (Carcer Tullianus), in dem der besiegte gallische Anführer Vercingetorix hingerichtet wurde. In der Hoffnung, dadurch sein Volk zu retten, hatte dieser sich freiwillig den Römern ergeben.
Uxellodunon erzählt die Geschichte der Belagerung der letzten keltischen Siedlung Uxellodunum, die im Jahr 51 v. Chr. an die Römer fiel. Dies stellte das Ende des Gallisch-Römischen-Krieges dar.
Der Epilogue beginnt mit dem dritten und letzten Spoken-Word-Vortrag von Alexander Morton. Er erzählt dabei wieder aus der Sicht des alten Helvetiers, der vor seinem Haus sitzend gerade seinem Enkel die vorangegangene Geschichte erzählt hat. Es folgt darauf eine Flötenweise, bis das Stück durch choralen Gesang endet.
Stil
Musik
Verglichen mit den bisherigen Alben fällt Helvetios laut Glanzmann und mehrerer Rezensenten «epischer» aus, und beinhaltet zum ersten Mal bei manchen Liedern einen Chor. Auch wurden erneut mehrere Traditionals aufgegriffen. Gitarrist Ivo Henzi beschreibt die Gitarren auf Helvetios zudem als «abwechslungsreicher, technisch anspruchsvoller und zum Teil düsterer» als auf den vorherigen Alben. Auch bedingt durch das lyrische Konzept lässt sich das Album musikalisch in drei Teile aufteilen. Das erste Drittel weist traditionelle Folk-Metal-Kompositionen auf, im zweiten Teil hingegen wird die Musik (bis auf A Rose for Epona) härter, während im letzten Drittel die Stücke wieder melodischer arrangiert ausfallen.
Neben den dominierenden Stilen Melodic Death Metal und Folk Metal finden sich in mehreren Liedern auch Elemente des Black- (v. a. bei The Siege) oder Thrash-Metals. Das Lied A Rose for Epona weist zudem einen großen Einfluss der aktuellen Popmusik auf und wird kompositorisch mit den Liedern von Nightwish verglichen. Alesia fällt musikalisch ähnlich aus und erinnert an jüngere Werke der Band Within Temptation, allerdings mit dem für Gothic Metal typischen Wechsel zwischen Growling und klarem Frauengesang.
Die Tendenz, dass Drehleierspielerin Anna Murphy zunehmend öfters Gesangsparts übernimmt, wird auch auf Helvetios fortgeführt. Ihre Gesangspassagen sind teils klar und teils, wie die von Glanzmann, gegrowlt, bzw. gescreamt vorgetragen. Im Review des Webzines whiskey-soda.de wird der teilweise vielstimmige Gesang auf dem Album als „Highlight“ herausgestellt.
Auch das Songwriting wandelte sich verglichen mit früheren Alben. In der Anfangszeit der Band führte Glanzmann diese quasi als „Ein-Mann-Projekt mit sieben Gastmusikern“ und schrieb daher alle Lieder alleine. Über die Jahre hinweg wandelte sich diese Vorgehensweise, so dass auf Helvetios die Lieder, meist basierend auf ein Grundgerüst von Glanzmann, von der ganzen Band zusammen ausgearbeitet wurden. Insbesondere Gitarrist Ivo Henzi übte einen großen Einfluss auf die Kompositionen und Arrangements aus. Über die Band und die Gastmusiker hinaus wirkte der Gemischte Chor Maria-Lourdes aus Zürich-Seebach unter der Leitung der Opernsängerin Barbara Meszaros und Benny Richter als Soundscape-Produzent auf dem Album mit. Bei der Instrumentation war der Band der österreichische Komponist Paul Gallister behilflich.
Texte
Helvetios ist sowohl musikalisch als auch lyrisch ein Konzeptalbum, und behandelt die Thematik des gallischen Krieges, chronologisch erzählt aus der Sicht der Helvetier. Die Liedtexte sind auf Helvetios teils in Englisch und teils, wie für Eluveitie typisch, in einer teilrekonstruierten Form des helvetischen Gallisch gehalten. Erarbeitet wurde das Konzept unter Zuhilfenahme von Cäsars De bello Gallico sowie historischer helvetischer Berichte in Zusammenarbeit mit Historikern der Universität Zürich und dem keltologischen Seminar der Universität Wien. Die wichtigsten Ansprechpartner des keltologischen Seminares waren Armin Kaar und Dominic Rivers.
Anna Murphy führte über die Vorbereitung gegenüber der Presse bei der Prelistening-Session im November 2011 dazu an: «Der Chrigel recherchiert viel in Büchern, im Internet und auch mit auf die Kelten spezialisierten Wissenschaftlern. Was wir machen, ist eine Geschichte zu erzählen, und die ist historisch fundiert. Das ist also nicht irgendwelcher esoterischer oder paganistischer Schnickschnack, sondern es ist einfach Geschichte. […] Für mich ist das [Album] ein bisschen wie ein Film-Soundtrack, weil es musikalisch voll auf die Texte abgestimmt ist.»
Glanzmann verfasste alle Liedtexte alleine, außer den des Liedes Home, welcher in Zusammenarbeit mit Anna Murphy entstand. Basierend auf Glanzmanns Texten verfassten Kaar und Rivers die gallischen Passagen in den Liedern Luxtos und Scorched Earth.
Artwork
Das Artwork zu Helvetios fällt von der Aufmachung her in seiner Gesamtheit sehr unterschiedlich aus. Das Cover ist in schlichtem schwarz-weiß gehalten und zeigt lediglich den Bandnamen, den Albumtitel und eine Triskele. Zusammen mit dem ebenfalls sehr einfach gehaltenen, schwarz-weißen Backcover sollen Vorder- und Rückseite an einen Bucheinband erinnern. Im Inneren finden sich mehrere farbige Grafiken, die stilistisch an das Artwork von Everything Remains as It Never Was erinnern. Es handelt sich dabei um Fotografien von Landschaften, in die teilweise digital keltische Symbole eingefügt wurden, oder um Fotografien von Personen, die wie die Protagonisten der Songtexte wirken sollen. Aufgrund eines Bildfilters wirken alle Fotografien wie „zerkratzte Gemälde“. Glanzmann spricht im Zusammenhang mit dem Beiheft von einer Art „Kunst-Foto-Bildband“ und führt an:
Gestaltet wurde das Cover von Glanzmann persönlich. Als Basis für die Triskele diente ein Ornament einer Fibel, die bei archäologischen Ausgrabungen im Raum der heutigen Zentralschweiz entdeckt wurde. Laut Glanzmann war die Intention zur Erstellung dieses Covers, die Helvetier zu repräsentieren. Das gesamte übrige Artwork wurde von Manuel Vargas und Niklas Sundin ausgearbeitet. Als Statisten in den von Vargas angefertigten Fotografien für das Beiheft wirkten Mitglieder der Keltengruppe Nantaror mit.
Rezeption
Kommerzieller Erfolg und Auszeichnungen
Das Album verkaufte sich direkt ab der Veröffentlichung in Europa mehrere tausend Mal und stieg in vielen europäischen Ländern in die Charts ein. Die höchste Position gelang in der Schweiz mit Platz 4. Dort konnte sich das Album zunächst 15 Wochen in den Top 100, bis zum 10. Juni 2012 am Stück halten. Im Anschluss wurde das Album insgesamt drei weitere Wochen in den Schweizer Top 100 geführt; auf Platz 100 in der Woche vom 17. bis 24. Juni, auf Platz 88 ab dem 1. Juli 2012, gefolgt von einer weiteren Woche auf Platz 100, bis das Album am 15. Juli 2012 endgültig aus den Charts ausstieg. In den Vereinigten Staaten wurde das Album in der ersten Verkaufswoche bereits 4242 Mal verkauft und stieg damit auf Platz 143 der Billboard Top 200, auf Platz 7 der Billboard Hard Rock Albums Charts und auf Platz 3 der Billboard Heatseekers Albums-Charts ein. Bei letzteren handelt es sich um spezielle Charts, in denen Künstler gelistet werden, denen erstmals eine Platzierung in den Billboard-Charts gelang. In Kanada stieg Helvetios auf Platz 73 der Canada’s Top 200 Charts ein.
Kritiken
Helvetios erhielt durch die Fachpresse durchweg positive Kritiken. Neben der sehr guten Produktion, für die Vetterli oftmals gelobt wurde, wird das Album in vielen Reviews auch als Meilenstein herausgestellt. Der Autor Xeledon vom Webzine metal.de bescheinigt der Band darüber hinaus, mit dem Album quasi das Folk-Metal-Genre revolutioniert zu haben, bzw. neue Maßstäbe dafür gesetzt zu haben. Er beschliesst sein Review mit dem Fazit:
Auch beim Review von whiskey-soda.de wird Helvetios bescheinigt, ein genredefinierendes Werk zu sein. Autor colin schloss sein Review mit den Worten «Helvetios ist in meinen Augen ein Album, an dem sich zukünftige Folk-Metal-Alben und -Künstler messen werden müssen. Und sie werden sich reiben! Großartig!». Metal-Hammer-Redakteur Björn Springorum zog als Fazit der Listening-Session: «[Helvetios ist eine] Gelungene Fortsetzung des Eluveitie-Erfolgsrezepts – stürmischer Metal, hymnische Refrains und jede Menge stimmungsvolle Folk-Melodien.» Der Autor Morgenstern vom Schweizer Webzine schwermetall.ch gab dem Album 12 von 13 Punkten. Auch er gab dem Album eine sehr positive Kritik:
Darüber hinaus wurde Helvetios bei time-for-metal.eu und von metal1.info zum Album, bzw. der Bericht dazu, zum Review des Monats gekürt. Nur in wenigen Fällen wurde negative Kritik geübt, so z. B. in dem Review von Powermetal.de, worin Julian Rohrer die Ansicht äußerte, dass das Album musikalisch zu wenig Neues mit sich bringe. Er schließt sein Fazit dennoch positiv und gibt dem Album 8,5 von 10 Punkten. Auch im deutschen Magazin Rock Hard klingt etwas Kritik an, wenn der Rezensent Jens Peters das «bewährt[e]» «Rezept» der Vergangenheit fortgesetzt sieht und schreibt: «Im Grunde ist auch auf ‹Helvetios› alles prima und wunderbar, einzig die penetrant nervende Tröte, die in diversen Songs (u. a.) im Titelstück und in ‹The Uprising› zum Einsatz kommt, hätte nun wirklich nicht sein müssen.» Das Album sei «hervorragend produziert» sowie «erwartungsgemäß voll charttauglich». Er vergab acht von zehn Punkten. Das Album erreichte in der Ausgabe des Magazins den 39. Platz von 50 besprochenen Alben mit einer Durchschnittsnote von 6,3 aller Redakteure.
Weblinks
Einzelnachweise
Eluveitie-Album
Album (Pagan Metal)
Album (Folk Metal)
Album (Melodic Death Metal)
Konzeptalbum
Album 2012 |
6809199 | https://de.wikipedia.org/wiki/Staatspolizeileitstelle%20Hamburg | Staatspolizeileitstelle Hamburg | Die Staatspolizeileitstelle Hamburg war die zentrale Dienststelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Hamburg zur Zeit des Nationalsozialismus. Vorläufer war die Hamburger Staatspolizei, die ab Dezember 1935 offiziell die Bezeichnung Geheime Staatspolizei führte. Später wurde die Hamburger Gestapostelle zur Leitstelle erhoben und war schließlich übergeordnete Instanz diverser Gestapo-Außenstellen in Norddeutschland. Angehörige der Hamburger Gestapo waren maßgeblich an der Verfolgung und Misshandlung von Gegnern des NS-Regimes, Juden und weiteren NS-Opfergruppen beteiligt. Nach dem Einmarsch der britischen Armee in Hamburg Anfang Mai 1945 wurden ehemalige Angehörige der Hamburger Gestapo größtenteils interniert und mussten sich vielfach vor Gericht für ihre Taten verantworten. Am ehemaligen Gestapo-Hauptquartier Hamburger Stadthaus wird heute der Opfer staatspolizeilicher Verfolgung durch eine Gedenktafel und Stolpersteine gedacht. Die Stadt Hamburg plant dort die Einrichtung einer Dokumentationsstätte für das Gedenken an die Opfer der Polizeigewalt. Eine umfassende wissenschaftliche Studie zur Hamburger Gestapo liegt derzeit nicht vor.
Vorläufer der Gestapo Hamburg: Hamburger Staatspolizei
Unmittelbar nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 übernahmen die Nationalsozialisten in Hamburg unter anderem die Kontrolle über die Polizei. Auch die Hamburger Staatspolizei unterstand als Kriminalpolizeiabteilung nun dem neuen Polizeisenator und Polizeiherrn Alfred Richter, mit dessen Amtsantritt sie am 6. März 1933 gleichgeschaltet wurde. Als Politische Polizei Hamburgs führte sie ab Dezember 1935 die Bezeichnung Geheime Staatspolizei. Ihre Bedeutung erweiterte sie bereits auf Basis der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933, mit der Bürger ihrer zentralen Freiheitsrechte beraubt und vermeintliche oder tatsächliche Gegner des NS-Regimes willkürlich in Schutzhaft genommen werden konnten.
Bekannte NS-Gegner und „politische unzuverlässige“ Beamte der Hamburger Staatspolizei wurden beurlaubt und nach Inkrafttreten des Berufsbeamtengesetzes im April 1933 entlassen oder mit weniger wichtigen Polizeifunktionen betraut. Das Personal der Hamburger Staatspolizei wurde mehrheitlich ausgetauscht: Nationalsozialistisch eingestellte Beamte wurden von anderen Polizeidienststellen zur Hamburger Staatspolizei versetzt und freie Stellen insbesondere mit arbeitslosen SA- und SS-Männern besetzt. Etliche langjährig erfahrene Beamte der Hamburger Staatspolizei verblieben jedoch in ihren Funktionen.
Bis März 1933 gehörten der Hamburger Staatspolizei 70 Beamte an, deren Anzahl sich bis Anfang 1934 mit 151 Beamten mehr als verdoppelte. Leiter der Hamburger Staatspolizei wurde im März 1933 der Angehörige der örtlichen NSDAP-Gauleitung Anatol Milewski-Schroeden, der am 15. Mai 1933 durch den Hauptmann der Schutzpolizei Walter Abraham abgelöst wurde. Am 20. Oktober 1933 folgte der SS-Führer Bruno Streckenbach Abraham im Amt nach.
Am 6. Oktober 1933 gliederte der Hamburger Senat die Hamburger Staatspolizei aus der Kriminalpolizei aus und unterstellte sie am 24. November 1933 dem Reichsführer SS Heinrich Himmler. Somit wurde dem Innensenator Richter und dem neuernannten Polizeipräsidenten Wilhelm Boltz, der nach einer Vakanz dem kurzzeitig amtierenden Hans Nieland in dieser Funktion nachfolgte, der Einfluss auf die Hamburger Staatspolizei entzogen.
Zerschlagung des Arbeiterwiderstandes
Die Zerschlagung des Arbeiterwiderstands war in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme vorrangiges Ziel der Hamburger Staatspolizei. Noch am Abend des 5. März 1933 beauftragte der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann den nationalsozialistischen Polizeibeamten Peter Kraus mit der Leitung eines Fahndungskommandos der Hamburger Staatspolizei, das insbesondere in der Illegalität operierende kommunistische und sozialistische Gruppen zerschlagen sollte. Zur personellen Verstärkung bestand vom 24. März 1933 bis Januar 1934 unter der Führung von Oberleutnant Franz Kosa das 36-köpfige „Kommando zur besonderen Verwendung“ (KzbV) der Ordnungspolizei, das eng mit dem „Fahndungskommando Kraus“ kooperierte. Innerhalb weniger Monate wurden zahlreiche politische Gegner des NS-Regimes aufgespürt und verhaftet. Im Zentrum staatspolizeilicher Verfolgung standen zunächst Angehörige des Rotfrontkämpferbundes und der KPD-Bezirksleitung. Die in Schutzhaft genommenen NS-Gegner misshandelte man während ihrer Festnahme und bei „verschärften Vernehmungen“ oft schwer. Von März 1933 bis Oktober 1934 nahmen Mitarbeiter der Hamburger Staatspolizei über 5000 Kommunisten fest. Staatspolizeiliche Vorermittlungen führten bis 1939 zu etwa 600 Prozessen vor dem Oberlandesgericht Hamburg und 100 Verfahren vor dem Volksgerichtshof aufgrund von Vorbereitung zum Hochverrat. Infolge der Durchdringung der illegalen KPD mit V-Leuten und Spitzeln stellte die illegale Hamburger Parteiführung im Frühjahr 1936 die Weiterführung des organisierten Widerstands zunächst ein.
Obwohl bereits im Juni 1933 führende Sozialdemokraten festgenommen wurden und sich zeitweise in Haft befanden, ging die Hamburger Staatspolizei erst ab Oktober 1934 verstärkt gegen den sozialdemokratischen Widerstand vor. Der aus Mitgliedern des Reichsbanners und der SPD organisierte sozialdemokratische Widerstand war bis 1937 zerschlagen.
Gestapo-Dienststelle – Das Stadthaus als „Ort des Terrors“
Bereits seit 1814 nutzte die Hamburger Polizeibehörde das Hamburger Stadthaus als zentralen Dienstsitz. Neben anderen Polizeiabteilungen war zur Zeit der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes auch die Hamburger Staatspolizei beziehungsweise anschließend die Gestapo durchgehend bis zum 24./25. Juli 1943 im Erweiterungsbau des Stadthauses mit der Adresse Stadthausbrücke 8 untergebracht. Nachdem das Stadthaus während der Operation Gomorrha nach Luftangriffen der Royal Air Force durch Bombentreffer zerstört worden war, verlegte man die Dienststelle der Staatspolizeileitstelle vorübergehend in Räume der Schulverwaltung in der Dammtorstraße 25. Nach mehreren Wochen wurden schließlich Räumlichkeiten im Ziviljustizgebäude am Sievekingsplatz bis Kriegsende Dienstsitz der Staatspolizeileitstelle.
Im Stadthaus wurden durch Gestapomitarbeiter Gefangene während der Vernehmungen schwer misshandelt, um Geständnisse zu erpressen. Die Keller dienten als Hafträume, in denen Gefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen vorübergehend inhaftiert und gefoltert wurden.
Dokumentiert ist das Verhör des 1936 hingerichteten Hamburger KPD-Funktionärs, Bürgerschaftsabgeordneten und ehemaligen Leiters des örtlichen Rotfrontkämpferbundes Etkar André, das am 26. März 1933 im Beisein fünf weiterer Häftlinge und des Gauleiters Kaufmann im Hamburger Stadthaus durchgeführt wurde:
Haftstätten
Ab März 1933 wurden Schutzhäftlinge zunächst im Untersuchungsgefängnis und in einem ungenutzten Gebäudeteil der Strafanstalt Fuhlsbüttel untergebracht. Da die Zahl der in Schutzhaft genommenen Personen rasant anstieg (bis Mai 1933 1750 Schutzhäftlinge) belegte man im April 1933 das neu eingerichtete KZ Wittmoor mit Gefangenen. Nach der Schließung dieses Lagers im Oktober 1933 überführte man die dort einsitzenden Häftlinge in das seit September 1933 offiziell als Konzentrationslager bezeichnete KZ Fuhlsbüttel.
Ab Dezember 1933 unterstand das KZ Fuhlsbüttel der Polizei und wurde ab 1936 regulär als Polizeigefängnis Fuhlsbüttel bezeichnet. Das Haftstättenpersonal setzte sich aus Gestapobeamten zusammen. Zur Erzwingung von Geständnissen wurden auch dort Häftlinge gefoltert.
Organisation
Nach der im Herbst 1936 erfolgten Reorganisation der Deutschen Polizei wurde reichsweit auch die Gestapo vereinheitlicht: Zum einen führte nun die Politische Polizei außerhalb Preußens generell den Namen Geheime Staatspolizei und die entsprechenden Polizeibehörden bzw. Dienststellen wurden einheitlich zu Staatspolizeistellen bzw. den ihn übergeordneten Staatspolizeileitstellen. Den Staatspolizeileitstellen war im Rahmen der reorganisierten Polizei wiederum als Gestapo-Zentrale das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin gegenüber weisungsbefugt, das zunächst dem Hauptamt Sicherheitspolizei unterstellt und ab September 1939 als Amt IV Teil des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war. Gauleiter Karl Kaufmann übernahm die „politische Leitung“ der Hamburger Gestapo und übte so auf diese Verfolgungsinstanz erheblichen Einfluss aus.
Ab Anfang Februar 1938 war der Gestapo und Kriminalpolizei in Hamburg örtlich ein Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD (IdS) vorgeschaltet, der wiederum dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) unterstand. Erster IdS im Wehrkreis X war Bruno Streckenbach. Streckenbach folgten in dieser Funktion Erwin Schulz (1940–1941) und Johannes Thiele (1942–1945) nach. Im April 1945 wurde der IdS durch einen Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) ersetzt, diese Position bekleidete ab dem 14. April 1945 Walther Bierkamp. Als örtlich zuständige HSSPF fungierten Hans-Adolf Prützmann (1937–1941), Rudolf Querner (1941–1943) und zuletzt Georg-Henning von Bassewitz-Behr (1943–1945).
Hauptaufgabe der Staatspolizeileitstelle war die Ermittlung und Ingewahrsamnahme von Gegnern des NS-Regimes beziehungsweise von Personen, die nach nationalsozialistischen Gesetzen und Verordnungen als Rechtsbrecher angesehen wurden. Zu diesem Zweck erhielt die Gestapo weitreichende Vollmachten zur Beschränkung bürgerlicher Freiheiten, wie dem Vereins- und Versammlungsrecht oder auch dem Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis. Im Zuge von Ermittlungen sammelte die Gestapo belastendes Material zur Vorbereitung von Gerichtsverfahren und konnte Schutzhaft sowie Exekutionen anordnen.
Personal
Leiter der Staatspolizeileitstelle Hamburg war bis zum 1. Februar 1938 Bruno Streckenbach, ihm folgte kommissarisch Günter Kuhl im Juli 1938 im Amt nach. Am 1. Januar 1940 wurde Heinrich Seetzen mit der Leitung der Hamburger Gestapo beauftragt, der dieses Amt von Juli 1941 bis August 1942 in Abwesenheit bekleidete. Im September 1942 übernahm Josef Kreuzer die Leitung der Hamburger Gestapo, bis er am 1. Juli 1944 in dieser Funktion von Hans Wilhelm Blomberg abgelöst wurde, der bis Kriegsende auf diesem Posten blieb.
Stellvertretende Gestapoleiter waren u. a. Ingo Eichmann (1938 bis September 1939), Regierungsrat Teesenfitz (bis 1943), SS-Sturmbannführer Hintze (zeitweise 1943), Regierungsrat Jacob (bis Anfang 1944) und Regierungsrat Achterberg (wahrscheinlich bis Kriegsende).
Gegen Ende 1936 waren mehr als 200 Gestapobeamte in Hamburg tätig. Im August 1944 beschäftigte die Staatspolizeileitstelle ungefähr 260 männliche und weibliche Gestapobeamte, dazu kamen noch jeweils Angestellte und sonstiges Personal. Neben dem Gefängnispersonal im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel stellte die Gestapo auch die Wachmannschaft im 1943 eingerichteten Arbeitserziehungslager Langer Morgen.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden Hamburger Gestapobeamte teils auch in den deutsch besetzten Gebieten eingesetzt und erhielten dort Aufgaben bei der Sicherheitspolizei und dem SD oder auch den Einsatzgruppen. Im deutsch besetzten Dänemark etwa bauten im August 1943 75 Hamburger Gestapobeamte Dienststellen der Gestapo zur Unterdrückung des dänischen Widerstands auf. Die dadurch entstehenden personellen Vakanzen wurden durch Vermittlung des Arbeitsamtes mittels Dienstverpflichtungen wieder ausgeglichen. Größtenteils wurden die für die Gestapotätigkeit dienstverpflichteten Personen für Büroarbeiten oder Wachaufgaben eingesetzt, nur wenige nahmen an Ermittlungen oder Festnahmen teil. Die zumeist älteren und erfahrenen Gestapobeamte verblieben in leitenden Positionen.
Außenstellen
Die Staatspolizeileitstelle Hamburg war im Wehrkreis X übergeordnete Instanz diverser Gestapo-Außenstellen in Norddeutschland. Im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes wurden ab April 1937 die vormals preußischen Städte Altona, Wandsbek und Harburg-Wilhelmsburg nach Hamburg eingemeindet und die dortigen Gestapo-Dienststellen der Staatspolizeileitstelle Hamburg unterstellt.
Zudem bestanden Außenstellen der Hamburger Gestapo in Hamburg-Bergedorf und Cuxhaven. Des Weiteren wurden auch die Außenstellen in Düneberg (Sprengstoff A.G.), Krümmel (Dynamitfabrik Krümmel) und Lüneburg Teil der Staatspolizeileitstelle Hamburg.
Aufbau
Bis 1937 war die Hamburger Staatspolizei folgendermaßen strukturiert: Dem leitenden Abteilungsvorstand unterstanden die Unterabteilungen A bis D, die wiederum in insgesamt 15 Inspektionen unterteilt waren. Von 1937 bis 1944 veränderte sich der strukturelle Aufbau der Staatspolizeileitstelle Hamburg nur unwesentlich und war an dem Aufbau des Geheimen Staatspolizeiamts im Hauptamt Sicherheitspolizei beziehungsweise ab September 1939 als Abteilung IV im Reichssicherheitshauptamt orientiert. Bei der Staatspolizeileitstelle Hamburg bestanden drei Abteilungen, die jeweils von Abteilungsleitern geführt wurden:
I. Verwaltung mit zwei Dezernaten und sieben Sachgebieten
II. Innerpolitische Polizei mit elf Dezernaten und wenigstens zehn Sachgebieten
III. Abwehrpolizei mit fünf Dezernaten und wenigstens neun Sachgebieten
Organisationsplan der Abteilung II (Innerpolitische Polizei) von 1937 bis 1944:
II A – Kommunismus und Marxismus
II A 1 Kommunismus
II A 2 Marxismus
II A 3 Staatsfeindliches Ausländertum
II B – Kirche, Emigranten, Freimaurer, Judentum, Pazifismus
II B 1 Kirchenangelegenheiten
II B 2 Freimaurer, Judentum, Pazifismus, Emigranten
II B 3 Paßangelegenheiten, Ein- und Ausbürgerungen
II C Sonderaufgaben und Attentatssachen u. a.
II D Schutzhaft
II E Wirtschaftspolitische, agrarpolitische und sozialpolitische Angelegenheiten, Heimtückesachen, Waffenstrafsachen, Vereins- und Versammlungswesen
II E 1 Wirtschaftspolitische Angelegenheiten
II E 2 Arbeitsvernachlässigung, Betriebssabotage, asoziale Betriebsverhältnisse
II E 3 Heimtücke- und Waffenstrafsachen
II E 4 Vereins- und Versammlungssachen
II F Kartei, Personalakten, Auswertung, Leumundsangelegenheiten
II G Sonderaufgaben und Attentatssachen u. a.
II H Parteiangelegenheiten, Amtshandlungen bei Diplomaten und Konsuln, feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten
II N Nachrichten
II P In- und Auslandspresse, Schrifttum und Kulturpolitik, Strafsachen in Bezug auf Abhören von ausländischen Sendern, Schwarzhörer
II Hafen
Im Januar 1944 wurde die Staatspolizeileitstelle Hamburg nochmals reorganisiert, so wurden beispielsweise Dezernate und Sachgebiete umbenannt sowie teilweise zusammengeführt oder unterteilt.
Entwicklung und Verfolgungsmaßnahmen
Nach der Zerschlagung des organisierten Arbeiterwiderstandes wurde das Arbeitermilieu mit Hilfe von V-Leuten und anderen Zuträgern umfassend überwacht. In diesem Zusammenhang kooperierte die Hamburger Gestapo eng mit anderen Polizeidienststellen, NS-Organisationen und -Funktionsträgern (Blockwarte) sowie Behörden. Auch politische Emigranten in Nord- und Westeuropa standen unter Beobachtung der Hamburger Gestapo und deren Exilorganisationen wurden durch V-Leute infiltriert. Ab Mitte der 1930er Jahre verstärkten nicht mit dem Bereich Kommunismus-Marxismus befasste Dezernate der Hamburger Gestapo ihre repressiven Maßnahmen gegen andere NS-Opfergruppen. Vereinzelt wurden Angehörige der bürgerlichen oder kirchlichen Opposition verfolgt und deren Milieus beobachtet. Zudem ging die Gestapo ab diesem Zeitpunkt verstärkt gegen Zeugen Jehovas, Homosexuelle und auch sogenannte Asoziale vor. Auch Juden gerieten zunehmend in den Fokus von staatspolizeilichen Repressionsmaßnahmen.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte der „Krieg im Inneren“ ein und damit auch ein Bedeutungszuwachs für staatspolizeiliche Verfolgungsmaßnahmen. Bereits am 1. September 1939 wurden im Deutschen Reich potentielle Kriegsgegner festgenommen und in Konzentrationslager eingewiesen. Unter den Verhafteten befanden sich auch 53 sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter aus Hamburg und Schleswig-Holstein, die in das KZ Sachsenhausen überstellt wurden. Über die Stimmung in der Bevölkerung zum Kriegsgeschehen und die kriegsbedingt schwierige Versorgungslage holten Gestapobeamte durch eigene Beobachtungen oder Zuträger Informationen ein, die in Stimmungsberichten verarbeitet wurden. Nicht regimekonforme Meinungsäußerungen oder unangepasstes Verhalten mündeten oft in Festnahmen, so ging die Gestapo in Hamburg auch gegen Swing-Jugendliche vor. Von den bis zu 1500 Hamburger Swing-Jugendlichen wurden mehr als 400 festgenommen und bis zu 70 der Verhafteten später in das KZ Moringen, das KZ Uckermark oder das KZ Neuengamme eingewiesen.
Judenreferat
Das Judenreferat der Staatspolizeileitstelle Hamburg war maßgeblich in die Verfolgung der Hamburger Juden involviert. Zunächst war es Teil der Abteilung II B 2 und bestand ab 1938 als eigenständiges Referat. Bis 1941 war es beim Stadthaus in der Düsternstraße untergebracht, anschließend in der Rothenbaumchaussee 38, wo sich bis zum November 1938 das Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde befunden hatte. Ab dem Spätsommer 1943 befand sich das Judenreferat in der Nähe der St. Pauli-Landungsbrücken am Johannisbollwerk 19. Die Aufgaben dieser Abteilung umfassten die Überwachung jüdischer Einrichtungen und auch die Auswertung von entsprechenden Informationen anderer behördlicher Stellen. Gestapobeamte des Judenreferats nahmen Razzien und teils Verhaftungen in jüdischen Institutionen vor und waren an der Misshandlung jüdischer Bürger beteiligt. Mitarbeiter des Jüdischen Religionsverbandes Hamburg e. V. (bis 1938 Jüdische Gemeinde Hamburg) wurden gezwungen, Deportationslisten zu erstellen.
Neben Beamten der Ordnungspolizei waren auch Gestapomitarbeiter des Judenreferats an der Durchführung von Deportation der Hamburger Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager beteiligt. Die Abteilung wurde von 1941 bis 1943 von Claus Göttsche geleitet, sein Nachfolger Hans Stephan bekleidete die Funktion bis Kriegsende. Vom Hannoverschen Bahnhof wurden zwischen Oktober 1941 bis Februar 1945 in 17 Transporten 5848 Juden deportiert, von denen über 5000 Opfer des Holocaust wurden.
Ausländerreferat
In Hamburg leisteten mehr als 400.000 Menschen aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern Zwangsarbeit zur Kompensation der zum Kriegsdienst eingezogenen deutschen Arbeitskräfte. Das Ausländerreferat der Staatspolizeileitstelle Hamburg koordinierte zwischen den zuständigen Polizeidienststellen und Betrieben die Überwachung der Zwangsarbeiter, da Sabotage, Bildung von Widerstandsgruppen, Rebellion und auch Beziehungen zwischen Deutschen und sogenannten Fremdvölkischen verhindert werden sollten. Dem von Albert Schweim geleiteten Ausländerreferat gehörten ab 1942 etwa 45 Beschäftigte an, die in kleineren Einheiten für Zwangsarbeiter einzelner Staaten zuständig waren. In den mehr als 1200 Lagern für Zwangsarbeiter arbeiteten die Mitarbeiter des Ausländerreferats mit den jeweiligen Lagerleitungen zusammen und unterhielten dort Spitzelnetze. Bekannt gewordene Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften wurden rigoros verfolgt und konnten Exekutionen nach sich ziehen. Die Einweisungen in das Arbeitserziehungslager Langer Morgen wurden hauptsächlich durch Angehörige des Ausländerreferats vorgenommen.
Im Wehrkreis X war das Ausländerreferat auch für die dortigen Offizierslager (Oflag) und Stammlager (Stalag) zuständig, wo dessen Verantwortliche Exekutionen anordnen konnten bzw. selbst durchführten.
Verfolgung des Hamburger Widerstands
Neben weitgehenden Vollmachten für die Staatspolizeistellen zum Vollzug von „Sonderbehandlungen“ verfügte am 12. Juni 1942 der Leiter des Amts IV im RSHA Heinrich Müller den „Sondererlass zur verschärften Vernehmung“ zur Bekämpfung des organisierten Widerstandes. Dieser Erlass bevollmächtigte Gestapobeamte bei vermuteter Auskunftsverweigerung, Verdächtige schwer zu misshandeln und bis hin zu deren Tod Aussagen zu erpressen. Dieser Sondererlass bezog sich ausschließlich auf „Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Terroristen, Angehörige von Widerstandsbewegungen, Fallschirmagenten, Asoziale, polnische oder sowjetische Arbeitsverweigerer“. Nach Inkrafttreten des Erlasses richtete man innerhalb der Hamburger Gestapodezernats „Marxismus-Kommunismus“ im Juli 1942 das „Sonderreferat 1a1“ unter Kriminalinspektor Fritz Knuth ein. Das RSHA entsandte Mitte Oktober 1942 die Ermittler Horst Kopkow sowie dessen Mitarbeiter Walter Habecker von der Sonderkommission Rote Kapelle nach Hamburg, die als Folterinstrumente Arm- und Wadenklemmen zur Aussageerpressung mitbrachten. Mitarbeiter des Sonderreferats verwendeten ebenfalls Folterwerkzeuge zur Erzwingung von Geständnissen. Einer Gestapoangestellten erklärte der Kriminalsekretär Henry Helms zu den Wadenklemmen, dass es „eine Freude“ sei, „wie die Leute dabei hopsen und springen“.
Um Gegner des NS-Regimes zu ermitteln war die Gestapo auf Zuträger aus Behörden, Betrieben und anderen Polizeidienststellen angewiesen. Auch durch Denunzianten gelang es der Gestapo NS-Gegner festzunehmen, wie beispielsweise im Februar 1942 die kleine Gruppe widerständiger Jugendlicher um Helmuth Hübener. V-Leute waren die wichtigsten Informanten der Gestapo, bekannte V-Leute der Hamburger Gestapo waren beispielsweise Maurice Sachs und Alfons Pannek. Der zur Kollaboration gezwungene ehemalige Kommunist Pannek arbeitete unter Helms als Agent Provocateur. Pannek, der hunderte Hamburger Widerstandskämpfer an die Gestapo verriet, betrieb aus Tarngründen einen Lesemappenvertrieb sowie eine Bücherei und unterhielt dort selbst einen V-Leute-Apparat mit eigener Sekretärin.
Während des Krieges zerschlug die Hamburger Gestapo mehrere Widerstandsgruppen: Im Oktober 1942 deckte man die Aktivitäten der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe auf, danach wurden über 100 Mitglieder dieser Widerstandsgruppe durch die Gestapo festgenommen. Über 70 der Inhaftierten starben nach ihrer Gefangennahme, wurden hingerichtet oder durch Gestapomitarbeiter ermordet. Nachdem die Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe aufgeflogen war, geriet die Etter-Rose-Hampel-Gruppe ins Visier der Gestapo. Dieser antimilitaristische Freundeskreis junger NS-Gegner, seitens der Gestapo als „Gruppe der Nichtvorbestraften“ bezeichnet, wurde zerschlagen und die Mitglieder mehrheitlich vor Gericht gestellt und hingerichtet. Im Herbst 1943 begannen Ermittlungen der Gestapo zu den Aktivitäten der Hamburger Weißen Rose. Von November 1943 bis März 1944 wurden 30 Personen aus dem Umfeld der Gruppe festgenommen, von denen acht die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht erlebten. Zuletzt verfolgte die Gestapo im März 1945 die Widerstandsgruppe Kampf dem Faschismus (KdF), mehrere ihrer Mitglieder wurden auf Anordnung der Gestapo kurz vor Kriegsende ermordet.
Im Rahmen der Aktion Gewitter wurden wenige Wochen nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler in Hamburg elf sozialdemokratische Politiker und die ehemalige kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete Antonie Schmidt durch die Gestapo verhaftet und in Schutzhaft genommen.
Kriegsende
Für den Fall eines Einmarsches alliierter Truppen nach Hamburg trafen der Höhere SS- und Polizeiführer Georg-Henning von Bassewitz-Behr, der Leiter der Hamburger Kriminalpolizei Johannes Thiele, sowie der Hamburger Gestapochef Josef Kreuzer bereits im Frühjahr 1944 Vorbereitungen zur Räumung des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel, da diese Häftlinge nicht durch alliierte Truppen befreit werden sollten. Nach weiteren Abstimmungen mit leitenden Gestapomitarbeitern wurden Anfang 1945 drei Listen angefertigt: Eine Liste enthielt die Namen derjenigen Häftlinge die entlassen werden sollten und eine weitere listete die zu „evakuierenden“ Häftlinge auf, welche am 12. April den Todesmarsch zum Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Hassee antreten mussten. Auf einer dritten Liste waren 71 zur Exekution bestimmte Häftlinge aufgeführt, die während der Endphaseverbrechen im KZ Neuengamme ermordet wurden.
Vom 14. April bis zum 18. April 1945 mussten Häftlinge belastendes Material der SS- und Polizeidienststellen zum Untersuchungsgefängnis transportieren und im dortigen Kesselhaus verbrennen. Auch am Wallgraben beim Sievekingsplatz wurden Karteien, Akten, Verhörprotokolle, Personalunterlagen und sonstige Dokumente mittels Benzin verbrannt. Die Gestapomitarbeiter sollten untertauchen und sich dem Werwolf anschließen. Die Gestapo-Spitzel wurden aufgefordert Hamburg vorübergehend zu verlassen.
Nachkriegszeit, Aufarbeitung und Gedenken
Nach Kriegsende wurde die Hamburger Polizei durch die britische Militärverwaltung umgehend entnazifiziert. Da die Gestapomitarbeiter als Angehörige einer verbrecherischen Organisation galten, versuchten Fahnder der britischen Besatzungsbehörden die Aufenthaltsorte dieser Personengruppe zwecks Festnahme und Internierung zu ermittelten.
Der ehemalige Gestapoleiter Seetzen und der Judenreferent Göttsche begingen bei ihrer Festnahme Suizid. Andere, wie Streckenbach und der ehemalige Leiter des Fahndungskommandos Kraus, gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Während Kraus in sowjetischer Kriegsgefangenschaft starb, kehrte Streckenbach 1955 nach Hamburg zurück und lebte von der Justiz unbehelligt bis an sein Lebensende in seiner Heimatstadt. Die ehemaligen Leiter der Gestapo Kreuzer, Blomberg und Kuhl wurden wegen Verbrechen an alliierten Staatsangehörigen von britischen Militärgerichten verurteilt: Blomberg und Kuhl wurden hingerichtet und Kreuzer erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Auch der ehemalige Kommandant des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel Willi Tessmann wurde durch ein britisches Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, während sein Vorgänger Johannes Rode in britischer Internierung starb.
Bis 1946 wurden 340 Bedienstete der Hamburger Gestapo in Gewahrsam genommen, etwa 40 waren noch flüchtig. Das Hamburger Komitee ehemaliger politischer Gefangener arbeitete den alliierten Dienststellen zu, die mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen und entsprechenden Prozessvorbereitungen befasst waren. Auch die Hamburger Oberstaatsanwaltschaft, die Verbrechen von Deutschen an Deutschen untersuchte, bat das Komitee um Unterstützung bei ihren Ermittlungen. Dieses Komitee half u. a. durch die Beibringung belastender Dokumente bei den Vorermittlungen zum Neuengamme-Hauptprozess und den Prozessen mit dem Verfahrensgegenstand Verbrechen im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, die im Rahmen der Curiohaus-Prozesse stattfanden.
Der bekannteste Prozess gegen Hamburger Gestapomitarbeiter fand vom 9. Mai 1949 bis zum 2. Juni 1949 vor dem Schwurgericht am Landgericht Hamburg statt und wird nach dem Hauptangeklagten auch als Helms-Prozess bezeichnet. Dieses Verfahren wurde gegen zwölf Gestapomitarbeiter und -Spitzel des Dezernats Marxismus-Kommunismus u. a. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt. Unter den Angeklagten befanden sich neben Helms und Pannek auch drei weibliche Beschuldigte, die als Angestellte der Gestapo beziehungsweise V-Leute tätig waren. Verfahrensgegenstand waren Misshandlungen mit Todesfolge, Aussageerpressungen, Freiheitsberaubung, KZ-Einweisungen, die Hinrichtung der 71 Häftlinge des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel im April 1945, Denunziationen, Bespitzelungen und die Unterschlagung von Wertgegenständen festgenommener Personen. Am 2. Juni 1949 verkündete das Gericht die Urteile: Pannek wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus und Helms zu neun Jahren Haft verurteilt. Des Weiteren wurden sieben Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren verhängt. Die drei weiblichen Angeklagten wurden freigesprochen. Der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone prüfte am 5. September 1950 die eingereichten Revisionsanträge. Das Urteil gegen Pannek, der wegen seiner Spitzeltätigkeit für die Gestapo und den daraus resultierenden Folgen für die Opfer in erster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, erlangte nach der Revision keine Rechtskraft und wurde später aus formalen Gründen eingestellt. Den Revisionsanträgen von Helms und einem weiteren Angeklagten wurde nicht stattgegeben. Pannek wurde umgehend und Helms vorzeitig im November 1953 aus der Haft entlassen.
Bis Mai 1950 entließ man im Rahmen der Entnazifizierung über 1.300 Beamte aus dem Polizeidienst in Hamburg, darunter die Gestapobeamten. Als sogenannte 131er wurden danach jedoch etliche wieder in den Hamburger Polizeidienst übernommen. Ob dies in Hamburg auch für Gestapobeamte zutrifft, ist nicht gesichert, zumindest bemühten sich beispielsweise Ingo Eichmann und Walter Abraham erfolglos um erneute Übernahme in die Hamburger Polizei.
Eine umfassende Studie zur Hamburger Gestapo liegt bis heute nicht vor, da bei der Zerstörung des Stadthauses im Juli 1943 auch die Unterlagen der Staatspolizeileitstelle verbrannten und gegen Kriegsende weiteres belastendes Material vernichtet wurde. Einschlägige Publikationen behandeln die Hamburger Gestapo lediglich am Rande bzw. über nur einen begrenzten Zeitraum oder Teilbereich.
Das ehemalige Gestapo-Hauptquartier an der Stadthausbrücke 8 wurde nach Kriegsende u. a. von der Hamburger Baubehörde genutzt. Bis 1980 gab es dort keine Hinweise auf die Nutzung des Gebäudes im Nationalsozialismus. Mitarbeiter der Baubehörde setzten sich 1980 mit Spendenaufrufen und der Broschüre „Dokumentation Stadthaus in Hamburg. Gestapo-Hauptquartier von 1933 bis 1943“ dafür ein, am Haupteingang des Gebäudes eine Gedenktafel für die Opfer der Gestapo anzubringen. Diese Anregung wurde 1984 umgesetzt. Zum Gedenken an drei Männer, die im Gestapo-Hauptquartier zu Tode kamen, wurden 2008 und 2009 insgesamt drei Stolpersteine vor dem Haupteingang der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt an der Stadthausbrücke 8 verlegt.
Der Hamburger Senat beschloss 2009 den Verkauf des Stadthauses an einen Privatinvestor. Im Rahmen des 2009 veröffentlichten „Gesamtkonzepts für Orte des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 in Hamburg“ des Hamburger Senats wurde festgelegt, dass der Investor im Stadthaus eine Dokumentationsstätte für das Gedenken an die Opfer der Polizeigewalt einrichtet. In Vorbereitung für die Einrichtung einer entsprechenden Gedenkstätte sichteten Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme historisches Material und initiierten die Ausstellung Dokumentation Stadthaus. Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus mit umfangreichem Begleitprogramm, die vom 19. Januar bis 10. Februar 2012 im Hamburger Rathaus zu sehen war.
Literatur
Herbert Diercks, Christine Eckel, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Stadthaus und die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus. Katalog der Ausstellungen am Geschichtsort Stadthaus, Metropol Verlag Berlin 2021, ISBN 978-3-86331-573-3.
Herbert Diercks: Dokumentation Stadthaus. Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus. Texte, Fotos, Dokumente. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 2012, (Digitalisat).
Herbert Diercks: Die Freiheit lebt. Widerstand und Verfolgung in Hamburg 1933–1945. Texte, Fotos und Dokumente. Herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Hamburger Rathaus vom 22. Januar bis 14. Februar 2010. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, [Hamburg] 2010.
Herbert Diercks: Gedenkbuch „Kola-Fu“. Für die Opfer aus dem Konzentrationslager, Gestapogefängnis und KZ-Außenlager Fuhlsbüttel. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 1987.
Ludwig Eiber: Unter Führung des NSDAP-Gauleiters. Die Hamburger Staatspolizei (1933–1937). In: Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-12572-X.
Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933–1945. 2. Auflage. Röderberg-Verlag, Frankfurt 1980, ISBN 3-87682-036-7.
Gertrud Meyer: Nacht über Hamburg. Berichte und Dokumente 1933–1945. Bibliothek des Widerstandes, Röderberg-Verlag, Frankfurt am Main 1971.
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Bezirksverwaltung Hamburg, Bezirksverwaltung Hamburg: Dokumentation Stadthaus in Hamburg: Gestapo-Hauptquartier von 1933 bis 1943. Wartenberg, Hamburg 1981.
Linde Apel, in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): In den Tod geschickt – Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg, 1940 bis 1945. Metropol Verlag, Hamburg 2009, ISBN 978-3-940938-30-5.
Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten (Hrsg.): Wegweiser zu den Stätten von Verfolgung und sozialdemokratischem Widerstand in Hamburg. Teil I: Die innere Stadt. (PDF; 1,6 MB) Hamburg 2005. (abgerufen am 29. April 2012)
Linde Apel, Frank Bajohr: Die Deportation von Juden sowie Sinti und Roma vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg 1940–1945. In: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg: Zeitgeschichte in Hamburg 2004. Hamburg 2005, S. 21–63, zeitgeschichte-hamburg.de (PDF)
Weblinks
Hamburgs Polizei in der Nazizeit auf www.ndr.de (abgerufen am 29. April 2012).
Einzelnachweise
Geheime Staatspolizei
Hamburg in der Zeit des Nationalsozialismus
Organisation der Polizei (Nationalsozialismus)
Polizei (Hamburg) |
7178031 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kaditzer%20Linde | Kaditzer Linde | Die Kaditzer Linde ist ein Naturdenkmal auf dem Kirchhof der Emmauskirche in Kaditz, einem Stadtteil von Dresden in Sachsen. Diese Sommerlinde (Tilia platyphyllos) hat eine Höhe von 20 Metern und ist nach unterschiedlichen Schätzungen 500 bis 1000 Jahre alt und damit der älteste Baum Dresdens. Der Umfang des Stammes beträgt etwa 9 Meter. Die Linde wurde 1818 bei einem großen Dorfbrand schwer beschädigt. Danach teilte sich der Stamm und bildete zwei getrennte Stämmlinge. Durch die Brandschäden entwickelte die Linde einen abnormalen Wuchs, um ihre Schäden so gut wie möglich zu kompensieren. Sie wurde oft beschrieben, abgebildet und war ein Anschauungsobjekt der Dendrologie. Bereits im 19. Jahrhundert zählte sie mit einem Umfang von über 10 Metern zu den größten Linden in Deutschland. Als Gerichtslinde soll sie im Mittelalter auch als Pranger gedient haben. Das „Deutsche Baumarchiv“ in Gießen zählt die Linde zu den „National bedeutsamen Bäumen (NBB)“, wobei der Stammumfang in einem Meter Höhe als wichtigstes Auswahlkriterium dient.
Lage
Die Linde steht im Dorfkern von Kaditz, einem Dresdner Stadtteil am rechten Ufer der Elbe, auf einer flachen, hochwasserfreien Anhöhe, etwa sechs Kilometer nordwestlich der Inneren Altstadt Dresdens. Am Ortsrand führt südlich die Kaditzer Flutrinne vorbei, die zwischen 1918 und 1922 an der Stelle eines erodierenden, bei Hochwasser überfluteten Altarms der Elbe angelegt wurde, ein Teil des Hochwasserschutzes in Dresden. Die Linde steht in einer Höhe von etwa 110 Metern über Normalnull, etwa 10 Meter über dem Normalpegel der Elbe. Sie befindet sich neben der evangelischen Emmauskirche, die von einem 5400 Quadratmeter großen Friedhof umgeben ist. Durch Pfarrhaus und Kirche, die etwa 15 Meter voneinander entfernt stehen, ist sie vor Stürmen und Unwettern geschützt. Mit ihrer Krone überspannt sie einen großen Teil des Kirchhofs. In der Nähe der Linde steht ein Ehrenmal für gefallene Soldaten der beiden Weltkriege. Der Boden um die Linde ist nicht versiegelt, sondern teilweise mit Rasen bewachsen oder mit Erdboden bedeckt. Wenige Meter daneben steht die laut Kirchenbuch im Jahre 1622 gesetzte Schulmeisterlinde, der älteste Gedenkbaum Dresdens. Durch Kaditz führt der über 1200 Kilometer lange Elberadweg unmittelbar an der Linde vorbei.
Geschichte
Entwicklung bis zum Jahr 1818
Im Jahre 1273 wurde die Emmauskirche als „Laurentiuskapelle“, die dem heiligen Laurentius geweiht war, erstmals erwähnt. Vermutungen zufolge soll die Linde beim Bau der Kapelle in ihrer unmittelbaren Nähe gepflanzt worden sein. Im Jahre 1430 steckten die Hussiten die Laurentiuskapelle in Brand. Der Wind stand dabei günstig, so dass die Linde nur geringe Brandschäden davontrug. Um das Jahr 1500 wurde das Kirchengebäude neu gebaut und mit ihm der älteste Friedhof in Kaditz angelegt, der bis in das Jahr 1862 einzige und allgemeine Begräbnisstätte war. Im Jahre 1637, als der Dreißigjährige Krieg auch in Sachsen tobte, stand die Kirche erneut in Flammen. Die Linde blieb dabei wiederum wie durch ein Wunder beinahe unversehrt. Die Kirche war nach dem Brand jahrelang eine ausgebrannte Ruine, bis sie ab 1650 wiederhergestellt wurde. Reste der Laurentiuskapelle sind in dem heutigen Kirchturm enthalten. Im Dreißigjährigen Krieg lagerten schwedische Truppen unter der Linde. Im Jahre 1686 wurde das Pfarrhaus neben der Kirche erbaut, so dass sich nun die Linde zwischen den beiden Gebäuden befindet.
Der Kirchhof wurde im Jahre 1737 zwar vergrößert, aber aufgrund der noch immer bestehenden Platznot wurden die Gräber teilweise bis dicht an die Linde heran angelegt, so dass die Grabstellen in den bei Linden typischen weit verzweigten Wurzelbereich des Baumes hineinreichten. Im Jahre 1839 heißt es in der Zeitschrift Saxonia, dass sich die Linde „wahrscheinlich durch die umliegenden Leichen genährt“ hätte. Mit dem zunehmenden Alter und dem immer mächtiger werdenden Stammumfang wurde die Linde immer bekannter. Mit einem Stammumfang von 21 Ellen, das entspricht 11,90 Meter, war sie bereits ein markantes Objekt. Deshalb veranlasste der Herzog von Kurland, der dritte Sohn von Friedrich Augusts II. und Enkel von August dem Starken, um das Jahr 1750, sie geometrisch aufnehmen zu lassen. Die Emmauskirche wurde von 1750 bis 1756 im Inneren barock umgestaltet, wobei auch ein Deckengemälde angebracht wurde. Es zeigt einen Apokalyptischen Engel mit fünf Leuchtern und im Hintergrund einen starken, durch seinen Umfang und seine Größe merkwürdig erscheinenden Baum, der die Kaditzer Linde darstellen sollte. Auf einem Kupferstich des Radierers und Malers Johann Christian Klengel aus dem Jahre 1782 ist die Linde mit Gräbern im Kirchhof neben der Kirche zu Kaditz zu sehen. Dies ist die älteste bekannte bildnerische Darstellung des Baumes. Die Linde wurde im Jahre 1795 als „Flaggschiff aller Linden“ bezeichnet. Bei einem Brand im östlichen Teil von Kaditz im Jahre 1802, bei dem auch das Pfarrgebäude beschädigt wurde, blieb die Linde wiederum ohne größere Schäden. Eine Lithografie des Malers und Zeichners Gustav Taubert, vermutlich aus dem Jahre 1802, zeigt das bis auf die Außenmauern abgebrannte Pfarrhaus, dahinter die Linde und die Kirche. Napoleonische Truppen zogen im Jahre 1812 durch das Dorf an der Linde vorbei. Im Jahre 1818 heißt es in Dresden und das Elbgelände des Vereins zur Förderung Dresdens und des Fremdenverkehrs auf S. 128: „Auf dem Friedhof eine uralte Linde.“
19. Jahrhundert
Ebenfalls im Jahre 1818 kam es in Kaditz zu einer großen Brandkatastrophe, diesmal mehr im westlichen Teil. Dabei brannten 19 Bauernhäuser und 30 Scheunen und auch das wenige Meter neben der Linde stehende Pfarrhaus nieder. Das Feuer sprang vom Pfarrhaus zur großen Linde über und zerstörte eine Stammhälfte, die bis über den Stammkern vollkommen verbrannte. Ein weiteres Überspringen des Feuers vom Pfarrhaus zur Kirche wurde durch die Linde verhindert. Trotz des großen Schadens blieb die Linde am Leben. Der bis dahin zwar hohle, aber noch vollständig geschlossene Stamm hatte nun eine große Öffnung zum Pfarrhaus hin. Im Inneren zerfiel die Linde allmählich. Der Hohlraum im Stamm war so groß, dass man ihn betreten und dort einen Tisch und Stühle aufstellen konnte. Auch sollen sich darin mehrmals Jugendliche zum Musizieren getroffen haben. Zur Erhöhung der Standfestigkeit des Baumes und zur Stärkung der Stammruine entwickelten sich im Laufe von Jahrzehnten Wurzeln zu starken Sekundärstämmen. Aufgrund dieses Phänomens war die Linde oft Exkursionsziel von Lehrenden und Lernenden auf dem Gebiet der Dendrologie, der Wissenschaft von der Baum- und Gehölzkunde. Die Bekanntheit der Linde wurde nach dem Brand und der Entwicklung zur Abnormität immer größer. Es entstanden von der Linde zahlreiche Zeichnungen und Gemälde, von denen eines auf einer Kunstausstellung in Dresden gezeigt wurde, was zur steigenden Popularität der Linde beitrug. In landesweit erscheinenden Journalen und Zeitschriften las man von ihrem Schicksal, wobei die Verfasser nicht mit Superlativen hinsichtlich Alter und Schicksal der Kaditzer Linde sparten.
Im Jahre 1823 berichtete Johann Gottfried Ziller, der damalige Kantor: „Bemerkenswert ist, dass die Natur die inneren Wände in der Höhlung des Stammes nach und nach wieder mit neuer Rinde überkleidet und dem Stamm neues Leben bereitet hat.“ Im Jahre 1829 wurde der unterste schwere Ast auf Veranlassung des Superintendenten Karl Christian Seltenreich, Pastor an der Kreuzkirche in Dresden, mit Säulen und Balken gestützt, um einem Ausbrechen entgegenzuwirken. Diese Konstruktion hatte die Form eines Tores, das wie Mauerwerk verputzt wurde, um ihr den Anschein eines steinernen Säulenwerkes zu geben. Sachsens Kirchen-Galerie aus dem Jahre 1836 enthält Angaben zur Größe des Stammes und einen Vergleich zu anderen Linden: „Auf dem Kirchhofe zu Kaditz befindet sich eine Linde, die ihres Umfanges und hohen Alters wegen bemerkenswerth ist. Die bekannte große Linde bei Augustusburg mißt 18 ½ Ellen im Umfange ihres Stammes. Eine Linde in Schwaben wird von 18 Ellen Stammesumfang und als die älteste und stärkste in Deutschland aufgeführt. Diese, auf dem Kirchhofe zu Kaditz, mißt am Fuße 19 ¾ Ellen. Der Greisenbaum ist hohl, und der größte Durchmesser seiner Höhlung beträgt 5 Ellen.“ Ein Beitrag in der Zeitschrift Saxonia aus dem Jahre 1839 mit der Überschrift Die große Linde auf dem Kirchhofe zu Kaditz bei Dresden vergleicht die Kaditzer ebenfalls mit der Augustusburger Linde: „Auf dasigem Kirchhofe, dem Hauptthore gegenüber zwischen der Kirche und dem Pfarrhause, befindet sich jene durch Größe und Alter ausgezeichnete Linde. Ihr Stamm übertrifft die Augustusburger Linde von 18 ½ Elle Umfang, denn die Kaditzer faßt in der stärksten Breite 21 Ellen.“ In der Zeitschrift Das Vaterland der Sachsen aus dem Jahre 1844 wird ausführlich über die Kaditzer Linde berichtet:
Der Zeichner und Lithograf Carl Wilhelm Arldt fertigte um das Jahr 1840 mehrere Ansichten von der Linde an. Zwei davon entstanden nach Zeichnungen von Julius Fleischmann, eine davon als farbige Lithografie mit dem Titel Die große Linde auf dem Kirchhofe zu Kaditz.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts knickte eine morsch gewordene Stütze unter der großen Last zusammen und der darauf liegende Hauptast brach ab. Im Jahre 1864 heißt es in der Zeitschrift Die Dioskuren: Deutsche Kunst-Zeitung im Kapitel Deutsche Waldbäume: „Noch kolossaler ist die alte Linde auf dem Kirchhofe des Dorfes Kaditz bei Dresden. Ihr Stamm hat einen Umfang von 40 Fuß und einen Durchmesser von 12 Fuß. Sie ist vollständig ausgehöhlt, doch sind die inneren Wände mit frischer Rinde bekleidet. Sie scheint, nach einem im Holze verwachsenen Halseisen zu urtheilen, in der Vorzeit als Pranger gedient zu haben.“ Um das Jahr 1875 wurde an der Bruchstelle des Astes ein Gitter angebracht, um das Eindringen in den Hohlraum des Stammes zu verhindern. Das Gitter soll von einigen Fenstern des alten Pfarrhauses stammen. Bis dahin wurde der Hohlraum von den Dorfbewohnern, vor allem von den Jugendlichen, genutzt, um darin Unfug zu treiben. Das Gitter wurde einige Jahre später mit einem Schloss versehen, für das man in der Pfarrei den Schlüssel erhalten konnte.
Im Jahre 1890 wurde in der Zeitschrift Die Gartenlaube in der Reihe Deutschlands merkwürdige Bäume von der Kaditzer Linde berichtet: „Ungefähr in der Mitte des Dorfes liegt die hübsche Kirche; zwischen ihr und dem Pfarrhause, mitten unter grünbewachsenen und steingeschmückten Grabstätten aber erhebt sich die weitberühmte Kaditzer Linde. Der staunenswerthe Baumkoloß hat 11 Meter Stammumfang; das Innere des Stammes ist völlig hohl und deshalb sind seit lange Stützen nothwendig geworden. An der einen Seite ist die Rinde herausgebrochen; die Stütze war morsch geworden, die Rinde konnte den starken Ast nicht mehr tragen und wurde mit diesem fortgerissen. Besonders merkwürdig ist nun, daß sich innen ringsum die Rinde neu gebildet hat.“
Neuere Zeit
Die Gemeinde Kaditz verlor im Jahre 1903 ihre Selbstständigkeit und wurde nach Dresden eingemeindet. Aus der Dorflinde wurde ein Großstadt-Idyll, so pries man die Linde auf Postkarten an. In der Tageszeitung Sächsische Nachrichten stand im Jahre 1909: „Zu den ältesten Bäumen Sachsens, ja vielleicht Deutschlands, gehört die gewaltige Linde auf dem Friedhofe des Dorfes Kaditz, der Umfang betrug 12,5 und der Durchmesser 4 m.“ Am 7. Juni 1925 wurde in etwa 20 Meter Entfernung von der Linde ein Kriegerehrenmal mit einem großen, in Stein gehauenen Adler mit Blickrichtung zur Linde feierlich geweiht. Im Jahre 1945 soll sich in den ersten Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bewohner von Kaditz in der Nacht im hohlen Stamm versteckt haben, um so den Razzien in den Häusern zu entgehen. Um das Jahr 1960 wurden sehr alte Gräber im Wurzelbereich der Linde freigelegt und geräumt. Mit den Jahren bildeten sich aus dem hohlen und halbseitig geöffneten Stamm ein Hauptteil und ein sehr kleiner zweiter Stammteil. Der Raum zwischen den beiden Stammteilen wurde mit der Zeit immer größer. Der damalige Pfarrer Karl-Heinz Scharf, der sich intensiv mit der Biographie der Linde beschäftigte und damit zur Popularität der Linde beitrug, führte um das Jahr 1970 Brautpaare nach der kirchlichen Trauung durch den geteilten Stamm. Damit wollte er den Jungvermählten versinnbildlichen, dass sie auch auf ihrem gemeinsamen Lebensweg fest zusammenhalten müssen, was immer auch geschieht. Die zum Schutz angebrachten Gitter wurden jeweils für diesen Anlass geöffnet.
Der Stamm der Linde wird seit dem Jahre 1975 durch zwei neue Gitter geschützt. Sie wurde am 3. Januar 1985 mit 30 weiteren Bäumen im Stadtgebiet laut Beschluss 266/85 des Rates der Stadt Dresden mit der Objektnummer dd 041 zum Naturdenkmal erklärt. Mit der Unterschutzstellung sind regelmäßige Kontrollen und Pflegemaßnahmen verbunden. Im Jahre 1996 wurde für 16.000 Deutsche Mark eine neue Kronenverspannung angebracht. Im Jahre 1997 beantragte eine Schweizer Firma die Rechte für einen Kiestagebau auf Kaditzer Gemeindegebiet bis weit über das Jahr 2010 hinaus. Dadurch wäre der Grundwasserspiegel so weit gesunken, dass die Linde wohl trockengefallen wäre. Das Regierungspräsidium des Regierungsbezirks Dresden lehnte den Antrag nach dem Widerstand zahlreicher Bewohner und von öffentlichen Institutionen jedoch ab. Im Jahre 2008 drohte der Ast des kleinen Stammteiles mit dem oberen Rindenstück auszubrechen. Deshalb wurde er mit einer Metallstrebe gestützt. Beim Jahrhunderthochwasser der Elbe im Jahre 2002 war Kaditz völlig vom Wasser umschlossen, niedere Ortsteile waren überflutet. Die Jahrhundertflut überströmte die meterhohe Friedhofsmauer und überschwemmte die Gräber im Friedhof. Am höchsten Punkt der Umgebung, an der Schwelle der Kirche und kurz vor dem Stammfuß der Linde, machte die Flut halt. Im Jahre 2003 wurden neben dem alten Naturdenkmalzeichen mit der Eule das neue Zeichen und eine neue Informationstafel angebracht. Auch in jüngerer Zeit berichten regelmäßig Zeitungen und Bücher über die Linde. Der Forstwissenschaftler und Naturschützer Hans Joachim Fröhlich, Initiator des Kuratoriums Alte liebenswerte Bäume in Deutschland e. V., schrieb im Jahre 2000 in Alte Liebenswerte Bäume in Deutschland: „Die Linde ist ein Monument von einem Baum mit vielen Füßen, Armen und Körpern.“ Die Dresdner Neuesten Nachrichten berichteten am 3. April 2004 mit der Überschrift Methusalem der Bäume. Kaditzer Linde: „Älter als die Stadt: Seit einem Dorfbrand im Jahre 1818 nur ein Torso, treibt die Linde an der Kaditzer Kirche noch jedes Frühjahr neu aus. Mit einem geschätzten Alter von tausend Jahren gilt sie als Dresdens betagtester Baum.“
Beschreibung
Die Baumart wird unterschiedlich benannt. Das Umweltamt der Landeshauptstadt Dresden als Untere Naturschutzbehörde hat die Linde als Sommerlinde (Tilia platyphyllos) auf dem Grundstück Altkaditz Nummer 27 erfasst. In einem Teil der Literatur wird sie ebenfalls als Sommerlinde bezeichnet. Bei anderen wird sie jedoch fälschlicherweise Winterlinde (Tilia cordata) genannt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass im Beschluss von 1985 von einer Winterlinde in Altkaditz 25 die Rede ist.
Der Stamm besteht aus zwei voneinander getrennten Teilen. Den kleineren Stammteil stützt eine Metallstrebe. Den größeren, der von einer Sitzbank umgeben ist, halten zwei Stahlstangen, die von der Krone schräg zum Boden gespannt und mit Gurten, die im Jahre 1995 die zuvor angebrachten Stahlringe ersetzten, in etwa halber Baumhöhe am Stämmling befestigt sind. Zwischen beiden Stammteilen befinden sich mehrere Schutzgitter, um ein Eindringen in die Stammhöhlung zu verhindern. Auf dem größeren Stammteil sitzt eine recht große Krone aus überwiegend jüngeren Ästen. In den vergangenen Jahrhunderten wurden die großen Äste immer wieder beschnitten, damit sie bei Stürmen an Kirche und Pfarrhaus keine Schäden anrichten konnten, aber auch, um den hohlen und geschwächten Stamm vor der Zerstörung durch die große und schwere Krone zu bewahren. Eine Kronensicherung mit drei im Boden verankerten Stahlseilen und mehreren Seilen zwischen den Ästen soll Astausbrüche vermeiden. Der Hauptstamm reicht weit nach oben und von dort gehen die zahlreichen Äste ab. Im Jahre 2004 hatte die Linde eine Höhe von 20 bei einem Kronendurchmesser von 17 Metern.
Bis zum Brand im Jahre 1818 war der Stamm zwar bereits hohl, aber noch vollständig geschlossen. Damals verkohlte ein Teil der Ummantelung und es bildete sich eine Öffnung. Als der Baum später einen weiteren großen Hauptast verlor, weil eine morsche Stütze unter der Last gebrochen war, erweiterte sich die Öffnung. Mit der Zeit teilte sich der Stamm in zwei Hälften, deren Abstand zueinander immer größer wurde. Gegenwärtig besteht der kleinere Stammteil, der völlig isoliert in mehreren Metern Abstand zum Hauptstamm stehengeblieben ist, nur noch aus einem etwa 20 × 100 Zentimeter großen Stammstück. Mitbedingt durch Klimaeffekte wie die Dürre und Hitze in Europa 2018, verschlechterte sich der Zustand des kleinen Nebenstamms ab 2020. Im Jahr 2021 trieb er erstmals nicht mehr aus und starb in der Folge ab, wobei der einzige von ihm ausgehende Ast abbrach. Die größere Stammhälfte, die 1818 nicht vom Feuer beschädigt wurde, ist ungewöhnlich vielstämmig und weist Öffnungen auf. Die Linde bildete nach der Brandkatastrophe starke Sekundärstämmlinge, wodurch sich die Standfestigkeit erhöhte. Sie sind ein Teil des heutigen Stammes. Nach dem Feuer bildete sich über den Brandwunden und auch teilweise auf der Innenseite des hohlen Stammes neue Rinde, durch die die starken Hauptäste Nahrung erhalten. Die Sekundärstämmlinge und die Rindenbildung werden teilweise als „Phänomen“ oder „Wunder“ angesehen. An der Linde befindet sich eine Informationstafel mit folgender Inschrift:
Stammdurchmesser
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Berichte mit konkreten Maßangaben unterschiedlicher Längenmaß-Einheiten. Im 19. Jahrhundert wurde der Stammumfang noch über 10 Meter gemessen, der seit der Schädigung des Stammes bei der Brandkatastrophe im Jahre 1818 abgenommen hat. In Sachsens Kirchen-Galerie wurde im Jahre 1836 ein Stammumfang von 19 ¾ Ellen genannt. Saxonia nannte im Jahre 1839 einen Umfang von 21 Ellen. Das Vaterland der Sachsen des Jahres 1844 bezeichnete den Stammumfang mit 39 ½ Fuß. Im Jahre 1856 wurde in Flora oder allgemeine botanische Zeitung der Umfang am Stammfuß mit 18 Ellen angegeben. Im Archiv für die Sächsische Geschichte wurde im Jahre 1863 ein Umfang von knapp 40 Fuß genannt. Im Jahre 1874 hieß es in Unsere Zeit, einer Monatsschrift des Conversations-Lexikons, der heutigen Brockhaus Enzyklopädie, im Kapitel Die Pflanzenriesen unserer Erde: „Die größte Linde dürfte gegenwärtig die auf dem Kirchhofe zu Kaditz bei Dresden sein, die 27 Ellen Umfang messen soll.“ Der Botaniker und Paläontologe Heinrich Göppert gab im Jahre 1878 im Botanischen Jahresbericht einen Umfang von 13 Meter an. Die Gartenlaube des Jahres 1890 nennt einen Umfang von 11 Metern. Der Großherzogliche Oberförster Ern. Faber gab im Jahre 1897 in einem Artikel mit der Überschrift Unsere Baumriesen einen Umfang von immer noch 40 Fuß an, was etwa 12,2 Meter entspricht. Mit diesen Umfangsangaben des 19. Jahrhunderts von 11 bis über 12 Meter gehörte der Baum schon damals zu den größten Linden in Deutschland.
Der Stammumfang der Linde wurde seit der Wende auf verschiedenen Höhen gemessen und betrug seither weniger als 10 m. Der Forstwissenschaftler Hans Joachim Fröhlich gab in Wege zu alten Bäumen für das Jahr 1994 auf 1,3 Meter Höhe, der Stelle des sogenannten Brusthöhendurchmessers (BHD), einen Umfang von 9,40 Metern an. Michel Brunner, Fotograf, Buchautor und Gründer von pro arbore, einer Inventarisierung von alten und kuriosen Bäumen der Schweiz, stellte 2007 in Bedeutende Linden einen Umfang von 9,60 Metern fest. In einer Broschüre des Staatlichen Umweltfachamts Radebeul, Baum-Naturdenkmale in der Region oberes Elbtal/Osterzgebirge aus dem Jahre 2004, ist ein Stammumfang von neun Metern angegeben. Das Deutsche Baumarchiv, das die alten Bäume in Deutschland dokumentiert und Herausgeber eines Buches über national bedeutsame Bäume (NBB) ist, ermittelte im Jahre 1998 in einem Meter Höhe einen Umfang von 9,55 Metern. Hierbei wurde der isolierte Stammteil mit einbezogen. An der Stelle des geringsten Durchmessers (Taille), die nur den Hauptteil umfasst, wurde vom Baumarchiv im Jahre 2001 ein Umfang von 6,97 Metern gemessen.
Alter
Eine Altersbestimmung ist auch mit modernsten Methoden nicht möglich, da der Stamm über die Jahrhunderte stark gelitten hat und nur noch ein Relikt ist. Eine Jahresringzählung, beispielsweise mit Hilfe einer Bohrkernentnahme oder durch eine Bohrwiderstandsmessung mittels Resistograph, ist nicht möglich, da im Zentrum des Stammes das älteste Holz fehlt. Aus dem gleichen Grund ist eine Altersbestimmung über den Gehalt an radioaktivem Kohlenstoff (Radiokohlenstoffdatierung, auch 14C-Datierung genannt) nicht durchführbar; entnommene Proben stammen von einem viel jüngeren Holzgewebe. Auch gibt es keinerlei Anhaltspunkte oder konkrete Hinweise in der Literatur über ein Pflanzdatum. Das Alter der Linde kann deswegen nur annähernd mit entsprechend unterschiedlichen Angaben bestimmt werden. In einem Teil der Literatur ist zu lesen, dass die Linde noch vor der Gründung des Ortes Kaditz von den Sorben gepflanzt wurde, um das Jahr 1000 oder noch davor, was einem Alter von etwa 1000 Jahren entspräche. Anderswo wird die Pflanzung der Linde mit dem Bau der ersten Kapelle im Jahre 1273 in Verbindung gebracht. Demnach wäre die Linde etwa 750 Jahre alt. Die Angaben schwanken zwischen 500 und 1000 Jahren. Das Deutsche Baumarchiv schätzte das Alter der Linde im Jahre 2012 auf 500 bis 700 Jahre. Hans Joachim Fröhlich nahm 1994 ein Alter von etwa 1000 Jahren an. Michel Brunner schätzte sie 2007 auf 800 Jahre. In der Broschüre Baum-Naturdenkmale in der Region Oberes Elbtal/Osterzgebirge des Staatlichen Umweltfachamts Radebeul wird ein Alter von 800 bis 1000 Jahren angegeben. Die ältere Literatur gibt überwiegend ein Alter von etwa 1000 Jahren an, wie die Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahre 1890.
Veranstaltungen
Jedes Jahr finden traditionell an Johannistag mit den Gläubigen der Kirchengemeinde eine Abendandacht und danach ein Volksliedersingen statt. Bereits im Jahre 1830 wurde berichtet: „So zog man nach der Kirche, vor der die alte, ehrwürdige Linde, gewiß eine der größten in Teutschland (18 Ellen im Umfang), mit Kränzen behangen war.“
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 wurde das erste Spiel mit deutscher Beteiligung unter der Linde im Public Viewing übertragen.
In der Emmauskirche werden mehrmals im Jahr Konzerte in der Konzertreihe Orgel plus veranstaltet, organisiert vom Förderkreis Kirchenmusik Laurentius Dresden e. V. Anschließend trifft man sich zu einem gemütlichen Beisammensein mit Ausschank unter der Linde.
Erzählungen
Goethe
Johann Wolfgang von Goethe besuchte insgesamt siebenmal Dresden.
Als geschichtsinteressierter und belesener Künstler, der auf verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten forschte und publizierte, interessierte er sich wohl auch für die Linde, die schon damals auf Grund ihres hohen Alters und großen Wuchses bei naturwissenschaftlich Interessierten über die Grenzen von Sachsen hinaus bekannt war. Bei seinem letzten Dresdenaufenthalt im August 1813 oder bereits im Jahre 1810 soll er mit Freunden bei einem Ausflug auch die Kaditzer Linde besucht haben und von ihrem prächtigen Wuchs und hohem Alter sehr beeindruckt gewesen sein. Goethes Besuch der Linde soll in einem Buch vermerkt sein. Um welches es sich handelt, ist nicht bekannt.
Pranger
Den Überlieferungen nach soll die Linde im Mittelalter über einen längeren Zeitraum, wohl bis ins 18. Jahrhundert, als Gemeindepranger gedient haben. Dort wurden die Delinquenten, an ein Halseisen gekettet, öffentlich vorgeführt und den verachtenden Blicken und dem Spott der Gottesdienstbesucher ausgesetzt, deren Weg zur Kirche an der Linde vorbei führte. In Sachsens Kirchen-Galerie aus dem Jahre 1836 wird berichtet: „Nach Aussage der Alten, welche ihren Vätern nacherzählen, diente der Stamm, bei der sonst üblichen Kirchenbuße, als Pranger. Die zu diesem Behufe eingeschlagenen Halseisen sind an demselben noch vorhanden, aber die beiden Halbzirkel haben sich bei erfolgter Ausdehnung des Baumes zwei Ellen von einander entfernt.“ Im Jahre 1890 wurde in der Zeitschrift Die Gartenlaube in der Reihe Deutschlands merkwürdige Bäume ebenfalls über den Pranger berichtet:
Hinweise, dass es sich um eine Prangerlinde handelte, sind die am Stamm eingeschlagenen eisernen Ringe und Klammern, die schon vor 100 Jahren beinahe mit Rinde überwachsen waren. In der jüngeren und älteren Literatur werden eingeschlagene Ringe und Klammern als Haupthinweis auf eine Prangerlinde gedeutet. Es ist jedoch nicht gesichert, ob die Eisen am Stamm tatsächlich diesem Zweck dienten, da konkrete Nachweise in der Literatur fehlen.
Siehe auch
Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland
Literatur
Weblinks
Deutsches Baumarchiv
Kaditz auf dresdner-stadtteile.de
Linde in Dresden könnte älter als „Deutschlands ältester Baum“ sein, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 28. Januar 2021
Einzelnachweise
Einzelbaum in Dresden
Naturdenkmal in Dresden
Kaditz
Individuelle Linde oder Baumgruppe mit Linden |
7328962 | https://de.wikipedia.org/wiki/Caliban%20%C3%BCber%20Setebos | Caliban über Setebos | Caliban über Setebos ist eine Erzählung von Arno Schmidt. Sie erschien erstmals 1964 als Abschluss der zehn Erzählungen des Bandes Kühe in Halbtrauer. Erzählt wird, wie der Dichter Georg Düsterhenn in ein niedersächsisches Dorf reist, um seine Jugendliebe wiederzusehen. Er fühlt sich aber von ihr abgestoßen, beobachtet bei seiner nächtlichen Abreise lesbischen Gruppensex und entkommt den wütenden Frauen, die ihn entdeckt haben, mit knapper Not. Diese burlesken Abenteuer werden geschildert auf der Folie des antiken Orpheus-Mythos. Es lassen sich zahlreiche weitere Anspielungen auf antike Mythen sowie auf Werke von Robert Burns, Robert Browning, James Joyce und anderen nachweisen. Der Text ist ein Anwendungsbeispiel für Schmidts kurz zuvor entwickelte, psychoanalytisch orientierte Etym-Theorie. Er gilt als „das literarische Meisterstück“ unter Schmidts kürzeren Werken.
Entstehung
Die Idee zu der Erzählung kam Schmidt am 26. März 1963, als er den Bilderzyklus „Orpheus“ seines Freundes Eberhard Schlotter kennen lernte. Arbeitstitel war „Orfeus“. Schlotter selbst war zu dem Zyklus durch eine desillusionierende Begegnung mit einer ehemaligen Geliebten, die stark gealtert war, angeregt worden. Davon erzählte er Schmidt. Im gemeinsamen Gespräch sei ihnen die Orpheus-Geschichte eingefallen.
Schmidt schrieb den Text von April bis Mai 1963 in dem Heidedorf Bargfeld nieder, wo er seit 1958 lebte. Für den Text von 63 bis 90 Druckseiten benutzte er über 1000 Zettel, auf denen er Einfälle, Formulierungen und Zitate notiert hatte.
Inhalt
Ich-Erzähler
Wie in jedem erzählenden Werk Schmidts steht auch im Mittelpunkt von Caliban über Setebos ein dominierender Ich-Erzähler, der ein Alter Ego seines Autors darstellt. Hier ist es der Dichter Georg Düsterhenn, der wie Schmidt aus Hamburg-Hamm stammt, niederschlesisch-lausitzische Wurzeln hat, Atheist ist und den Zweiten Weltkrieg als Schreibstubensoldat in Norwegen verbrachte. Düsterhenn werden Jugendwerke Schmidts zugeschrieben (eine Versdichtung über den persischen Entdeckungsreisenden Sataspes sowie das erhaltene Pharos oder von der Macht der Dichter), und wie Schmidt geht Düsterhenn auch noch in reiferen Mannesjahren eine Frau nicht aus dem Kopf, für die er als Gymnasiast schwärmte, die er aber nie anzusprechen wagte: In Caliban über Setebos heißt sie Fiete Methe, für Schmidt war es die Görlitzer Schülerin Hanne Wulff, die für zahlreiche Mädchen- oder Frauengestalten in Schmidts Werk Modell stand. Die Germanistin Sabine Kyora glaubt deshalb, der Ich-Erzähler sei in Caliban über Setebos geradezu identisch mit seinem Autor. Dem stehen, wie Wolfgang Albrecht zeigt, auffallende Unterschiede zwischen beiden entgegen: Anders als alle anderen Protagonisten Schmidts ist Düsterhenn nämlich klein und schmächtig, er ist wohlhabend, verachtet die Aufklärung und ist als Schlagertexter kein ernstzunehmender Autor, sondern ein „opportunistischer Trivialschreiber“. Jörg Drews weist darauf hin, dass Schmidt sich selbst in der dritten Person in den Text geschrieben habe: Düsterhenn erinnert sich eines Schriftstellerkollegen „‹Dagegen=SCHMIDT›“, der „von der Charakterrolle des ‹Guten Linken Mannes› seinen kärglichen Lebensunterhalt zog“, aber, weil er sich weigere, den Anforderungen seines Publikums nachzukommen, es niemals zu Wohlstand bringen werde. Düsterhenn sei das Ergebnis eines längeren Gedankenspiels, was wohl wäre, wenn er seine literarischen Ansprüche aufgäbe und marktgängiger schriebe.
Handlung
Georg Düsterhenn reist per Bus in das Dorf Schadewalde, das im niedersächsischen Zonenrandgebiet liegen soll. Dort will er seinen Jugendschwarm Fiete Methe wiedersehen, um sich dadurch „entscheidend & unwiderstehlich schmalzig zu stimmen“ für einen Gedichtband, der ein ökonomischer Misserfolg werden und so sein steuerpflichtiges Einkommen vermindern soll. Bei einem abendlichen Spaziergang beobachtet er Kinder beim Laternelaufen, lernt den Holocaustüberlebenden H. Levy kennen, der mit seinem Auto unterwegs ist, um die Kondomautomaten der Umgebung zu bestücken, und beobachtet den Geschlechtsverkehr zwischen der Gasthofbedienung Rieke und dem Hofknecht. Im Gasthof des Dorfes entdeckt er einen alten Krug, den er dem Wirt O. Tulp mit Schweizer Goldfranken abkauft. Anschließend gibt er eine Lokalrunde Whisky aus. Düsterhenn erkennt, dass Rieke in Wahrheit die gesuchte Fiete ist, und lässt sich von ihr sein Zimmer zeigen. Er traut sich aber nicht, sich ihr zu erkennen zu geben, und da er Potenzprobleme hat, misslingt anschließend auch eine Masturbation. Düsterhenn flieht nachts aus dem Gasthof und beobachtet in der Scheune lesbischen Gruppensex zwischen vier „Jägerinnen“, die ihm zuvor bereits an der Bushaltestelle und in der Gaststube begegnet sind. Durch ein Niesen verrät er sich und wird von den vier Frauen und dem Hund des Wirts verfolgt, bis ihn der jüdische Kondomverkäufer mit seinem Auto rettet.
Form
Gliederung
Die Erzählung ist in neun Teile gegliedert, die als Titel jeweils den Namen einer der neun Musen tragen. Diese passen in der einen oder anderen Art zum Inhalt des Erzählten: So steht der abendliche Spaziergang durchs Dorf unter der Überschrift Urania, der Muse der Sternbetrachtung, über Düsterhenns enttäuschend-entsagende Begegnung mit Fiete-Rieke steht Melpomene, die Muse der Tragödie. Oft steht der Zuständigkeitsbereich der genannten Muse aber auch in einem ironischen Verhältnis zum Geschehen: Die lesbische Orgie findet sich im Kapitel Terpsichore, der Muse des Reigentanzes; die burleske Flucht am Ende im Kapitel Thalia, der Muse der Komödie, die in antikem Verständnis durch ihr Happy End definiert ist; der derbe Geschlechtsakt zwischen Fiete-Rieke und dem Hausknecht im Kapitel Erato, die für eher zarte Liebesdichtung zuständig war. Dem Text vorangestellt ist ein Motto, das in phonetischem Englisch ein Herodot gewidmetes Epigramm aus der Anthologia Graeca parodiert, dessen Geschichtswerk in neun nach den Musen benannte Bücher geteilt ist.
Stil
Der Text gibt über weite Strecken den inneren Monolog Düsterhenns wieder, sein Räsonnement, seine Erinnerungen und Assoziationen zu dem, was er sieht, hört und erlebt. Dabei kommentiert er die dinglich-landschaftliche Umgebung zumeist liebevoller als seine Mitmenschen, für die er oft nur desillusionierende, frotzelnde oder sogar ressentimentgeladene Worte findet. Schmidt ignoriert dabei durchgängig die Regeln der Orthographie: Nicht nur wird der jeweilige Dialekt der Personen nachgeahmt, sondern die gewählte Schreibweise schöpft die Klang- und Sinnmöglichkeiten eines Wortes aus. Häufig werden auch, teils offen, teils versteckt, Zitate in den Text eingestreut, die mitunter aus dem Mittelhochdeutschen, dem Englischen oder den alten Sprachen stammen. Dadurch ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten zu Wortspielen, Pointen und überraschenden Nebenbedeutungen. Schmidt selbst schrieb am 23. September 1964 an den Literaturwissenschaftler Jörg Drews:
Die gewollte Polysemie seiner Sprache hat ihren Grund in Schmidts Etym-Theorie, die sich aus der Begegnung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds speiste. Danach drückt sich das Unbewusste sprachlich in Mehrdeutigkeiten, Wortspielen, Assonanzen usw. aus, um neben der manifesten Bedeutungsebene gleichzeitig auch – meist sexuelle – Bedeutungen zu transportieren. Um diese Sprache zu beherrschen, müsse der Sprecher aber eine gewisse Altersimpotenz erlangt haben, die ihn wenigstens teilweise frei werden lasse von den Triebansprüchen des Es, die er somit weder verdrängen noch sublimieren, sondern kontrolliert spielen lassen könne: „Man kann sich also jetz mit diesem Caliban verständijn“, formulierte Schmidt später in Zettel’s Traum. Die Erzählungen des Bandes Kühe in Halbtrauer und unter ihnen besonders Caliban über Setebos lassen sich somit als Versuche verstehen, diese Theorie auf das eigene literarische Schaffen anzuwenden.
Referenztexte
Wie der Literaturwissenschaftler Friedhelm Rathjen bemerkt, wirkt Caliban über Setebos desintegriert: Dem Leser wird nicht sofort klar, welchen Sinn die verschiedenen Elemente der Handlung ergeben. Dies hat seine Ursache darin, dass die Erzählung intertextuell mit mehreren anderen Texten verknüpft ist, ohne dass sich diese Verknüpfung im Text explizit wiederfände. Erst wenn man diese Verknüpfungen entdecke und explizit mache, ließen sich die Sinnebenen von Caliban über Setebos entschlüsseln.
Robert Browning
Der Titel der Erzählung zitiert Caliban upon Setebos. Or, Natural Theology in the Island, die Überschrift eines Gedichts des englischen Dichters Robert Browning, das 1864 erschien. Darin lässt Browning den wilden, hässlichen Caliban aus Shakespeares Drama Der Sturm über Setebos reflektieren, seinen ebenfalls bei Shakespeare erwähnten Gott. Diesen stellt er sich als willkürlich, böswillig und rachsüchtig vor, wobei er diese Eigenschaften von sich auf die Gottheit projiziert. Auf dieses Gedicht wird im Text der Erzählung angespielt, als Düsterhenn die seines Erachtens mindere Qualität des Universums reflektiert: „aber das meiste war schon ziemlich doof. Natürlich gab’s auch ab & an ne gelungene Stelle im Universum; aber die Mehrzahl der Produkte von sete Boss war Fusch=Werk.“ In diesem Sinne steht der Titel für eine radikale Verneinung der Theodizee. Die Gestalt des Setebos benutzt Schmidt auch in zwei etwa gleichzeitig entstandenen Essays, um auf die Fehlerhaftigkeit der Schöpfung anzuspielen. Einen bösen Gott, der sich nicht um das Leiden seiner Geschöpfe kümmert, thematisierte er bereits in seiner Erzählung Leviathan von 1949 sowie im Titel Nobodaddy’s Kinder, unter dem 1963 seine Kurzromane Brand’s Haide, Aus dem Leben eines Fauns und Schwarze Spiegel als Trilogie veröffentlicht wurden. Nobodaddy, ein Kofferwort aus engl. nobody – „niemand“ und daddy – „Papa“, war eine Bezeichnung des Dichters William Blake für Gott. Dass Düsterhenn seinen Eltern vorwirft, „ein solches Mondcalb in die Welt gesetzt zu haben“, kann als angedeutete Identifikation mit Caliban verstanden werden, denn als Mondkalb wird Caliban in Shakespeares Sturm apostrophiert. Das Konzept eines bösen Demiurgen entnahm Schmidt der spätantiken Gnosis, auf die auch Düsterhenns Ekel vor allem Leiblichen und seine Weigerung, sich fortzupflanzen, verweisen.
Orpheus
Caliban über Setebos ist eine Replik auf den antiken Mythos von Orpheus. Dieser reist in die Unterwelt, um seine jung verstorbene Frau Eurydike ins Leben zurückzuholen, Düsterhenn reist nach Schadewalde – der in Wahrheit schlesische Ortsname spielt auf die „Schatten“ an, als die die Toten in antiker Vorstellung fortlebten, sowie auf den Altphilologen und Homer-Übersetzer Wolfgang Schadewaldt (1900–1974). Statt einer Leier trägt er, ein Dichter-Sänger, immer den Peregrinus Syntax bei sich, ein Reimlexikon des 19. Jahrhunderts.
Dass die Reise eine Fahrt in den Hades bedeutet, wird gleich auf den ersten Seiten der Erzählung angedeutet: Im Ortsnamen Schadewalde ist Hades anagrammatisch enthalten. Im Schild der Bushaltestelle fällt Düsterhenn „grünblaß sein ‹H› des Gesichts“ auf, das Fahrgeld ist ein Obolus – diese Münze wurde den Toten mitgegeben, damit sie den Fährmann Charon für seine Überfahrt über den Styx entlohnten –, die Kötelbeck, ein kleiner Bach am Ortseingang, wirkt „stügisch“ und „‹Der Erste Schiffer›“ hat selbst einen Auftritt in Gestalt eines Mannes, der am Wegesrand uriniert. In dieser Art ist die Erzählung dicht durchsetzt mit Anspielungen auf den Mythos.
Auch die Namen der handelnden Personen verweisen auf die Orpheus-Sage: Düsterhenns Vorname spielt auf Vergils Georgica an, in deren viertem Buch sie erzählt wird. Dass der die Bauern verachtende Düsterhenn den Vornamen Georg (altgriech. für „Bauer“) trägt, ist eine Nebenpointe; die Kurzform „Orje“ ist homonym zur Orgie, wie sie von den Mänaden gefeiert wurde, den Mörderinnen des Orpheus. Auf diesen verweist „Orje“ auch phonetisch, ebenso wie Rieke auf Eurydike. Die Beziehung der beiden wird von Schmidt allerdings verändert, denn in Caliban über Setebos führt nicht der Mann die Frau, sondern umgekehrt (nämlich über eine enge Treppe zu Düsterhenns Zimmer in der Gastwirtschaft), und nicht er blickt sich nach ihr um, sondern sie sich nach ihm. Liest man den Namen des Wirts O. Tulp rückwärts, kommt der Totengott Pluto heraus; gleichzeitig steht er auch für den Gott Dionysos, denn er schenkt berauschende Getränke aus und wird von den „Jägerinnen“ mit „Liber pater“ (der Interpretatio Romana des Dionysos) angesprochen. Seine Frau, die der antiken Persephone entspricht, nennt er „Olsche“: Durch Silbenumstellung erhält man „Scheol“, die im Tanach verwendete Bezeichnung der Unterwelt. Tulps Hund ruft man Kirby, was wie eine Koseform für Kerberos klingt, den Höllenhund. Herakles hat seinen Auftritt als Stallknecht (da er ja den Augiasstall ausmistete), und das „sehr große Ei“, das er bei einer postkoitalen Darmentleerung auf den Misthaufen setzt, erinnert an das Weltenei des orphischen Hymnus. Die Lesben, die Düsterhenn jagen, haben ihre Entsprechung in den Mänaden, die Orpheus buchstäblich in Stücke gerissen haben sollen. Den bei ihrer Orgie benutzten Dildo schildert Schmidt als einen Thyrsos. Gleichzeitig werden sie als Erinnyen dargestellt, was sich sowohl an den Namen Alex (Alekto) und Meg (Megaira) zeigt als auch an dem Kofferwort „Jägerynnien“. H. Levy, der Düsterhenn auf seiner Flucht aus dem Dorf chauffiert, wird als Jude geschildert; Bernd Rauschenbach erkennt in ihm ein Porträt von Schmidts jüdischem Schwager Rudy Kiesler, der mit seiner Frau 1933 vor den Nationalsozialisten in die USA floh. Ralf Georg Czapla deutet die Figur über die Assoziationen Hebräer und Hebron als Anspielung auf Hebros, den Fluss, in den die Mänaden Orpheus’ Kopf warfen. Noch singend wurde dieser an den Strand der Insel Lesbos getrieben, weshalb die Erzählung auch endet mit Düsterhenns Überlegung: „Bei einem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf!“
Schmidt verwendet aber nicht nur den antiken Orpheus-Mythos, sondern auch dessen Rezeptionen im 19. und 20. Jahrhundert: So erinnert der Kondomvertreter H. Levy an Ludovic Halévy, den Librettisten von Jacques Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt aus dem Jahr 1858. Rainer Maria Rilkes 1922 entstandene feierliche Sonette an Orpheus werden vor allem an fäkalsprachlichen oder obszönen Stellen zitiert und komisch umgedeutet, etwa in der Beschreibung des Geschlechtsakts zwischen Rieke-Fiete und dem Hausknecht: Zitiert werden dort die Sonette 2/IV (das „Einhorn“), 2/VII („zwischen die strömenden Pole fühlender Finger“) und 1/XVII („Sieh, die Maschine, wie sie sich wälzt und rächt und uns entstellt und schwächt“ – bei Schmidt: „ihn entstellt’ & schwächte“).
Stefan Jurczyk erkennt in der Erzählung außerdem Bezüge auf die antiken Mythen von Pentheus und Aktaion, die von Mänaden bzw. Hunden zerrissen wurden, nachdem sie Szenen beobachteten, die für das männliche Auge verboten waren.
James Joyce
Das poetologische Prinzip, einer in der Gegenwart angesiedelten Erzählung einen antiken Mythos zugrunde zu legen, der durch die zum Teil profanen oder burlesken Inhalte kontrastiert und persifliert wird, übernahm Schmidt von seinem Vorbild James Joyce. In dessen 1922 erschienenem Ulysses wird ein einziger Tag des Dubliner Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom auf der Folie der Odyssee Homers geschildert. Joyce selbst wird in Caliban über Setebos zweimal namentlich erwähnt – einmal für seine angebliche Fähigkeit, die Geschichte einer Familie aus deren Schmutzwäsche zu rekonstruieren, dann stellt sich Düsterhenn eine Begegnung mit dem 1941 Verstorbenen vor und umschreibt damit den Gedanken an seinen eigenen Tod. Der Gedanke, posthum in einer Art Dichterolymp als Aufwärter des großen Iren dienen zu dürfen, taucht noch einmal bei der abschließenden Fluchtszene auf, nur statt Joyce steht hier – ähnlich dem jüdischen Verbot, den Gottesnamen auszusprechen – „der Hohe Name“. Nach Jörg Drews ist damit nicht Joyce gemeint, sondern der von Schmidt kurz zuvor für sich entdeckte Sigmund Freud. Ihm werde in Caliban über Setebos unter anderem Reverenz erwiesen mit einer Erinnerung an einen Leser von Friedrich Rückerts vermeintlich erotischem Gedicht Der Ehebrecher: In Wahrheit heißt das Gedicht Der Ehrenbecher und enthält keinerlei sexuelle Inhalte – eine klassische Freud’sche Fehlleistung; zum anderen wimmele die Erzählung von Anspielungen auf Freuds 1908 erschienenen Aufsatz Charakter und Analerotik, den Schmidt kurz vor ihrer Abfassung gelesen habe.
Anklänge an den Ulysses selbst finden sich an zwei oder drei Stellen: Das Zyklopen-Kapitel, in dem Bloom einem gewalttätigen Nationalisten mit knapper Not entkommt, erinnert an Düsterhenns Flucht vor den Lesben, ebenso Blooms Flucht aus dem Bordell im Circe-Kapitel. Blooms Masturbation im Kapitel Nausikaa hat Parallelen zu Düsterhenns Voyeurismus in der Scheune.
Deutlicher sind die Textbezüge zu Finnegans Wake und dessen Referenztexten, insbesondere zum Eröffnungskapitel des zweiten Buches The Mime of Mick, Nick and the Maggies, aus dem Schmidt mehrere Anspielungen und Wortspiele übernimmt. In dem Kapitel geht es auf der Handlungsebene um zwei Jungen, die abends vor der elterlichen Kneipe mit Mädchen Rätselspiele treiben und hereingerufen werden, Motive, die sich bei Schmidt in Tulps Gasthaus und dem abendlichen Laternelaufen der Kinder wiederfinden. Joyce benutzt hier den biblischen Mythos von Jakob und Esau als Referenztext, auf den auch Schmidt rekurriert: Als „ä Sau in ihrem Fell“, durch das durchgehende Jagd-Motiv, das auf Esau verweist, sowie durch die Charakterisierung Düsterhenns als Trickster, die ihn mit dem biblischen Jakob vergleichbar macht. Noch deutlicher wird der Bezug in der Ballade Tam o’ Shanter von Robert Burns aus dem Jahr 1791, an die Joyce sich anlehnt und auf die auch Schmidt anspielt. Darin beobachtet der Protagonist einen Hexensabbat, bei dem ihm besonders eine Hexe in allzu kurzem Unterrock auffällt, dem sprichwörtlich gewordenen „cutty sark“. Die Hexen entdecken ihn, und es gelingt ihm nur mit knapper Not, ihnen zu entkommen, wobei allerdings sein Pferd Meg den Schwanz einbüßt. Denselben Namen tragen die am Spiel teilnehmenden Mädchen („the maggies“) und die im selben Kapitel erwähnte „widow Megrievy“ bei Joyce, bei Schmidt heißt eine der vier Lesben so. In der Prosafassung der Sage streicht Burns als Fehler Tams heraus, sich nach dem Licht des Hexenfestes umgedreht zu haben – das Motiv des Sich-Umdrehens, der Rückkehr, der misslingenden Wiederholung ist auch für Orpheus und für Caliban über Setebos zentral.
Weitere Referenzebenen
Ägyptische Mythologie
Werner Schwarze entdeckt in Caliban über Setebos nicht nur Anspielungen auf die klassische antike Mythologie, sondern auch auf die der Ägypter: So lasse sich die Todesgöttin Hathor ebenso erkennen wie Isis, die bereits in der ebenfalls im Band Kühe in Halbtrauer enthaltenen Erzählung Kundisches Geschirr eine Rolle spielte, oder der Schöpfergott Ptah. Diese Deutung wird von Stefan Jurczyk bezweifelt, der Schwarzes Belege – oft nur Wortbestandteile oder Assonanzen – nicht für tragfähig hält.
Karl May
Karl May, an dessen Texten Schmidt seine Etym-Theorie erprobt hatte (Sitara und der Weg dorthin, im Entstehungsjahr von Caliban über Setebos 1963 erschienen), erfährt eine verdeckte Zitierung, als im Urania-Kapitel Düsterhenns kitschig-dilettantisches Dichten vorgeführt wird. Hier sitzt der Dichter im Mondlicht am Wegesrand und verfasst, mit dem Metrum ringend, Verse, die zu seiner Lage passen: „Es war im Wald. Die Bäume alle schliefen“. In Wahrheit handelt es sich um den Anfang von Mays 1900 entstandenem Gedicht Des Waldes Seele. Jörg Drews glaubt, dass dieser kryptomnetische Diebstahl geistigen Eigentums Düsterhenn zusätzlich als Hermes kennzeichnen soll, als Gott der Diebe.
Wilhelm Busch
Caliban über Setebos weist auch Anklänge an Wilhelm Buschs Bildergeschichte Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter aus dem Jahr 1883 auf: Auch hier sucht ein Dichter auf dem Land Inspiration für weiteres Schaffen, auch hier misslingt eine Annäherung an eine „Rieke“, die mit einem Knecht liiert ist, auch hier scheitert der Dichter in burlesker Weise sowohl erotisch als auch poetisch.
Thorne Smith
Friedhelm Rathjen erkennt in Caliban über Setebos mehrere Anspielungen auf den Roman The Night Life of the Gods des amerikanischen Populärschriftstellers Thorne Smith. In diesem 1931 erschienenen Roman freundet sich der Protagonist mit der Megäre an, die nicht nur Lebewesen versteinern, sondern auch Statuen lebendig werden lassen kann. Gemeinsam erwecken sie die Bilder der römischen Götter im New Yorker Metropolitan Museum of Art zum Leben und erleben mit ihnen einige Abenteuer. Laut Rathjen spricht nicht nur der Name Meg/Megäre für eine Benutzung durch Schmidt, sondern auch das Thema der unlebendigen, quasi versteinerten Menschen, denen Düsterhenn in Schadewalde begegnet, nicht zuletzt Rieke, deren breites Gesicht er als leblos, „gußeisern“ beschreibt.
Politiker der Bundesrepublik
Nach dem Germanisten Rudi Schweikert deutet der Name Düsterhenn auf den konservativ-katholischen CDU-Politiker Adolf Süsterhenn aus Rheinland-Pfalz hin. Aus diesem Bundesland war Schmidt 1955 ins liberalere Hessen gezogen, nachdem ihm sein Kurzroman Seelandschaft mit Pocahontas ein Strafverfahren wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften eingetragen hatte. Süsterhenn war in dieser Zeit Präsident des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz gewesen und galt auch in der Folgezeit als „strenger Moralapostel und Sittenwächter“. Dass der Protagonist einer Erzählung, die von derben Schilderungen sexueller Handlungen wimmelt, fast ebenso heiße, erscheine als „extremes Wider-den-Stachel-Löcken nach dem Motto ›Jetzt (nach der »Pocahontas«-Affäre) erst recht‹“. Weitere Kommentierungen bundesrepublikanischer Tagespolitik finden sich im Zusammenhang mit dem Fernsehprogramm, das in Tulps Gaststube läuft. Hier geht es um die zur Abfassungszeit aktuelle Debatte über die Adenauer-Nachfolge:
Die Frage, was der in Kapitälchen hervorgehobene Brentano wohl liebe, ist eine Anspielung auf die Gerüchte um eine Homosexualität des CDU-Politikers – passend zu den Themen der Erzählung, in der nicht nur weibliche Homosexualität eine Rolle spielt, sondern in der Beziehung zwischen Düsterhenn und H. Levy („Hauptsache er’ss nich direkt schwul“) latent auch männliche, etwa als Düsterhenn sich am Ende ins offene Hinterteil von Levys Auto hechtet.
Deutungen
Robert Wohlleben nimmt an, Schmidt habe Caliban über Setebos als Muster für seine Leser geschrieben, um deutlich zu machen, wie seine multireferenziellen Etym-Texte zu lesen seien. In KAFF auch Mare Crisium von 1960 hatte er erstmals in joycescher Manier mit Textfolien gearbeitet, namentlich mit der Nibelungensage und dem Mythos von El Cid: „Die Nicht-Teilnahme der Leserschaft übertraf die kühnsten Erwartungen“. Indem er nun seiner Düsterhenn-Geschichte so offenkundig den Orpheus-Mythos zugrunde legte, habe Schmidt seine Leser zum mehrdimensionalen Lesen erziehen wollen – als Vorübung auf Zettel’s Traum.
Jörg Drews sieht die Erzählung als paradigmatisch für Schmidts Hinwendung zu einer pessimistischen Weltsicht an, in der Sexus und Habgier die Welt unwandelbar regieren. Sie sei mit einer „Arbeit am Mythos“ im Sinne Hans Blumenbergs einhergegangen, das heißt mit einem immer neuen Erzählen des immer Gleichen. Der Aspekt, mit dem Schmidt dieses mythische Erzählen aktuell und gegenwartsrelevant mache, sei Freuds Psychoanalyse. Auf der Handlungsebene der mythischen Erzählung Caliban über Setebos befreie sich der Protagonist durch seine Flucht aus Schadewalde von wenigstens der einen Bindung, nämlich der Sexualität.
Auch Stefan Jurczyk deutet die Erzählung als „Arbeit am Mythos“. In immer neuen Spiegelungen würden anthropologische Grundproblemen wie das Verhältnis von Eros und Tod oder die männliche Angst vor der Frau allegorisch umkreist. Dieses polysemantische Verfahren kollidiere mit Schmidts tiefenpsychologischer Etym-Theorie, die alles auf einen einzigen Sinn zu bringen versuche, nämlich den Geschlechtstrieb. In der Erzählung erweise sich diese aber als nur eine weitere „Symbolwelt“ unter vielen, mit der das Individuum die ansonsten stumme, sinn- und vernunftlose Wirklichkeit bebildere.
Schmidts Biograph Wolfgang Martynkewicz nimmt an, es sei Schmidt bei Caliban über Setebos um den Spaß gegangen, „mit den Erkenntnissen einer populärwissenschaftlich zugespitzten Psychoanalyse und mit Versatzstücken mythologischer Stoffe zu jonglieren“. Am 19. Januar 1964 begründete Schmidt in einem Brief an seinen Lektor Ernst Krawehl, wieso er die mythologischen Anteile der Erzählung nicht mehr, wie ursprünglich geplant, typographisch hervorheben wollte: „Scheißmythos! Die Leute soll’n sich amüsieren!“
Ralf Georg Czapla versteht Caliban über Setebos und die anderen neun Prosastücke aus dem Band Kühe in Halbtrauer als Versuche der neu entwickelten Prosaform Traum, die Schmidt 1956 in seinen Berechnungen II angekündigt, aber nicht ausgeführt hatte. In der Figur des impotenten, trivialen und geldgierigen (psychoanalytisch gedeutet: analfixierten) Düsterhenn spiegele sich der Schriftsteller Schmidt und seine Haltung zu seinen Brotarbeiten in scharfer Selbstkritik. In der Traumlogik der Erzählung sei Düsterhenn als Es gleichzusetzen mit dem wilden, hässlichen Caliban, der auf Setebos, sein Über-Ich schimpfe, das in der Erzählung in Gestalt einer von der Antike geprägten europäischen Hochkultur erscheine. Sie werde bei jeder Gelegenheit entidealisiert, trivialisiert, vulgarisiert und ins Lächerliche gezogen. Als neues Ideal werde Joyce vorgestellt, als dessen Mundschenk und Diener sich das träumende Selbst imaginiere.
Marius Fränzel rückt den zugrunde gelegten Orpheus-Mythos ins Zentrum seiner Deutung: Demnach handele die Erzählung von einem „monomanischen Einzelgänger“ auf einer „Reise in die Vergangenheit“, über deren tiefere Motivation er sich aber selbst nicht klar ist: Düsterhenn sei ein Verblendeter.
Peter Habermehl sieht in Caliban über Setebos dagegen die Geschichte einer Befreiung, und zwar sowohl in sexueller als auch in poetologischer Hinsicht. Die offenkundig gewordene Impotenz erlaube Düsterhenn im Sinne der Etym-Theorie eine distanzierte, beobachtende Haltung zur Sexualität (dies der Sinn des Voyeurismus im Terpsichore-Kapitel), er sei seinem Trieb nun nicht mehr ausgeliefert: Am Ende der Handlung beschreibt er sich selbst als „ä sädder änd a veiser Männ“ (dies ein Zitat aus Samuel Coleridges Ballade The Rime of the Ancient Mariner). Gleichzeitig befreie sich Düsterhenn auch von der Lyrik – bei seiner Flucht verliert er sein Reimlexikon –, er könne künftig in Prosa das bislang Verdrängte darstellen, die Welt realistisch und ohne Kitsch als das beschreiben, was sie seiner Überzeugung nach ist: ein „Uni= sive Perversum“, sinnloses „Fusch=Werk“. Als Prosaschriftsteller werde er dann in der Lage sein, „eine überlegene, weil geordnete und in ihrem Humor gerettete Welt zu erschaffen“.
Ausgaben
In folgenden Werken ist Caliban über Setebos enthalten:
Arno Schmidt: Kühe in Halbtrauer. Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1964, S. 226–316, (Reprint im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-10-070615-3).
Arno Schmidt: Orpheus. Fünf Erzählungen. (= Fischer TB 1133). S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1970, ISBN 3-436-01283-1.
Arno Schmidt: Ländliche Erzählungen. (= Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe 1. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Band 3/2). Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, Zürich 1987, ISBN 3-251-80010-8, S. 475–538.
Arno Schmidt: Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 467–544.
Arno Schmidt: Über die Unsterblichkeit. Erzählungen und Essays. Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, S. 193–261, ISBN 3-518-42123-9.
Literatur
Ralf Georg Czapla: Mythos, Sexus und Traumspiel. Arno Schmidts Prosazyklus »Kühe in Halbtrauer«. Igel Verlag, Paderborn 1993, ISBN 3-927104-35-3.
Jörg Drews: Caliban Casts Out Ariel. Zum Verhältnis von Mythos und Psychoanalyse in Arno Schmidts Erzählung ›Caliban über Setebos‹. In: Derselbe (Hrsg.): Gebirgslandschaft mit Arno Schmidt. Das Grazer Symposion 1980. edition text + kritik, München 1982, S. 45–65.
Peter Habermehl: Orfeus in Niedersaxn. Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos». In: Antike und Abendland. Band 53, 2007, S. 190–205.
Stefan Jurczyk: Symbolwelten. Studien zu „Caliban über Setebos“ von Arno Schmidt. 2. Auflage. Igel Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-89621-228-3.
Friedhelm Rathjen: Smithereens. Zum Nach(t)leben von James Joyce, Robert Burns und Thorne Smith in »Caliban über Setebos«. In: Robert Weninger (Hrsg.): Wiederholte Spiegelungen. Elf Aufsätze zum Werk Arno Schmidts. (= Bargfelder Bote, Sonderlieferung). edition text & kritik, Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-88377-737-4, S. 129–154.
Robert Wohlleben: Götter und Helden in Niedersachsen. Über das mythologische Substrat des Personals in «Caliban über Setebos». In: Bargfelder Bote, Lieferung 3 (1973), S. 3–14 (online).
Einzelnachweise
Werk von Arno Schmidt
Literarisches Werk
Literatur (Deutsch)
Literatur (20. Jahrhundert)
Erzählung
Orpheus |
8024026 | https://de.wikipedia.org/wiki/St.%20Christophorus%20%28Reinhausen%29 | St. Christophorus (Reinhausen) | Die Kirche St. Christophorus ist die evangelisch-lutherische Pfarrkirche des Dorfes Reinhausen im Landkreis Göttingen (Niedersachsen). Sie steht auf dem Sandsteinfelsen des Kirchbergs über dem Ortskern des Dorfes. Ursprung des Kirchenbaus war eine im 10. Jahrhundert errichtete Burgkapelle der Grafen von Reinhausen. Nach Umwandlung der Burg in ein Kollegiatstift diente sie diesem und seit dem 12. Jahrhundert dem daraus hervorgegangenen Benediktiner-Kloster Reinhausen als Kirche. Noch heute wird sie deshalb häufig als Klosterkirche Reinhausen bezeichnet. Gleichzeitig war sie immer Pfarrkirche des Dorfes Reinhausen. Wenige Jahrzehnte nach Einführung der Reformation im Jahr 1542 wurde das Kloster nach und nach aufgelöst, die Kirche danach mit kurzen Unterbrechungen nur noch als Gemeindekirche genutzt. Sie gehört heute zum Kirchenkreis Göttingen im Sprengel Hildesheim-Göttingen der Hannoverschen Landeskirche.
Trotz erheblicher baulicher Änderungen im Stil der Gotik und des Barocks tritt im Gesamtbild der Stil der romanischen Klosterkirche deutlich hervor. Das zeigt sich besonders an dem weithin sichtbaren Westriegel mit Doppelturmanlage. Der Bautypus wurde in mehreren Bauphasen von einer romanischen Basilika zu einer Hallenkirche geändert. Im Innenraum sind mehrere spätmittelalterliche Kunstwerke erhalten, darunter zwei spätgotische Altäre, großflächige Reste von Wandmalereien sowie Steinplastiken, die unter anderem den heiligen Christophorus als Schutzpatron der Kirche darstellen.
Lage
Die Klosterkirche steht auf einer Höhe von etwa auf dem Kirchberg, etwa 30 Meter nördlich einer Felsenkante, die steil zum Tal des Wendebachs und zum im Tal südöstlich der Kirche gelegenen Dorfkern von Reinhausen abfällt. Durch die Lage auf einem sich nach Westen erstreckenden Ausläufer des Knülls, der steil über dem Dorf aufragt, ist die Kirche stark exponiert. Im Gegensatz zum Ortskern ist sie von den westlich angrenzenden Hügeln und selbst vom Westhang des Leinetals aus sichtbar.
Die Straße, die vom Dorf auf den Kirchberg führt, wurde erst im frühen 19. Jahrhundert angelegt, zuvor war der Zugang vom Dorf zur Kirche nur zu Fuß über drei in den Felsen gehauene Treppen möglich, deren Stufen heute stark ausgetreten sind. Eine Zufahrt mit Fuhrwerken war bis dahin nur von Nordosten über den Domänenhof möglich.
Die Kirche ist nicht genau geostet, sondern um einen Winkel von etwa 23 Grad in Richtung Norden gedreht. Der genau genommen nach Westsüdwesten ausgerichtete Westriegel der Kirche grenzt an einen befestigten Parkplatz, an dem die heutige Zufahrtsstraße endet. Auch zu dieser Seite fällt das Gelände deutlich ab. Westlich davon stehen auf einem Ausläufer des Kirchbergs die ehemalige Schule und der Kindergarten des Ortes. Die Süd- und Ostseite der Kirche grenzen an den umfriedeten Kirchhof, während die Nordseite nicht öffentlich zugänglich ist. Sie grenzt an das ehemalige Klostergelände, das im ehemaligen Amtshaus unter anderem das Forstamt Reinhausen beherbergt und zum Kirchhof mit einer Sandsteinmauer abgegrenzt ist. Ein Zwischenbau, der die Westfront der Kirche mit dem Amtshaus verband, wurde 1955 durch einen Brand bis auf die Außenwände der beiden massiven Untergeschosse zerstört.
Nordöstlich des Friedhofs liegt die Domäne Reinhausen.
Geschichte
Burg der Grafen von Reinhausen
Der älteste archäologische Nachweis für menschliche Aktivitäten auf dem Reinhäuser Kirchberg ist das Bruchstück eines Steinbeils aus der Jungsteinzeit. Eine kontinuierliche Besiedlung kann allerdings erst seit dem Frühmittelalter nachgewiesen werden. Seit dem 9. Jahrhundert befand sich eine Burganlage der Grafen von Reinhausen auf dem durch Felsabbrüche zum Tal hin natürlich gesicherten Bergsporn über dem Dorf Kirchberg. Eine größere Zahl archäologischer Funde aus der Umgebung der Klosterkirche konnte auf das 9./10. Jahrhundert datiert werden. Im 10./11. Jahrhundert hatten die Grafen von Reinhausen das Gaugrafenamt im Leinegau inne und damit auch überregionale Bedeutung. Entsprechend war ihre Stammburg in Reinhausen dimensioniert: Der Wohnbereich mit Kirche im Westen umfasste etwa anderthalb Hektar Fläche, der nordöstlich angrenzende Wirtschaftshof etwa einen weiteren Hektar. Der heutige Standort der Kirche, der Kirchhof und angrenzende Gebiete waren mit eingeschlossen. Seit 1980 wurden in mehreren Einzelgrabungen und Befundaufnahmen kleinere Bereiche des Burggeländes archäologisch untersucht. An der Abbruchkante des Bergsporns wurde auf etwa neun Metern Länge eine bis zu 3,30 Meter dicke zweischalige Befestigungsmauer freigelegt. Anhand hochmittelalterlicher Kleinfunde im Baubefund und im Abbruchschutt wurde der Abbruch der Mauer auf das 12. Jahrhundert datiert. Zum flach ansteigenden Hang hin bestand die Befestigung aus zwei Abschnittsgräben und einer drei Meter dicken vermörtelten Mauer. Die Innenbebauung der Burg ist schwierig zu rekonstruieren, weil das Gelände noch im Hochmittelalter durch das Kloster überbaut wurde. Im Inneren der Klosterkirche wurden bei Ausgrabungen allerdings Reste der Burgkirche der Grafen von Reinhausen gefunden. Über die genaue bauliche Gestaltung der Burgkirche liegen keine Zeugnisse vor.
Stiftskirche
Ende des 11. Jahrhunderts wandelten die Grafen Konrad, Heinrich und Hermann von Reinhausen sowie ihre Schwester Mathilde ihre Stammburg in ein Stift um. Der Datierung der Umwandlung in ein Stift auf das Jahr 1079 in älterer Literatur wird jedoch in neuerer Forschung widersprochen. Stattdessen werden anhand möglicher Todesdaten eines der Stifter, des Grafen Konrad von Reinhausen, die Jahre 1089 oder 1086 als spätester Zeitpunkt der Stiftung angenommen. Nach der historischen Bauforschung durch Ulfrid Müller in den Jahren 1963–1967 gilt als sicher, dass die bauliche Substanz der Eigenkirche nach der Umwandlung der Burg in ein Kanonikerstift und später in ein Kloster für dessen Kirche Verwendung fand. Unter anderem weist darauf die Ausführung der südlichen Chorwand hin. So wird in der Anlage der Burgkirche in ottonischer Zeit bereits die Grundkonzeption der späteren Stiftskirche gesehen. Die Südwand des Chores mit einem noch erkennbaren zugesetzten Rundbogenfenster, dessen Nordwand, der Chorbogen mit den Kämpferplatten, die den unteren Bogenansatz hervorheben, und die unteren Bereiche der Pfeiler im Mittelschiff gelten als Baureste der Burgkirche. Ulfrid Müller nahm für die Ursprungskirche ein Westportal an, an dessen Stelle später die heutige Turmfront errichtet wurde. Im Vergleich zu anderen Burgkapellen in der Region ist die Kirche ungewöhnlich groß und entspricht damit der regionalen Vorrangstellung der Grafen von Reinhausen im 10. und 11. Jahrhundert.
Die Klosterkirche Reinhausen geht demnach auf eine Eigenkirche in der Adelsburg der Grafen von Reinhausen zurück, die an dieser Stelle ab dem 10. Jahrhundert archäologisch nachgewiesen wurde. Entsprechend ist der Beginn der Baugeschichte der Kirche auf das 10. Jahrhundert anzusetzen. Trotz fehlender schriftlicher Zeugnisse aus der Frühzeit ist deshalb eine über tausendjährige Geschichte der Kirche nahezu sicher. In der Forschung Müllers wurde zunächst von dem Bau der Burgkirche im 11. Jahrhundert ausgegangen.
Klosterkirche
Ebenso wie die vorklösterliche Geschichte ist die frühe Geschichte des Klosters Reinhausen hauptsächlich durch einen Bericht des ersten Reinhäuser Abtes Reinhard bekannt, den er zwischen 1152 und 1156 verfasst haben muss. Bei der Umwandlung vom Stift in ein Kloster handelte es sich wahrscheinlich um einen mehrere Jahrzehnte dauernden Prozess. Die Weihe der Klosterkirche wird in die Zeit zwischen 1107 und 1115 datiert und erfolgte durch Bischof Reinhard von Halberstadt. Reinhausen gehörte zum Erzbistum Mainz, insofern stand die Kirchweihe dem Mainzer Erzbischof zu. Da das Erzbistum Mainz nach dem Tod Bischof Ruthards und vor der Bischofsweihe Adalberts vakant war, war ein auswärtiger, benachbarter Bischof beauftragt worden, die Weihe vorzunehmen. Von Bischof Reinhard hatte sich Graf Hermann von Winzenburg als Initiator der Klostergründung eine großzügige Schenkung erhofft, die jedoch nicht gewährt wurde. Im Niedersächsischen Klosterbuch wird als wahrscheinliches Datum der Weihe der 3. Dezember 1111 angenommen. Die Angaben zur Klosterweihe beziehen sich höchstwahrscheinlich auf die Konsekration der Klosterkirche, denn die Berufung eines Abtes erfolgte frühestens im Jahr 1116.
Für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts lässt sich das Aussehen der Klosterkirche ungefähr rekonstruieren. Ulfrid Müller und Klaus Grote gehen nach den Erkenntnissen ihrer Bauforschung davon aus, dass diese Gestalt der Burg- und Stiftskirche auch für den Ursprungsbau der Klosterkirche anzunehmen ist, dass also größere Umgestaltungen erst stattfanden, als das Kloster bereits einige Zeit bestand. Während die Kirche für eine Burgkapelle außerordentlich groß war, hatte und hat sie bis heute im Vergleich zu anderen Klosterkirchen der Romanik sehr geringe bauliche Ausmaße. In der Bausubstanz aus der ältesten Klosterzeit ist fast keine Bauornamentik nachzuweisen und die Kirche war nicht eingewölbt – anders als die Kirche des Klosters Lippoldsberg, die architektonisch Vorreiterfunktion in der Region hatte und Mitte des 12. Jahrhunderts vollendet wurde. Das weist darauf hin, dass die eigentliche Errichtung der Kirche wesentlich früher erfolgte. Nach den Ergebnissen der Bauforschung entsprach auch die ursprüngliche Klosterkirche noch etwa der Burg- und Stiftskirche: Erhalten sind Teile dieser ersten Klosterkirche in der Nordwand und Südwand des Chorraums, möglicherweise im Chorbogen einschließlich der Kämpferplatten, in dem östlichen Pfeilerpaar sowie in der unteren Hälfte der beiden westlichen Pfeiler, die im Mittelschiff der heutigen Kirche stehen. Die Kirche war Rekonstruktionen zufolge eine Pfeilerbasilika mit kreuzförmigem Grundriss. Sie besaß ein Querhaus, das im Norden und Süden über die heutigen Außenwände hinausging, und ein gegenüber den Seitenschiffen erhöhtes Mittelschiff, das oberhalb der Seitenschiffe durch Obergaden belichtet war. Die dadurch architektonisch stark hervorgehobene Vierung könnte ähnlich gebaut gewesen sein wie der diesem Bauteil heute entsprechende vordere Teil des Mittelschiffs, das Fußbodenniveau war jedoch gegenüber dem Kirchenschiff um drei Stufen erhöht, also war das Fußbodenniveau des Langhauses entsprechend niedriger. Die Seitenschiffe waren vom Querschiff durch eine Mauer – wahrscheinlich mit einer Öffnung – getrennt, deren Fundament auf der Südseite der Kirche gefunden wurde. Die östlichen Pfeiler des Mittelschiffs hatten ausweislich der Fundamentbefunde ursprünglich einen kreuzförmigen Grundriss. Über die Gestaltung der Westfront der ersten Klosterkirche, etwa durch einen Turm oder ein Westwerk, liegen noch keine Erkenntnisse vor, der heutige romanische Westbau ist jünger.
Nach dem Bericht des ersten Abtes Reinhard über die Geschichte des Reinhäuser Klosters wurde jedoch entgegen der Anlage des Stiftes das Kloster wegen Platzmangels von der Südseite auf die Nordseite verlegt und erweitert. Diese Angabe kann sich auf die Klosterkirche beziehen, denn südlich der Kirche sind tatsächlich nur etwa 10 Meter Platz bis zum Felsabhang.
In die Zeit als Klosterkirche fallen einige Umgestaltungen, der Ein- und Anbau von Kapellen sowie die Stiftung von Altären.
Die romanische Westfassade mit ihren beiden Türmen, die das äußere Erscheinungsbild am stärksten prägt, wurde um 1170 errichtet. Für die Umgestaltungen ab Mitte des 12. Jahrhunderts wird ein Einfluss der Äbtissin Eilika von Ringelheim angenommen, die aus der Familie der Grafen von Reinhausen stammte und mehrere Monate jährlich an ihrem ehemaligen Stammsitz im Kloster Reinhausen verbrachte. Das starke Geländegefälle ließ kein Portal in der Westfassade zu, so dass der Eingang für Besucher, die nicht aus dem Kloster kamen, an die heutige Stelle in ein Zwischenjoch an der Südseite östlich des Turmes gelegt wurde. Gegenüber an der Nordwand befand sich der Zugang aus dem Klosterbereich. Ob bei der Errichtung des Westriegels im Mittelbau bereits eine Empore eingebaut wurde, wird unterschiedlich bewertet: Ulfrid Müller nimmt eine Empore nahezu als sicher an, weil sie der Äbtissin und Gräfin Eilika als Herrschaftsempore dienen konnte und ihr auch in der Art einer Nonnenempore die Teilnahme am Gottesdienst in der Mönchskirche ermöglichte. Außerdem werden Bezüge der später aufgebrachten Wandmalereien zu dem nördlichen Emporenzugang aus dem Obergeschoss des Klostergebäudes gesehen. Tobias Ulbrich sieht diese Bezüge nicht zwangsläufig und bestreitet die zwingende Datierung einer Emporenanlage auf die Zeit vor 1400. Eine Belichtung des Mittelschiffs erfolgte zusätzlich zu den Obergadenfensten durch zwei große Rundbogenfenster im Westriegel, die später verändert und 1893 wieder rekonstruiert wurden.
Weil das Seitenschifffundament auf der Innenseite deutlich vorspringt, wird angenommen, dass die Seitenschiffe in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts etwas verbreitert wurden. Anhand zugemauerter Rundbogenfenster und der inneren Malereien lässt sich feststellen, dass sie drei Viertel so hoch waren wie heute. Die neuen Mauern der Seitenschiffe wurden dicker errichtet: Ihre Stärke beträgt wie die des Westriegels knapp 1,30 Meter, während die älteren Mauern nur rund 90 Zentimeter stark sind. Ulfrid Müller nimmt auch eine deutliche Erhöhung des Mittelschiffs in dieser Bauphase an, von anderen wird diese These jedoch abgelehnt. Unverändert blieb in der späten romanischen Bauphase die ausgeschiedene Vierung.
Ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung des Klosters in der Zeit zwischen 1245 und 1309 brachte neue Bautätigkeiten an der Klosterkirche mit sich. Erzbischof Gerhard II. von Mainz gewährte in einer Mainzer Ablassurkunde des Jahres 1290 jedem, der sich am Bau der Reinhäuser Kirche beteiligte, einen vierzigtägigen Ablass. Ende des 13. Jahrhunderts erhielten das nördliche und südliche Joch des Westriegels sowie die beiden angrenzenden Zwischenjoche ein einfach gestaltetes Kreuzgratgewölbe, die Gurtbögen der Turmuntergeschosse wurden spitzbogig umgestaltet, ebenso die Bögen der Ostseite des ersten Obergeschosses im Turm. Der Haupteingang auf der Südseite verlor das Tympanon, das ursprünglich das Bogenfeld des Rundbogenportals gefüllt hatte, und erhielt eine Spitzbogentür. Ein zweites, heute zugesetztes Portal wurde auf der Südseite westlich des Querhauses eingebrochen.
In derselben Bauperiode wurde über dem Eingang an der Südseite der Kirche eine Kapelle des heiligen Mauritius (Moritz) mit drei gotischen Spitzbogenfenstern eingerichtet. Die Mauritiuskapelle erstreckte sich über zwei Joche, die Seitenschiffwand wurde für die Kapelle an dieser Stelle erhöht. Der Zugang erfolgte über die Empore. Wegen der Größe des Kapellenraumes befand sich die Ostwand nicht in der Achse des vorhandenen Pfeilers, sondern einen Meter östlich davon. Die Wand im Erdgeschoss wurde von einer unmittelbar darunter stehenden Wand getragen, so dass unter der Kapelle eine abgetrennte Eingangshalle entstand. Der Altar der Moritzkapelle erhielt ein eigenes gemauertes Fundament, das als Pfeiler in der Nordostecke der gewölbten Eingangshalle sichtbar ist. Urkundlich erwähnt wurde der Altar und damit die Kapelle erst 1415 anlässlich der Stiftung einer Seelenmesse. Eine weitere Kapelle soll nach der Überlieferung des Göttinger Chronisten Franciscus Lubecus durch Abt Gunter von Roringen vor seinem Tod im Jahr 1300 als Grablege der Äbte des Reinhäuser Klosters errichtet worden sein. Diese Datierung muss in Zweifel gezogen werden, weil Gunter dem Kloster noch 1382 und 1385 als Abt vorstand.
Bei den Sanierungsarbeiten 1965 wurden nördlich des Chorraums im Bereich der dort errichteten Sakristei Ansätze eines Kreuzrippengewölbes gefunden. Es gehörte zu einer gotischen Seitenkapelle mit 3/8-Schluss. Zwischen dem nördlichen Querhausarm und der Kapelle gab es einen schmalen Gang, der den direkten Zugang zum Chorraum vom Klostergebäude her ermöglichte. Die Funde der Kapellenreste werden auf die im Jahr 1394 urkundlich erwähnte Kapelle nördlich des Chores bezogen, die als Grablege der Herren von Uslar diente. Sie wird auch als Johanniskapelle bezeichnet, weil die Überlieferungen sie als Standort eines dem Evangelisten Johannes geweihten Altars nennen: Schriftlich erwähnt wurde 1360 ein neuer Altar im Umgang, 1378 eine Grablege des Ritters Ernst von Uslar vor dem Altar des Evangelisten Johannes und 1399 eine Dotation der vier Söhne des Ernst von Uslar für den St.-Johannis-Altar in der neuen Kapelle im Umgang. Die Grabkapelle der Uslarer ist in der Inventarliste im Jahr 1707 noch aufgeführt. In älterer Literatur wurde die Kapelle auf das Jahr 1322 datiert. Die Datierung stützte sich auf zwei deutlich beschädigte Schlusssteine eines Kreuzrippengewölbes mit Inschriften, die im 19. Jahrhundert in diesem Bereich gefunden und dieser Kapelle zugerechnet wurden. Heute lagern sie in der Mauritiuskapelle. Gegen diese frühe Datierung der Schlusssteine spricht die neuere, von der früheren Lesart abweichende Entzifferung der Inschriften „•an(n)o•1•5•22•d(omi)n(u)s•m[at]hias• […]“ und „frater•reÿnerus•prior•“. Damit gilt die Zuordnung dieser Schlusssteine zur Grabkapelle der Herren von Uslar als nicht mehr wahrscheinlich und auch die Datierung dieser Kapelle auf das Jahr 1322 als hinfällig.
Der Durchgang vom nördlichen Zwischenjoch der Kirche in die Südwestecke des angrenzenden Kreuzgangs wurde nach neuerer Erkenntnis bereits im Mittelalter von innen zugemauert. Auf der Außenseite entstand eine Nische, deren unterer Teil später ebenfalls ausgemauert wurde. Darunter wurden unter einer Humusschicht 1993 bei Dränagearbeiten vier gotische Maßwerkfliesen gefunden, die als Fußbodenbelag dienten. Weder im angrenzenden Bereich des Kreuzgangs noch im Türschwellenbereich unter der mittelalterlichen Vermauerung gab es eine Fortsetzung des Fliesenbelages oder Hinweise darauf. Hildegard Krösche erwägt eine Zuordnung dieser Fliesen zu der Kapelle nördlich des Chorraums.
Vom Beginn des 14. Jahrhunderts bis zur Auflösung des Klosters im Jahr 1574 dienten Baumaßnahmen überwiegend der Ausgestaltung der Kirche und ihrer Kapellen. So wurden zwischen 1387 und 1442 die Innenseiten der Wände zumindest in der Eingangshalle, an den Seitenwänden der Empore und im südlichen Seitenschiff mit Wandmalereien verziert. Nach Anschluss des Klosters Reinhausen an die Bursfelder Kongregation 1446 wurden weitere spätgotische Ausstattungsstücke gestiftet. Die letzte speziell dem Bau der Kirche und des Klosters dienende Stiftung, die schriftlich überliefert ist, erfolgte 1451 durch die Herren von Uslar. 1498 und 1507 wurde jeweils ein spätgotischer Schnitzaltar gestiftet, von beiden sind große Teile bis heute erhalten. Nach der jüngeren Lesart der Inschriften auf den beiden Schlusssteinen, die in der Mauritiuskapelle liegen, muss angenommen werden, dass noch im Jahr 1522 eine größere An- oder Umbaumaßnahme auf dem Klostergelände durchgeführt und ein Gewölbe in ein Gebäude eingezogen wurde. Darauf könnte auch die Inschrift auf einem inzwischen verlorenen Stein hindeuten, der im 19. Jahrhundert als Spolie in die Friedhofsmauer eingelassen war: „M.ccccc.xxii. / S.georivs ora pro nobis.“ („1522 / Hl. Georg (?), bitte für uns.“)
Seit der Reformation
Befand sich das Kloster schon vor der Reformation wirtschaftlich und personell im Abwärtstrend, so beschleunigte sich diese Entwicklung durch die Einführung der Reformation 1542 und die Einrichtung eines Amtshofes im Klostergut noch. 20 Jahre nach Einführung der lutherischen Klosterordnung wurde das Inventar des Klosters und der Kirche aufgelistet, weil das Kloster dem als Amtmann eingesetzten Ludolf Fischer übergeben werden sollte. In Reinhausen verstarb der letzte Mönch des alten Konvents 1564.
Die weitere Umgestaltung des Kirchengebäudes nach Auflösung des Klosters ist zunächst nur aus der ersten bildlichen Darstellung auf einem Stich von Matthäus Merian ersichtlich, der 1654 in der Topographia Germaniae erschien. Zu dieser Zeit war die Form einer Basilika äußerlich nicht mehr erkennbar. Das Querhaus war mit der Vierung, dem Chor und dem Langhaus unter ein Satteldach zusammengefasst. Die Türme wurden mit hohen Spitzhelmen bekrönt, außerdem gab es einen Dachreiter auf dem Chor. Das wird durch eine Inventarliste des Klosters aus dem Jahr 1707 bestätigt, in der eine Glocke über dem Chor erwähnt ist.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der kreuzförmige Grundriss aufgegeben, indem die Querhausmauern abgebrochen und die Längswände der Seitenschiffe durchgehend in einer Flucht errichtet wurden. Die Ostwand des Chors wurde mit den alten Steinen neu aufgemauert und erhielt ein großes barockes Fenster, auch in die Seitenschiffwände wurden große Fensteröffnungen im Barockstil gebrochen. Die Westfassade erhielt ebenfalls ein barockes Fenster. Eine von Mithoff im Jahre 1861 berichtete Verkürzung der Kirche, die 150 Jahre zuvor stattgefunden haben soll, wird sich auf diese Maßnahmen beziehen. Durch das Einziehen einer niedrigeren Decke über alle Kirchenschiffe erfolgte die grundlegende Umgestaltung der Basilika in eine Hallenkirche.
In den Jahren 1885–1887 fand eine umfangreiche Sanierung statt, bei der das Verbindungsgeschoss zwischen den Türmen rekonstruiert wurde. Im Zuge der Arbeiten wurden auch die Westempore umgestaltet, die Dachgauben entfernt und das Dach ohne den vorher vorhandenen Absatz durchgezogen. Außerdem erhielt die Kirche nach dem Abbau der barocken Kanzelaltarwand einen aus Resten eines mittelalterlichen Marienaltars zusammengesetzten und um neue Teile ergänzten Flügelaltar, der seitdem als Hauptaltar dient. Um die Wände des Chorraums gegen eindringende Feuchtigkeit zu sichern, wurde im unteren Bereich innenseitig eine zweite Wandschale vor die Wände gemauert. Eine erneute grundlegende Restaurierung des Kirchenraums erfolgte 1963 bis 1967. Dabei wurden nördlich neben dem Chorraum eine Sakristei und ein Heizungsraum angebaut. Mit den Umbau- und Sanierungsarbeiten an der Kirche wurden in den Jahren 1965 bis 1968 archäologische Grabungen durchgeführt und die vorhandene Bausubstanz der Kirche durch Ulfrid Müller genau vermessen und untersucht. Weil die baugeschichtlichen Untersuchungen erst lange nach Beginn der Umbauarbeiten einsetzten, konnten im Westteil der Kirche keine Grabungen mehr stattfinden. Erkenntnisse über einen eventuellen Turm oder einen anders gestalteten westlichen Abschluss des ursprünglichen Kirchenbaus konnten deshalb nicht gewonnen werden. 1990/1991 musste die Turmfassade saniert werden.
Im Februar 2011 wurde der Kirch-Bauverein St. Christophorus Reinhausen e. V. gegründet, um Mittel zur Finanzierung von Erhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen an der Kirche einzuwerben.
Architektur
Außenbau
Das Erscheinungsbild der Klosterkirche wird durch die monumental wirkende romanische Doppelturmfassade im Westen bestimmt. Sie wurde aus vor Ort gewonnenen roten Sandsteinquadern mit geringer Festigkeit errichtet und weist neben schmalen Fensteröffnungen, die die Geschlossenheit des Gesamteindrucks kaum stören, lediglich eine Gliederung durch ein sehr schmales, schlichtes Sohlbankgesims auf. Die Gesamtbreite des Westbaus beträgt 16,30 Meter. Die Türme schließen mit niedrigen Walmdächern mit querliegendem First ab, die ihnen besonders in der Fernansicht einen etwas gedrungenen Ausdruck verleihen. Dabei ist das südliche Turmdach etwas niedriger als das nördliche. Unter den Dächern sind die Schallöffnungen als gekuppelte Fenster angeordnet, deren romanische Teilungssäulen Würfelkapitelle und attische Basen aufweisen. Das Mauerwerk der Türme überragt das des Mitteltraktes um 5,50 Meter, zwischen ihnen liegt die Dachschräge des nach Westen abfallenden Mittelschiffdaches. Das 5,75 Meter hohe Obergeschoss ist unter den Türmen noch einmal in zwei Geschosse unterteilt, die oben durch ein etwas breiteres Rundbogenfenster mit Mittelsäule und darunter ein einfaches schmales Rundbogenfenster belichtet werden. Zwei deutlich größere Rundbogenfenster weist lediglich das bei einer größeren Renovierung am Ende des 19. Jahrhunderts rekonstruierte Obergeschoss zwischen den Türmen auf. Im Erdgeschoss der Westfassade sind noch einmal vier Rundbogenfenster von jeweils 45 Zentimetern Breite und 1,40 Metern Höhe angeordnet. Unter dem südlichen dieser Fenster ist in den Sockel des Südturms eine Tür gebrochen.
Die schlichte Grundform des heutigen Erscheinungsbildes über längsrechteckigem Grundriss wirkt wie die einer Saal- oder einfachen Hallenkirche. Mit einer Länge von 28,60 Metern ohne Chorraum ist die Kirche im Vergleich zu anderen Klosterkirchen der Region deutlich kleiner. Der gesamte Bau ist außen unverputzt. Das einfache Satteldach mit durchgehendem First und Abwalmung über dem Turmverbindungsgeschoss und über dem Chorraum unterstreicht die Einfachheit der Gebäudeform.
Besonders auffällig ist das romanische Hauptportal an der Südseite unmittelbar hinter dem Westriegel, das geringfügig aus der Bauflucht hervortritt; der vorspringende Wandteil ist leicht hochrechteckig und oben durch ein schlichtes Gesims abgeschlossen und betont, das Portal ist darin nicht mittig, sondern deutlich nach links versetzt. Das Sandstein-Quadermauerwerk neben der vorspringenden Portalzone ist ohne Baunaht an das Mauerwerk des Turms angesetzt. Das Rundbogenportal selbst ist durch mehrfach gestufte Gewände und seitlich eingestellte Säulen mit Würfelkapitell und attischer Basis geprägt, der Übergang der seitlichen Portalgewände zu dem hohen Bogenfeld über dem Portal ist als profilierte Kämpferzone ausgebildet. Das innerste Türgewände weist dagegen einen glatten Übergang der Kämpferzone und einen leichten Spitzbogen auf. Mit etwas Abstand über dem Portal sind dicht nebeneinander drei gotische Spitzbogenfenster angeordnet, die zu der Mauritiuskapelle über der Eingangshalle gehören. Der Außenwandbereich der Kapelle ist mit gröber behauenen Sandsteinquadern ausgeführt und weist nur an der ursprünglich freiliegenden Ostkante großformatige und sorgfältiger geglättete Steine auf. Die größeren Steine der Mauritiuskapelle haben Zangenlöcher, anders als die Quader am älteren Westriegel und in der Portalzone.
An der Nordseite der Kirche, gegenüber von Moritzkapelle und Portalzone, hat ein Wandbereich eine gemischte Mauerwerksstruktur. Von einer vermauerten Rundbogentür mit 82 Zentimetern Breite ist nur noch der obere Teil sichtbar. Sie ermöglichte ursprünglich einen direkten Durchgang zwischen Kirche und Kreuzgang. Eine weitere, heute vermauerte Rundbogentür auf der Nordseite führte vom oberen Geschoss des Kreuzgangs in das erste Obergeschoss des Turms.
Östlich der Portalzone ist die Südwand des Kirchenschiffs aus überwiegend grob behauenen Sandsteinen ausgeführt, wobei der durch eine Baunaht abgegrenzte östliche Bereich von etwa 7,50 Metern Breite, in dem sich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts das Querschiff befand, eine noch deutlich unregelmäßigere Steinsetzung und geringere Oberflächenbearbeitung aufweist. An der Südostecke des Kirchenschiffs fehlt die sonst übliche sorgfältige Eckquaderung, weil das frühere Querschiff an dieser Stelle abgebrochen wurde. Die drei barocken Rundbogenfenster haben eine Breite von etwa 2 und eine Höhe von 3,35 Metern. Sie sind mit schlichten, aber sorgfältig scharrierten Werksteinfassungen aus rotem und hellem Sandstein eingefasst, die Kämpfer- und Schlusssteine treten gegenüber der restlichen Leibung leicht vor. Den Fensteröffnungen der Südwand entsprechen jeweils gegenüberliegende an der Nordwand, wobei dort das östliche Fenster zugunsten einer darunter angeordneten Tür zum ehemaligen Klosterhof in der Höhe verringert ist. Zwischen dem westlichen und dem mittleren Fenster der Südwand sind deutlich die innen stark abgeschrägten Leibungssteine eines wesentlich kleineren schlichten Rundbogenfensters zu erkennen, das noch aus der Romanik stammt und später zugemauert wurde. Auch diesem ehemaligen Fenster entspricht ein gleich großes zugemauertes Fenster in der Nordwand der Kirche. Die Leibungssteine einer ebenfalls zugesetzten kleinen spitzbogigen Tür sind links unterhalb des mittleren Fensters an der südlichen Außenmauer des Kirchenschiffs sichtbar, sie weisen als einzige Zierde an der Leibungskante eine schlichte Fase auf. Die Ostwand des südlichen Seitenschiffs und die Seitenwände des Chorraums sind heute fensterlos. Oberhalb der Dachkante des Seitenschiffes befindet sich lediglich eine hölzerne Luke.
Der 6,40 Meter tiefe und 7,30 Meter breite eingezogene Ostchor mit geradem Abschluss weist an der Südwand ein kleinteiliges, regelmäßiges Schichtenmauerwerk auf, das sich von dem weniger regelmäßig geschichteten Mauerwerk am Ostende der Seitenschiffe und von der Ostwand des Chors deutlich unterscheidet. Auch in der Südwand des Chorraums ist ein kleines, inzwischen zugesetztes romanisches Fenster erkennbar. Das Mauerwerk der nördlichen Chorwand oberhalb des späteren Anbaus ähnelt dem der südlichen Wand. Diese Chorseitenwände stammen noch aus der Erbauungszeit der Kirche. An den Außenecken des Chors sind breite, zierlose Strebepfeiler angesetzt. Dass es sich dabei um eine spätere Hinzufügung handelt, ist anhand einer Baunaht zum eigentlichen Chorraum und einzelner in Wandebene durchgehender Quadersteine deutlich. In der barocken östlichen Chorraumwand befinden sich ebenso wie im zur gleichen Zeit veränderten Ostabschluss der Seitenschiffe wiederverwendete Steine aus älteren Bauphasen. Sie sind durch Profilierung oder Zangenlöcher erkennbar und wurden zur Wiederverwendung mit dem Spitzmeißel überarbeitet. Mittig in der Ostwand des Chorraums entspricht ein Barockfenster in seiner Gestaltung den Fenstern der Seitenschiffe. An der Nordseite des Chorraums befinden sich ein 1965 während der Renovierung der Kirche errichteter niedriger Anbau für die Heizungsanlage und die Sakristei. Seine Wände sind außen ebenfalls mit Sandstein verkleidet. Um eine höhere Anschüttung des nach Osten und Norden ansteigenden Geländes an den Chorraum zu vermeiden, wurde östlich davon eine Stützmauer errichtet, so dass zum Chorraum hin ein Graben entstanden ist. Im Bereich des Heizungsanbaus ist dieser Graben etwa 1,80 Meter tief, so dass von dem Anbau bei Betrachtung vom Friedhof aus nur das Dach sichtbar ist. Nördlich des Anbaus befindet sich eine alte Sandsteinwand, die zu der Grube hin Konsolen eines ehemaligen Kreuzrippengewölbes sowie die unteren Ansätze der Gewölberippen aufweist. Die Wand trennt oberhalb des Anbaus das Kirchengrundstück von dem des Forstamts. Die später erstellte östliche Verlängerung der Wand bildet die Stützmauer des Friedhofs.
Die Nordseite der Kirche grenzt unmittelbar an das Nachbargrundstück und ist für Besucher nicht einsehbar. Von einem ehemals im Norden an das Westwerk der Kirche angebauten Gebäude des Forstamts blieb nach einem Brand im April 1955 nur noch die Westwand erhalten, sie steht in der Flucht der unteren Westwand der Kirche.
Innenraum
Die Kirche ist innen in einen westlichen und einen östlichen Abschnitt gegliedert. Der Zugang erfolgt über eine kleine Eingangshalle mit bemaltem spitzbogigem Kreuzgratgewölbe im Süden des westlichen Gebäudeabschnitts. Von dort bietet je eine Tür den Zugang nach Westen in den Südturm und zur Treppe in die oberen Geschosse, nach Norden in den Gemeinderaum und nach Osten in den um drei Stufen höher liegenden eigentlichen Kirchenraum.
Der östliche Hauptteil der Christophoruskirche ist ein hell verputzter dreischiffiger Langhaussaal mit flacher zierloser Holzdecke. Der Innenraum ist 7,10 Meter hoch, das Mittelschiff 5,50 Meter breit. Die Seitenschiffe haben eine Breite von je 3,50 Metern, wobei sich das nördliche Seitenschiff durch eine im mittleren Bereich erheblich höhere Wandstärke der Nordwand bis auf 2,70 Meter verengt. Die Seitenschiffe sind vom Mittelschiff durch je zwei Rechteckpfeiler getrennt, die über schmalen Kämpfergesimsen rundbogige, im Verhältnis zu den Maßen des Kirchenraums weitgespannte Arkadenbögen tragen. Die Spannweite der drei Joche beträgt jeweils etwas über fünf Meter. Die Pfeiler stehen ohne Basen auf dem Fußboden. Die beiden östlichen Pfeiler – ursprünglich die Vierungspfeiler am westlichen Beginn des Querschiffs – haben mit einer Grundfläche von je 87 Zentimetern Breite und 1,60 Metern Länge einen erheblich stärker gestreckten Querschnitt als das ebenso breite, aber nur einen Meter lange westliche Pfeilerpaar. Am Übergang der Pfeiler zu den Bögen sind jeweils mit umlaufenden Wulsten und Kehlen profilierte Kämpferplatten eingebaut, die durch eine dem roten Sandstein angepasste Farbgebung gegenüber dem weißen Putz zusätzlich akzentuiert sind. Die großen Barockfenster der Seitenschiffe und des Chorraums sind mit kleinformatigen farblosen Scheiben zwischen Holzsprossen verglast. Die inneren Laibungen der Fensternischen schließen oben mit Segmentbögen ab und sind leicht, die Fensterbänke stark abgeschrägt. Die an der Außenseite erkennbaren zugesetzten Tür- und Fensterlaibungen früherer Bauphasen sind im Innenraum nicht sichtbar, an der Südwand deutet nur das Fehlen der inneren Wandbemalung darauf hin. Das obere Ende dieser Wandmalereien kennzeichnet auch die frühere Höhe der Seitenschiffe. Der Innenraum hat durch die großen Rundbogenfenster eine barocke Prägung, die romanische Grundstruktur kommt dennoch voll zum Ausdruck. Der östliche Teil des Mittelschiffs und der Seitenschiffe vor den östlichen Pfeilern ist gegenüber dem bestuhlten Teil des Kirchenschiffs um eine Stufe erhöht und liegt damit auf derselben Ebene wie der Chorraum. Dort stehen Kanzel und Lesepult.
Der ebenso wie das Schiff schlicht hell verputzte Ostchor ist vom Mittelschiff durch einen Rundbogen getrennt, der auf Mauervorlagen an den Chorecken ruht. Mit je 5,50 Meter Breite und Länge ist er im Grundriss nahezu quadratisch, durch seine gegenüber dem Hauptteil des Kirchenschiffs um eine Stufe erhöhte Lage allerdings etwas niedriger als dieser. Die Rückseite des mittig im Chorbogen stehenden Altartischs mit dem Flügelaltar wird vom großen Barockfenster in der Ostwand des Chores beleuchtet.
Der westliche Teil der Kirche mit dem Untergeschoss beider Türme, dem jeweils östlich angrenzenden Zwischenjoch und der westlichen Verlängerung des Mittelschiffs bis zum zweiten Pfeilerpaar ist vom Hauptraum der Kirche abgegrenzt. Nördlich der gotischen Eingangshalle besteht diese Abtrennung aus einer später eingezogenen Wand. Der im Westteil abgetrennte Bereich wird als Gemeinderaum und Winterkirche genutzt. So ist der außen in der Südansicht optisch abgesetzte Bereich, nämlich die Türme und das angrenzende Zwischenjoch mit der Portalzone und der Mauritiuskapelle, auch in der Innenaufteilung erkennbar. Der Gemeinderaum in der westlichen Verlängerung des Mittelschiffs trägt eine flache Balkendecke. Der nördliche Teil – also die Verlängerung des nördlichen Seitenschiffes nach Westen – ist durch zwei in Längsrichtung der Kirche verlaufende spitzbogige Gurtbögen mit dem Gemeinderaum verbunden. Die Bögen, das nördlich angrenzende zweijochige Kreuzgratgewölbe und die Ecke des Nordturms werden von einem in der Grundfläche quadratischen Pfeiler von einem Meter Stärke getragen. Das Erdgeschoss des Nordturms mit dem angrenzenden Zwischenjoch bildet so einen optisch separaten Teil des Gemeinderaums, in dem eine Küchenzeile eingebaut ist. Entsprechende Pfeiler auf der Südseite des Gemeinderaums und die vermauerten Gurtbögen dazwischen lassen eine analoge Bauweise erkennen. Während jedoch das östliche Gewölbejoch auf der Südseite in der Eingangshalle erhalten ist, wurde das westliche im Südturm entfernt. Dort wurde 1966 eine Treppe eingebaut, darunter befindet sich ein Toilettenraum. Die beiden anderen Auflager der Gurtbögen sind ein Pfeiler in der Verlängerung der Trennwand zwischen Gemeinderaum und Kirchenschiff, der ursprünglich Seiten- und Hauptschiff der Kirche trennte, und die westliche Außenwand.
Das Obergeschoss über dem Gemeinderaum ist zum Kirchenraum hin als Empore geöffnet. Im Mittelschiff steht dort die Orgel, der nördliche Teil ist durch eine Rundbogentür von der Mittelempore aus zugänglich. Südlich der Empore befindet sich neben dem Turm die frühere Mauritiuskapelle mit drei nebeneinander angeordneten Spitzbogenfenstern. Bis zur Höhe der Fensterbank ist die Außenwand des Raums deutlich dicker als darüber. Der so entstandene Wandabsatz von 58 Zentimetern Tiefe ist mit Sandsteinplatten abgedeckt und weist an der rechten Seite noch eine Piscina auf. Ein Mauerpfeiler in der Nordostecke der Mauritiuskapelle, der in der Eingangshalle senkrecht über die gesamte Raumhöhe verläuft und mit Wandmalereien verziert ist, bricht dort unregelmäßig oberhalb des Fußbodens ab. An der Verzahnung mit den Wänden ist erkennbar, dass er früher den Altar getragen hat, dessen Platte sich einen Meter über dem Fußboden befand. In der Mauritiuskapelle lagern die verwitterten Mittelsäulen der gekuppelten Schallöffnungen der Türme, die durch neue ersetzt werden mussten. Außerdem liegen dort zwei Schlusssteine eines Kreuzrippengewölbes, die sich durch ihre Inschrift auf das Jahr 1522 datieren lassen. Die Mauritiuskapelle bildet den Durchgang zur Empore und enthält eine Holztreppe als Zugang zum Südturm, dessen Turmschaft leer ist. Im Nordturm führt eine Leiter in das Glockengeschoss.
Ausstattung
Wandmalereien
An mehreren Stellen im Innenraum der Kirche sind größere Reste farbiger Wandmalereien auf dem Putz erkennbar. Diese Gemälde werden auf die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert datiert. Alle Wandmalereien wurden bei einer Sanierungsmaßnahme 1965–1967 restauriert.
Eingangshalle
Die Wandmalereien im Vorraum am südlichen Haupteingang zur Klosterkirche wurden in den Jahren 1909/1910 freigelegt. Das Gewölbe der Eingangshalle ist mit floralen Ornamenten verziert, in die vier Medaillons mit je einer Halbfigur eingebettet sind. Die Figuren stellen möglicherweise die vier Kirchenväter dar, die Zuordnung ist jedoch nicht gesichert. An den Wänden der Eingangshalle sind Maria unter dem Kreuz sowie der heilige Christophorus mit dem Christuskind auf den Schultern dargestellt. Der Text eines Spruchbandes in der Christophorusdarstellung ist schwer lesbar. Eine weitere Figur ist am Gewölberand nahe dem Eingang zum südlichen Seitenschiff erkennbar. Am Spitzbogen über diesem Eingang ist ein ebenfalls schwer lesbares dreizeiliges Spruchband aufgemalt.
Hauptraum
Weitere Wandmalereien befinden sich im südlichen Seitenschiff der Kirche. Einige der Wandmalereien sind nur noch teilweise erhalten. Dargestellt sind Szenen aus der Christophorus-Legende nach der Legenda aurea, besonders sein der Legende nach auf Befehl des Königs Dagnus in Lykien erlittenes Martyrium: Über dem Eingang an der Westwand des südlichen Seitenschiffes ist dargestellt, wie der heidnische König Dagnus beim Anblick des Christophorus vom Thron fällt, rechts daneben die Geißelung des Christophorus. Darunter sind links Fragmente von männlichen und rechts mit männlichen und weiblichen Personendarstellungen erhalten. Der weiße Hintergrund der Bilder ist mit roten Blüten geschmückt, in der Geißelungsszene sind es rote Sterne. Über der oberen linken Darstellung beschreibt ein zweizeiliges Spruchband die Szene, das nicht mehr vollständig lesbar ist. In den Szenen an der Südwand des Seitenschiffs sind oben rechts Christophorus und das Christuskind am Flussufer, oben links der predigende und unten rechts der betende Christophorus dargestellt. In der Gebetsszene befinden sich links neben Christophorus noch König Dagnus und eine weitere Person, das erläuternde Spruchband ist nur noch in geringen Teilen zu entziffern. Unten links sitzt König Dagnus auf dem Thron und Pfeile schweben in der Luft, die der König auf Christophorus schießen ließ. Auch diese Szene ist mit einem nur teilweise lesbaren Spruchband versehen. Wieder sind die Hintergründe mit roten Blumen und Sternen verziert. Links zum östlichen Teil der Südwand hin sind Fragmente weiterer Malereien vorhanden. Die Wandmalereien wurden zum Teil durch spätere Umbauten, insbesondere durch den Einbau der großen barocken Fenster und den Rückbau des Querschiffs zerstört. Der obere Wandbereich der heutigen Seitenschiffwände ist nicht bemalt, er wurde später aufgemauert, als die Kirche ein einheitliches Satteldach erhielt und die basilikale Aufrissform aufgegeben wurde.
Empore
An den Seitenwänden der Empore sind Szenen zu Geschichten aus dem Neuen Testament und zum Jüngsten Gericht dargestellt: auf der Südseite die Auferstehung sowie der Erzengel Michael als Wäger der Seelen, auf der Nordseite Jesus und die schlafenden Jünger im Garten Gethsemane sowie der Höllenrachen. Diese Wandmalereien wurden erst bei der Instandsetzung 1963–1967 freigelegt.
Altar
Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Hauptaltar dienende Flügelaltar besteht aus einem Mittelschrein mit Schnitzfiguren vor goldenem Hintergrund und zwei beidseitig bemalten Klappflügeln. Sowohl aus den Gemälden auf den Flügeltafeln als auch aus den Textzeilen auf Vorder- und Rückseite geht hervor, dass es sich ursprünglich um einen Marienaltar handelte. Bei einer Restaurierung 1885–1887 wurde er zu einem Kreuzigungsretabel umgestaltet. Die Altarflügel sind inschriftlich auf das Jahr 1498 datiert. Die Weihe des Altars nahm Johannes, der Titularbischof von Sidon und Generalvikar des Erzbischofs Berthold von Mainz, vor. Eine schriftliche Überlieferung über den oder die Stifter des Altars ist nicht erhalten. In einer Ablassurkunde des Jahres 1499 wird die neu geweihte Tafel mit geschnitzten und gemalten Bildern der Jungfrau Maria erwähnt.
Die Flügel und die äußeren Teile des Mittelschreins waren vor der Restaurierung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts getrennt vom Mittelteil in eine barocke Altarwand eingebunden, ebenso die Figuren des Jodokusschreins. Das Altarretabel steht auf einer mit Wappen und Inschriften verzierten Predella über dem aus Sandsteinquadern errichteten Altartisch, der gegenüber dem Chorraum um zwei Stufen erhöht steht.
In dem 1,86 Meter hohen und 1,78 Meter breiten Mittelschrein ist eine Kreuzigungsgruppe das zentrale Element. Ursprünglich befand sich dort sicher, passend zur Altarwidmung, eine Mariendarstellung, wahrscheinlich als Strahlenkranzmadonna oder als Marienkrönungsgruppe. An jeder Seite des Mittelschreins stehen übereinander zwei Heiligenfiguren: Maria Magdalena unten links, Katharina oben links, Barbara oben rechts und Cyriakus unten rechts. Diese geschnitzten und bemalten Figuren werden in den meisten Veröffentlichungen als Schnitzwerke aus der Werkstatt des Meisters Bartold Kastrop bezeichnet. Andere Autoren lehnen dagegen eine Zuschreibung zur Werkstatt Kastrops ab oder diskutieren sie zumindest kritisch. Die Heiligenfiguren, das Maßwerk und die Sockel ähneln denen auf dem Marienretabel aus der Kirche St. Martin in Geismar, das aufgrund einer Inschrift sicher Bartold Kastrop zugeordnet werden kann. Andererseits spricht das Jahr der Erstellung des Reinhausener Altaraufsatzes – 1498 – gegen Kastrop als Schnitzmeister, weil er erst ein Jahr später nach Göttingen eingebürgert wurde und bis dahin eine Werkstatt im deutlich weiter entfernten Northeim betrieb. Außerdem sind gegenüber den Geismarer Schnitzfiguren Kastrops Unterschiede in Gesichtsausdruck und Lebendigkeit der Figuren festzustellen. Antje Middeldorf Kosegarten sieht Ähnlichkeiten zu den Figuren des Schnitzaltars der St.-Johannis-Kirche in Uslar sowie zu einer steinernen Sakramentsnische der Göttinger Johanniskirche. Jede Schnitzfigur steht auf einem Sockel mit vorn seitlich abgeschrägten Ecken, auf dem sie mit schwarzer Schrift bezeichnet ist: „S(an)c(t)a maria magdalena“, „S(an)c(t)a katerina ora p(ro nobis)“, „S(an)c(t)a barbara virgo“ und „S(an)c(tu)s ciriacus mar(tyr)“. Die Schnitzfiguren der Maria und des Johannes unter dem Kreuz wurden im Zuge der Restaurierung des Altars 1885 neu angefertigt. Während einige Autoren von einer gleichzeitigen Herstellung der Kreuzigungsgruppe ausgehen, datieren andere die Figur des gekreuzigten Christus in die Barockzeit, während das Kreuz selber später erneuert worden sein soll. Wieder andere gehen davon aus, dass die gesamte Kreuzigungsgruppe barock sei. Die Sockel der Begleitfiguren des Kreuzes sind deutlich höher als die älteren, sie überbrücken einen gemalten Zierstreifen am unteren Rand des Altarmittelstückes und heben die beiden Figuren auf die Ebene des Kreuzesfußes. Diese Sockel sind nicht abgeschrägt und tragen die Aufschriften „Sca maria“ und „Scs iohannes“. Die Ausführung der Buchstaben orientiert sich an den älteren Schnitzfiguren des Altars.
Die Innenseiten der je 88 Zentimeter breiten Flügel zeigen Szenen aus dem Leben der Maria: oben auf dem linken Flügel die Verkündigung und auf dem rechten Flügel den Besuch bei Elisabeth; unten auf dem linken Flügel die Geburt Jesu und auf dem rechten Flügel die Anbetung der Könige. Als Vorlage diente zumindest für die letzte Szene ein Kupferstich von Martin Schongauer. Über die Urheberschaft der Gemälde gibt es unterschiedliche Annahmen: Nach neueren Angaben stammen sie aus derselben Werkstatt wie die Flügelrückseiten, können aber nicht sicher dem Meister selbst zugeordnet werden. Ältere Kunsthistoriker gehen dagegen von einem unbekannten, wenig fortschrittlichen Maler ohne weitere bekannte Werke in Niedersachsen aus. Die Hintergründe der Gemälde sind in Gold gehalten, das kennzeichnet diese Seiten als Festtagsseiten. Goldfarben sind auch die waagerechten Leisten an Ober- und Unterkante der Flügel und des Schreins sowie in der Mitte der Flügel, die zur Begrenzung der Darstellungen dienen.
Die Außenseiten der Flügel sind die Werktagsseite des Altars und haben einen rotfarbigen Hintergrund. Dargestellt sind in Dreiergruppen die Zwölf Apostel mit Matthias anstelle von Judas Iskariot. Sie sind zusätzlich zu ihren Attributen durch ihre Namen am oberen Rand und auf der Leiste, die beide Reihen trennt, bezeichnet. Acht Figuren tragen ihre Namen außerdem auf dem Gewandsaum. Die Gemälde werden einem unbekannten Meister zugeschrieben, der aufgrund dieses Werkes als „Meister der Reinhausener Apostel“ bezeichnet wird. Andere Veröffentlichungen schreiben die Flügelgemälde einem Schüler des Hans von Geismar oder dem Hildesheimer Epiphaniusmeister zu oder gehen davon aus, dass der Meister der Reinhausener Apostel ein direkter Schüler Hans von Geismars war. Auch für einige dieser Arbeiten dienten wahrscheinlich Stiche von Martin Schongauer als Vorlage. Die Außenseite trägt am unteren Rand als Herstellungsdatum die Inschrift „Anno dni 1498 pletum est hec tabella / Jn honore gloriose marie virgini.“ (Im Jahre des Herrn 1498 wurde diese Tafel vollendet / Zur Ehre der ruhmreichen Jungfrau Maria.) Dem l in „[com]pletum“ (vollendet) fehlt die Oberlänge, dieses Wort wurde auch als „pictum“ (gemalt) gedeutet.
In die waagerechten goldbelegten Leisten der Flügelinnenseiten über und unter den Gemälden sowie in die obere und untere waagerechte Leiste des Mittelschreins sind Schriftzüge einpunziert, die ursprünglich einen über die Flügel und den Schrein durchlaufenden Satz ergaben. Bei der Rekonstruktion des Mittelteils wurde die Schrift durch ein Zierband ersetzt, so dass ein größeres Teilstück fehlt. Die obere Kante des Altars zeigt das Salve Regina, eine Antiphon des Hermann von Reichenau:
„SALVE · REGINA · MATER · MISERICORDIE · VITA · DVLCED(o)
(et) SPES NOSTER (salve / ad te clamamus exsules filii Evae / ad te suspiramus ge)MENTES · ET FLENTES ·
IN · HAC · LACRIMARVM · VALLE · EYA · ERGO · ADVOC(ata nostra)“
(deutsch: „Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, Leben, Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn, unsre Fürsprecherin“),
die untere eine von Heinrich Isaac vertonte Antiphon:
„AVE · SANCTISSI(m)A · MARIA · MATER · DEI · REGINA · CELI
PORTA · PARADISI (domina mundi / tu es singularis virgo pura / tu concepisti Jesum) SINE · PECCATO
TV · PEPERISTI · CREATOREM · ET · SALVATOREM · MVNDI · IN QVO (ego non dubito)“
(deutsch: „Sei gegrüßt, heiligste Maria, Mutter Gottes, Königin des Himmels, Tor zum Paradies, Herrin der Welt! Du bist eine einzigartig reine Jungfrau, du empfingst Jesus ohne Sünde, du gebarst den Schöpfer und Erlöser der Welt, an dem ich nicht zweifle.“).
In der Mitte des linken Flügels befindet sich ein Vers aus der lateinischen Übersetzung des Hohenliedes:
„TOTA · PVLCRA · ES · AMICA · MEA · ET · M(acula non est in te)“
(deutsch: „Vollkommen schön bist du, meine Freundin, und an Dir ist kein Makel“),
auf dem rechten Flügel:
„O · FLORE(n)S · ROSA · MATER · DOMINI“
(deutsch: „O blühende Rose, Mutter des Herrn“)
nach einer Antiphon des Hermann von Reichenau. In älterer Literatur werden auch abweichende Lesarten und weitere Fehlstücke angegeben, insbesondere für die Schrift an schwer erkennbaren Stellen.
Die Predella wurde später angefertigt als die Altartafeln. Die Angaben über die Entstehungszeit reichen vom späten 16. Jahrhundert über die Barockzeit bis zum 19. Jahrhundert. Sie trägt mittig in verschlungenen Ringen zwei Wappenschilde mit Oberwappen, die in einigen Veröffentlichungen als Allianzwappen gedeutet werden. Nach der heutigen Farbgebung zeigt das heraldisch rechte Wappen in Silber einen aufgerichteten, mit goldenen Kugeln belegten roten Löwen, auf dem rot-silbern bewulsteten Helm vier rechtwinklig gekreuzte silberne Stäbe mit jeweils unterschiedlichen Spitzen an beiden Enden, Helmdecken rot-silbern. Das heraldisch linke Wappen zeigt in Silber ein rot gesatteltes und gezäumtes, springendes schwarzes Ross, auf dem silbern bewulsteten Helm ein rot gesatteltes und gezäumtes, springendes schwarzes Ross vor fünf fächerförmig angeordneten schwarz-silbernen Federn, Helmdecken schwarz-silbern. Auf älteren Fotos, die den Zustand vor 1945 zeigen, ist das Wappenrelief ohne oder mit anderer Bemalung erkennbar. Eine Zuordnung der Wappen zu den Familien von Werder und von Pentz wird von Hans Georg Gmelin angesprochen, aber nicht als sicher bezeichnet. An beiden Außenseiten neben den Wappen steht in Gold auf schwarzem Grund der Text der Einsetzungsworte für das Abendmahl. Diese Texttafeln sind auf Fotos, die vor 1945 angefertigt wurden, noch nicht vorhanden.
Jodokusschrein
Im nördlichen Seitenschiff ist an der Ostwand der sogenannte Jodokusschrein angebracht, der Mittelteil eines ehemaligen Flügelretabels, dessen Schnitzfiguren bis zur Restaurierung des Hauptaltars Ende des 19. Jahrhunderts oberhalb des Schalldeckels in eine barocke Kanzelaltarwand eingebaut waren. Nach der Auflösung der Kanzelaltarwand und der Rekonstruktion des Hauptaltars wurde der Schrein an der Ostwand des südlichen Seitenschiffes aufgehängt, seit den Renovierungsmaßnahmen der Jahre 1963–1967 befindet er sich im nördlichen Seitenschiff. Der Schrein ist inschriftlich auf 1507 datiert und gilt als Werk des Epiphaniusmeisters aus Hildesheim.
Drei Figuren – alle mit einem Buch in der Hand – stellen in der Mitte den heiligen Jodokus als Pilger mit einer Jakobsmuschel an der Kopfbedeckung, links den heiligen Bartholomäus und rechts den heiligen Blasius dar. Die zentrale Figur des Jodokus ist gut einen Kopf größer als die flankierenden Heiligen. Alle stehen auf Postamenten mit Inschriften und haben hinter den Köpfen auf goldenem Hintergrund Heiligenscheine mit den Inschriften: „SANCTVS.BARTHoLOMEVS.“, „SANCTVS.JODOCVS.“ und „SACTVS.BLASIVS.“ (sic!). Die Postamentinschriften lauten links „SANCTVS.BARTOLOMEVS“, rechts „SANCTVS.BLASIVS.EPISC“, Unter der mittleren Figur steht allerdings die Jahresangabe „.DVSENT.VNDE.VIF.HVNDERT.SEFVEN.“ (1507). Die Jodokus-Figur trägt auch am Gewandsaum Inschriften, die durch umgeschlagene Bereiche und Falten des Mantelsaums unterbrochen sind: „CRISTVS“ am rechten Arm, der das Buch trägt, „MARIE“ unter dieser Hand, am rechten Kragen (vom Betrachter aus links) „IHESVS“, am linken Kragen „M“, am unteren Mantelsaum „SANCTVS“, nach einem umgeschlagenen Saumteil „(…)OCVS“ und „FA“ und ganz rechts unten „MANG“. Alle Schriften auf dem Jodokusschrein sind in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt. Die von Hector Wilhelm Heinrich Mithoff genannten Bezeichnungen der Figuren als „S.JACOB.MAJ“ in der Mitte, „SCS.BLASIVS“ rechts und „S.BARTHOLOMEVS“ links sind in dieser Form nicht mehr vorhanden; Tobias Ulbrich hält es für möglich, dass sich die Beschriftung für Jakobus an der nicht sichtbaren Rückseite des Sockels der mittleren Figur befindet.
Seit der Beschreibung Mithoffs haben verschiedene Autoren die namensgebende Figur in der Mitte des Schreins als Jakobus den Älteren identifiziert. Ulbrich begründet dies mit der von Mithoff erwähnten Inschrift, mit den Pilgerinsignien der Figur einschließlich der Jakobsmuschel an der Kopfbedeckung sowie mit einem angeblichen zweiten Flügelpaar des Hauptaltars, das durch figürliche und bildliche Darstellungen der Jakobus-Legende eine Verehrung dieses Heiligen in Reinhausen belege. Als zusätzlicher Altarflügel neben den beiden Flügeln des Hauptaltars war allerdings schon im 19. Jahrhundert nur ein einzelner Flügel erhalten, der sich damals im Besitz von Carl Oesterley befand. Er wurde von Mithoff zusammen mit den damals in einer Kanzelaltarwand verbauten gotischen Kunstwerken – Jodokusschrein, beide Flügel des Hauptaltars, vier geschnitzte Heiligenfiguren aus dem Schrein des Hauptaltars – einem einzigen Altar zugeordnet. Dieses im 19. Jahrhundert sehr beschädigte und seitdem restaurierte Flügelbild befindet sich heute im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover. Es wird allgemein nicht mehr dem Hauptaltar, sondern dem Jodokusschrein zugeordnet und dem Maler Hans Raphon zugeschrieben. Dieser Altarflügel war der linke äußere Flügel des Jodokus-Retabels, das nach einigen Veröffentlichungen ursprünglich zwei Flügelpaare besessen haben soll. Sowohl der rechte Flügel als auch ein inneres Flügelpaar fehlen. Die auf dem erhaltenen Flügel dargestellten Szenen sind seit der Restaurierung klarer erkennbar, es sind auf jeder Seite zwei übereinander angeordnete Bilder vorhanden. Auf der Außenseite befindet sich oben die Abbildung des Apostels Jakobus des Älteren mit Stab, Buch und der Muschel an der Stirn des Hutes, unten die des heiligen Hubertus mit Bischofsstab, Buch, Mitra und einem Jagdhorn unter der linken Hand. Beide Heiligen sind auf Felsen sitzend dargestellt, Jakobus trägt einen langen Bart. Auf der Innenseite sind zwei Szenen aus der Heiligenlegende des Jodokus dargestellt: im oberen Bild das Quellwunder des Jodokus, durch das er den auf der Jagd befindlichen Grafen Heymo vor dem Tod bewahrte, im unteren die wunderbare Erhaltung seiner Leiche. In der Darstellung des Quellwunders wird Jodokus – wie auch die Schnitzfigur im Schrein – als bartloser junger Mann in Pilgerkleidung dargestellt, seine am Boden liegende Mütze trägt auch hier die Pilgermuschel. Eine einzelne neuere Beschreibung kennt von dem Reinhäuser Jodokus-Retabel nur diesen einen Flügel und bezeichnet nicht nur den rechten Flügel, sondern auch den Mittelteil als verloren.
Triumphkreuz
Das später überarbeitete Kruzifix an der östlichen Stirnseite des südlichen Seitenschiffs ist ebenfalls in die späte Gotik einzuordnen und soll früher als Triumphkreuz gedient haben. Es hat eine Höhe von 2,92 Metern, im 19. Jahrhundert war es im unteren Geschoss des Westriegels untergebracht.
Steinbildwerke
In der Ostwand des Chorraums ist ein halbrundes romanisches Steinrelief eingemauert. Darauf sind in einem Bogen ein Kreuz auf einer Halbkugel und darunter ein Löwe mit menschlichem Kopf dargestellt, der einen zweiten Menschenkopf zu verschlingen scheint. Das Relief diente wahrscheinlich früher als Tympanon im Bogenfeld des Portals der Kirche.
Ebenfalls in die Ostwand des Chorraums eingemauert ist der Rest eines gotischen Steinbildwerks mit einer zentralen Fiale, die anstelle einer Kreuzblume eine von zwei Engeln getragene Krone aufweist. Seine ursprüngliche Funktion wird als bekrönender Aufsatz einer Sakramentsnische gedeutet. Es soll sich dabei um eine erheblich gröber gearbeitete Kopie einer Sakramentsnische aus der Göttinger Johanniskirche handeln.
An der südlichen Chorwand steht auf einem neueren Steinsockel eine Steinplastik des heiligen Christophorus, ein Relikt der Verehrung des Namenspatrons der Kirche, das noch aus der Zeit der Romanik stammt. Der Heilige ist mit dem Christuskind auf seinen Schultern und einem Stab in der Hand dargestellt. Vor den Renovierungsmaßnahmen 1963–1967 befand sich die Plastik in einer Mauernische an der Ostwand des südlichen Seitenschiffes unterhalb des Jodokusschreins. Sie gehört erst seit dem 19. Jahrhundert zu den Kunstwerken im Kirchengebäude; zuvor befand sie sich im Klosterhof.
In die Nordwand des Chorraums ist eine detailliert ausgearbeitete Plastik eingemauert, die Christus beim Tragen seines Kreuzes darstellt. Die im zentralen Bereich gut erhaltene Steinhauerarbeit zeigt neben Christus, der sich unter dem Kreuz wieder erhebt, als weitere vollständig dargestellte Personen einen Mann vor dem Kreuz, der Christus an einem Strick hält, und hinter Christus stehend wahrscheinlich Simon von Cyrene. Von drei weiteren Personen im Hintergrund sind nur jeweils der Kopf und Teile des Oberkörpers zu sehen.
Grabdenkmale
Im Chorraum ist an der Nord- und der Südwand je eine Grabplatte aus Gusseisen aufgestellt. Beide stammen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Platte an der südlichen Chorraumwand wurde für den am 15. Februar 1569 verstorbenen Pfandinhaber des Klosters Christoph Wolff von Gudenberg angefertigt, die an der Nordwand für den am 8. September 1574 verstorbenen Melchior von Uslar und seine Frau Margarete von Ohle. An der Ostwand des Chorraums hängt eine bemalte Holztafel aus dem Jahr 1735, die an Maria Magdalena Hinüber geb. von Busch erinnert. Die beiden gusseisernen Grabtafeln waren noch bis nach Ende des Zweiten Weltkriegs nebeneinander an der Südwand des Chorraums aufgestellt, die Holztafel hing zusammen mit einem weiteren Holzepitaph oberhalb der Platten. Die zweite Holztafel war ebenfalls in Medaillonform mit seitlichem Rankenwerk und Bekrönung gestaltet, sie erinnerte an den 1752 gestorbenen Amtmann Christian Erich Hinüber, der auch auf der erhaltenen Tafel als Ehemann der Verstorbenen genannt wird. Eine weitere Grabplatte aus Stein von 1706 für Veit Andreas Hornhardt an der Ostwand des nördlichen Seitenschiffs ist stark verwittert. Hornhardt war von 1680 bis 1705 Amtmann des Amtes Reinhausen.
Taufbecken
Der Taufstock besteht aus dunkel gebeiztem Holz. Der Fuß ist vierseitig, das Becken mit der Aufnahme für die Taufschale wird von vier neuromanischen Säulen getragen und ist achteckig. Es trägt die umlaufende Inschrift: „Wer da | glaubet | und getauft | wird, der | wird selig | werden | Mark. 16,16“ . Auf der achten Seite ist eine Rankenverzierung vorhanden.
Kanzel
Die nur geringfügig erhöhte Kanzel links vom Chorraum ist ebenso wie das Lesepult rechts ein modernes, sehr schlichtes Ausstattungsstück. Die in die ehemalige Altarwand eingearbeitete barocke Kanzel wurde 1885–1887 entfernt. Bis zur Sanierung der 1960er Jahre stand die Kanzel auf vier neoromanischen Säulen an dem vorderen freistehenden Pfeiler.
Vasa sacra
In einem Inventar des Kirchenschatzes, das nach Einführung der Reformation 1542 angefertigt wurde, wurden noch sieben Kelche und Patenen aufgeführt, von denen ein Paar dem Hospital gehörte, sowie ein auswärtig untergebrachter Kelch. Dazu kam eine vergoldete Monstranz. Zwanzig Jahre später wurde bei der Übergabe des Klosters an einen Amtmann wieder ein Inventar angelegt, in dem kaum noch sakrales Gerät aufgeführt war und das nur einen nicht näher beschriebenen Kelch enthielt. Heute sind noch zwei silberne Abendmahlskelche und zwei dazugehörige Patenen erhalten, die nicht öffentlich in der Kirche ausgestellt sind.
Der ältere Kelch aus vergoldetem Silber wird aufgrund des Stils auf das 14. Jahrhundert datiert. Der 16,4 Zentimeter hohe Kelch hat einen flachen, schlicht runden Fuß von 14 Zentimetern Durchmesser, einen sechsseitigen Schaft, einen gerippten Nodus und eine weit ausgestellte, schlichte Kuppa mit einem Durchmesser von 11,7 Zentimetern. Der niedrige senkrechte Rand des Fußes ist mit je einer Reihe von Punkten und Kreuzen verziert, der Schaft hat oben und unten ein umlaufendes Ornament aus Kreuzchen. Auf der Oberseite des Fußes ist die Inschrift „· CVRT · HANS · HENRICH · VON · VSLER · MARIA · VON · VSLER · ELSABET · SOPHIÆ · VON · VSLER · PIGATA · MAGDALENA · VON · VSLER · SCHONETTE · LISABETH · VON · VSLER“ eingraviert. Aufgrund der genannten Namen kann die Inschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das zweite Viertel des 17. Jahrhunderts datiert werden, denn der braunschweigisch-lüneburgische Landkommissar und Kriegskommissar Curt Hans Heinrich von Uslar heiratete im Jahr 1627 Maria von Uslar und hatte mit ihr die Töchter Elisabeth Sophie, Beate Magdalena und Schonetta Elisabeth. Letztere war 1661 bereits verheiratet, so dass die Inschrift wahrscheinlich deutlich vor diesem Datum angebracht wurde. Unter dem Fuß des Kelches ist die Schrift „FB / 1908“ aus neuerer Zeit eingeritzt.
Die dazu passende Patene aus dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts besteht ebenfalls aus vergoldetem Silber und hat einen Durchmesser von 15,8 Zentimetern. Sie trägt am Rand eine Inschrift, die bis auf zwei Buchstaben mit der des Kelches identisch ist, dazu ein Scheibenkreuz.
Der zweite Kelch aus Silber ist 18 Zentimeter hoch und stammt vom Ende des 16. Jahrhunderts. Die Sockelplatte und der Fuß mit einem Durchmesser von 14 Zentimetern haben die Form eines Sechspasses, darüber trägt ein sechsseitiger Schaft mit einem abgeflachten Nodus an der Seite in Rautenformen die Buchstaben „I H E S V S“ und ist, wie auch der Schaft, mit gravierten Ornamenten verziert. Die steil ansteigende kleine Kuppa hat zehn Zentimeter Durchmesser. Auf einem Segment des Fußes ist ein liegendes vergoldetes Kruzifix aufgesetzt, in das gegenüberliegende Segment ist das viergeteilte braunschweigisch-calenbergische Wappen Herzog Erichs eingraviert. Am Rand neben dem Kruzifix ist die Inschrift „TEMPLO REINHVSANO SACRVM“ eingraviert, die eine Zugehörigkeit zur Reinhäuser Kirche belegt. Das Segment des Fußes trägt die Initialen des Amtmanns: „M(ATTHIAS) · S(CHILLING) · A(MT)M(ANN) · Z(V) · R(EIN)H(AVSEN)·“, was eine ungefähre Datierung ermöglicht: Matthias Schilling trat sein Amt als herzoglicher Amtmann zu Reinhausen im Jahr 1578 an, Herzog Erich starb 1584. Da beide auf dem Kelch genannt sind, muss er in diesem Zeitraum entstanden sein.
Die dazugehörige Patene aus Silber hat einen Durchmesser von 15,1 Zentimetern. Sie hat auf dem Rand auf der Unterseite dieselbe gravierte Inschrift „TEMPLO REINHVSANO SACRVM“ wie der Kelch und trägt an der Oberseite ein Scheibenkreuz.
Orgel
Die heutige Orgel der Christophoruskirche wurde 1967 durch Rudolf Janke als Ersatz für eine ältere erbaut. Der Prospekt der Manualwerke ist fünfachsig und wird von zwei freistehenden Pedaltürmen flankiert. Das Instrument verfügt über 16 Register, die auf zwei Manuale und Pedal verteilt sind. Die Disposition lautet wie folgt:
Koppeln: II/I, I/P, II/P
Das Vorgängerinstrument der jetzigen Orgel wurde im Jahr 1841 aus Osterode am Harz nach Reinhausen versetzt. Als die Osteroder Schlosskirche St. Jacobi eine neue Orgel des Orgelbaumeisters Johann Andreas Engelhardt erhielt, wurde die alte Orgel der Reinhäuser Christophoruskirche unentgeltlich überlassen.
Glocken
Lange Zeit gab es in der Kirche nur eine große Glocke, die im Jahre 1890 in Hildesheim durch die Radlersche Glockengießerei aus Bronze gegossen wurde. 1948 wurden dann durch die Firma J. F. Weule aus Bockenem eine Stundenglocke mit einem Gewicht von 60 Kilogramm und eine Viertelstundenglocke mit einem Gewicht von 45 Kilogramm für die Kirche hergestellt. Diese kleineren Glocken sind Schlagglocken und hängen im Nordturm der Kirche.
Die älteste Glocke der Kirche wurde 1585 durch einen in einschlägigen Verzeichnissen nicht aufgeführten Glockengießer Rofmann gegossen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Turm der Christophoruskirche aufgehängt. Sie stammte ursprünglich aus Ostpreußen aus dem Kreis Mohrungen und war im Krieg zum Einschmelzen nach Hamburg gebracht worden. Diese Glocke hat eine Höhe von 60 Zentimetern, mit Krone ist sie 73,5 Zentimeter hoch, der Durchmesser beträgt 84,5 Zentimeter. Sie wiegt 360 Kilogramm und trägt an der Schulter die umlaufende Inschrift:
Nutzung
Die Grafen von Reinhausen besaßen auf dem heute als „Kirchberg“ bekannten Felsen über dem Dorf ihre Stammburg, die sie gegen Ende des 11. Jahrhunderts in ein Stift umwandelten. Die ehemalige Eigenkirche auf dieser Burg bekam dadurch die Funktion einer Stiftskirche.
Als das Chorherrenstift Anfang des 12. Jahrhunderts in ein Benediktinerkloster umgewandelt wurde, wurde die Kirche zur Klosterkirche. Die Weihe wird in die Zeit zwischen 1107 und 1115 datiert und erfolgte durch Bischof Reinhard von Halberstadt. Außer als Klosterkirche diente die Kirche auch der Bevölkerung des Ortes Reinhausen als Gotteshaus, die Pfarrrechte lagen beim Kloster.
Im Zuge der Einführung der Reformation 1542 durch Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Calenberg-Göttingen musste der Konvent unter Abt Johann Dutken zum lutherischen Bekenntnis konvertieren. Der Abt starb 1549. Von 1548 bis 1553 wurden Kloster und Kirche durch Elisabeths Sohn Erich II. im Rahmen des Augsburger Interims noch einmal rekatholisiert und mit Peter von Utrecht auch ein Abt eingesetzt. Nach Ende des Interims 1553 verweigerte er sich der neuen lutherischen Lehre, wurde verhaftet und aus Reinhausen vertrieben. Als letzter Mönch des alten Konvents verstarb Jakob Pheffer 1564 im Reinhäuser Kloster.
Im Zuge der Reformation wurde die Kirche von der Kirchengemeinde Reinhausen als Pfarrkirche genutzt, die Pfarrgemeinde wurde mit der Pfarrstelle in Diemarden vereinigt. Die Pfarrstelle von Reinhausen wurde dabei aufgelöst und die Gemeinde als Mutterkirche ohne eigene Pfarrstelle (mater coniuncta) vom Diemardener Pfarrer mit betreut. Während des Dreißigjährigen Krieges gab es noch einmal einen Versuch der Rekatholisierung, der jedoch nur von 1629 bis 1631 dauerte. In dieser Zeit wurde dem lutherischen Pfarrer die Kirche versperrt. Die Einwohner Reinhausens wurden verpflichtet, die katholischen Feiertage und Gottesdienste anzunehmen. Auch der Besuch des evangelischen Gottesdienstes im Nachbardorf Diemarden wurde unter Strafandrohung untersagt und der Weg dorthin streng kontrolliert.
Das Kirchengebäude befand sich seit der Reformation im Besitz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg. Für den im direkt angrenzenden ehemaligen Kreuzgang untergebrachten Sitz des Amtes Reinhausen wurde noch 1865 auch der erste und zweite Boden der Kirche genutzt. Dort wurden die Zinsfrüchte gelagert und von dort weiterverkauft. 1956 wurde die Kirche aufgrund der Regelungen des Loccumer Vertrages der Kirchengemeinde übergeben.
Die ehemalige Klosterkirche dient heute als Gemeindekirche der evangelisch-lutherischen Kirche und wird zusammen mit der Kirche in Diemarden von einem Pfarramt aus betreut, das sich seit 1962 in Reinhausen befindet. Beide Kirchengemeinden gehören zum Kirchenkreis Göttingen-Münden im Sprengel Hildesheim-Göttingen der Hannoverschen Landeskirche. Die Kirchengemeinde Reinhausen hat fast 900 Gemeindeglieder und unterhält neben der Kirche den südlich und östlich gelegenen Friedhof sowie den örtlichen Kindergarten. Daneben dient die Kirche der katholischen Gemeinde St. Michael in Göttingen als Außenstelle. Bis Januar 2010 wurde in der Klosterkirche zweimal im Monat katholische Messe gefeiert, seitdem nur noch an vier Feiertagen im Jahr.
Die Kirche dient zudem als Veranstaltungs- und Aufnahmeort für Kirchenmusik und (geistliche) Konzerte. Im Jahr 2015 gründete die Kirchengemeinde ein Konzertteam, das musikalische Veranstaltungen plant und organisiert. Die Kirche ist täglich von 10 bis 18 Uhr zur Besichtigung und zum Gebet geöffnet und als „Verlässlich geöffnete Kirche“ gekennzeichnet. Sie liegt an der Via Scandinavica, einem der Jakobswege in Deutschland.
Für das Jahr 2014 wurden spezielle Gottesdienste, Konzerte, Vorträge, Führungen und andere Veranstaltungen zur Feier der über tausendjährigen Geschichte der Kirche angesetzt und durchgeführt. Weil ein genaues Errichtungsdatum der Kirche nicht bekannt ist und die schriftlichen Zeugnisse erst später einsetzen, bezieht sich die als Millenniumsfeier bezeichnete 1000-Jahr-Feier der Kirche auf eine Zeit, in der anhand der vorhandenen baulichen Substanz die Existenz der Kirche als gesichert gelten kann.
Pastoren
Seit der Einführung der Reformation 1542 wurde die Kirchengemeinde mit kurzen Unterbrechungen von evangelisch-lutherischen Pastoren betreut. Viele der seitdem an der Christophoruskirche eingesetzten Pastoren sind namentlich bekannt.
Liste von Pastoren seit der Reformation
16. Jh.: Wilhelm Krummel
1555–1566: Johannes Gödeken
1567: Georg Hetling
1576–1627: Valentin Hunolt
1627–1633: Heinrich Kahle (auch: Kalen)
1633–1666: Henning Sipken
1667–1668: Christoph Fischer
1668–1671: Johann Hase
1672–1687: Johann Hilmar Zindel
1688–1722: Johann Wilhelm Fein
1723–1742: Johann Daniel Schramm
1742–1752: Clemens Caspar Schaar
1753–1760: Johann Nicolaus Fuchs
1761: Johann Heinrich Froböse
1763–1772: Heinrich Adolf Reichmann
1772–1777: Johann Christoph Conrad Weipken
1777–1783: Heinrich Christoph Dissen
1784–1794: Georg August Borchers
1794–1805: Johann Christian Dille
1805–1807: Hermann Rudolf Jungblut
1807–1824: Heinrich August Ost
1826–1852: Johann Christian Heinrich Braukmann
1852–1888: Wilhelm Hermann Münchmeyer
1889–1916: Heinrich Ferdinand Heller
1916–1926: Heinrich Friedrich Wilhelm Stumpenhausen
1926–1936: Hermann Heinrich Friedrich Aulbert
1937: P. Schüler (?)
1937–1946: Theodor Bruno Georg Wilhelm Hoppe
1947–1972: Günther Heinze
1973–1993: Henning Behrmann
1994–2004: Götz Brakel
2004–2006 Pfarrstelle vakant
2006–2013: Uwe Raupach
2014–2020: Christiane SchellerKirche im Dorf, Gemeindebrief der Ev.-luth. Kirchengemeinden Diemarden und Reinhausen, Juni–August 2020, 4. Abgerufen am 2. August 2021 (PDF)
ab Februar 2021: Julia Kettler
Literatur
Peter Aufgebauer: Von Burg, Kloster und Kirche Reinhausen – und von deutscher Geschichte. In: 1000 Jahre Kirche auf dem Kirchberg zu Reinhausen. Das Milleniumsbuch zu 1000 Jahre Kirche, Kultur und Leben. Hrsg. von Henning Behrmann u. a., Reinhausen 2015, S. 18–35.
Weblinks
St. Christophorus Reinhausen, Internetseite der Kirchengemeinde bei „Wir sind evangelisch“, abgerufen am 13. April 2016
St. Christophorus Reinhausen auf der Internetseite des Kirch-Bauvereins, abgerufen am 18. September 2013
Historische Fotos der Klosterkirche und ihrer Ausstattung auf der Internetseite www.unser-reinhausen.de von Christian und Karin Schade, abgerufen am 24. Januar 2019
Bildindex der Kunst und Architektur mit historischen Fotos der Klosterkirche und ihrer Ausstattung, abgerufen am 24. Januar 2019
Einzelnachweise
Kirchengebäude im Landkreis Göttingen
Baudenkmal in Gleichen
Christophoruskirche
Sakralbau in Gleichen
Kirchengebäude des Kirchenkreises Göttingen
Klosterkirche in Deutschland
Pfarrkirche in Deutschland
Romanische Kirche
Disposition einer Orgel
Bauwerk der Romanik in Niedersachsen
Gotische Wandmalerei
Reinhausen |
8814851 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20La%20Bastie%20d%E2%80%99Urf%C3%A9 | Schloss La Bastie d’Urfé | Das Schloss La Bastie d’Urfé (), auch Schloss La Bâtie d’Urfé geschrieben, ist eine französische Schlossanlage in der Gemeinde Saint-Étienne-le-Molard im Département Loire. Die Anlage im Stil der Renaissance gehört zu den Loire-Schlössern und erhielt ihr heutiges Aussehen im 16. Jahrhundert durch Umbauten unter Claude d’Urfé, dem Großvater des Autors Honoré d’Urfé. Ihre Wurzeln liegen jedoch in einem festen Haus aus dem 14. Jahrhundert. Nach Aussterben der Eigentümerfamilie ging das Anwesen von Hand zu Hand, es diente ab 1872 zum Teil sogar als Fabrik. Ende des 19. Jahrhunderts verkaufte der damalige Eigentümer große Teile der kostbaren Innenausstattung an einen Antiquitätenhändler, von dem die Stücke an diverse Sammler weiterverkauft wurden. 1909 erwarb die Gesellschaft für Geschichte und Archäologie des Forez La Diana die dreiflügelige Anlage samt Vorburg und bewahrte sie damit vor dem schon beschlossenen Abriss. Am 25. Oktober 1912 wurde das gesamte Anwesen als Monument historique klassifiziert und steht damit unter Denkmalschutz. Seit 2007 ist der Generalrat des Départements Loire für Unterhalt und Verwaltung zuständig. Er hatte seit 1990 umfangreiche Restaurierungen und Wiederherstellungsmaßnahmen unternommen. Das Schloss kann im Rahmen einer Führung besichtigt werden, der Schlossgarten ist kostenlos für jedermann zugänglich.
Geschichte
Anfänge
Schon im 11. Jahrhundert stand am Ort des heutigen Schlosses am Ufer des Lignon du Forez eine Scheune, die der Priorei von Champdieu gehörte. Diese tauschte das Gebäude mit Jean de Marcilly gegen anderen Besitz. Von Jean kam das Gebäude über seinen Bruder Pierre an dessen Tochter Marguerite. Durch ihre Heirat mit Arnoul d’Ulphé kam der Besitz 1270 an dessen Familie, durch die er seinen heutigen Namen erhielt: La Bastie d’Urfé. Ihren Stammsitz hatte die Familie auf der rund 23 Kilometer entfernten Burg Urfé bei Champoly. Als Arnoul Eigentümer von La Bastie wurde, handelte es sich lediglich um ein einfaches Landhaus mit Lehmmauern, das 1331 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Die Familie Urfé befestigte das Anwesen mit Wassergräben und einer Zugbrücke und baute es somit zu einem gotischen festen Haus aus. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts gab sie ihre alte Stammburg auf und zog gänzlich nach La Bastie d’Urfé, nachdem Guichard d’Ulphé 1408 vom Herzog Louis II. de Bourbon zum Baillie des Forez ernannt worden war. Das Amt wurde in der Folgezeit von einer Generation zur nächsten weitervererbt. Guichards Nachkomme Pierre II. (1430–1508) machte Karriere am französischen Hof und wurde in den Michaelsorden aufgenommen sowie 1484 zum Großstallmeister von Frankreich ernannt. Er war das erste Mitglied seiner Familie, das die Schreibweise seines Namens in d’Urphé änderte. Pierre II. ließ sich 1483 dauerhaft in La Bastie d’Urfé nieder und baute das schlichte seiner Vorfahren vollständig um. Die anschließend zweiflügelige Anlage war allseitig von einer zinnenbewehrten Ringmauer umgeben, und ein wuchtiger Vierecksturm an der Nordwestecke beschützte die daneben liegende Zugangsbrücke. Der Burgherr war in zweiter Ehe mit Antoinette de Beauvau, Tochter von Pierre II. de Beauvau, dem Seneschall von Lothringen, verheiratet. Sie kaufte diverse Besitzungen an und vergrößerte damit die bis dahin recht kleine Seigneurie.
Aus- und Umbau im Stil der Renaissance
Pierres einziger Sohn Claude folgte seinem Vater nach dessen Tod 1508, damals siebenjährig, als Seigneur von La Bastie d’Urfé nach. Claude wuchs am französischen Königshof auf und war ein enger Freund Franz’ I. 1535 zum Baillie des Forez ernannt, war er von 1546 bis 1550/51 zuerst Frankreichs Vertreter auf dem Konzil von Trient und anschließend französischer Botschafter beim Papst in Rom. Ab etwa 1535 ließ er die Anlage seines Vaters im Stil der französischen und italienischen Renaissance zu einem Schloss aus- und umbauen. Als leitender Maurermeister fungierte Antoine Jonyllon. Claude ließ dem westlichen Flügel eine zweigeschossige Galerie vorsetzen und im Erdgeschoss des Logis ab 1548 eine reich ausgestattete Schlosskapelle sowie eine Grotte einrichten. Durch den Bau eines Ostflügels ließ er das Schloss um 1555 zu einer hufeisenförmigen Dreiflügelanlage erweitern. Zu gleicher Zeit entstand auch ein bastionierter Turm an der Südwestecke des Schlosses. Außerdem ließ Claude d’Urfé westlich der Anlage einen ausgedehnten Renaissancegarten anlegen. 1550/51 war er nach Frankreich zurückbeordert worden, um das Amt des Hofmeisters des französischen Thronfolgers Franz zu übernehmen. Aus Italien brachte er nicht nur eine Vorliebe für die italienische Renaissance mit, sondern auch das Gedankengut des Humanismus, was sich im architektonischen Dekor und in der Einrichtung seines Schlosses niederschlug. So richtete er zum Beispiel eine 4600 Bücher umfassende Bibliothek ein, zu der auch 200 wertvolle Handschriften zählten.
Claudes ältester Sohn Jacques I. aus seiner Ehe mit Jeanne de Balzac trat 1558 das Erbe seines Vaters an. Er nahm jedoch keine Aus- und Umbauten mehr am Schloss vor, lediglich ein Gartentempel stammt von ihm. Am 23. Mai 1554 heiratete er in Compiègne Renée de Savoie, Enkelin René de Savoies, Halbbruder der Königsmutter Louise de Savoie. Einer der neun Söhne des Paars war der Autor Honoré d’Urfé, der das Schloss und den Forez mit seinem Schäferroman L’Astrée berühmt machte. Er wuchs in La Bastie d’Urfé auf und ließ sich um 1584 dort nieder, um den Schäferroman zu schreiben, jedoch war nicht er Eigentümer der Anlage, sondern sein älterer Bruder Anne. Dieser lebte – wie sein Vater Jacques auch – mehrheitlich in Paris und nutzte das Landschloss der Familie lediglich zu Kurzaufenthalten. Auch er nahm keine baulichen Veränderungen oder Modernisierungen an der Anlage vor, was auch an den zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten der Familie gelegen haben könnte.
Allmählicher Verfall
1578 wurde die Seigneurie zum Marquisat erhoben. Anne d’Urfé übertrug dieses 1596 gemeinsam mit dem Schloss an seinen Bruder Jacques II. und wurde Mönch in Lyon. Von Jacques II. kam der Besitz an seinen Sohn Charles-Emmanuel, der ab 1627 die Bailliage des Forez innehatte. Er heiratete 1633 Marguerite d’Alègre aus einem Geschlecht des auvergnatischen Hochadels. Das Paar ließ im Schlossinneren einige Umgestaltungen vornehmen, wovon ihre Wappen in einigen Räumen künden. Als Jacques II. am 11. November 1685 starb, hinterließ er zwar sechs Söhne, doch nur einer von ihnen, Joseph-Marie, heiratete. Bei seinem Tod am 13. Oktober 1724 hinterließ er keine Kinder, womit die Familie im Mannesstamm erlosch. Danach war das Schloss eine Weile unbewohnt. Über Joseph-Maries Schwester Françoise kam das Urfé-Erbe an deren Enkel Louis-Christophe de La Rochefoucauld, Marquis de Langeac, der den Namen seiner neuen Besitzungen annahm. Als er am 7. Januar 1734 verstarb, hinterließ er aus seiner Ehe mit Jeanne Camus de Pontcarré nur zwei Töchter. Die ältere von ihnen, Adélaïde-Marie-Thérèse, erbte das Schloss. Gegen den Willen ihrer Mutter heiratete sie am 7. Mai 1754 Alexis-Jean, Marquis du Chatelet-Fresnière. Das frisch vermählte Paar wählte La Bastie d’Urfé als Wohnsitz. Dort kam am 3. November 1759 der Sohn Achille zur Welt. Das Paar hatte allerdings große finanzielle Probleme. Es ging nach Paris, um seine Geldangelegenheiten zu ordnen. Dort wurden die beiden von ihren Gläubigern festgesetzt und zur Herausgabe allen Besitzes gezwungen, der sich zu Geld machen ließ. Auch ihr Schloss wurde gepfändet. Adélaïde und ihr Mann verbrachten die letzten Jahre ihres Lebens völlig verarmt in Paris. Ihr in La Bastie d’Urfé zurückgelassener Sohn wurde zur Erziehung in ein Kloster gegeben. Nach dem Tod seiner Eltern sorgte seine Großmutter Jeanne Camus de Pontcarré für seine weitere Ausbildung. Er kämpfte im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und wurde wegen allzu freien Gedankenguts nach seiner Rückkehr nach Frankreich inhaftiert. Dort beging er am 20. März 1794 im Gefängnis Selbstmord.
Die gepfändete Schlossanlage wurde 1764/1765 von François Louis Hector, Marquis de Simiane erworben. Er ließ die Wohnräume im ersten Obergeschoss renovieren, verkaufte das Anwesen aber 1778 für angeblich 500.000 Livres an Louis François Germain Puy de Mussieu. Auch dieser nahm den Namen seines neuen Eigentums an und nannte sich fortan de La Bâtie. Er wurde 1794 während der Französischen Revolution erschossen. Das Schloss wurde jedoch nicht – wie viele andere Adelssitze in jener Zeit – konfisziert, lediglich sein Inventar wurde im Mai 1794 öffentlich versteigert. Die Nachfolge als Eigentümer von La Bastie d’Urfé trat Louis’ Sohn Pierre an, der 1836 aus finanziellen Gründen dazu gezwungen war, das Schloss an die Witwe von Jean-Baptiste Nompère de Champagny, dem Herzog von Cadore und Minister Napoleon Bonapartes, zu veräußern. Ihre Familie hatte vor, das Schloss zu restaurieren, doch dazu kam es nie. Anstatt dessen begnügte man sich mit den nötigsten Reparaturen und der Wiederherstellung der Kapellenfenster. Die Erben des 1870 verstorbenen Louis Alix de Nompère de Champagny wollten das Anwesen nicht behalten und verkauften es 1872 an den Anwalt und Bankier Verdolin aus Montbrison. Er zerstückelte den zum Anwesen gehörenden Landbesitz und verkaufte die einzelnen Teile weiter. Die Schlossgebäude waren derweil völlig heruntergekommen. Verdolin ließ die bastionierten Ecktürme an der Südseite des Logis bis auf das erste Obergeschoss abreißen und richtete in einem Teil der Vorburggebäude eine Stärkefabrik ein. Doch die Geschäfte gingen schlecht, und so begann er ab Februar 1874 die kunsthistorisch wertvolle Ausstattung des Schlosses zu verkaufen, darunter die komplette Inneneinrichtung der Schlosskapelle, diverse mit Schnitzereien verzierte Türen, eine marmorne Sphinx-Statue sowie die Täfelung der unteren Galerie im Westflügel des Schlosses. Die Einnahmen aus diesen Verkäufen konnten ihn aber nicht vor dem Ruin retten. 1884 war er konkurs, und La Bastie d’Urfé wurde versteigert. Käufer war Jean-Baptiste Courtin de Neufbourg, Eigentümer des Schlosses Beauvoir. Er schmiedete erneut Pläne zur Restaurierung der Anlage, doch auch diese kamen nicht zur Ausführung. Sein Sohn Louis versuchte, die ruinösen Gebäude ab 1907 zu veräußern, doch konnte er keinen Käufer dafür finden. Ende des Jahres 1908 hatte der Schlossherr deshalb bereits ein Unternehmen damit beauftragt, die Gebäude abzureißen.
Rettung, Restaurierung und heutige Nutzung
Der Gesellschaft für Geschichte und Archäologie des Forez La Diana gelang es, durch Spenden genügend Geld zu sammeln, um das Schloss 1909 anzukaufen und es damit vor dem Abriss zu bewahren. In den 1920er Jahren begann sie mit Hilfe des französischen Staats und des Generalrats des Départements Loire, die Anlage zu restaurieren. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielten die noch erhaltenen Gebäude neue Dächer, und es erfolgte die teilweise Wiederherstellung des vollkommen verwilderten Gartens. Außerdem kaufte die Gesellschaft Möbel im Stil der Renaissance an und erreichte die Rückkehr diverser in den 1870er Jahren verkauften Einrichtungsgegenstände ins Schloss. Ein zwischen der Organisation und dem Generalrat 1989 geschlossener Vertrag machte den Weg für eine umfassende Restaurierung und Wiederherstellung des Anwesens frei. Die Arbeiten dazu begannen 1990. Archäologische Ausgrabungen im Jahr 1993 brachten die Struktur der einstigen Renaissancegärten zum Vorschein. Anhand dieser Befunde und Dokumenten aus ihrer Entstehungszeit wurde der Parterregarten 2004 rekonstruiert und sein Wegesystem wiederhergestellt. 2008 folgte die Restaurierung der Grotte im Logis. Zwischen 2001 und 2007 investierte der Generalrat 1.140.000 Euro in die Schlossanlage. Im Januar 2007 änderten er und La Diana ihre Vereinbarung dahingehend, dass der Generalrat seither allein für Pflege, Unterhalt und Verwaltung von La Bastie d’Urfé verantwortlich ist. Im Gegenzug wird das Schloss am 1. Januar 2039 für den Preis von einem symbolischen Euro Eigentum des Départements Loire. Lediglich die Inneneinrichtung bleibt Eigentum der Gesellschaft für Geschichte und Archäologie des Forez.
Im Sommer findet alljährlich im Schlosshof ein Kultur- und Theaterfestival statt. Von 2001 bis 2010 trug es den Namen (). Nach Änderung des Konzepts und Ausweitung des Festivals auf das gesamte Département heißt es nun . Dabei finden auf dem Schlossareal und in den Gemeinden des Départements Loire einen Monat lang Vorführungen von Musikern, Tänzern, Schauspielern und Akrobaten sowie Veranstaltungen zu Kulturdenkmälern statt.
Verbleib der kostbaren Ausstattung
Ein Großteil der von Verdolin verkauften Ausstattungsstücke ging an den Lyoneser Antiquitätenhändler Derriaz, der sie an die beiden Pariser Sammler Émile Peyre und Alfred Beurdeley weiterveräußerte. Weitere Kunden Verdolins waren der Graf Jean-Baptiste Courtin de Neufbourg sowie einige Museen.
Émile Peyre erwarb im Dezember 1874 fast die komplette Ausstattung der Schlosskapelle. Dazu zählten nicht nur elf Gemälde von Girolamo Siciolante, der mit marmornen Flachreliefs verzierte Altar (für 12.000 Francs) und das Podest des Weihwasserbeckens, sondern auch ein Großteil der emaillierten Bodenfliesen sowie eine 37 Teile umfassende Täfelung aus Walnussholz mit Marketerien aus verschiedenen anderen Holzarten. Sie wurde um 1547/1548 von dem italienischen Künstler und Mönch Fra Damiano da Bergamo (Damiano di Antoniolo de Zambelli) und seinen Mitarbeitern im Kloster San Domenico in Bologna gefertigt. Ein Paneel aus dem Oratorium der Kapelle mit einer Darstellung der Entsendung des Heiligen Geistes stammt von dem Veroneser Francesco Orlandini. Bei dem Ensemble handelt sich um eine der umfangreichsten und vollendetsten Garnituren von Wandpaneelen mit Marketerien aus dem renaissancezeitlichen Frankreich. Die Paneele zeigen abwechselnd religiöse Szenen, Landschaften und Architektur sowie geometrische Figuren. Die Entwürfe dazu stammen von Jacopo Barozzi da Vignola. Peyre zahlte 29.000 Francs für die Vertäfelung und ließ sie 1882 in seinem Pariser Haus in einem speziellen Sammlungsraum anbringen, in dem er auch die übrigen Stücke aus dem Schloss versammelte. In den 1880er Jahren dachte er daran, das Ensemble an La Diana zu verkaufen, damit es wieder in der Schlosskapelle installiert werden könnte, doch dieser Plan wurde nicht realisiert. 1898 verkaufte der Sammler das 1,50 mal 1,03 Meter große Altarretabel und die Täfelung für 85.000 Francs an den amerikanischen Architekten Stanford White, der sie 1898 im New Yorker Stadthaus des Politikers William Collins Whitney installieren ließ. Die Erben von dessen Schwiegertochter Gertrude, geborene Vanderbilt, schenkten die Täfelung 1942 dem Metropolitan Museum of Art in New York. Die übrigen Stücke aus La Bastie d’Urfé – mit Ausnahme der Bodenkacheln – vermachte Émile Peyre der Organisation Union centrale des arts décoratifs, die sie im Musée des Arts décoratifs in Paris zeigte. Auf Bitte von La Diana kamen sie 1949 wieder zurück an ihren Ursprungsort. Dazu gehörte auch die von Peyre restaurierte Sphinx-Statue, die wieder auf ihrem angestammten Ort aufgestellt wurde, und der Altar der Kapelle. Dieser ist das Werk eines unbekannten Künstlers und zeigt an der Stirnseite ein 0,81 mal 1,15 Meter großes Flachrelief aus weißem Marmor mit der Darstellung von Noahs Opfer nach der Sintflut. Die beiden Seiten des Altars aus rotem Marmor sind ebenfalls mit Reliefs besetzt. Sie zeigen David, wie er den Kopf Goliats abschneidet, und die Teilung des Roten Meers. Beide weisen eine Größe von jeweils 0,81 mal 0,79 Meter auf.
Der Pariser Sammler und Händler Alfred Beurdeley sicherte sich aus dem Derriaz-Angebot das mit Emailfliesen belegte Altarpodest, die reich verzierte Kapellentür sowie die hölzerne Tür zur Grotte und die 1557 angefertigten Buntglasfenster der Schlosskapelle. Letztere veräußerte er an Adolph Carl von Rothschild, der sie gemeinsam mit ähnlichen Fenstern aus dem Schloss Écouen in seinem Pariser Hôtel particulier installieren ließ. Sie zeigen singende und Musikinstrumente spielende Engel, dazu Kartuschen mit den Initialen Claude d’Urfés und seiner Frau Jeanne de Balzac, einige Verse sowie die Inschrift VNI. 1949 waren die 1,03 Meter breiten und über 2,40 Meter hohen Verglasungen im Schloss Ferrières eingebaut. 1974 gehörten sie dem Pariser Sammler Jean de Vaivre. Danach verliert sich ihre Spur. Möglicherweise befinden sie sich heute im Schloss de La Vaivre im Burgund. Adolph Carls Cousin Gustave kaufte Beurdeley die Tür zu Grotte sowie die beiden Flügel der Kapellentür ab. Den hölzernen Sturzaufsatz behielt Beurdeley für sich. Er konnte 1990 durch den Generalrat des Départements Loire angekauft und ins Schloss zurückgebracht werden. Die Türblätter kamen 2001 in den Besitz des französischen Staats, der sie ebenfalls nach La Bastie d’Urfé transferierte. Das Podest des Kapellenaltars schenkte Beurdeley 1880 dem Louvremuseum.
Der etwa aus 2800 Emailfliesen bestehende Kachelboden der Schlosskapelle stammte aus der Werkstatt von Masséot Abaquesne in Rouen. Von ihm waren auch die Fliesen, die Anne de Montmorency für sein Schloss Écouen in Auftrag gegeben hatte. Der Fußboden wiederholte das komplizierte Muster der Gewölbedecke sowie die Initialen der damaligen Schlosseigentümer. Nach seiner Entfernung aus der Kapelle wurde er von Derriaz portionsweise verkauft und damit in alle Winde verstreut. Heute finden sich Teile davon im im Pariser , im im Schloss Écouen, im Keramikmuseum von Rouen sowie in weiteren Museen in Grenoble und Lyon. Andere Ausstattungsstücke aus der Kapelle, die Glocke sowie ein ovales Weihwasserbecken aus rotem Porphyr, erwarb Jean-Baptiste Courtin de Neufbourg für sein Schloss Beauvoir im benachbarten Arthun.
Der Bestand der großen von Claude d’Urfé eingerichteten Bibliothek wurde bereits nach dem Tod der letzten Marquise von Urfé nach Paris gebracht und dort Stück für Stück verkauft. Bis heute konnten erst 200 der ehemals rund 4600 Bücher in Europa ausfindig gemacht werden.
Beschreibung
Lage
Das Schloss steht im Département Loire der Region Auvergne-Rhône-Alpes im Südwesten von Frankreich. Am südwestlichen Ortsrand von Saint-Étienne-le-Molard gelegen, befindet es sich damit zugleich im Tal des Lignons, eines Nebenflusses der Loire, weniger als 600 Meter nördlich seines Ufers. Der Hauptort des Départements, Saint-Étienne, liegt rund 38 Kilometer südlich, die zweitgrößte Stadt, Roanne, ist mit etwa 34 Kilometer Entfernung in nördlicher Richtung ungefähr gleich weit entfernt. Obwohl die Anlage mehr als 10 Kilometer Luftlinie vom Oberlauf der Loire entfernt ist, zählt sie trotzdem zu den zahlreichen Schlössern der Loire.
Architektur
Die Schlossanlage besteht aus einem dreiflügeligen Hauptschloss in Hufeisenform und einer nördlich vorgelagerten Vorburg mit zwei Wirtschaftsgebäuden. In der Bausubstanz mischen sich die Merkmale von französischer und italienischer Renaissance. Westlich der Gebäude befindet sich ein rekonstruierter Renaissancegarten. Südlich des Schlosses liegt eine Grünfläche, die einst ebenfalls zum Garten gehörte. Früher war das Hauptschloss allseitig von einem Wassergraben umgeben, der durch einen Kanal vom Lignon gespeist wurde. Heute ist davon nur noch ein Teil an der Nordseite erhalten, die übrigen Grabenabschnitte wurden verfüllt. Zusätzlich umgaben weitere Kanäle das gesamte Anwesen und stellten so unter anderem die Wasserversorgung für die Gartenanlagen sicher.
Der Zugang zum Schloss erfolgt von Norden über den Vorburgbereich, dessen Gebäude im Norden und an der Ostseite stehen. Von dort führt eine steinerne Brücke zum Hauptgebäude. Sie befindet sich genau an der Stelle, wo bis 1620 eine Zugbrücke existierte. Sie führte zu einem befestigten Torbau, der gemeinsam mit einem Rundturm an der Nordostecke und der nördlichen Ringmauer niedergelegt wurde. Der mittelalterliche Vierecksturm, der einst den Zugang über die Brücke bewachte, wurde zum Teil abgetragen und sein übrig gebliebener Stumpf in den Westflügel des Hauptschlosses integriert. Der dazugehörige Treppenturm mit einer Wendeltreppe im Inneren ist noch an der Stirnseite des Flügels erhalten.
Die drei Gebäudetrakte des Schlosses umschließen einen Ehrenhof, der an der Nordseite vom Rest des einstigen Wassergrabens begrenzt ist. Der eingeschossige Ostflügel, genannt, besitzt ein flaches, mit roten Dachpfannen gedecktes Satteldach und ist sehr schlicht gehalten. Er diente anfänglich zur Unterbringung von Soldaten und später als Lager. Seine 45 Meter breite Fassade besitzt sechs rundbogige Eingänge, die von Pilastern flankiert und von einem Dreiecksgiebel bekrönt sind. Darüber findet sich jeweils ein Ochsenauge. Der gegenüberliegende, höhere Westflügel ist von italienischen Vorbildern inspiriert. Ihm ist an der Hofseite eine zweigeschossige, 48,7 Meter lange und 3,3 Meter tiefe Galerie vorgesetzt. Im Erdgeschoss besteht sie aus elf 2,3 Meter breiten Arkadenbögen, die auf kannelierten, korinthischen Pfeilern ruhen. Diese sind 1,5 Meter hoch und besitzen eine Seitenlänge von 40 Zentimetern. Die Schlusssteine der Bögen zeigen Agraffen, Akathusornamente oder das Urfé-Wappen. Die Galerie des Obergeschosses besitzt Loggia-Charakter und ist bei einer Tiefe von 3,55 Metern 41,1 Meter lang. Ihre kannelierten, 2,3 Meter hohen Säulen sind mit korinthischen Kapitellen ausgestattet. Die Galerie ist über eine 17,6 Meter lange Rampe mit Baluster-Brüstung erreichbar, an deren ebenerdigem Beginn als Symbol der Wissenschaft eine Sphinx-Statue steht. Sie trägt auf ihrer Brust die lateinische Inschrift , für die es zahlreiche mögliche Übersetzungen gibt. Denkbar wären zum Beispiel „Das Geheimnis ist dem Eingeweihten vorbehalten“, „Behalte dein Geheimnis für dich“ oder „Bewahre dein Geheimnis in deinem Herzen“. Die Statue ruht auf einem 1,52 mal 0,6 Meter messenden, 1,3 Meter hohen Steinsockel, der hieroglyphenartige Zeichen zeigt. Diese sind eine mit Fehlern behaftete Kopie aus dem Werk Cosmographie de Levant des Mönchs André Thevet. Die Rampe endet auf einem der Galerie vorgebauten Absatz, der von einem Pyramidendach bedeckt ist und eine hölzerne Kassettendecke mit skulptierten Balken besitzt. Auf der Dachspitze stand früher einmal eine Statue aus Bronze, die aber 1793 während der Französischen Revolution – wie viele andere Dinge aus diesem Material und allerorten – abgebaut und eingeschmolzen wurde, um Material für den Bau von Kanonen zu gewinnen.
Die weiß verputzte Fassade des mittleren Schlosstraktes gehört zum dreigeschossigen Logis mit Schieferdach und ist mit 26 Metern Breite schmaler als die der beiden Seitenflügel. Sie zeigt im Erdgeschoss neben fünf arkadenartig aneinandergereihten Rundbogenfenstern, die zur Grotte gehören, ein 2,98 Meter hohes Kapellenfenster. Außerdem finden sich dort das rundbogige Portal zur Kapelle aus der Zeit um 1540 und ein Nebeneingang, dessen Aussehen dem der Ostflügeltüren gleicht. Dieses ist an beiden Seiten von zwei korinthischen Säulen flankiert, die einen Dreiecksgiebel mit Inschriften in Hebräisch, Griechisch und Latein tragen. Der Schlussstein des Rundbogens zeigt das Wappen Claude d’Urfés umgeben von der Kette des Michaelsordens. Das mittlere der Grottenfenster war früher einmal eine Türe. Es ist von kannelierten Pfeilern flankiert, welche die Büsten zweier römischer Caesaren tragen. In allen Fensteröffnungen sitzt schmiedeeisernes Flechtwerk in Form von Weinranken, deren Blätter vergoldet sind. Ein unverputztes Gesims trennt optisch die erste von der zweiten Etage dieses Trakts. Letztere wird an der zum Hof gewandten Nordseite von sechs Kreuzstockfenstern durchbrochen. An der Südseite des Logis stehen die Reste zweier Ecktürme aus dem 16. Jahrhundert. Durch ihre viereckigen, aber unregelmäßigen Grundrisse hatten sie einen bastionsartigen Charakter. Der östliche von ihnen trug die Jahreszahl 1555, ehe er bis auf das Erdgeschoss niedergelegt wurde, der westliche von ihnen stammt vom Ende des 16. Jahrhunderts.
Inneneinrichtung
Das gesamte Schloss umfasste früher rund 20 Wohnräume. Sechs davon befanden sich im Ostflügel. Sie sind allesamt mit einem eigenen Kamin ausgestattet und besitzen keine Verbindung untereinander, sondern jeweils einen separaten Eingang vom Hof. Als einziger Trakt des Schlosses ist dieser Flügel unterkellert. Sein Tonnengewölbe ruht auf zwölf Halbsäulen an den Längsseiten und einer mittig gelegenen Reihe von sechs Säulen. Der Keller stammt vielleicht aus einer Zeit vor den großen Umbaumaßnahmen unter Claude d’Urfé.
Das Erdgeschoss des Westflügels wurde noch unter Claudes Vater Pierre II. errichtet. Dort lagen die Küche und Wirtschaftsräume. Im Obergeschoss darüber befanden sich von jeher Empfangs- und Wohnräume, ebenso wie im ersten Stock des Logis. Diese betritt der Besucher von der oberen Galerie des Westflügels und gelangt in ein Vestibül, dessen Besonderheit eine tiefe Fensternische mit einem aufwändig gearbeiteten Kreuzrippengewölbe ist. Westlich davon liegt der Raum, der früher die große Bibliothek Claude d’Urfés beherbergte und heute Zimmer Claude d’Urfés () genannt wird. Dort soll Claudes Enkel Honoré d’Urfé seinen berühmten Roman verfasst haben. Das Zimmer besitzt eine üppig dekorierte Balkendecke, deren Bemalung aus Ranken, Medaillons, Amouretten, Palmzweigen und Sirenen von einer Überarbeitung des Raums unter Charles-Emmanuel d’Urfé im 17. Jahrhundert stammt. Davon zeugen sein gemaltes Wappen, das von einer Marquis-Krone begleitet wird, und das Wappen von seiner Frau Marguerite d’Alègre. Das Mobiliar des Raums im Stil des Louis-treize stammt aus dem 17. Jahrhundert. Zwei Tapisserien an den Wänden zeigen Szenen aus L’Astrée. Zwei weitere Wandteppiche dieser Art hängen im sich nördlich anschließenden Großen Salon (). Sie stammen aus Aubusson und wurden nach Vorlagen von Jean-Baptiste Pillement gefertigt. An einer der beiden Stirnseiten hängt ein gemaltes Standporträt Honoré d’Urfés. Es handelt sich dabei um die Kopie eines von Anthonis van Dyck begonnenen Gemäldes.
Die beiden bekanntesten Räume des Schlosses sind seine Kapelle und die daneben liegende Grotte. Beide befinden sich im Erdgeschoss des Logis und nehmen jeweils etwa die Hälfte davon ein. Die 10,6 Meter lange und 3,52 Meter hohe Grotte diente als Vorraum zur Schlosskapelle und war eine der ersten ihrer Art in ganz Frankreich. Zudem ist sie die einzige heute noch in Frankreich erhaltene Grotte aus dem 16. Jahrhundert. Fußboden, Decke und Wände des Raums besitzen ein Dekor aus mythologischen Darstellungen, geometrischen Mustern, Arabesken und Rankenornamenten, die mit farbigem Sand und bunten Kieselsteinen sowie Muscheln gestaltet wurden. Durch korbbogige Arkaden ist die Grotte der Länge nach in zwei Partien geteilt. Die Bögen werden von Pfeilern mit Karyatiden und Atlanten getragen. In einem Bogen hängen Stalaktiten herab. Durch ein unsichtbar integriertes Wasserversorgungssystem ist es möglich, Wasser von den Stalaktiten tropfen zu lassen. Früher standen in den Nischen der Grotte wohl Büsten, doch diese sind im Laufe der Geschichte abhandengekommen. Komplettiert wurde das Skulpturenprogramm einst durch allegorische Statuen der vier Jahreszeiten, heute befindet sich dort nur noch die Marmorstatue des Bacchus, die zuvor im Gartentempel aufgestellt war. Rechts und links von der Tür zur Kapelle in der Westwand finden sich zwischen toskanischen Pilastern zwei Flachreliefs, die menschliche Figuren nach antiken Vorbildern zeigen. Auf der gegenüberliegenden Ostwand, gibt es ein Relief mit der Darstellung Neptuns mit einem Dreizack.
Die Tür in der Westwand führt in die benachbarte Schlosskapelle. Sie zeigt Zeichen der Dreifaltigkeit: drei Stufen, Blumen mit drei Blütenblättern und das Dreieck. Die Kapelle misst 8,13 mal 4,89 Meter und ist 6,90 Meter hoch. Damit nimmt sie in der Höhe auch das erste Obergeschoss des Gebäudes ein. In der Mauerstärke der Südwand liegen ein kleines Oratorium und eine Sakristei. Der untere Bereich der Wände ist frei gelassen, dort war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kostbare Vertäfelung aus Italien angebracht. Darüber erheben sich kannelierte Pilaster mit korinthischen Kapitellen, die einen dekorativen Gesims tragen. Zwischen den Pilastern hängen Gemälde aus der Werkstatt Gerolamo Siciolantes. Über ihnen, aber noch unter dem Gesims, finden sich hebräische Inschriften in goldenen Buchstaben auf blauem Grund. Über den beiden hohen Kapellenfenstern ist das von den Initialen CIƆ gerahmte Wappen Claude d’Urfés angebracht. Die Initialen findet man auch in der äußerst aufwändig gestalteten Kassettendecke des Kapellengewölbes wieder. Sie besteht aus achteckigen, weiß-goldenen Kassetten, die neben den Initialen Claudes und seiner Frau Jeanne Symbole der Dreifaltigkeit zeigen. Die Schlusssteine des Gewölbes besitzen plane, viereckige Flächen, die goldene Inschriften auf blauem Grund zeigen: „DOMS“ und „MENS SANA IN CORPORE SANO“.
Schlossgarten
Zum Schloss gehört ein 3,2 Hektar großes Gartenareal, das kostenlos für jedermann zugänglich ist. Es liegt westlich und südlich des Hauptschlosses und ist zwischen 1546 und 1558 angelegt worden. Sein Kernstück ist ein aus 16 geometrischen Beeten bestehender Parterregarten mit Buchsbaumeinfassungen und in Form geschnittenen Eiben. Er verkörpert die typischen Merkmale von Renaissancegärten: Symmetrie, Gleichmäßigkeit und Perspektive. In seiner Mitte steht ein runder Gartentempel mit einem Durchmesser von 5,7 Metern und einer Höhe von 4,85 Metern (ohne Dach). In ihm steht ein Springbrunnen aus weißem Marmor. Er wurde aus Einzelstücken wieder zusammengesetzt, die im Schlosskeller gefundenen worden waren. Das flache Kegeldach des Tempels wird von gemauerten Rundbögen getragen, in deren Zwickel Masken aus Terrakotta hingen. Nur noch drei sind davon heute am Tempel vorhanden, eine vierte befindet sich im Keramikmuseum von Lyon. Von den vielen Gartenskulpturen, die einst den Renaissancegarten schmückten, steht heute nur noch eine Perseusstatue aus dem 16. Jahrhundert an ihrem Platz. Südlich des Parterregartens schließt sich eine Rasenfläche mit sternförmigem Wegenetz an. Früher lag an dieser Stelle ein Labyrinth aus Haselnussbäumen mit einem Wasserbassin in der Mitte. Rasenfläche und Parterregarten sind an der Westseite von einer in den Jahren 2009 bis 2011 restaurierten Umfassungsmauer mit Zinnenkranz umgeben. Entlang dieser Mauer verlaufen eine Pergola und ein schmaler Wasserkanal. Südlich des Hauptschlosses liegt heute eine große, nicht strukturierte Rasenfläche, die früher einmal von einem Gemüse- und einem Obstgarten eingenommen wurde.
Literatur
Anne Allimant: Pour une archéologie des jardins. L’exemple de la Bâtie d’Urfé. In: Revue de l’art. Nr. 129, 2000, , S. 61–69.
Gaston d’Angelis (Hrsg.): Merveilles des châteaux d’Auvergne et du Limousin. Hachette, Paris 1971, S. 206–211.
Bernard Ceysson: Le château de la Bastie d’Urfé: la grotte et la chapelle. In: Centre d’Études Foréziennes (Hrsg.). Études foréziennes. Band 1: Mélanges. 1968, S. 89–101 (Digitalisat).
André Chastel: Culture et demeures en France au XVIe siècle. Julliard, Paris 1989, ISBN 2-260-00672-8, S. 119–150.
Theodore Andrea Cook: Château de La Bastie d’Urfé. In: Country Life. Band 40. London 1916, S. 574–580.
Jean-François Grange-Chavanis: Les travaux de restauration de la grotte du château de La Bâtie d’Urfé à Saint-Étienne-le-Molard (Loire). In: Bruno Bentz, Sabine Frommel (Hrsg.): Artefact. Band 12: Les Grottes artificielles en Europe à la Renaissance. Presses universitaires du Midi, Toulouse 2020, ISBN 978-2-8107-0691-4, S. 39–51, doi:10.4000/artefact.5282.
Christophe Mathevot: Château de la Bastie d’Urfé. Société historique et archéologique du Forez La Diana, Montbrison 1999, ISBN 2-911623-01-0.
Cathrin Rummel: Frankreichs schönste Schlösser und Burgen. Travel House Media, München 2012, ISBN 978-3-8342-8944-5, S. 363–365.
Georges de Soultrait: Le château de la Bastie d’Urfé et ses seigneurs. Selbstverlag, Saint-Etienne 1886.
Paul Vitry: Château de la Bâtie d’Urfé. In: Congrès archéologique de France. 98e session. Lyon et Mâcon. 1935. Société française d’archéologie, Paris 1936, S. 218–229 (Digitalisat).
Weblinks
Online-Dossier zum Schloss im Denkmalinventar der Region Rhône-Alpes
Informationen zum Schloss auf der Website der Gesellschaft für Geschichte und Archäologie des Forez La Diana
Ausführliche private Website über das Schloss und seine Besitzer
360°-Panoramen
Video des Schlosses (französisch)
Einzelnachweise
La Bastie Durfe
Monument historique im Département Loire
Erbaut im 14. Jahrhundert
La Bastie dUrfe
Schloss
La Bastie dUrfe
Monument historique seit 1912
Bauwerk im Département Loire
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8970152 | https://de.wikipedia.org/wiki/Burg%20Ligist | Burg Ligist | Die Burgruine Ligist, auch Alt-Ligist und Lubgast genannt, ist die Ruine einer Höhenburg auf einem Ausläufer des Wartensteins im Nordosten der Marktgemeinde Ligist in der Steiermark in Österreich. Die Geschichte der Burg reicht bis zum Ende des 12. Jahrhunderts zurück, als sie vermutlich von Eppensteiner Dienstmannen zum Schutz der Handelsstraße nach Kärnten errichtet wurde. Unter ihrem Schutz gedieh auch der Ort Ligist, der 1464 durch Kaiser Friedrich III. die Marktrechte verliehen bekam. Ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts saßen die Lubgaster auf der Burg, ehe diese mit Beginn des 14. Jahrhunderts an die mit ihnen verwandten Herren von Saurau überging. Unter den Saurau wurde während der Renaissance die Burg umgebaut, ehe im 17. und 18. Jahrhundert die Verschuldung der Herrschaft zunahm. Ab 1783 wohnten die Saurau auf dem zum Schloss Ligist ausgebauten ehemaligen Meierhof der Burg. Die Burg selbst galt bereits als baufällig und wurde durch einquartierte Truppen Napoleon Bonapartes weiter zerstört. Nach dem Einsturz von Gebäudeteilen wurde die Burg ab 1820 dem Verfall preisgegeben. Nach dem Aussterben der Saurau kam sie an die Grafen von Goess, ehe sie 1928 in den Besitz des Souveränen Malteserordens gelangte, dem sie heute noch gehört. Zwischen 1975 und 2011 wurde das Bauwerk vom eigens dafür gegründeten Burgverein Ligist instand gehalten.
Die Burg wurde in drei bis vier Bauphasen errichtet, wobei die ältesten Teile aus dem späten 12. und frühen 13. Jahrhundert, die jüngsten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert stammen. Der 18,7 Meter hohe Bergfried, der älteste Teil der Burg, wurde in der Renaissancezeit umgestaltet, dabei wurden mehrere Gewölbedecken neu eingezogen. An den Bergfried wurde im 16. Jahrhundert ein Palas angebaut. In der Vorburg befanden sich Wohn- und Werkstattgebäude der Untergebenen.
Standort
Die Burg befindet sich im Nordosten des Ortes Ligist auf einer auf drei Seiten steil abfallenden und mit Gras bewachsenen Rückfallkuppe. Diese ist ein südöstlicher Ausläufer des Wartensteins und des Ligistberges und erhebt sich über das Ligisttal. Das Burgplateau liegt gut 40 Meter über dem Ligister Ortszentrum. Im Norden wird das Burgplateau vom Tuschbach und im Süden vom Marktbachl begrenzt. Die Hänge dieses Bergrückens wurden teilweise künstlich geböscht, der Burgzugang erfolgte von Nordwesten und war durch einen Graben gesichert. Durch das Tal verlief die alte Handelsstraße vom Kainachtal über die Hebalm nach Kärnten, auf der vor allem Wein transportiert wurde.
Geschichte
Kaiser Otto III. schenkte dem Markgrafen Adalbero von Eppenstein im Jahr 1000 Landbesitz im Gebiet der heutigen Gemeinde Ligist. Dieses Gebiet kam teilweise an die Aribonen, die den Ligisterwald 1175 dem Stift Rein schenkten, und schließlich über eine Erbschaft in den Besitz der mit den Eppensteinern verwandten Herren von Wildon. Die Burg wurde vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts errichtet, um die umliegende Gegend sowie die vom Kainachtal über den Aiblwirt auf die Hebalm und dann weiter nach Kärnten verlaufende Handelsstraße mit dem Weintransport zu schützen. Bauherren könnten Dienstmannen der Eppensteiner gewesen sein, die von der Dietenburg am gegenüberliegenden Dietenberg dorthin übersiedelten.
Der erste urkundliche Nachweis eines Burgherren stammt aus dem Jahr 1222 und nennt einen Ulrich de Lubgast, der auf der „Veste Lubgast“ seinen Ansitz hatte. Die Lubgaster waren ein Ministerialengeschlecht und Gefolgsleute der Herren von Wildon. Im 13. Jahrhundert wurde der Wehrbau ausgebaut und erweitert. Der 1261 genannte Ulrich von Ligist und sein gleichnamiger Sohn oder Enkel verkauften in den Jahren 1292 und 1353 Besitzungen um Ligist an das Stift Rein. Um 1300 erwarben die mit den Lubgastern verwandten Herren von Saurau Besitzrechte an der Burg sowie der Herrschaft und um 1355 erhielt Starchant von Saurau die „vest ze Lubgast“ als freies Eigen. Das erst kurz vor 1478 erloschene Geschlecht der Lubgaster verlegte ab etwa 1320 seinen Wohnsitz auf die Hohenburg. Die Bezeichnung „vest“ deutet auf einen vollständigen Burgausbau mit Wohnturm zu jener Zeit hin. Zwischen 1370 und 1387 ist ein Albel der Gugel belegt, der vermutlich als Burgpfleger den Freiherren von Saurau diente.
Im Jahr 1542 hatte die Herrschaft Ligist mehr als 200 Bauern als Untertanen. Unter Franz von Saurau bekannten sich ab etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts die Bewohner von Ligist sowie die dazugehörige Herrschaft zum Protestantismus; die Burgkapelle wurde als protestantisches Bethaus umfunktioniert. Der Burgherr bat den damaligen Abt des Stiftes St. Lambrecht solange mit der Neubesetzung der offenen Pfarrstelle in Ligist zu warten, bis der Sohn des zuvor verstorbenen protestantischen Pfarrers Christof Hayden sein Studium abgeschlossen hatte. Der Sohn erhielt die Pfarrstelle im Jahr 1555 und nach 1564 schickte das Stift St. Lambrecht einen neuen katholischen Pfarrer nach Ligist, der jedoch von Franz von Saurau abgelehnt wurde. Mit Christof Stober kam kurz darauf wieder ein neuer katholischer Pfarrer nach Ligist, der aber in der Bevölkerung unbeliebt war; daraufhin setzte Franz von Saurau eigenmächtig einen protestantischen Pfarrer ein. Ab 1594 erhielt Franz von Sarau mehrere landesfürstliche Befehle, den protestantischen Pfarrer abzusetzen, die er ignorierte. 1599 griff auch der Abt von St. Lambrecht ohne Erfolg ein. Im Spätherbst 1599 zwang eine Reformkommission in Begleitung von kaiserlichen Truppen Franz von Saurau schließlich, den Pfarrer abzusetzen. Die Soldaten richteten bei ihrem Eingreifen zum Teil große Schäden an der Burg an und die Bewohner kehrten zur katholischen Kirche zurück. Die alte Burgkapelle wurde als Bethaus aufgelassen und man begann die Einrichtung einer neuen, der heiligen Maria geweihten Burgkapelle im darüberliegenden Stockwerk. Ein Inventar aus dem Jahr 1620 listet insgesamt 22 Zimmer, Vorräume und Kammern in der Burg auf und in Schätzungen der Jahre 1669 und 1725 wird eine Alchemistenstube zur Herstellung von Gold erwähnt. Ein Teil der Burg sowie die Rüstkammer brannten 1621 ab, wurden aber kurze Zeit danach von Karl von Saurau erneuert. Unter Karls Sohn Rudolf begannen die Schulden der Herrschaft zu wachsen und die Verschuldung stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts weiterhin stark an. Trotzdem blieb die Herrschaft bis zum Aussterben der Familie Saurau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Burg. Ab 1783 wohnten die Saurau aber nicht mehr dort, sondern in dem von ihnen zum Schloss Ligist ausgebauten Meierhof am unteren Teil des Burghügels.
Bis in das erste Viertel des 19. Jahrhunderts lässt sich der von den Saurau gepflegte Brauch des Robotmahles zurückverfolgen. Es wurde von den Burgherren zum Gedenken an die geleistete Robotarbeit jedes Jahr am 29. Juni, dem Gedenktag der Heiligen Peter und Paul, in der Burg abgehalten. Die Männer der Herrschaft wurden bewirtet und soweit bekannt, durften die Frauen die verbliebenen Essensreste einsammeln. Im 18. Jahrhundert gehörten 385 Häuser in 44 Orten sowie fünf Ämter und die Vogteien über die Kirchen Ligist, Modriach, Pack und Stallhofen zur Herrschaft Ligist. Die Gebiete um das heutige Ligist sowie Modriach und Pack gehörten zum Werbbezirk der Burg.
Aus dem Jahr 1797 ist bekannt, dass die Burggebäude bereits schwere Schäden aufwiesen und die Burgkapelle ganz verfallen war. Als die Franzosen unter Napoleon Bonaparte im Jahr 1805 in die Steiermark kamen, kam vom Palais Saurau in Graz die Weisung, die französischen Truppen seien zu verpflegen, falls sie in Ligist einmarschierten. Im Dezember 1805 quartierten sich mehrere französische Kompanien für kurze Zeit im Ort Ligist und auf der Burg ein. Als sich im Winter 1809/10 erneut französische Truppen auf der bereits baufälligen Burg einquartierten, zerstörten sie die Anlage weiter. Die Soldaten verheizten die restliche Inneneinrichtung, die Fußböden und Teile des Dachstuhles. Im Jahr 1818 wurde die Burg als Ruine bezeichnet und als 1820 ein Teil des Bauwerkes einstürzte, wurde es dem Verfall preisgegeben.
Über Anna Maria, die Frau von Zeno von Saurau, erbten 1870 die Grafen von Goess die Burg mitsamt der Herrschaft. Von ihnen ging das Gut 1928 an den Souveränen Malteserorden, in dessen Besitz es sich noch befindet. Der Burgverein Ligist begann mit finanzieller Unterstützung des Malteserordens und der Gemeinde ab 1975 mit der Instandsetzung der Burganlage. Zwischen 1975 und 1985 wurden umfangreiche Sicherungsarbeiten an den Mauern der Ruine durchgeführt, der Bergfried wurde überdacht und die Bogenbrücke über den Ringgraben erneuert. Im Winter 1998/99 wurde die Ruine gegen weiteren Verfall gesichert, das Burgareal von Schuttablagerungen und Bewuchs befreit und der zugewachsene Graben wieder freigelegt. Im Sommer 1999 sicherte eine Baufirma die einsturzgefährdeten Mauern. Von 2001 bis zur Auflösung des Burgvereins im Jahr 2011 wurden weitere Sanierungs- und Sicherungsarbeiten an den Burgmauern durchgeführt. Das Burgareal wird seit 2011 von der Gemeinde als Veranstaltungsort der Weihnacht auf der Burg, eines Weihnachtsmarktes, genutzt.
Beschreibung
Die Burg Ligist wurde zumindest in drei klar voneinander unterscheidbaren Phasen errichtet, eine vierte Bauphase ist aber möglich. In der ersten Bauphase im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert wurde die Hochburg mit dem Bergfried errichtet, während die Ringmauer aus der zweiten Bauphase zu Beginn des 14. Jahrhunderts stammen dürfte. Vermutlich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wurden einige Wohngebäude im östlichen Teil des Burghofes errichtet und der Bergfried umgestaltet. In der letzten Bauphase im 16. oder 17. Jahrhundert wurde ein Kanonenrondell im Südosten der Anlage errichtet.
Burgzugang
Der Zugang zur Burgruine erfolgt von Nordwesten über eine steinerne Bogenbrücke, die über einen Ringgraben führt und am Ende des 17. Jahrhunderts die Zugbrücke ersetzte. Der den nördlichen, östlichen und südlichen Teil der Burganlage umgebende Ringgraben war großteils mit Schutt verfüllt und wurde vom örtlichen Burgverein wieder ausgehoben. Der einstige Burgwall schließt an den Ringgraben an und ist nur noch teilweise erkennbar. Auch die zu Beginn des 14. Jahrhunderts errichtete Ringmauer im Norden und Süden der Burg ist größtenteils eingestürzt. Sie schließt an die nördliche Wand des Turmhauses an, ist von diesem aber durch eine Mauerfuge getrennt. Am nördlichen Ringmauerzug stammen Mauerfüße vermutlich aus der Zeit des Barocks.
Der Zugang zur Burg war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch einen vorgebauten Turm und ein Torhaus geschützt. Im Torhaus befand sich eine im Jahr 1636 eingerichtete Marienkapelle. Der Torturm wurde bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als stark verfallen bezeichnet. Im Vorhof befanden sich mehrere kleine Wohn- und Wirtschaftsgebäude für das Gesinde und ein Brunnen.
Wohngebäude
Die heute nur als Reste erhaltenen kleinen Wohn- und Wirtschaftsgebäude im Osten des Hofes hinter dem ehemaligen Torturm dürften auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zurückgehen. Beim Bau wurden neben Bruchsteinen auch Ziegel verwendet. Im Südosten wurde die Burg durch ein im 16. oder 17. Jahrhundert errichtetes, der Hochburg etwas tiefer vorgelagertes, halbkreisförmiges Kanonenrondell geschützt, dessen Reste noch erkennbar sind.
Hochburg
Die Hochburg im östlichen Teil der Anlage gilt als ältester Burgteil. In der nördlichen Ecke des inneren Hofes befindet sich der relativ gut erhaltene fünfgeschoßige Bergfried, der aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert stammt und auch als Wohnturm gedient hat. Er besteht größtenteils aus lagerhaftem Bruchsteinmauerwerk mit durch Quader verstärkten Gebäudekanten, die Südseite im Bereich des Erd- und ersten Obergeschoßes auch aus einfachem Quadermauerwerk. Während der Renaissance wurde der Bergfried umgebaut.
Bergfried
Der 12 Meter lange, 9,6 Meter breite und 18,7 Meter hohe Bergfried erhebt sich 15,2 Meter über das heutige Burgniveau und wurde in einem einzigen Zug errichtet. Das streng lagenhafte Mauerwerk besteht aus quaderartig behauenen Steinen und weist keine Ausgleichschichten auf. Die Eckquaderungen sind behauen und etwas dunkler gefärbt als der Rest des Mauerwerkes. Die Mauer hat im Erdgeschoß des Bergfriedes eine Stärke von 2,2 bis 2,5 Metern. An der Außenseite wurden in der Renaissancezeit Vertiefungen für die Balkendecken der an den Bergfried angebauten Gebäude und Türöffnungen zum Palas freigestemmt, die heute zugemauert sind. Im 20. Jahrhundert wurde ein breiter Riss im Mauerwerk der Obergeschoße verschlossen, die verfallene Mauerkrone wurde aufgemauert und mit einem flachen Betonkranz versehen, der als Auflage für das neue Dach dient. Das mit Faserzementplatten gedeckte Dach des Bergfriedes des Jahres 1975 wurde vom Burgverein gefertigt. Die meisten der ursprünglich mittelalterlichen Schlitzfenster des Bergfriedes wurden vermutlich im 15. oder 16. Jahrhundert zu Rechteckfenstern vergrößert. Während der Sanierungsarbeiten im 20. Jahrhundert wurden bei einigen Fenstern aber auch an Öffnungen, die ursprünglich keine Fenster waren, nicht originalgetreue Stürze eingebaut. Der ursprüngliche Hocheingang zum Bergfried befand sich an dessen Nordseite im ersten Obergeschoß.
Der fensterlose Keller hat ein Tonnengewölbe aus Ziegeln vermutlich aus dem 20. Jahrhundert, auch die zwei Öffnungen des Raumes sind nicht mittelalterlich, sondern jünger. Ursprünglich erfolgte der Zugang vermutlich durch eine Deckenöffnung aus dem Erdgeschoß. Das früher ebenfalls von außen nicht zugängliche Erdgeschoß hat ein während der Renaissance oder etwas früher eingezogenes Tonnengewölbe mit Stichkappen sowie eine hofseitige Fensteröffnung mit teilweise mittelalterlichem Gewände. Die Tür im Osten des Erdgeschoßes wurde als Verbindung zum angebauten Palas durchbrochen. An den Ansätzen der Stichkappen befinden sich noch Reste des mittelalterlichen Putzes. An der nördlichen Mauer findet man mehrere etwa 5 Zentimeter breite Rüstlöcher, welche teilweise auch noch Reste der Rüsthölzer enthalten. Neben der Fensteröffnung befindet sich eine gemauerte Wandnische. Das erste Obergeschoß hatte ursprünglich ein starkes romanisches Tonnengewölbe, welches während der Renaissance durch eine auf Konsolen ruhende Decke ersetzt wurde, von der nur mehr die Ansätze erkennbar sind. Der ursprüngliche Hocheingang zum Bergfried führte in dieses Geschoß. Ein romanisches Rundbogenfenster mit beidseitiger trichterförmiger Laibung an der Ostseite des Raumes könnte auf eine ehemalige Kapelle hinweisen. Zwei Türen führten in den angebauten Palas, von denen eine zum Großteil wieder vermauert wurde. Vom ersten Obergeschoß führte eine in die dort etwa 2,1 Meter dicke Mauer eingelassene, rund einen halben Meter breite und steile Treppe mit rund 25 Stufen in das zweite Obergeschoß. Sie wurde bei der Umgestaltung des Bergfrieds verschüttet und zugemauert. Am Zugang der Treppe sind ebenfalls Putzreste erhalten geblieben. Nach der Vermauerung der Treppe wurde am Einstieg ein Kachelofen platziert, dessen Fundament noch erkennbar ist. Für einen Kamin wurde ein Kanal in die Mauer gestemmt und durch eine dünne Wand aus Ziegeln verschlossen. Vermutlich zur Beheizung des Kamins von außen diente ein kleiner, in der Mauer liegender Raum, der auch von außen zugänglich war.
Im zweiten Obergeschoß erkennt man noch den Ausstieg der vermauerten Mauertreppe mit einer einfachen Steinplatte, die als Sturz dient. Ein einfaches, mittelalterliches Rechteckfenster wurde dort durch die etwa 2,2 Meter dicke Mauer gestemmt. Eine ebenfalls mittelalterliche Stichbogentür wurde spätestens nach dem Umbau in der Renaissancezeit nicht mehr genutzt, da durch den Einzug der Flachdecke im ersten Obergeschoß der Boden des zweiten Obergeschoßes um mehr als 2 Meter abgesenkt werden konnte um die Raumhöhe zu vergrößern und die Tür dadurch hinter einer Konsole verschwand. Während des Umbaues wurde eine auf eingemauerten Konsolen aus gelbem Sandstein mit aus Ziegeln gemauerten Wandvorlagen ruhende Decke eingezogen, die rund 1,3 Meter über der ehemaligen mittelalterlichen Deckenhöhe lag. Die Decke ist heute nicht mehr erhalten und die Konsolen wurden teilweise herausgerissen. Das dritte Obergeschoß hatte ursprünglich eine Balkendecke mit eingemauerten Balkenköpfen. An der Nordseite befinden sich zwei vermauerte und teilweise zerstörte einfache, aus groben Steinplatten geformte Rechteckfenster, die sich an der Außenseite zu Lichtschlitzen verjüngen. Das Fenster an der Ostseite entstand in neuerer Zeit, als ein Riss im Mauerwerk verschlossen wurde. Ebenfalls im Osten befindet sich ein vermauertes Stichbogenportal, dessen ursprüngliche Bedeutung unklar ist. Die Tür an der Nordseite stammt aus der jüngeren Vergangenheit und wurde vermutlich an der Stelle einer älteren Tür aus der Renaissancezeit eingebaut. An der südlichen Mauer liegen durch den Umbau vier grobe und abgeschlagene Konsolen etwa 2,2 Meter über dem heutigen Fußboden.
Der im 16. Jahrhundert errichtete Palas, der einen kleinen Arkadenhof umschloss, ist an den nordöstlichen Teil des Bergfrieds angebaut. Von den Arkaden sowie vom Treppenhaus im Hof sind nur Reste erhalten geblieben. Auf einem Kupferstich der Burg aus dem Jahr 1681 ist ein heute nicht mehr vorhandener Kamin erkennbar, der zu der 1669 und 1715 erwähnten Alchemistenküche gehört haben könnte.
Sage
Nach einer Sage sollen im Jahr 1897 zwei Bauern in einer Juninacht an der Ruine der Burg vorbeigegangen sein. Vor der Ruine stand ein Kirschbaum mit reifen Früchten und die beiden Männer stiegen auf den Baum, um von den Kirschen zu essen. Während sie hinauf kletterten, schlug es Mitternacht und sie waren nicht in der Lage, eine einzige der Kirschen zu pflücken. Plötzlich flog funkensprühend und unter heftigem Rauschen ein glühender Schabbock aus der Burgruine und über den Kirschbaum in Richtung Dietenberg. Einer der Männer fiel vor Schreck vom Baum, während der andere auf dem Baum sitzen blieb und nach den Kirschen griff. Nach diesem Ereignis waren sie beide in der Lage, von den Früchten zu essen.
Literatur
Weblinks
Der Wohnturm von Ligist auf burgenseite.com
Einzelnachweise
Baudenkmal (Steiermark)
Ligist
Ligist
Orographie des Einzugsgebiets Kainach (Mur)
Weststeirisches Riedelland |
9528636 | https://de.wikipedia.org/wiki/Muhtasib | Muhtasib | Ein Muhtasib () ist nach dem islamischen Recht eine Person, die die Hisba ausübt, also der religiösen Pflicht zum Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen nachkommt. In den meisten islamischen Staaten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war diese Aufgabe in Form eines öffentlichen Amtes organisiert, das auch als Ihtisāb () bezeichnet wurde. In Marokko, Pakistan und der indonesischen Provinz Aceh existiert dieses Amt in unterschiedlicher Ausprägung noch heute.
Die ersten Muhtasibs wurden im 8. Jahrhundert im Irak ernannt. Bis zum 13. Jahrhundert wurde das Amt auch in Ägypten, im Iran, in Syrien, Anatolien, al-Andalus und Indien eingeführt. Die Muhtasibs wurden entweder vom Herrscher, Wesir oder Qādī eingesetzt und konnten üblicherweise auf eine größere Anzahl von Hilfsbeamten zurückgreifen. Die Aufgaben des Muhtasib und die für ihn geltenden Regeln sind in Hisba-Traktaten, staatsrechtlichen Abhandlungen und Verwaltungshandbüchern beschrieben worden. Demnach hatte der Muhtasib die Befolgung der religiösen Vorschriften des Islams zu überwachen, Verstöße aufzudecken und Schuldige zu bestrafen. Seine Aufsichtsfunktion erstreckte sich insbesondere über die öffentlichen Straßen, Märkte, Bäder, Moscheen und Friedhöfe. Auf den Märkten war er für die Gewerbeaufsicht und Aufdeckung von Betrügereien, die Kontrolle der Maße und Gewichte sowie die Überwachung der Preise zuständig.
In der frühen Neuzeit veränderte sich der Charakter des Muhtasib-Amtes in verschiedenerlei Hinsicht. So wurde es bei den Mamluken, im Osmanischen Reich, im Iran und in Marokko üblich, dass der Muhtasib die Preise von Lebensmitteln nicht mehr nur kontrollierte, sondern auch festlegte. Außerdem wurde das Amt, das ursprünglich besoldet war, immer öfter als Steuerpacht vergeben: Amtsanwärter wurden bei der Einsetzung verpflichtet, bestimmte Summen an den Staat abzuführen, wofür ihnen im Gegenzug zugebilligt wurde, bei Händlern und Handwerkern Gebühren und Schutzgelder einzutreiben. Außerdem verlor der Muhtasib in diesen Staaten seine Aufgabe als Wächter über die Einhaltung der religiösen Vorschriften. Das Bewusstsein für die religiöse Dimension des Amtes ging allerdings nie verloren. So gab es im Laufe der neueren Geschichte auch immer wieder Versuche, den Muhtasib in seiner Rolle als Moralwächter wiederzubeleben, so bei den Timuriden, im Mogulreich unter Aurangzeb, im Kalifat von Sokoto, im Emirat Buchara, in der indonesischen Provinz Aceh und in der pakistanischen Nordwestlichen Grenzprovinz.
Insgesamt war der Muhtasib eine der wichtigsten Institutionen im sozialen Gefüge mittelalterlicher und frühneuzeitlicher islamischer Städte. Susanna Narotzky und Eduardo Manzano sehen die große Bedeutung, die der Muhtasib in der islamischen Geschichte als Aufseher der Märkte hatte, als ein Indiz dafür an, dass die Wirtschaft in der islamischen Welt vom Konzept der moralischen Ökonomie beherrscht war.
Das Muhtasib-Amt wurde im Mittelalter in einzelnen christlichen Staaten Spaniens und des Vorderen Orients übernommen. Auch das moderne Amt des Ombudsmans wird rechtsgeschichtlich auf den Muhtasib zurückgeführt.
Wortherkunft und Übersetzung
Das arabische Wort muḥtasib, das sich aus den gleichen Wurzelkonsonanten zusammensetzt wie das Wort ḥisba, stellt ein aktives Partizip zu dem arabischen Verb iḥtasaba dar. Neben anderen Bedeutungen wie „anrechnen“, „in Rechnung stellen“ und „in Betracht ziehen“ hat dieses Verb die religiöse Bedeutung „eine fromme Tat für sich bei Gott in Rechnung stellen und dafür Lohn im Jenseits erwarten“. Nach allgemeiner Ansicht leitet sich der Begriff unmittelbar von dieser Bedeutung des Verbs ab. So heißt es zum Beispiel in einem zaiditischen Text des 10. Jahrhunderts: „Der Muhtasib wird deshalb Muhtasib genannt, weil er bei seinen Angelegenheiten dasjenige als gute Tat für sich anrechnet, an dem Gott Wohlgefallen hat.“ Maurice Gaudefroy-Demombynes erklärt, dass der Muhtasib-Begriff ursprünglich eine Person bezeichnet, die für ihren Einsatz zugunsten der islamischen Ordnung eine jenseitige Entlohnung erhofft, wobei diese auf Arabisch ebenfalls ḥisba genannt wird. Michael Cook meint, dass der arabische Begriff ḥisba zunächst sehr unterschiedliche fromme Handlungen bezeichnete und erst im Laufe der Zeit zum Terminus technicus für das Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten wurde. Entsprechend veränderte sich auch die Bedeutung des Wortes muḥtasib.
Da es in den westlichen Sprachen kein exaktes Äquivalent für den arabischen Begriff muḥtasib gibt, ist eine Übersetzung schwierig. Im Englischen wird das Amt des Muhtasib häufig mit Begriffen wie market inspector („Marktaufseher“) oder public moral officer (etwa „allgemeiner Sittlichkeitsbeauftragter“) wiedergegeben, doch erfasst keine dieser Übersetzungen die Gesamtheit der vom Muhtasib wahrgenommenen Aufgaben. Deshalb haben S. Orman und A. S. M. Shahabuddin vorgeschlagen, das Wort bei Übersetzungen in westliche Sprachen unübersetzt zu lassen.
Im Deutschen werden bei der Übersetzung ebenfalls sehr unterschiedliche Begriffe verwendet, zum Beispiel „Marktmeister“, „Marktaufseher“, „Markt- und Sittenvogt“ oder „Sittenwächter“. In der deutschen Übersetzung des arabischen Romans az-Zainī Barakāt von Gamāl al-Ghītānī, der einen Muhtasib zum Protagonisten hat, wird der Begriff mit „Inhaber des Amtes der Aufsicht über die Öffentliche Ordnung“ wiedergegeben. Hartmut Fähndrich, der diese Übersetzung erstellt hat, begründet die Wahl des Ausdrucks damit, dass zum einen die Aufgaben, für die der Muhtasib zuständig war, heute im deutschsprachigen Raum zum großen Teil vom „Amt für öffentliche Ordnung“ wahrgenommen werden, und dass zum anderen mit der Umständlichkeit des Titels die außerordentliche Bedeutung dieses historischen Amtes herausgehoben werden soll.
Allgemeine Hisba-Pflicht und Muhtasib-Amt
Der Muhtasib als Privatperson
Nach dem islamischen Recht ist grundsätzlich jeder, der die Hisba vollzieht, ein Muhtasib. Um sich als Muhtasib betätigen zu können, muss ein Mensch nach al-Ghazālī nur drei Voraussetzungen erfüllen:
Er muss zurechnungsfähig (mukallaf) sein, darf also kein Wahnsinniger (maǧnūn) oder Kind (ṣabī) sein.
Er muss ein Muslim sein und den Glauben (īmān) besitzen, da von einem Ungläubigen keine „Hilfe für die Religion“ (nuṣra li-d-dīn), wie sie die Hisba darstellt, erwartet werden kann.
Er muss handlungsfähig (qādir) sein. Wer dagegen handlungsunfähig ist, kann die Hisba nur im Herzen vollziehen.
Unbescholtenheit (ʿadāla) sieht al-Ghazālī dagegen nicht als eine Voraussetzung für den Muhtasib an. Auch ein Sünder (fāsiq) hat seiner Auffassung nach das Recht, andere zurechtzuweisen. Anderenfalls, so meint er, würde die Hisba unmöglich werden, weil niemand außer den Propheten Sündlosigkeit besessen habe und auch bei ihnen die Sündlosigkeit umstritten sei. Frauen und Sklaven können sich nach al-Ghazālī ebenfalls als Muhtasib betätigen.
Al-Ghazālī hält es dagegen nicht für notwendig, dass der Muhtasib von Seiten des Imams oder Herrschers autorisiert ist. Vielmehr ist seiner Auffassung nach jeder Muslim ein Muhtasib, der die Pflicht zum Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten wahrnimmt, auch wenn er keine Autorisierung durch den Herrscher besitzt. Drei persönliche Eigenschaften sollte der Muhtasib nach al-Ghazālī allerdings möglichst besitzen: Wissen (ʿilm), Frömmigkeit (waraʿ) und einen guten Charakter (ḥusn al-ḫuluq).
Die Auffassung, dass jeder Muslim, der die Hisba übt, ein Muhtasib ist, findet sich auch bei dem indischen Autor as-Sunāmī (13. Jahrhundert). Seiner Auffassung nach kann allerdings nur derjenige als Muhtasib gelten, der gegen alle Verstöße der gleichen Art vorgeht und sich nicht auf diejenigen beschränkt, die seine eigenen Rechte beeinträchtigen. Wenn er zum Beispiel einen Anbau, der den Durchgang auf einer Straße versperrt, abreißt, muss er alle Anbauten, die den Verkehr in dieser Straße behindern, abreißen, sonst ist er nur ein Störenfried (mutaʿannit).
In al-Andalus, dem islamischen Teil der iberischen Halbinsel also, bezeichnete der Begriff muḥtasib bis zum 11. Jahrhundert ausschließlich derartige Privatpersonen, die spontan und uneigennützig die Hisba vollzogen. So berichtet zum Beispiel der Gelehrte al-Chuschanī (gest. 971) von einem solchen Muhtasib in Córdoba, der einen Mann wegen Weingenusses bei der Obrigkeit denunzierte. Derartige Muhtasibs, die in keinem Dienstverhältnis zur Obrigkeit standen, spielten im 11. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Gerichtspraxis des Stadtstaates von Córdoba. Sie traten dort als Kläger und Anwalt der „guten Sitten“ vor dem Marktvogt (ṣāḥib as-sūq) oder Qādī auf. In den 1060er Jahren zum Beispiel machte ein solcher Muhtasib in Córdoba auf die schlechte Arbeit der Schuhmacher aufmerksam und wandte dabei Gewalt an. Um ihn an diesem Verhalten zu hindern, beschwerten sich die Schuhmacher vor dem Marktvogt. Ihre Beschwerde wurde jedoch abgewiesen.
Der Muhtasib als Beamter
Zwar ist die Hisba als das Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten eine Pflicht, die grundsätzlich jeden Muslim trifft, doch reservieren die meisten muslimischen Autoren den Begriff muḥtasib für solche Personen, die diese Aufgabe von Amts wegen erfüllen. Von entscheidender Bedeutung für diese Engführung des Begriffs war al-Māwardī (gest. 1058). In dem Kapitel über die Hisba in seiner staatstheoretischen Abhandlung al-Aḥkām as-sulṭānīya werden neun Punkte aufgelistet, durch die sich der Muhtasib von demjenigen unterscheidet, der die Hisba als Freiwilliger (mutaṭauwiʿ) ausübt:
Die Hisba obliegt dem Muhtasib durch sein Amt als individuelle Pflicht, während sie anderen Menschen nur als Kollektivpflicht (farḍ kifāya) obliegt.
Die Wahrnehmung dieser Pflicht gehört für den Muhtasib zu den Rechten seiner Verfügungsgewalt, während sie für andere nur zu den supererogatorischen Handlungen gehört, die auch vernachlässigt werden können.
Er ist in sein Amt eingesetzt, damit man sich bei Dingen, die missbilligt werden müssen, an ihn wendet.
Im Gegensatz zu anderen Personen obliegt ihm, auf die Eingabe desjenigen, der sich an ihn wendet, zu reagieren.
Der Muhtasib muss Untersuchungen über offensichtliche Verfehlungen anstellen, um sie unterbinden zu können, und Nachforschungen über offensichtlich unterlassene religiöse Pflichten anstellen, um ihre Verrichtung gebieten zu können. Andere Personen haben diese Pflicht zur Nachforschung nicht.
Der Muhtasib kann sich im Gegensatz zu anderen Personen Helfer (aʿwān) zulegen, die ihn bei der Erfüllung seiner Pflicht unterstützen.
Er kann im Gegensatz zu anderen Personen bei offensichtlichen Vergehen den Delinquenten züchtigen, ohne allerdings zur Verhängung von Hadd-Strafen befugt zu sein.
Er kann für seine Hisba-Aktivität aus der Staatskasse besoldet werden, im Gegensatz zu demjenigen, der die Hisba freiwillig übt.
Er kann bei den Dingen, die den Brauch betreffen, wie zum Beispiel bei den Marktregeln, selbst Idschtihād betreiben (also Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung), anders als derjenige, der die Hisba freiwillig übt.
In den folgenden Abschnitten wird der Muhtasib lediglich in dieser zweiten Bedeutung als ein von staatlicher Seite eingesetzter Beamter behandelt.
Frühe Geschichte des Muhtasib-Amtes
Hakīm ibn Umaiya, der erste Muhtasib?
Wann das Muhtasib-Amt geschaffen wurde, ist unklar. Die früheste Person, die in den arabischen Quellen ausdrücklich als Muhtasib erwähnt wird, war Hakīm ibn Umaiya, ein Mann von den Banū Sulaim, der in der Zeit Mohammeds als Beisasse (ḥalīf) der Banū Umaiya in Mekka lebte. Mehrere arabische Quellen berichten davon, dass die Quraisch Hakīm als Vorsteher über ihre unbesonnenen jungen Männer (sufahāʾ) eingesetzt hatten. Er habe sie zurückgedrängt und zurechtgewiesen. Zwei arabische Autoren, Ibn al-Kalbī (gest. 819) und al-Balādhurī (gest. 892), verwenden im Zusammenhang mit dieser erzieherischen Aufgabe den Begriff muḥtasib. Ibn al-Kalbī schreibt, dass Hakīm in der Dschāhilīya als Muhtasib über die Banū Umaiya eingesetzt war und das Verwerfliche verbot. Al-Balādhurī teilt mit, Hakīm sei in der Dschāhilīya ein Muhtasib gewesen, der das Rechte gebot und das Verwerfliche verbot. Er habe die Sünder zurechtgewiesen, eingesperrt, gefangengesetzt und verbannt (yuʾaddib al-fussāq wa-yaḥbisu-hum wa-yanfī-him).
Aus den beiden Aussagen bei Ibn al-Kalbī und al-Balādhurī hat die Forschung unterschiedliche Schlüsse gezogen. Während Pedro Chalmeta, Meir Jacob Kister und Ahmad Ghabin davon ausgehen, dass es das Muhtasib-Amt tatsächlich schon in der vorislamischen mekkanischen Gesellschaft gab, betrachten Iḥsān Ṣidqī al-ʿAmad, Michael Cook und R. P. Buckley die Verwendung der Bezeichnung Muhtasib für Hakīm als einen Anachronismus, weil sie davon überzeugt sind, dass diese Bezeichnung erst in abbasidischer Zeit aufgekommen ist.
Die Anfänge des Muhtasib-Amtes im Irak
Gegen eine Existenz des Muhtasib-Amtes in der vorislamischen mekkanischen Gesellschaft spricht, dass ein solches Amt in den historischen Berichten über die Zeit der ersten Kalifen und der frühen Umaiyaden nicht erwähnt wird. Der einzige andere Beleg für die Existenz dieses Amtes aus der Zeit vor den Abbasiden findet sich in dem biographischen Eintrag über den Qādī Iyās ibn Muʿāwiya (gest. 740) bei al-Balādhurī. Hier wird überliefert, dass ʿUmar Ibn Hubaira nach seiner Ernennung zum Statthalter des Irak durch Yazid II. (reg. 720–724) Iyās dazu aufrief, das Qādī-Amt in Basra zu übernehmen. Als Iyās sich weigerte, ließ Ibn Hubaira ihn auspeitschen und zwang ihn, die Hisba in der Stadt Wāsit zu übernehmen. An einer anderen Stelle berichtet al-Balādhurī von einem Mann namens Abān ibn al-Walīd, der Iyās als Sekretär diente und ihm Tintenfass und Papyrusrolle (qirṭās) trug, „als Iyās die Marktaufsicht in Wāsit und die Hisba ausübte“ (wa-kāna Iyās yalī sūq Wāsiṭ wa-l-ḥisba). Die Ausdrucksweise in der Quelle deutet darauf hin, dass Marktaufsicht und Hisba als zwei getrennte Ämter betrachtet wurden.
Ab der Abbasidenzeit fließen die Quellen für das Muhtasib-Amt reichlicher. So wird von ʿĀsim al-Ahwal (gest. 759), der unter dem Kalifen al-Mansūr als Qādī in al-Madāʾin tätig war, berichtet, dass ihm für eine Zeitlang die Hisba für die Maße und Gewichte in Kufa übertragen wurde. Die früheste Person nach Hakīm ibn Umaiya, die in den Quellen ausdrücklich als Muhtasib erwähnt wird, war ein gewisser Abū Zakarīya Yahyā ibn ʿAbdallāh. Ihm übertrug der abbasidische Kalif al-Mansūr im Jahre 157 (= 773/774 n. Chr.) die Hisba von Bagdad. Er nutzte seine Position allerdings, um sich mit den Anhängern der beiden Hasaniden Muhammad an-Nafs az-Zakīya und Ibrāhīm ibn ʿAbdallāh zu verbünden, weswegen ihn der Kalif hinrichten ließ. Im 10. Jahrhundert wurden die Muhtasibs von Bagdad üblicherweise von den Wesiren in ihr Amt eingesetzt. Ibrāhīm ibn Muhammad Ibn Bathā, der im frühen 10. Jahrhundert in Bagdad Muhtasib war, erhielt für seine Dienste monatlich 200 Dinar.
Einer der bekanntesten Männer, der das Hisba-Amt während der frühen Abbasidenzeit im Irak versah, war Ahmad ibn at-Taiyib as-Sarachsī (gest. 899), ein Schüler des Philosophen al-Kindī. Er übte das Amt ab 895 für den Kalifen al-Muʿtadid aus, fiel aber dann bei diesem in Ungnade, wurde eingesperrt und starb im Gefängnis. As-Sarachsī ist auch der erste Gelehrte, von dem bekannt ist, dass er eigenständige Bücher über die Hisba verfasst hat. Daneben schrieb er aber auch Texte über Musik, Unterhaltung und Gesang. Während der Buyiden-Zeit wurde das Muhtasib-Amt von Bagdad eine Zeitlang von dem schiitischen Dichter Ibn al-Haddschādsch (gest. 1000) bekleidet, der für seine freizügige und obszöne Dichtung bekannt war. As-Sarachsī und Ibn al-Haddschādsch gelten als Beleg dafür, dass die Besetzung des Amtes in der Buyidenzeit nicht an hohe moralische Maßstäbe geknüpft war.
Die irakischen Lehren über das Muhtasib-Amt werden in dem staatstheoretischen Werk al-Aḥkām as-sulṭānīya festgehalten, das der schafiitische Gelehrte al-Māwardī (gest. 1058) möglicherweise im Auftrag der abbasidischen Kalifen verfasste.
Einführung des Amtes in anderen Gebieten
Ägypten
Seit der Tulunidenzeit (868–905) lassen sich Amtsträger der Hisba ebenfalls in Ägypten nachweisen. Auch in arabischen Quellen aus der Zeit der Ichschididen (935–969) wird der Muhtasib erwähnt. So berichtet der ägyptische Autor Ibn Zūlāq (gest. 996), dass man sich bei Abū l-Fadl Dschaʿfar ibn Abī l-Fadl, dem Wesir von Abū l-Misk Kāfūr (reg. 946–968), über die Amtsführung eines Muhtasib beschwerte und dessen Auswechslung verlangte.
Eine besonders hohe Position hatte der Muhtasib unter den Fatimiden, die 969 Ägypten eroberten und schon kurz danach eine Person mit diesem Amt betrauten. Ein zeitgenössischer Autor, der arabische Geograph al-Muqaddasī (gest. nach 990), beschreibt, dass der Muhtasib in Fustāt so mächtig „wie ein Emir“ (ka-l-amīr) war. Bei seiner Amtsausübung saß er abwechselnd einen Tag in der Freitagsmoschee von Kairo und einen Tag in der Freitagsmoschee von Fustāt. Er hatte eine Anzahl von Stellvertretern in den beiden Städten und in den übrigen Provinzen, die dort ihre Runden bei den Lebensmittelhändlern drehten.
Wie al-Qalqaschandī berichtet, wurde bei der Einsetzung des Muhtasibs in sein Amt das Ernennungsschreiben in den beiden Freitagsmoscheen von Fustāt und Kairo öffentlich verlesen. Einige Muhtasibs erhielten bei dieser Gelegenheit auch ein Ehrengewand und einen Turban und wurden in einer feierlichen Prozession durch die Stadt geführt.
Der Muhtasib war bei den Fatimiden vor allem für die Brot- und Getreideversorgung zuständig. Bei Antritt seines Amtes hatte er dafür zu bürgen, dass Brot und Getreide bis zur nächsten Ernte zur Verfügung standen. Aus Chroniken ist bekannt, dass der Muhtasib in Zeiten der Hungersnot auch die Preise von Grundnahrungsmitteln festsetzte. Daneben unterstand dem Muhtasib das Eichhaus (Dār al-ʿIyār), in dem die Waagen und Hohlmaße der Verkäufer regelmäßig kontrolliert werden mussten. Darüber hinaus hatte der Muhtasib auch die Aufsicht über die Geldwechsler (ṣaiyārifa), die einen semi-offiziellen Status hatten, und konnte sie bei Fehlverhalten entlassen. Zur Bestrafung ließ der Muhtasib die Delinquenten meist auspeitschen oder unehrenhaft durch die Stadt führen.
Der Muhtasib wurde bei den Fatimiden üblicherweise aus den Reihen der angesehenen Notabeln ausgewählt. Gelegentlich wurden aber auch Außenseiter mit der Hisba betraut, so im Jahre 383 (993/4 n. Chr.) der Christ al-Wabira an-Nasrānī und im Jahre 391 (1000/1001 n. Chr.) der Gemüsehändler Ibn Abī Nadschda. Letzterer wurde allerdings wegen verschiedener Verfehlungen nur kurze Zeit später wieder abgesetzt. Für seine Dienste bezog der Muhtasib ein monatliches Gehalt von 30 Dinar. Hisba, Rechtsprechung und Münzaufsicht lagen bei den Fatimiden häufig in einer Hand. Manche Muhtasibs waren auch gleichzeitig als Wālī tätig.
Später wurden in Ägypten auch Hisba-Traktate verfasst. Einen der wichtigsten dieser Traktate erstellte der Muhtasib Ibn Bassām. Die frühesten Handschriften dieses Werks mit dem Titel Nihāyat ar-rutba fī ṭalab al-ḥisba stammen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, doch ist es möglicherweise schon erheblich vor dieser Zeit abgefasst worden. Ibn Bassām (14. Jahrhundert) erklärt in seinem Traktat, dass der Herrscher gegenüber dem Muhtasib verpflichtet sei, ihm ausreichenden Lebensunterhalt zufließen zu lassen, ihm zu helfen und nicht entgegenzuarbeiten und bei ihm keine Fürsprache für jemanden einzulegen.
Iran
In den iranischen Gebieten wurden spätestens während der Buyiden-Zeit (ab 930) erstmals Muhtasibs eingesetzt. So findet sich unter den Texten, die von dem buyidischen Wesir as-Sāhib Ibn ʿAbbād (gest. 995) überliefert werden, eine Ernennungsurkunde für den Muhtasib der Stadt Raiy. Das Muhtasib-Amt wird auch sehr ausführlich in dem buyidischen Fürstenspiegel Siyāsat al-mulūk beschrieben, der von J. Sadan herausgegeben und von ihm auf die Mitte des 10. Jahrhunderts datiert worden ist. Aus einer Anekdote, die Nizām al-Mulk in seinem staatstheoretischen Werk Siyāsatnāma anführt, geht hervor, dass auch der Ghaznawiden-Herrscher Mahmud von Ghazni (reg. 998–1030) einen Muhtasib hatte.
Nizām al-Mulk, der in der Zeit der Seldschukenherrscher Alp Arslan (reg. 1063–1072) und Malik Schāh (reg. 1072–1092) als Großwesir wirkte, empfahl in seinem Siyāsatnāma, dass der Herrscher in jeder Stadt einen Muhtasib einsetzen solle. Der Herrscher und seine Beamten sollten ihm viel Macht geben, weil dies eine Grundregel der Herrschaft sei und der Vernunft entspreche. Andernfalls gerieten die Armen in Not, die Kaufleute handelten nur noch nach Belieben, die „Kotfresser“ (faḍla-ḫōr) erhielten eine beherrschende Stellung, Gaunerei verbreite sich und die Einhaltung der Scharia verliere ihren Glanz. Wenn man dagegen den richtigen Muhtasib eingesetzt habe, geschähen alle Dinge in gerechtem Ausgleich (bar inṣāf) und die Grundlagen des Islams (qawāʿid-i islām) seien gesichert.
Wie weit Nizām al-Mulks Empfehlung befolgt wurde, ist nicht bekannt. Allerdings ist durch eine Ernennungsurkunde belegt, dass später der seldschukische Herrscher Sandschar (reg. 1117–1157) einen gewissen Auhad ad-Dīn zum Muhtasib der Provinz Mazandaran ernannte. Aus der Ernennungsurkunde geht hervor, dass der Muhtasib Anspruch auf Unterstützung durch den Schihna, eine Art „Sicherheitsbeamten“, hatte. Eine anonyme Ernennungsurkunde für einen Muhtasib, die in einem Verwaltungshandbuch von Raschīd ad-Dīn Watwāt (gest. 1182) erhalten ist, weist darauf hin, dass auch die Choresm-Schahs in ihrem Herrschaftsgebiet Muhtasibs einsetzten. Allerdings wurde schon im 13. Jahrhundert die moralische Verderbtheit der Muhtasibs ein Gemeinplatz in der persischen Dichtung. Saʿdī (gest. 1292) geißelte in seinen Gedichten die Bigotterie der Muhtasibs, die selbst Wein tranken, andere aber dafür bestraften.
Möglicherweise ist das Muhtasib-Amt in Iran sogar schon vor den Buyiden eingeführt worden, denn es existiert ein Hisba-Handbuch, das auf den zaiditischen Imam an-Nāsir al-Hasan ibn ʿAlī al-Utrūsch (gest. 917) zurückgeführt wird, der im frühen 10. Jahrhundert über die kaspischen Regionen Irans herrschte. Dieses Kitāb al-Iḥtisāb beginnt mit der Feststellung, dass es nach dem Konsens der Ahl al-bait notwendig ist, „in jeder der großen Städte der Muslime“ (fī kull miṣr min amṣār al-muslimīn) einen Muhtasib einzusetzen, und enthält ausführliche Anweisungen für den Muhtasib.
Syrien und Anatolien
In Syrien ist das Muhtasib-Amt erstmals im frühen 11. Jahrhundert nachweisbar. Der früheste namentlich bekannte Muhtasib war der aus al-Andalus stammende malikitische Gelehrte Ibrāhīm ibn ʿAbdallāh (gest. 1013), der 1004 in sein Amt eingesetzt wurde. Er war für seine strenge Amtsführung bekannt und soll einen Krapfenverkäufer wegen Beleidigung der Prophetengefährten so hart geschlagen haben, dass er wenige Tage später an seinen Verletzungen starb. Tughtigin (gest. 1128), der ab 1104 als Atabeg von Damaskus fungierte und die Buriden-Dynastie begründete, setzte ebenfalls einen Muhtasib ein. Während der Zeit der Ayyubiden (1174–1260) wurden auch andere syrische Städte mit Muhtasibs ausgestattet. So ist zum Beispiel ein Ernennungsschreiben für den Muhtasib von Aleppo erhalten, den Saladin dort einsetzte, als er diese Stadt im Jahre 1183 eroberte. Es wurde in arabischer Reimprosa von seinem Sekretär ʿImād ad-Dīn al-Isfahānī (gest. 1201) aufgesetzt und ist in dessen autobiographischem Geschichtswerk al-Barq aš-Šāmī („Der syrische Blitz“) überliefert; 1978 wurde es von Charles Pellat ediert.
Die Bedeutungszunahme des Muhtasib-Amtes in Syrien lässt sich auch daran erkennen, dass der sunnitische Gelehrte ʿAbd ar-Rahmān ibn Nasr asch-Schaizarī in dieser Zeit das erste syrische Hisba-Handbuch verfasste. Dieses Werk mit dem Titel Nihāyat ar-rutba fī ṭalab al-ḥisba („Der höchste Grad beim Studium der Hisba“) ist das populärste Hisba-Handbuch schlechthin geworden. Nach asch-Schaizarī soll der Muhtasib Diener und Gehilfen haben, weil dies der Menge mehr Furcht und Respekt einflöße, und er soll auch Kundschafter haben, die ihm die Nachrichten von den Leuten zutragen. Auf der Grundlage von asch-Schaizarīs Werk erstellte später der ägyptische Gelehrte Ibn al-Uchūwa (gest. 1329), selbst langjähriger Muhtasib, einen neuen umfassenden Hisba-Traktat mit dem Titel Maʿālim al-qurba fī aḥkām al-ḥisba („Zeichen der Gottesnähe über die Regeln der Hisba“), der ebenfalls sehr populär geworden ist. Weitere Werke aus Syrien, in denen das Muhtasib-Amt beschrieben wird, sind der Hisba-Traktat von Ibn Taimīya (gest. 1328) und das Buch Muʿīd an-niʿam wa-mubīd an-niqam des syrischen Gelehrten Tādsch ad-Dīn as-Subkī (gest. 1370), das sich mit den Pflichten der verschiedenen islamischen Bevölkerungsklassen befasst.
Während der Herrschaft des rum-seldschukischen Sultans Kılıç Arslan II. (reg. 1156–1192) wurden auch die anatolischen Städte Konya und Malatya mit Muhtasibs ausgestattet. Nach einem Bericht, den al-Qazwīnī (gest. 1283) anführt, hatte zu seiner Zeit ebenfalls die anatolische Stadt Sivas einen Muhtasib. Allerdings ließ dieser zu, dass in einer Moschee der Stadt Weinfässer gelagert wurden, und war für einen Reisenden, der sich darüber beschweren wollte, nicht erreichbar, weil er seinen Rausch ausschlafen musste.
Al-Andalus und der Maghreb
In al-Andalus wurde die Hisba als reguläres Amt erst im 12. Jahrhundert eingeführt. Der in der Mitte des 12. Jahrhunderts schreibende Gelehrte Ibn Baschkuwāl hielt den Begriff als Bezeichnung für ein Amt noch für erklärungsbedürftig und vermerkte deshalb in einem biographischen Eintrag: „die Hisba, die bei uns wilāyat as-sūq (‚Marktaufsicht‘) genannt wird.“ Spätestens im frühen 13. Jahrhundert war aber die Vorstellung von dem Muhtasib als dem für die Hisba zuständigen Beamten in al-Andalus fest etabliert, denn über den Gelehrten ʿAlī ibn Muhammad Ibn al-Mu'adhdhin (gest. 1224) wird berichtet, dass man ihn „den Muhtasib“ (al-Muḥtasib) nannte, weil er lange das Amt der Marktaufsicht (ḫuṭṭat as-sūq) in seiner Heimatstadt Murcia ausübte.
Ibn ʿAbdūn, der im frühen 12. Jahrhundert in Sevilla als Qādī und Muhtasib tätig war, und Abū ʿAbdallāh as-Saqatī, der sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Muhtasib von Málaga betätigte, verfassten die ersten andalusischen Traktate, in denen die Aufgaben des Muhtasib beschrieben werden. Ibn ʿAbdūn ging davon aus, dass der Qādī den Muhtasib einsetzen müsse, erklärt jedoch, dass er dies nicht tun dürfe, ohne den ra'īs, das Stadtoberhaupt, zu informieren. Der Qādī, so Ibn ʿAbdūn weiter, sollte dem Muhtasib auch ein Gehalt aus der Staatskasse festsetzen, ihn unterstützen und schützen und seine Entscheidungen und Handlungen mittragen.
Der wahrscheinlich früheste Beleg für das Muhtasib-Amt im westlichen Maghreb findet sich in der Sammlung sufischer Biographien von Ibn az-Zaiyāt at-Tādilī (gest. 1230). Hier wird in der Biographie über den aus Fès stammenden Sufi Marwān al-Lamtūnī (gest. 1174) berichtet, dass er vom Qādī al-Haddschādsch ibn Yūsuf nach Marrakesch gerufen wurde, um dort das Amt der Hisba zu übernehmen.
In der Zeit der Meriniden brachte der Muhtasib von Fès im Marktviertel der Qaisarīya eine Standardelle an, damit alle Händler und Handwerker daran Maß nehmen konnten. Für Tunesien ist das Amt erst in der Zeit der Hafsiden (1229–1574) belegt. Die Belege sind allerdings sehr rar. Sie zeigen zumindest, dass das Amt in Tunis im 13. Jahrhundert existierte.
Indien
In Indien wurde das Amt des Muhtasib während des Sultanats von Delhi (1206–1526) eingeführt. Während der Herrschaft von Muhammad ibn Tughluq (reg. 1325–1351) war dem Muhtasib ein Dorf übertragen, das ihm einen jährlichen Ertrag von 5000 Tanka einbrachte. Der Muhtasib ʿUmar ibn Muhammad as-Sunāmī aus Sunam im heutigen indischen Bundesstaat Punjab verfasste im 13. Jahrhundert ein eigenes Hisba-Handbuch mit dem Titel an-Niṣāb fī l-iḥtisāb, das in Indien große Popularität erlangte. Es wurde von M. Izzi Dien ins Englische übersetzt. Nach as-Sunāmīs Auffassung sollte der Muhtasib aus der Dschizya und der Bodensteuer (ḫarāǧ) bezahlt werden.
Der Muhtasib nach der klassischen Lehre
Wie aus dem vorausgehenden Abschnitt ersichtlich, wurde zwischen dem 10. und dem 14. Jahrhundert eine große Anzahl von Texten verfasst, die sich mit der Hisba und den für das Muhtasib-Amt geltenden Bestimmungen befassen. Zu diesen Texten gehören eigenständige Hisba-Traktate, staatsrechtliche Abhandlungen und Ernennungsurkunden, die bei der Einsetzung von Muhtasibs ausgestellt wurden. In den folgenden Abschnitten werden die wichtigsten Aussagen, die diese Texte hinsichtlich der persönlichen Voraussetzungen für die Übernahme des Muhtasib-Amtes, der vom Muhtasib zu erfüllenden Aufgaben und der ihm übertragenen Vollmachten enthalten, zusammengefasst.
Persönliche Anforderungen an den Amtsinhaber
Die persönlichen Anforderungen an denjenigen, der das Amt des Muhtasib übernimmt, sind höher als bei demjenigen, der die Hisba als Privatperson ausübt. Nach Ibn al-Uchūwa muss der vom Herrscher eingesetzte Muhtasib nicht nur Muslim, erwachsen, vernunftbegabt und handlungsfähig sein, sondern auch frei und unbescholten. Beim andalusischen Hisba-Autor Ibn ʿAbdūn ist die Liste der persönlichen Anforderungen an den Muhtasib besonders lang. Nach seiner Auffassung muss der Muhtasib zu den „vorbildlichen Menschen“ (amṯāl an-nās) gehören. Er muss ein Mann sein, züchtig (ʿafīf), gütig (ḫaiyir), fromm (wariʿ), gelehrt (ʿālim), wohlhabend (ġanī), edelmütig (nabīl), erfahren in den Geschäften (ʿārif bi-l-umūr), klug (muḥannak) und intelligent (faṭin).
Kenntnis der Rechtsnormen
Einige Autoren wie der syrische Gelehrte asch-Schaizarī (12. Jh.) und der persische Kanzleibeamte Nachdschawānī (14. Jahrhundert) meinten, dass der Muhtasib außerdem ein Faqīh sein müsse, der die Regeln der Scharia kenne, damit er wisse, was er zu gebieten und was er zu verbieten habe. Diese Auffassung findet sich auch schon in der Muhtasib-Ernennungsurkunde aus der Buyidenzeit. In ihr wird dargelegt, dass der Amtsinhaber deswegen ausgewählt wurde, weil er zu den „bedeutenden Rechtsgelehrten“ (aʿyān al-fuqahāʾ) gehörte.
Mut gegenüber den Herrschenden
Nach Auffassung von Nizām al-Mulk war es dagegen wichtiger, dass der Muhtasib den Mut besaß, seine Kontrollfunktion auch gegenüber dem Herrscher und dem Militär wahrzunehmen. Er empfahl deswegen, dass man das Amt einem von den Vornehmen (ḫawāṣṣ) übertragen sollte, entweder einem Eunuchen (ḫādim) oder einem alten Türken, der auf niemanden Rücksicht nimmt, so dass sich Hoch und Niedrig vor ihm fürchten. Als vorbildlich betrachtete er hierbei das Verhalten eines Muhtasib in der Zeit von Mahmud von Ghazni, der nicht davor zurückschreckte, einen der wichtigsten Heerführer des Herrschers zu verprügeln, als er ihn betrunken auf der Straße antraf. Asch-Schaizarī berichtet in seinem Handbuch von einem syrischen Muhtasib, der unmittelbar nach seiner Einsetzung durch den Herrscher Tughtigin seinen Auftraggeber ermahnte, Matratze und Kissen, auf denen er saß, zu entfernen, weil sie aus Seide waren, und auch seinen Ring abzulegen, weil er aus Gold war. Ibn al-Uchūwa kommentiert diese Anekdote mit der Bemerkung, dass ein solches Verhalten der große Dschihad sei, weil der Prophet gesagt habe: „Der beste Dschihad ist ein wahres Wort bei einem übergriffigen Herrscher“. Nur wenn der Muhtasib um sein Leben oder Vermögen fürchten müsse, entfalle diese Pflicht für ihn.
Frömmigkeit
Für asch-Schaizarī war eine der wichtigsten Pflichten des Muhtasib, dass er selbst entsprechend seinem Wissen handle, weil seine Worte nicht im Widerspruch zu seinen Taten stehen dürfen. Der Muhtasib soll seiner Auffassung nach mit Wort und Tat nach dem Wohlgefallen Gottes streben, lauterer Absicht und frei von Heuchelei und Streitsucht sein, er soll in seinem Amt weder mit den Menschen wetteifern, noch mit seinesgleichen Prahlereien nachgehen. Außerdem soll er sich an die Bräuche (sunan) des Gottesgesandten halten. Dazu gehört, dass er sich den Schnurrbart stutzt, das Achselhaar auszupft, das Schamhaar rasiert, Finger- und Fußnägel schneidet, saubere und nicht zu lange Kleidung trägt und sich mit Moschus und anderen Duftstoffen umgibt.
Unbestechlichkeit
Zu den persönlichen Anforderungen an den Muhtasib gehört außerdem, dass er unparteiisch ist und sich nicht bestechen lässt. Er soll sich vom Geld der Menschen fernhalten und darf keine Geschenke von den Erwerbstätigen und Handwerkern annehmen. Asch-Schaizarī erklärt, dass der Muhtasib auch seine Diener und Gehilfen darauf verpflichten müsse, kein Geld von Handwerkern oder Händlern anzunehmen. Wenn er erfahre, dass einer von ihnen ein Bestechungsgeld oder Geschenk angenommen hat, müsse er ihn sofort entlassen, damit keine Zweifel an seiner Ehrlichkeit aufkommen. Offensichtlich hat es immer wieder Versuche gegeben, die Gehilfen des Muhtasib zu bestechen. Schon 993/94 wurde bei den Fatimiden eine Proklamation verlesen, dass die Gehilfen des Muhtasib von niemandem mehr etwas annehmen durften.
Aufgabenbereiche
Fast alle Werke, die sich mit dem Muhtasib befassen, stellen am Anfang klar, dass der Muhtasib dafür Sorge zu tragen habe, dass das Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten befolgt wird. Auch viele Ernennungsurkunden benennen dies als die Hauptaufgabe des Muhtasib. Sie fächert sich in zahlreiche Unteraufgaben auf, deren Bedeutung je nach Region und Zeit schwankt. Als eine Generalklausel formuliert asch-Schaizari die Regel, dass der Muhtasib all das beseitigen und unterbinden müsse, was die Scharia verbiete, während er umgekehrt all das, was die Scharia erlaube, billigen solle. In den folgenden Abschnitten wird anhand der staatstheoretischen Abhandlungen, Hisba-Trakte und frühen Ernennungsurkunden ein Überblick über die Aufgaben des Muhtasib geboten.
Markt- und Gewerbeaufsicht
Nach Nizām al-Mulk ist es die Aufgabe des Muhtasib, die Handelsgeschäfte zu beaufsichtigen, damit darin Ehrlichkeit herrsche. Er habe dafür Sorge zu tragen, dass bei den Gütern, die aus den verschiedenen Gebieten herbeigebracht und auf den Märkten verkauft werden, kein Betrug und Schwindel getrieben werde. Nach dem buyidischen Verwaltungshandbuch ist die Unterbindung der Betrügerei in den verschiedenen Gewerben der Dreh- und Angelpunkt der Hisba (ʿalai-hi madār al-ḥisba). Für die Durchführung der Kontrollen soll der Muhtasib ständig auf den Märkten präsent sein. Von ʿAlī ibn ʿĪsā, der während des Kalifats von al-Muqtadir (reg. 908–932) zwei Mal das Amt des Wesirs bekleidete, wird überliefert, dass er einen Muhtasib, der häufig in seinem Haus zu sitzen pflegte, dazu ermahnte, auf den Märkten herumzugehen, weil das Amt der Hisba keine Türhüter dulde und die Sünde sonst auf ihn zurückfalle. Das zaiditische Hisba-Buch erklärt, dass der Muhtasib jeden Morgen die gesamten Märkte inspizieren müsse. Nach Ibn ʿAbdūn muss der Muhtasib den Handwerkern auf den Märkten auch feste Plätze zuweisen, und zwar so, dass alle bei ihresgleichen stehen. Darüber hinaus soll der Muhtasib auch regelmäßig die einzeln außerhalb der Märkte liegenden Geschäfte der Wohnviertel inspizieren.
Das buyidische Verwaltungshandbuch empfiehlt, dass der Muhtasib über jeden der Märkte einen Händler als seinen Vertrauensmann (raǧul ṯiqa) einsetzen soll. Da der Muhtasib nicht imstande sei, sich über alle Handlungen der Marktleute auf dem Laufenden zu halten, wird empfohlen, dass er sich aus jeder Zunft (ṣanʿa) einen vertrauenswürdigen Sachverständigen (ʿarīf) auswählt, der sich mit ihrem Handwerk auskennt und über ihre Betrügereien im Bilde ist. Er soll ihre Angelegenheiten beaufsichtigen und den Muhtasib über ihre Handelsgeschäfte informieren. In ähnlicher Weise erklärt der in al-Andalus tätige as-Saqatī, dass der Muhtasib aus allen Handwerkergruppen Vertrauensleute (umanāʾ, sg. amīn) auswählen solle, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen. As-Saqatī warnt allerdings, dass der Muhtasib diese Vertrauensleute nicht über die von ihm geplanten Kontrollaktionen unterrichten solle, weil sonst die Gefahr bestehe, dass Informationen darüber nach außen sickern und die Delinquenten die Möglichkeit erhalten, zu verschwinden oder Beweismittel aus dem Weg zu räumen, so dass die Aktionen des Muhtasib ins Leere laufen.
Asch-Schaizarī und Ibn al-Bassām listen in den einzelnen Kapiteln ihrer Bücher die verschiedenen Gewerbe auf und versorgen den Muhtasib für jedes von ihnen mit den technischen Informationen, die ihn dazu befähigen, die Qualität der Produkte zu überprüfen sowie Fehlverhalten und schlechte Verarbeitung aufzudecken. Zu den Berufsgruppen, die der Muhtasib in regelmäßigen Abständen überprüfen sollte, gehörten auch die Bäcker, die Harissa-Köche und die Sirup-Hersteller. Die Namen der Bäcker und die Orte ihrer Läden sollte der Muhtasib in einem Register festhalten. Die Wurstmacher, die für ihre Betrügereien berüchtigt waren, durften ihr Handwerk nur in unmittelbarer Nähe der Dikka des Muhtasib ausüben, damit er sie besser überwachen konnte.
Auch Ärzte, Augenärzte und Apotheker unterstanden der Kontrolle des Muhtasib. Ärzte mussten ihm den Eid des Hippokrates schwören und versprechen, niemandem eine schädliche Medizin oder Gift zu verabreichen und keiner Frau ein Rezept für eine Arznei zu verraten, die einen Schwangerschaftsabbruch herbeiführt. Der Muhtasib sollte die Ärzte außerdem über das Buch Die Arztprüfung (Miḥnat aṭ-ṭabīb) von Hunain ibn Ishāq prüfen und die Augenärzte über die Zehn Traktate über das Auge (al-Maqālāt al-ʿašar fī l-ʿain) von Hunain.
Aufsicht über Maße, Gewichte und das Münzwesen
Nach Nizām al-Mulk gehört es zu den Aufgaben des Muhtasib, die Gewichte zu überwachen und dafür Sorge zu tragen, dass bei den Gütern, die auf den Märkten verkauft werden, richtige Gewichte angewendet werden. Ibn Taimīya sieht es als eine der Hauptaufgaben des Muhtasib an, Schmälerung (taṭfīf) bei Maßen und Gewichten zu unterbinden. Er setzt dies zu der koranischen Aussage von Sure 83:1–3 in Beziehung: „Wehe den Schmälerern, die, wenn sie sich zumessen lassen, gern Volles nehmen, wenn sie aber selbst messen oder wiegen, weniger geben.“ Auch sein Zeitgenosse, der persische Autor Nachdschawānī, zitiert bei der Beschreibung des Muhtasib diesen Vers. Er erklärt, dass der Muhtasib Händler, die sich der Falschzumessung schuldig machten, daran hindern und ihnen diesen Koranvers zitieren solle.
Ibn al-Uchūwa erklärt, dass sich der Muhtasib mit Maßen wie Qintār und Ratl, Gewichtseinheiten und Dirhams auskennen müsse, weil sie die Grundlage aller Transaktionen bildeten und er dafür Sorge tragen müsse, dass sie in Scharia-gemäßer Weise verwendet werden. Nach asch-Schaizarī muss der Muhtasib die Händler dazu anhalten, ihre Waagen ständig von Öl und Schmutz zu reinigen, weil sich ein Öltropfen auf ihnen festsetzen kann und sich dann im Gewicht bemerkbar macht. Außerdem empfiehlt er, dass der Muhtasib die Waagen ab und zu überprüfen soll, und zwar dann, wenn ihre Eigentümer das nicht erwarten, damit sie keine Kniffe anwenden können. Wenn der Muhtasib Gewichte eicht, versieht er sie mit seinem Siegel. Wenn an einem anderen Ort Eichmeister für Waagen und Hohlmaße oder Münzmeister benötigt wurden, soll der Muhtasib sie auswählen.
Die Münzaufsicht und die Kontrolle der Geldwechsler waren weitere Aufgaben des Muhtasib. So hatte er bei den Mamluken den Feingehalt der Gold- und Silbermünzen mit dem Probierstein zu überprüfen. und verdächtige Münzen aus dem Verkehr zu ziehen. Den Geldwechslern hatte er zu verbieten, Dinar-Münzen zur Gewichtserhöhung mit Kuhl einzuschmieren oder mit Quecksilber eingeriebene oder gefälschte Münzen anzunehmen. Auch sollte er die Geldwechsler heimlich beobachten und sicherstellen, dass sie das Ribā-Verbot nicht übertraten, also Zinsen verlangten. Diejenigen, die sich nicht daran hielten, sollte er zurechtweisen und aus dem Markt ausschließen.
Preiskontrolle und -festsetzung
Nach Nizām al-Mulk ist es auch die Aufgabe des Muhtasib, dass er die Preise (narḫhā) kontrolliert. Auf diese Weise sollten dem individuellen Profitstreben der Händler Grenzen gesetzt werden. Nach dem zaiditischen Hisba-Buch sollte der Muhtasib den Händlern auch verbieten, sich gegenseitig zu bekämpfen, die eigene Ware laut anzupreisen oder dabei zu „bellen, wie die Hunde bellen“.
Umstritten war die Frage, ob der Muhtasib die Preise auch festsetzen darf. Asch-Schaizarī meinte, dass es dem Muhtasib nicht erlaubt ist, den Verkäufern von Waren einen bestimmten Verkaufspreis vorzuschreiben. Zur Begründung verwies er auf einen Hadith, wonach der Prophet Mohammed in einer Zeit der Teuerung gebeten worden war, die Preise festzusetzen, dies jedoch mit der Begründung abgelehnt hatte, dass allein Gott die Preise festsetzen würde. Allerdings setzt asch-Schaizarī hinzu, dass der Muhtasib einen Händler zum Verkauf zwingen müsse, wenn er sehe, dass dieser ein bestimmtes Lebensmittel gehortet hat, indem er es zu einer Zeit aufgekauft hat, als der Preis noch niedrig war, und dann darauf wartet, dass er bei der Lebensmittelknappheit steigt. Dies müsse er tun, weil das Monopol verboten sei. Tādsch ad-Dīn as-Subkī äußerte, dass die Preisfestlegung dem Muhtasib nach authentischer Überlieferung zu jeder Zeit verboten sei. Es gebe aber auch abweichende Meinungen. So habe man gesagt, dass Preisfestlegungen zur Zeit einer Teuerung (ġalāʾ) zulässig seien. Und nach einer anderen Meinung sei dies zulässig, wenn es sich nicht um importierte Produkte, sondern um heimische landwirtschaftliche Produkte handelte.
In al-Andalus war der Hadith über das Verbot der Preisfestsetzung ebenfalls bekannt, doch enthält das Hisba-Handbuch von as-Saqatī bei einigen Berufen klare Anweisungen für das Verfahren der Preisfestsetzung durch den Muhtasib, so dass anzunehmen ist, dass dieses Verbot übergangen wurde. Dies wird durch einen Bericht des Historiographen Ibn Saʿīd al-Maghribī (gest. 1286) bestätigt. Demnach wagten es die Fleischer in al-Andalus nicht, das Fleisch zu einem anderen Preis zu verkaufen als dem, den der Muhtasib ihnen auf dem Preisschild festgesetzt hatte, weil der Muhtasib manchmal kleine Kinder als verdeckte Ermittler zu ihnen schickte. Sie kauften bei ihm etwas ein, das dann vom Muhtasib auf sein Gewicht überprüft wurde. Wenn das Gewicht nicht dem Kaufpreis entsprach, schloss er daraus auf ihren Umgang mit den anderen Menschen und bestrafte sie. Für die Preisfestsetzung hatte der Muhtasib den Wert der Ware zu schätzen. Dies geschah bei Lebensmitteln üblicherweise in der Art, dass er die Kosten der Zutaten berechnete und dann einen bestimmten Gewinn für den jeweiligen Handwerker festsetzte.
Kontrolle der Verkehrswege und Gewässer
Auf dem Markt musste der Muhtasib verhindern, dass Brennholz, Stroh, Wasserschläuche, Dung oder spitze Gegenstände, die die Kleidung der Passanten zerreißen können, durch die Straßen transportiert werden. Wenn einer von den Händlern eine Bank aus seinem Laden in einen engen Durchgang stellte, musste der Muhtasib sie entfernen und den Händler daran hindern, es erneut zu tun. Darüber hinaus war der Muhtasib dafür zuständig, den freien Durchgang in den Straßen der Wohnviertel zu gewährleisten. Wenn Hausbesitzer Dreckwasser oder Regenwasser von ihren Dächern über Rinnen auf die Straße leiteten, dann hatte der Muhtasib dafür zu sorgen, dass sie diese Rinnen durch Röhren ersetzten, durch die das Wasser in eine Grube unter dem Haus geleitet wird. Regenwasser und Morast durften nicht auf den Straßen gelassen werden. Deswegen musste der Muhtasib jemanden beauftragen, der sie beseitigte. Wenn nicht der Herrscher die Straßen reinigen ließ, so musste der Muhtasib die Bewohner des Bezirks dazu anhalten, ihren Bezirk selbst zu reinigen.
Nach dem buyidischen Verwaltungshandbuch sollte der Muhtasib auch dafür sorgen, dass die „Leute der Verkommenheit“ (ahl al-fasād) nicht auf den Straßen herumsitzen. Wenn er einen Menschen, von dem er wusste, dass er durch Vermögen oder Arbeit ein Auskommen hatte, bei den Menschen um Almosen betteln sah, sollte er ihn deswegen tadeln und zurechtweisen. Den Knaben sollte der Muhtasib untersagen, auf der Straße Kämpfe auszutragen oder mit Steinen nacheinander zu werfen.
Darüber hinaus war der Muhtasib auch für die Kontrolle des Schiffsverkehrs zuständig. So hatte er die Aufgabe, die Inhaber von Schiffen daran zu hindern, ihre Schiffe zu überladen oder bei starkem Seegang loszufahren. In der Nacht durften Schiffe das Wasser nur mit seiner Genehmigung befahren. Für Boote hatte der Muhtasib auf dem Wasser einen Ponton anzulegen, an dem sie festgebunden werden konnten. Außerdem sollte der Muhtasib in jedem Hafen einen Sachverständigen (ʿarīf) einsetzen, der alle Seeleute mit Gerechtigkeit behandelt und die Dienstabfolge zwischen ihnen regelt.
Außerdem sollte der Muhtasib dafür sorgen, dass niemand in das Wasser der Flüsse uriniert oder dieses durch Müll, schmutziges Abwasser der Färber oder Tuchwalker oder andere Dinge verunreinigt wird. In Damaskus hatte der Muhtasib die zusätzliche Aufgabe, das Wasser der verschiedenen Bäche und Kanäle zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass dieses Wasser allen Menschen zur Verfügung stand und nicht zum Gegenstand von illegalen Wassernutzungsverträgen gemacht wurde.
Sittenpolizeiliche Aufgaben
Eine weitere Aufgabe des Muhtasib war die Durchsetzung der Geschlechtertrennung auf den Märkten und Straßen. Nach dem buyidischen Verwaltungshandbuch sollte der Muhtasib die Ladenbesitzer dazu anhalten, an ihren Läden Scheidewände anzubringen, in der Weise, dass die Frauen sich hinsetzen und ihre Einkäufe von außen tätigen konnten, ohne den Laden zu betreten. Wenn es auf dem Markt Personen gab, die speziell für den Umgang mit Frauen ausersehen waren, dann sollte der Muhtasib ihren Lebenswandel und ihre Vertrauenswürdigkeit prüfen. Ibn al-Uchūwa erklärt, dass der Muhtasib möglichst häufig die Orte aufsuchen solle, an denen sich die Frauen versammeln, wie den Garn- und Leinenmarkt, die Flussufer und die Eingänge der Frauenbäder. Wenn er dort einen jungen Mann antreffe, der mit einer Frau über andere Dinge spreche als Handelsgeschäfte oder sein Augenmerk auf eine Frau richte, solle er ihn zurechtweisen und daran hindern, dort zu stehen. Der Muhtasib solle außerdem Männer zurechtweisen, die ohne Grund in den Straßen der Frauen sitzen. Nach dem buyidischen Verwaltungshandbuch sollte der Muhtasib die Männer daran hindern, Frauen auf den Straßen anzusprechen. Frauen, die sich zu freizügig kleideten, sollte er Tinte über die Kleidung gießen, damit sie sich wieder nach Art „der Leute des Islams“ anzogen.
Eine Urkunde aus der Seldschukenzeit verpflichtet den Muhtasib, in Lehrsitzungen die Frauen von der Berührung mit den Männern und dem Anhören von Predigten zurückzuhalten. Nach asch-Schaizarī sollte der Muhtasib die Sitzungen der Prediger (maǧālis al-wuʿʿāẓ) aufsuchen und verhindern, dass sich Männer und Frauen dort mischen, indem er zwischen ihnen einen Vorhang anbrachte. Männer, die sich als Frauen ausgaben (muḫannaṯūn), sollten vom Muhtasib des Landes verwiesen werden.
Aufsicht über die öffentlichen Bäder
Außerdem hatte der Muhtasib regelmäßig die öffentlichen Bäder zu inspizieren und zu überprüfen, ob sich die Badewärter an die für sie geltenden Regeln hielten. Den Badehausbesitzern sollte er auferlegen, dass sie niemanden ohne Schurz das Bad betreten lassen. Wenn der Muhtasib bei seinen Kontrollgängen in den Bädern jemanden sah, der seine ʿAura aufgedeckt hatte, sollte er ihn zurechtweisen. Die Badehausbesitzer sollte der Muhtasib anweisen, die Bäder instand zu halten und ihr Wasser ausreichend warm zu halten, die Anlagen mehrmals täglich auszukehren und mit frischem Wasser von Seifenresten zu säubern, damit die Menschen nicht darauf ausrutschten.
Aufsicht über die Moscheen und Friedhöfe
Die Kontrollfunktion des Muhtasib erstreckte sich auch über die Moscheen und Freitagsmoscheen. Nach einer seldschukischen Urkunde hatte der Muhtasib ihre Gebetsrufer und Takbīr-Rufer zu überwachen, die Gebetszeiten zu kontrollieren, alle ungesetzlichen Dinge von ihnen fernzuhalten und den Verkauf von Wein in ihrer Nähe zu unterbinden. Nach Ibn al-Uchūwa soll der Muhtasib die Aufseher der Freitagsmoscheen und Moscheen dazu anhalten, die Gebäude jeden Tag zu fegen und von Schmutz zu säubern, den Staub von ihren Matten zu schütteln, ihre Wände abzuwischen und ihre Leuchter jeden Abend mit Brennstoff zu befüllen. Außerdem sollte er die Muezzine hinsichtlich ihrer Kenntnis der Gebetszeiten prüfen. Denjenigen, der sie nicht kannte, sollte er daran hindern, den Gebetsruf abzuhalten, bis er sie erlernt hat. Nach dem zaiditischen Hisba-Text soll der Muhtasib die Muezzine auch davon abhalten, vor das Tor der Moschee zu spucken.
Ibn Taimīya erklärt, dass der Muhtasib die Aufsicht nicht nur über die Muezzine, sondern auch über die Imame habe und diejenigen von ihnen, die bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nachlässig seien, in die Pflicht nehmen müsse. Den Koranlesern (ahl al-qurʾān) sollte der Muhtasib befehlen, den Koran nur in der von Gott erlaubten psalmodierenden Form (murattilan) zu rezitieren, während er ihnen verbieten soll, ihn in melodischer und intonierter Form vorzutragen, so wie Lieder und Gedichte vorgetragen werden, weil dies die Scharia verboten habe.
Ibn Bassām erklärt, der Muhtasib solle auch die Qādīs davon abhalten, ihre Gerichtssitzungen in den Moscheen abzuhalten. In diesem Zusammenhang verweist er auf einen Muhtasib von Bagdad in den Tagen des Kalifen al-Mustazhir bi-'llah (1094–1118), der dem Ober-Qādī die Abhaltung von Gerichtssitzungen in der Moschee mit der Begründung untersagt hatte, dass die Prozessbeteiligten üblicherweise nicht die für das Gebäude geltenden Reinheitsvorschriften einhielten und die Ruhe störten. Nach Ibn Taimīya sollte der Muhtasib auch dafür sorgen, dass in den Moscheen nicht gepfiffen und geklatscht wird, weil dies im Widerspruch zum Koran (vgl. Sure 8:35) stehe.
Der Muhtasib sollte auch regelmäßig die Friedhöfe aufsuchen und dafür sorgen, dass sie nicht als Weide für das Vieh missbraucht werden. Er sollte außerdem verhindern, dass sich Frauen auf den Friedhöfen oder anderen Orten zur Totenklage versammeln. Wenn er eine Frau laut klagen oder rufen hörte, sollte er sie maßregeln und daran hindern, weil die Totenklage (nauḥ) verboten sei. Nach Ibn ʿAbdūn sollte der Muhtasib zwei Mal pro Tag die Friedhöfe aufsuchen, um zu verhindern, dass Männer auf den freien Flächen der Gräber sitzen, um Frauen zu verführen.
Durchsetzung der religiösen Vorschriften
Auch die Durchsetzung des Alkoholverbots gehörte zu den Aufgaben des Muhtasibs. Der zaiditische Hisba-Text erklärt, dass der Muhtasib den Weinhändlern den Verkauf von Wein verbieten und diejenigen, die sich nicht an das Verbot halten, züchtigen solle. Nach asch-Schaizarī sollte der Muhtasib, wenn er auf jemanden stößt, der Alkohol trinkt, diesem 40 bis 80 Peitschenhiebe auf die nackte Haut verabreichen. Tādsch ad-Dīn as-Subkī kennzeichnet die Überprüfung der Lebensmittel (an-naẓar fī l-qūt) und die Sorge um das alkoholische Getränk (al-iḥtirāz fī l-mašrūb) als eine der wichtigsten Pflichten des Muhtasib. Solange der Weinhändler so tun könne, als ob er Sorbet oder Oxymel verkaufe, und solange der Koch vorgaukeln könne, dass Hundefleisch Hammelfleisch sei, müsse der Muhtasib den Zorn Gottes fürchten, denn er dürfe nicht der Grund dafür sein, dass Dinge, die Gott den Muslimen verboten hat, in ihren Bauch gelangen.
Des Weiteren hatte der Muhtasib bei öffentlicher Benutzung von verbotenen Musikinstrumenten wie Oboe, Tanbur, Laute, Zimbel und ähnlichem einzuschreiten. Er sollte in diesem Fall die Instrumente so weit auseinanderbrechen, dass die einzelnen Hölzer nicht mehr zum Musikmachen verwendbar waren, und die Musikanten bestrafen. Außerdem sollte der Muhtasib Sänger und Sängerinnen verbannen und Sklavenhändlern den Verkauf von Sängersklaven und -sklavinnen verbieten. Darüber hinaus sollte er verhindern, dass Tischler oder Drechsler Backgammon- oder Schachspiele herstellen.
Wenn sich die Bewohner eines Ortes oder eines Stadtteils darauf einigten, das Gemeinschaftsgebet in den Moscheen und den Gebetsruf zu den Gebetszeiten auszusetzen, dann war es nach al-Māwardī die Verantwortung des Muhtasib, ihnen die Durchführung von Gemeinschaftsgebet und Gebetsruf zu befehlen. Gegen Einzelpersonen, die nicht zum Gebet erschienen, sollte der Muhtasib dagegen nicht vorgehen, es sei denn, sie machten dies zu ihrer Gewohnheit. Strengere Regeln gibt hier Ibn Taimīya vor. Nach seiner Meinung hat der Muhtasib der Volksmenge die rechtzeitige Durchführung der fünf Gebete zu gebieten und jeden, der nicht betet, zu bestrafen.
Bekämpfung von Häresien
Nach allgemeiner Ansicht hat der Muhtasib auch die Aufgabe, häretische Tendenzen zu bekämpfen. So heißt es in dem zaiditischen Hisba-Text, dass der Muhtasib die Menschen daran hindern müsse, ohne Kenntnis der islamischen Normenlehre Geschichten zu erzählen. Außerdem solle er die „unwissenden Geschichtenerzähler“ (al-quṣṣāṣ al-ǧuhhāl) von den Moscheen fernhalten und verhindern, dass sich die Menschen um sie scharen. Al-Māwardī schreibt: „Wenn ein Koranexeget das Buch Gottes in einer Weise interpretiert, dass er den Wortsinn der Offenbarung durch eine esoterische Ketzerei ersetzt, die ihre Bedeutungen unnötigerweise verdunkelt, oder wenn sich ein Traditionarier dadurch hervortut, dass er verwerfliche Hadithe vorbringt, die abstoßend sind oder die Koraninterpretation verderben, obliegt es dem Muhtasib, dies zu missbilligen und zu verhindern.“ Al-Māwardī nimmt hier wahrscheinlich verblümt auf Vertreter schiitischer Lehren Bezug.
Nach Ibn Taimīya sollte der Muhtasib diejenigen Menschen in Wort und Tat zurechtzuweisen, die Handlungen begehen, die im Widerspruch zum Koran, zur Sunna und zum Konsens der Altvorderen (salaf) der Umma stehen. Hierzu gehörten seiner Meinung nach:
die Verunglimpfung von Prophetengefährten sowie von Imamen, Scheichen und bekannten Herrschern der Muslime,
die Anzweiflung der von den Gelehrten akzeptierten Hadithe,
die Überlieferung von erfundenen, dem Propheten untergeschobenen Hadithen,
Übertreibung in der Weise, dass man Menschen einen göttlichen Rang zuschreibt,
die Autorisierung von Verstößen gegen die Scharia des Propheten,
Abwegigkeit (ilḥād) bei den Namen und Zeichen Gottes (vgl. Sure 7:180), die Verdrehung von Worten durch Entfernung von ihrem eigentlichen Platz (vgl. Sure 4:46), die Leugnung der Vorsehung Gottes, und
die Aufführung von magischen Tricks (ḫuzaʿbalāt siḥrīya) und auf physikalischen Gesetzen fußender Gaukelei (šaʿbaḏa ṭabīʿīya), die den Wundern von Propheten oder Gottesfreunden gleicht.
Sobald jemand im Verdacht stand, derartige unrechtmäßige Neuerungen zu begehen, sollte der Muhtasib ihn nicht nur zurechtweisen, sondern auch die Menschen daran hindern, mit ihm zusammenzutreffen.
Niederhaltung der Ahl adh-Dhimma
Nach verbreiteter Auffassung war der Muhtasib auch für die Niederhaltung der Ahl adh-Dhimma zuständig. So sollte er ihnen befehlen, nichts von ihrem „Götzendienst“ öffentlich zu zeigen. Nach einer seldschukischen Urkunde hatte der Muhtasib die Aufgabe, die Ahl adh-Dhimma durch das vorgeschriebene gelbe Tuch (ġiyār) zu kennzeichnen. Gemäß asch-Schaizarī oblag dem Muhtasib auch die Einsammlung der Dschizya. Er erklärt, dass der Muhtasib hierbei so verfahren soll, dass er sich zunächst vor dem betreffenden Mann aufstellte, ihm mit der Hand auf eine Seite des Halses schlägt und dann ausruft: „Leiste die Dschizya, o Ungläubiger!“ (addi l-ǧizya, yā kāfir).
Die Amtsgewalt des Muhtasib und ihre Beschränkungen
Ermittlungs- und Jurisdiktionsbefugnis
Das Amt des Muhtasib geht nach dem malikitischen Rechtsgelehrten Ibn Sahl (gest. 1093) insofern über dasjenige des Qādī hinaus, als der Muhtasib eigenständig Ermittlungen über verbotene Handlungen anstellen kann, auch wenn diese ihm nicht zugetragen werden. Der Qādī urteilt dagegen nur über dasjenige, das ihm unterbreitet wird.
Umgekehrt ist auch die Jurisdiktionsbefugnis des Muhtasib sehr beschränkt. Nach al-Māwardī darf er sich nur mit unzweifelhaften Fällen befassen, in denen eine Übertretung untrüglich stattgefunden hat. Anders als der Qādī darf er sich nämlich nicht auf Beweise stützen und auch keinen Eid schwören lassen. Wenn es auf dem Markt um die Frage einer Falschmessung zu einem Konflikt kommt, darf sich der Muhtasib nur mit dem Fall befassen, so lange es keine gegenseitige Ableugnung gibt. Sobald aber einer der Streitbeteiligen Dinge abstreitet, ist nicht mehr der Muhtasib, sondern der Qādī für den Fall zuständig. Zwar ist der Muhtasib nicht zur Jurisdiktion befugt, doch hat er eine Kontrollfunktion gegenüber dem Qādī. So hat er das Recht, den Qādī zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, wenn er, ohne dass ein Hinderungsgrund vorliegt, es ablehnt, sich mit den Rechtsstreitigkeiten von Personen zu befassen, die sich an ihn wenden, so dass die Rechtsprechung zum Stillstand kommt und die Prozessgegner Schaden erleiden. Der hohe Rang des Qādī, so betont al-Māwardī, solle den Muhtasib nicht davon abhalten, dessen Fehlverhalten zu tadeln.
Anders als östliche Autoren, die dem Muhtasib jegliche Jurisdiktionsgewalt absprachen, nahmen westliche Autoren an, dass er eine solche Kompetenz in eingeschränkter Weise besitze. So meinte zum Beispiel der andalusische Gelehrte Ibn ʿAbdūn, dass in Fällen, in denen der Qādī verhindert sei, der Muhtasib solche Dinge entscheiden dürfe, die ihm und seiner Stellung angemessen seien. Ibn ʿAbdūn betonte auch sehr stark die Notwendigkeit der Kooperation zwischen Muhtasib und Qādī und erklärte, dass das Muhtasib-Amt „der Bruder“ des Qādī-Amtes sei. Er betrachtet den Muhtasib als den Sprecher (lisān), Wesir, Türhüter und Stellvertreter des Qādī. Ibn Farhūn (gest. 1397) äußerte, dass der Muhtasib zwar nicht befugt sei, über Rechtsfälle zu entscheiden, die Ehe- oder Handelsgeschäfte betreffen, er jedoch bei Hisba-typischen Angelegenheiten wie den Vorbauten von Häusern, die auf die Straße ragen, auch Recht sprechen könne.
Ausspähverbot
Der Ermittlungsauftrag des Muhtasib war allerdings durch das Verbot der Ausspähung (taǧassus) beschränkt. Dieses besagt, dass der Muhtasib keine Vergehen auskundschaften durfte, die nicht öffentlich geschahen. Derartige Vergehen durfte der Muhtasib auch nicht publik machen. Eine Ernennungsurkunde der Choresm-Schahs erklärt, dass der Muhtasib keine Mauern ersteigen, keine Schleier heben, keine Tore aufbrechen und auch nicht an die Öffentlichkeit zerren dürfe, was Gott zu verbergen befohlen habe.
Als Grundlage für das Ausspähverbot wird auf einen Bericht verwiesen, wonach der zweite Kalif ʿUmar ibn al-Chattāb (reg. 634–644) einmal über das Dach in das Haus eines Mannes einstieg, ihn dort etwas Verbotenes tun sah und deswegen zurechtwies. Der Mann erwiderte daraufhin, dass er selbst zwar gegen eine koranische Vorschrift verstoßen habe, ʿUmar jedoch gleich gegen drei, nämlich erstens „Spioniert nicht!“ (Sure 49:12), zweitens „Betretet die Häuser durch die Türen!“ (Sure 2:189) und „Betretet keine Häuser, die nicht eure Häuser sind, bevor ihr um Erlaubnis gebeten und ihre Bewohner gegrüßt habt“ (Sure 24:27). ʿUmar ließ daraufhin von ihm ab. Der indopersische Geschichtsschreiber Badā'unī (gest. ca. 1615) berichtet von einem Vorfall, bei dem private Muhtasibs über die Mauer in das Haus eines für seine Ausschweifungen bekannten Gelehrten aus Lahore eindrangen, als er in Gesellschaft einer Sängerin Wein trank. Sie zerschlugen die Weinkrüge und Musikinstrumente und wollten ihn bestrafen. Er verwies sie jedoch wie der Mann, in dessen Haus ʿUmar eingedrungen war, auf die drei Koranverse und machte ihnen auf diese Weise klar, dass sie größere Vergehen begangen hatten als er, woraufhin sie beschämt abzogen.
Wer in seinem eigenen Haus eine Sünde begeht, darf vom Muhtasib nicht ausgespäht werden. Selbst wenn er aus dem Inneren eines Hauses den Klang verbotener Musikinstrumente hört, darf der Muhtasib nicht gewaltsam in das Haus eindringen, sondern darf die Missetäter nur von außen maßregeln. Eine Ausnahme soll nach Ibn al-Uchūwa nur dann gelten, wenn das Vergehen die Verletzung eines heiligen Gutes (intihāk ḥurma) einschließt, das nicht mehr wiederherstellbar ist. Wenn dem Muhtasib zum Beispiel von einer vertrauenswürdigen Person zugetragen wird, dass sich ein Mann mit einem anderen Mann in ein Haus zurückgezogen hat, um ihn zu töten, oder sich mit einer Frau dorthin zurückgezogen hat, um mit ihr außerehelichen Geschlechtsverkehr zu begehen, darf er zur Vermeidung der Verletzung heiliger Güter und der Begehung von verbotenen Handlungen Nachforschungen anstellen und die betreffenden Personen ausspähen.
Die Frage des Idschtihād
Umstritten war die Frage, wie weit der Muhtasib bei der Beurteilung zweifelhafter Fälle eigenen Idschtihād anwenden darf. Nach al-Māwardī durfte er nur hinsichtlich der Fragen, die nach dem ʿUrf beurteilt werden, eigenen Idschtihād ausüben. Dieser ʿUrf-Idschtihād betrifft vor allem die Frage, was schädlich ist und was nicht. Bei Fragen, die nach der Scharia beurteilt werden, soll ihm der Idschtihād dagegen verwehrt sen. Darüber hinaus teilt al-Māwardī mit, es bestehe ein Gelehrtendissens hinsichtlich der Frage, ob der Muhtasib bei den verwerflichen Dingen, über die die Rechtsgelehrten unterschiedliche Ansichten haben, die Menschen zu seinem eigenen Urteil bekehren dürfe, zu dem er über Idschtihād gelangt ist. Er referiert hierzu zwei unterschiedliche Meinungen innerhalb der schafiitischen Rechtsschule. Nach der Meinung von Abū Saʿīd al-Istachrī, der zu Beginn des zehnten Jahrhunderts das Amt der Hisba von Bagdad ausübte, durfte der Muhtasib so handeln, musste aber dementsprechend auch die Fähigkeit zum Idschtihād hinsichtlich der religiösen Normen (aḥkām ad-dīn) besitzen. Nach der anderen Meinung war der Muhtasib dazu nicht befugt, musste aber dementsprechend auch keine Idschtihād-Befähigung besitzen, sondern nur die Verbote kennen, über die Einigkeit besteht.
Nach Ibn al-Uchūwa darf ein Muhtasib, der nicht über ausreichend Wissen und Idschtihād-Kompetenz verfügt, religiöse Lehren nicht selbst beurteilen, sondern muss sich bei deren Beurteilung auf den Konsens der Gelehrten stützen. Er warnt in diesem Zusammenhang vor der großen Gefahr, dass sich ein unwissender Muhtasib in Dinge einmischt, von denen er nichts versteht. Der Schaden, den er dann bewirke, sei größer als der Nutzen.
Strafgewalt
Die wichtigsten Strafwerkzeuge des Muhtasib waren Peitsche, Dirra und Turtūr. Die Dirra war eine mit Dattelkernen gefüllte Kuh- oder Kamelhaut. Sie soll eine Erfindung von ʿUmar ibn al-Chattāb gewesen sein. Bei dem Turtūr handelt es sich um eine Filzmütze, die mit bunten Stoffflicken, Onyx, Muscheln, Glöckchen sowie Fuchsschwänzen und Katzenschwänzen geschmückt war. Sie wurde dem Delinquenten auf den Kopf gesetzt, wenn er im Rahmen einer Ehrenstrafe auf dem Strafesel durch die Stadt geführt wurde.
Für manche Delikte, die der Muhtasib zu verfolgen hatte, werden konkrete Körperstrafen genannt. So sagt asch-Schaizarī, dass der Muhtasib, wenn er auf jemanden stößt, der Alkohol trinkt, ihm 40 Peitschenhiebe auf die nackte Haut verpassen soll. Er solle dabei die Hand, die die Peitsche hält, soweit heben, dass die weiße Haut seiner Achselhöhle sichtbar wurde, und dann die Peitschenhiebe auf seine Schultern, seine Gesäßbacken und seine Oberschenkel verteilen. Nach Meinung Ibn Taimīyas hatte der Muhtasib vor allem denjenigen, der nicht betet, mit Schlägen zu bestrafen.
Strittig war die Frage, ob der Muhtasib eigenständig Haftstrafen verhängen darf. Dem buyidischen Muhtasib von Raiy wurde in der Ernennungsurkunde erlaubt, Missetäter einzusperren. Nach al-Māwardī durfte der Muhtasib dagegen keine Delinquenten einsperren, weil dies den Beschluss eines Qādī erforderte. Ibn Taimīya meinte, dass der Muhtasib denjenigen, der nicht die fünf Gebete durchführt, auch durch Gefangensetzung bestrafen könne.
Die Befugnis zur Amputation oder zur Tötung des Delinquenten hatte der Muhtasib dagegen nicht. Nach Auffassung asch-Schaizarīs war der Muhtasib aber dafür zuständig, bei Zinā-Vergehen die Hadd-Strafe zu vollziehen, wenn das Vergehen beim Imam bestätigt war. Im Falle von Männern und Frauen, die Zinā im Ihsān-Zustand begangen hatten, sollte der Muhtasib eine Volksmenge außerhalb der Stadt versammeln, um dort öffentlich mit ihnen die Steinigung des Delinquenten bzw. der Delinquentin zu vollziehen. Wenn der Delinquent mit einem Knaben Unzucht begangen hatte, sollte ihn der Muhtasib von der höchsten Stelle des Ortes hinabstürzen.
Strafen, die der Muhtasib nicht auszuführen befugt war, durfte er Delinquenten aber durchaus androhen, um sie einzuschüchtern. Ibn al-Uchūwa rechtfertigt dies damit, dass Salomo bei seinem Urteil über die zwei Dirnen ebenso verfahren war. Die Abschreckungsfunktion des Muhtasib wird auch von anderen Autoren hervorgehoben. So erklärt asch-Schaizarī, dass der Muhtasib zur Einschüchterung potentieller Delinquenten seine drei Strafinstrumente (Peitsche, Dirra und Turtūr) an seiner Dikka aufhängen solle. Berufsgruppen wie die Apotheker, deren Schwindeleien kaum zu kontrollieren waren, sollte er besonders häufig durch Strafandrohungen in Furcht versetzen. Al-Māwardī erklärt, dass der Muhtasib, wenn er sein Amt mit Schärfe (salāṭa) und Grobheit (ġilẓa) ausübe, sich keiner Übertretung oder Rechtsverletzung schuldig mache, weil die Hisba ein Amt sei, das der Erweckung von Furcht (ruhba) diene.
Besonderheiten bei den Zaiditen
Bei den Zaiditen hatte der Muhtasib einige Sonderaufgaben. So war er dafür verantwortlich, dass beim Gebetsruf und der Iqāma die Formel Ḥaiya ʿalā ḫayri l-ʿamal rezitiert wurde, die das Kennzeichen der Ahl al-bait darstellt, und er sollte den Gläubigen verbieten, sich vor dem Gebet über die Schuhe zu streichen. Wenn eine Person vor dem zaiditischen Imam flüchtete, oblag es dem Muhtasib, dessen Haus niederzureißen.
Eine Besonderheit des zaiditischen Staatsrechts ist, dass es dem Muhtasib auch politische und militärische Vollmachten zuerkennt. Der Muhtasib kann im Falle des Fehlens eines rechtmäßigen Imams die Rolle eines Verwesers einnehmen. Er ist dann dafür zuständig, das Land und die Grenzen gegen Angreifer zu verteidigen, die Stiftungen zu erhalten, Wasserstellen, Moscheen und Wege zu inspizieren und Übergriffe unter der Bevölkerung abzuwenden. Beim Erscheinen eines rechtmäßigen Imams hat er sofort zurückzutreten.
Das Amt nach dem Ende des abbasidischen Kalifats von Bagdad …
Nach dem Ende des abbasidischen Kalifats von Bagdad (1258) wurde das Amt des Muhtasib in den verschiedenen islamischen Staaten fortgeführt, wobei allerdings verschiedene Veränderungen eintraten, die in den folgenden Abschnitten beschrieben werden.
… bei den Mamluken in Ägypten und Syrien
Unter den Mamluken (1250–1517) gab es in Ägypten drei Muhtasibs, einen in Kairo, der gleichzeitig für Unterägypten mit Ausnahme von Alexandria verantwortlich war, einen in Alexandria, der nur für diese Stadt zuständig war, und schließlich einen in al-Fustāt, dessen Jurisdiktionsbereich sich über ganz Oberägypten erstreckte. Die beiden Muhtasibs von Kairo und al-Fustāt waren wie der Ober-Qādī, der Militär-Qādī, die vier obersten Muftis und der Leiter der Finanzbehörde Teil des Hofstaates des Herrschers (al-ḥaḍra as-sulṭānīya). Der Muhtasib von Kairo hatte von allen Muhtasibs den höchsten Rang inne. Er hatte im „Haus der Justiz“ (dār al-ʿadl) seinen Sitzplatz unterhalb des Leiters der Finanzbehörde oder, wenn er über größere Bildung verfügte, auch oberhalb von ihm. Auch in den syrischen Provinzen gab es Muhtasibs. Sie wurden durch die Provinzgouverneure ernannt.
Veränderungen in der Ämterbesetzung
Für die Zeit zwischen 1265 und 1517 lassen sich in Kairo insgesamt 184 Muhtasibs nachweisen, von denen 30 das Amt mehrfach bekleideten. Für al-Fustāt, wo das Amt nur bis 1440 bestand, lassen sich 62 Muhtasibs nachweisen, von denen 13 das Amt mehrmals bekleideten. Anfang des 15. Jahrhunderts versahen fünf Muhtasibs das Amt gleichzeitig in Kairo und al-Fustāt.
Der ägyptische Kanzleibeamte al-Qalqaschandī (gest. 1418), der in seinem Verwaltungshandbuch Ṣubḥ al-aʿšā die Ämterorganisation des Mamlukenreichs beschreibt, rechnet die Muhtasibs von Kairo und al-Fustāt noch den religiösen Amtsträgern (arbāb al-waẓā'if ad-dīnīya) zu. Allerdings erlebte das Amt in Kairo im Laufe der Zeit einen Wandlungsprozess, der dazu führte, dass immer häufiger Angehörige der Militärklasse zum Muhtasib ernannt wurden. Mit Jonathan Berkey, der die biographische und historiographische Literatur der Zeit ausgewertet hat, lässt sich dieser Prozess in sechs aufeinanderfolgende Phasen einteilen:
In der Zeit von 1260 bis zum Ende des 14. Jahrhunderts wurde das Amt fast ausschließlich Angehörigen der ʿUlamā' übertragen. Viele von ihnen fungierten zu einem bestimmten Zeitpunkt auch als Qādī oder lehrten Fiqh an einer der zahlreichen Madrasas von Kairo. Wie aus dem Hisba-Buch von Ibn al-Uchūwa (gest. 1329) hervorgeht, wurde es in seiner Zeit noch als Pflicht des Sultans betrachtet, den Muhtasib mit ausreichendem Lebensunterhalt zu versehen. Ab den 1380er Jahren wurde es jedoch üblich, dass der Sultan die Muhtasibs bei der Einsetzung verpflichtete, ihm anschließend dafür eine bestimmte Summe zu zahlen. Die Muhtasibs konnten dieses Versprechen nur deswegen abgeben, weil sie selbst bei den Händlern Abgaben erhoben. Damit zeichnet sich der Übergang zum Steuerpachtsystem ab.
Von 1396 bis 1413 war das Muhtasib-Amt besonders instabil: Muhtasibs wurden häufig innerhalb von kürzester Zeit ernannt und entlassen, manchmal wieder eingesetzt und wieder entlassen. Die durchschnittliche Amtsdauer betrug weniger als drei Monate. Eine Person, Muhammad ibn ʿUmar al-Dschābī, wurde in dieser Zeit sogar insgesamt 18 Mal zum Muhtasib ernannt. Das Amt wurde zum Spielball verschiedener rivalisierender Emire, die es mit ihren Günstlingen zu besetzen versuchten. Dies zeigt besonders deutlich die sogenannte Muhtasib-Affäre (1399–1401), in der die beiden Gelehrten al-Maqrīzī (1364–1442) und Badr ad-Dīn al-ʿAinī (1361–1451), die in verschiedene Patronagesysteme eingebunden waren, viermal gegeneinander ausgetauscht wurden. Erstmals wurden in dieser Zeit auch Personen, die nicht der Gelehrtenklasse angehörten, zum Muhtasib ernannt.
Die Zeit zwischen 1413 und 1422, die mit der Herrschaft von al-Mu'aiyad Schaich zusammenfällt, stellt eine Übergangsperiode dar. Zwar wird das Amt noch öfters mit Religionsgelehrten besetzt, zum Beispiel mit dem besonders strengen Sadr ad-Dīn Ibn al-ʿAdschamī, doch kommen zum ersten Mal auch mamlukische Emire zum Einsatz. Die durchschnittliche Amtsdauer der Muhtasibs steigt wieder etwas. Während einer Hungersnot im Jahre 1416 übernimmt der Sultan für kurze Zeit selbst das Muhtasib-Amt.
Während der Herrschaft von al-Aschraf Barsbāy, die von 1422 bis 1438 andauert, kehrt wieder Stabilität ein. Insgesamt finden nur vier Amtswechsel statt: Zwei Mal wird erneut Badr ad-Dīn al-ʿAinī zum Muhtasib ernannt, die anderen Amtsträger sind ein Emir und ein Bürokrat.
In der Zeit zwischen 1438 und 1505 wird das Amt fast nur noch mit Angehörigen der Militärklasse besetzt: hochrangigen Emiren oder Mamluken, die auf dem Weg zu dieser Position sind. Dadurch verliert das Amt seinen religiösen Charakter. Die durchschnittliche Amtszeit liegt bei 16 Monaten.
Zwischen 1505 und der Einnahme Kairos durch die osmanischen Armeen im Jahre 1517 befand sich das Amt fast durchgehend in der Hand von Zain ad-Dīn Barakāt ibn Mūsā, einem Mann beduinischer Herkunft. Er konnte als Gefährte des Sultans enorme Macht anhäufen und fungierte bei dessen Abwesenheit als sein Stellvertreter.
Anders als in Kairo wurden in al-Fustāt die Muhtasibs durchgehend aus der Klasse der Religionsgelehrten ausgewählt.
Veränderungen im Aufgabenfeld
Aus zeitgenössischen Chroniken geht hervor, dass einige Muhtasibs der Mamlukenzeit ihre religiösen Kontrollaufgaben sehr ernst nahmen. So erwähnt al-Maqrīzī, dass im Rabīʿ al-auwal 822 (= März/April 1419) der Muhtasib Ibn al-ʿAdschamī die „Orte des Verderbens“ (amākin al-fasād) aufsuchte und selbst Tausende von Weinkrügen verschüttete und zerschlug. Außerdem verbot er den Frauen die Totenklage, untersagte die öffentlichen Haschisch-Gelage und hinderte die Prostituierten daran, auf Märkten und an zweifelhaften Orten nach Freiern Ausschau zu halten. Ibn al-ʿAdschamī verpflichtete Juden und Christen, ihre Ärmel zu verengen, ihre Turbane auf eine Länge von sieben Ellen zu verkleinern, und die Bäder nur noch mit am Hals befestigten Schellen zu betreten. Ihre Frauen mussten gefärbte Überwürfe tragen, und zwar die jüdischen Frauen gelbe und die christlichen Frauen blaue. Da aber eine Gruppe von Menschen für sie Partei ergriff, wurde nur ein Teil dieser Maßnahmen wirklich umgesetzt, andere dagegen nicht. Einige Monate später, als Nachrichten über eine schlechte Behandlung von Muslimen durch den Herrscher von Äthiopien Ägypten erreichten, wurde der Muhtasib erneut mit Maßnahmen gegen Christen beauftragt. So beschimpfte er im Auftrag des Sultans den koptischen Patriarchen, mit der Begründung, dass die Christen die ihnen auferlegten Kleidungsvorschriften vernachlässigt hatten, und führte den früheren christlichen Sekretär des Sultans nackt durch die Straßen von Kairo.
Wie zuvor bei den Fatimiden sah man aber die Hauptzuständigkeit des Muhtasib in der Lebensmittelversorgung. Das spiegelt sich auch auf der Ebene der theoretischen Texte wider. So erklärt Ibn Bassām, dass der Muhtasib einen Bevollmächtigten an der Meeresküste haben sollte, wo das Getreide ankomme, damit dieser ihn darüber informieren könne, was jeden Tag bei ihm eintreffe. Der Muhtasib habe dann die Aufgabe, das Getreide entsprechend der Einwohnerzahlen im Lande zu verteilen. Tādsch ad-Dīn as-Subkī definierte es als die Pflicht des Muhtasib, die Nahrungsmittel zu überwachen und dafür Sorge zu tragen, dass den Muslimen alle lebensnotwendigen Gegenstände zur Verfügung stehen. Muhtasibs, denen es nicht gelang, Teuerungen zu verhindern, mussten mit dem Volkszorn rechnen oder wurden entlassen und manchmal sogar ausgepeitscht.
Daneben rückte der Muhtasib immer stärker in die Rolle eines für die Märkte zuständigen Steuereintreibers. 1378 wurde dem Muhtasib von Kairo die Aufgabe übertragen, bei Händlern und Geldwechslern die Zakāt einzusammeln. Schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts war es außerdem üblich geworden, dass der Muhtasib bei Händlern und Handwerkern eine monatliche Gebühr einzog, die mušāhara genannt wurde. In den letzten hundert Jahren der mamlukischen Herrschaft, als sich die Steuerbasis des Staates verringerte, wurde diese fiskalische Aufgabe des Muhtasib immer wichtiger. Der Staat war zunehmend auf die vom Muhtasib eingezogenen Steuern angewiesen. Einzelne mamlukische Herrscher unternahmen im 15. Jahrhundert Versuche, die Hisba-Abgaben wieder abzuschaffen, doch konnten sie sich damit nicht durchsetzen. Der Funktionswandel des Amtes erklärt auch, warum immer öfter Angehörige der Militärelite mit ihm betraut wurden.
Die Hisba muss ein einträgliches Geschäft gewesen sein, denn für die Einsetzung in dieses Amt waren Personen bereit, Beträge bis zu 15.000 Dinar zu bezahlen. Umgekehrt waren auch die vom Muhtasib an den Staat abgeführten Summen sehr hoch. Ibn Iyās berichtet 1516, dass sie jährlich 76.000 Dinar betrugen.
… unter Ilchanen und Timuriden
Nach ihrer Konversion zum Islam setzten auch die Ilchane in Iran Muhtasibs ein. Der persische Kanzleisekretär Muhammad ibn Hinduschāh Nachdschawānī, der um 1340 für die Ilchane ein Verwaltungshandbuch verfasste, erwähnt darin einen Gelehrten namens Diyā’ ad-Dīn Muhammad, der aufgrund seiner großen Frömmigkeit zum Muhtasib der Hauptstadt Täbris ernannt wurde, um dort „so, wie es in den Rechtsbüchern beschrieben ist, das Rechte zu gebieten und das Unrechte zu verbieten und die muslimischen Gruppen zur Befolgung der Traditionen der Scharia zu bringen.“ Muhtasibs gab es offenbar in jeder Provinz. Als sich Ghāzān Chān dazu entschloss, die Gewichte und Maße in seinem Reich zu vereinheitlichen, befahl er, dass dies in jeder Provinz in Anwesenheit des Muhtasib durchgeführt werden sollte.
Der Muhtasib erhielt bei den Ilchanen keine staatliche Besoldung, sondern zog eigene Gebühren ein. Nachdschawānī ermahnte die Basarhändler, die Gebühren, die jedem Geschäft wöchentlich und monatlich auferlegt waren, an den Muhtasib zu entrichten und dabei nichts zurückzuhalten. Nachdschawānī hielt Preisfestlegungen durch den Muhtasib für zulässig, warnte aber, dass sich der Muhtasib dabei wegen des genannten Prophetenhadith um Wahrhaftigkeit (ḥaqq) und Aufrichtigkeit (ṣidq) bemühen und einen Preis festlegen müsse, mit dem sowohl die Vornehmen als auch das einfache Volk einverstanden seien. Wenn dann Händler oder Handwerker stattdessen einen eigenen Preis festsetzten, sollte dieser keine Gültigkeit haben und die betreffenden Personen bestraft werden. Muhtasibs, die ihre Amtsgewalt dazu benutzten, das Leben der Bevölkerung einzuengen, sollten nach Nachdschawānīs Auffassung abgesetzt werden.
Auch die Timuriden in Zentralasien setzten Muhtasibs ein. Hans Robert Roemer hat drei Muhtasib-Ernennungsurkunden aus der Timuridenzeit übersetzt und ausgewertet. Sie stammen aus dem Inschā'-Werk des persischen Gelehrten ʿAbdallāh Marwarīd (gest. 1516), der selbst eine Zeitlang das Muhtasib-Amt in der timuridischen Hauptstadt Herat versah. In diesen Ernennungsurkunden werden unter anderem das Ausgießen des Weins und anderer berauschender Getränke sowie das Zerbrechen der betreffenden Gefäße, das Zertrümmern von Musikinstrumenten wie Gitarren und Flöten und die Unterdrückung der Taubenspieler als Aufgaben des Muhtasib genannt. Von Schāh Ruch, der von 1409 bis 1447 in Chorasan und Transoxanien herrschte, wird berichtet, dass er den Muhtasibs große Vollmachten gab. Die Regel, wonach der Muhtasib keine Privathäuser betreten durfte, wurde unter seiner Herrschaft außer Kraft gesetzt. Die Muhtasibs von Herat sollen auch Häuser hochgestellter Persönlichkeiten betreten und den Wein ausgegossen haben, wenn sie welchen fanden. Schāh Ruchs Sohn Ulugh Beg, der ab 1409 von Samarkand aus über Transoxanien herrschte, setzte dort ebenfalls einen Muhtasib ein, hatte jedoch mehrfach Konfrontationen mit ihm, weil sowohl er als auch sein Schaich al-Islām öfters Feiern veranstalteten, bei denen Wein getrunken wurde und Frauen anwesend waren.
… im Osmanischen Reich
In den osmanischen Kerngebieten
Die früheste Erwähnung eines Muhtasib auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs findet sich in einer Urkunde aus Bursa aus dem Jahre 1385. Später wurden auch viele andere osmanische Städte mit Muhtasibs ausgestattet. Das Aufgabenfeld des frühosmanischen Muhtasib oder Ihtisāb Ağası, wie er auch genannt wurde, ist durch mehrere Urkunden von Mehmed II. und Bayezid II. dokumentiert. Eine Ernennungsurkunde aus dem Jahre 1479 für den Muhtasib von Edirne weist ihm religiöse und ökonomische Aufgaben zu: Er soll diejenigen, die das Gebet vernachlässigen oder berauschende Getränke trinken, zurechtweisen, zusammen mit den Marktleuten den Höchstpreis (narḫ) der Lebensmittel festlegen und Maße und Gewichte überprüfen. Einmal im Monat soll er alle Handwerker überprüfen. Diejenigen, die er mit falschen Gewichten oder Maßen antrifft, soll er entsprechend der Schwere des Vergehens mit Geldstrafen belegen.
Die Aufsichts- und Inspektionspflichten der Muhtasibs von Istanbul, Bursa und Edirne sowie die von ihnen zu verhängenden Strafen und Steuern wurden 1502 in drei sehr ausführlichen Ihtisāb-Reglements kodifiziert. Das Reglement für Istanbul, das von N. Beldiceanu übersetzt und in 51 Paragraphen eingeteilt wurde, weist gegenüber den klassischen Hisba-Regeln einige Zusatzbestimmungen auf. So wurde festgelegt, dass der Muhtasib ein Mal pro Woche den Getreidemarkt kontrollieren soll (§ 15), dass er die Stoffhändler bestrafen soll, die die Regelgrößen der Stoffe nicht einhalten (§ 25) und dass Bootsladungen nur mit Zustimmung des Muhtasib verkauft werden dürfen (§ 37). Bei Preisfestlegungen sollte der Muhtasib Händlern eine Gewinnspanne von 10 bis 15 Prozent gewähren; Geldverleiher durften bis zu 12 Prozent Zinsen nehmen. Personen, die diese Höchstsätze überschritten, sollte der Muhtasib bestrafen (§§ 5, 17, 40, 49). Außerdem wurde bestimmt, dass der Muhtasib diejenigen, die das Gebet nicht verrichteten, mit Hilfe der Stadtteil-Imame überwachen lassen sollte. Wenn sie ihr Verhalten nicht änderten, sollte er sie bestrafen (§ 47). Als Strafen waren je nach Fall Stockschläge, Geldstrafen, Halseisen oder das öffentliche unehrenhafte Herumführen vorgesehen.
Die Muhtasibs in den osmanischen Kerngebieten entstammten üblicherweise nicht der Klasse der Gelehrten, sondern waren Militärbeamte (çavuşlar). Der Muhtasib von Istanbul hatte im 17. Jahrhundert seinen Sitz im Çardak, einem Pavillon in der Nähe der Schiffsanlegestelle Yemiş am Goldenen Horn, an der das frische Obst angeliefert wurde. Galata und Üsküdar hatten eigene Muhtasibs. Ersterem unterstanden Stellvertreter in Beşiktaş und Tophane.
Was ihren Status anlangt, so lassen sich im 15. Jahrhundert noch zwei verschiedene Arten von Muhtasibs unterscheiden: solche, die über ein Tımar-Lehen versorgt waren, und solche, die Steuerpachtnehmer waren. Später wurde das Steuerpacht-System (iltizām) zum Regelfall. Dieses sah vor, dass das Amt jährlich neu vergeben wurde, wobei der Inhaber bei der Einsetzung einen Berât erhielt und anschließend einen bestimmten Betrag zahlen musste, der Bedel-i muqātaʿa genannt wurde. Sobald der Muhtasib im Amt war, konnte er eigene Steuern erheben, darunter die täglichen Ladenabgaben (yewmiyye-i dekākīn), die alle Lebensmittelverkäufer zu zahlen hatten, den Marktzoll (bâc-i pâzâr), der auf alle von außerhalb kommenden Waren erhoben wurde, die Stempel-Gebühr (damga resmi) und diverse Wäge- und Messgebühren. Für die Ladenabgaben wurde Istanbul in 15 qol genannte Steuerbezirke eingeteilt. Bei der Einziehung dieser Abgaben wurde der Muhtasib von den qol oğlānları unterstützt. Von den Ladenabgaben gingen Ende des 17. Jahrhunderts etwa drei Viertel an die Staatskasse, der Rest diente zur finanziellen Versorgung der vierzig aktiven sowie der pensionierten Ihtisāb-Mitarbeiter, zur Bezahlung der Miete des Çardak und zur Deckung laufender Kosten.
Schon im 15. Jahrhundert kam es vor, dass Muhtasibs, um das Geld für die Steuerpacht aufzubringen, mit Handwerkern Absprachen trafen, in der Weise, dass sie diesen gegen Entrichtung einer zusätzlichen Gebühr erlaubten, höhere Preise zu nehmen. Die Hohe Pforte versuchte immer wieder, derartige Praktiken zu unterbinden. Ein Erlass von Mehmed IV. aus dem Jahre 1680 für Istanbul besagt: „Wenn der Muhtasib mit den Leuten des Sūq Absprachen trifft oder nicht diejenigen überwacht, die weniger geben als für den festgesetzten Preis vorgesehen, soll er bestraft werden.“
Bis ins frühe 19. Jahrhundert bestand das Muhtasib-Amt in den osmanischen Kerngebieten im Wesentlichen unverändert fort. 1826 wurde es durch ein neues Statut, das İhtisāb ağalığı nizāmnāmesi, mit zusätzlichen Vollmachten ausgestattet, 1854 dann aber im Zuge der osmanischen Verwaltungsreformen abgeschafft.
In den arabischen Provinzen
Muhtasibs gab es während der osmanischen Zeit auch in mehreren arabischen Provinzstädten. In Jerusalem war der Muhtasib im 16. und 17. Jahrhundert einer der höchsten Beamten der Stadt. Er setzte in Absprache mit der politischen Autorität die Preise der Nahrungsmittel fest und war auch für die Versorgung der Stadt mit Mehl zuständig. Die Muhtasibs rekrutierten sich sehr häufig aus der Zunft der Metzger.
Besonders viele Informationen liegen über den Muhtasib in Kairo vor, wo das Amt vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Regel einem höheren Offizier der Tschāwuschīya übertragen war. Der Muhtasib wurde von einer Anzahl von Assistenten (aʿwān) unterstützt, die bei öffentlichen Auftritten sein Gefolge bildeten. Zu diesen Assistenten, die vom Muhtasib besoldet wurden, gehörten ein Schatzmeister (ḫaznadār), ein Schreiber (mubāšir), ein Wäger (wazzān) und verschiedene Assistenten, die die vom Muhtasib verhängten Strafen vollzogen. Der Zuständigkeitsbereich des Muhtasib war allerdings auf die Aufsicht über die Lebensmittelhändler beschränkt, deren Preise, Gewichte und Maße er kontrollierte. Auf Obst und Gemüse, das in die Stadt gebrachte wurde, erhob er Gebühren, die er auf dem Markt einzog. Von den Kontrollrunden, die der Muhtasib durch Kairo machte, sind in der europäischen Reiseliteratur eindrucksvolle Berichte überliefert. Hoch zu Ross und in eine schwarze Robe gekleidet, ritt er mit seinem Gefolge und einer Janitschareneskorte durch die Stadt, wobei ihm der Wäger mit einer großen Waage vorauslief. Der Muhtasib machte bei verschiedenen Läden halt und ließ sich von ihren Besitzern Maße und Gewichte zeigen, um sie zu überprüfen. Wenn Maße oder Gewichte nicht korrekt waren, wurden die betreffenden Personen direkt bestraft. Der Muhtasib von Kairo hatte außerdem eine wichtige Kommunikationsfunktion, weil er Mitteilungen der Regierung durch Ausrufer der Bevölkerung bekanntmachte. Darüber hinaus leitete er die Zeremonie der Neumondsichtung (ru’yat al-hilāl), bei der der Beginn des Ramadan verkündet wurde.
Im Laufe der Zeit verlor das Muhtasib-Amt in Kairo aber zusehend an Autorität. Dies lag zum Teil daran, dass es seit dem 17. Jahrhundert immer wieder zu Fällen von Korruption und Schutzgelderpressung durch Muhtasibs kam. Ein weiterer Grund war, dass sich die Anzahl der Immunitätsbezirke, die der Kontrolle des Muhtasib entzogen waren, vergrößerte. So konnten sich beispielsweise die Juden gegen Zahlung eines Geldbetrages von den Besuchen des Muhtasib befreien. Hinzu kam, dass sich der Janitscharen-Agha im Laufe der Zeit immer mehr Kompetenzen des Muhtasib aneignete.
Nachdem 1805 Muhammad Ali Pascha die Herrschaft über Ägypten erlangt hatte, versuchte er, den Niedergang des Muhtasib-Amtes aufzuhalten. 1817 setzte er einen neuen Muhtasib in Kairo ein, den er mit sehr weitgehenden Vollmachten ausstattete, um die Händler zu disziplinieren. Dieser Muhtasib, der Mustafā Agha Kurd hieß, orientierte sich an den klassischen Hisba-Regeln und befahl 1818 den Einwohnern von Kairo, die Märkte und Straßen zu reinigen und die Erde, die sich auf ihnen abgelagert hatte, abzutragen.
Nach Edward William Lane, der sich zwischen 1825 und 1830 in Kairo aufhielt, hielt dieser Muhtasib gelegentlich Passanten an, die Lebensmittel gekauft hatten, und fragte sie nach dem Preis, den sie bezahlt hatten, um auf diese Weise Händlern, die sich nicht an die festgesetzten Preise hielten, auf die Schliche zu kommen. Gegen Delinquenten ging er äußerst brutal vor. So ließ er einem Fleischer, der einem Kunden zu wenig Fleisch gab, das fehlende Stück aus seinem Rücken herausschneiden, und einen Kunāfa-Bäcker, der seine Kunden betrogen hatte, auf seiner eigenen Kunāfa-Pfanne rösten. Anderen Delinquenten ließ er die Ohrläppchen abschneiden. Ansonsten war die Auspeitschung die geläufige Art der Bestrafung durch den Muhtasib. 1837 wurde das Amt im Zuge einer Verwaltungsreform jedoch endgültig in Ägypten abgeschafft.
… im Iran von den Safawiden bis zu den Kadscharen
Unter den frühen Safawiden hatten fast alle größeren Städte einen Muhtasib. Der oberste Muhtasib des Reiches wurde als muḥtasib al-mamālik („Muhtasib des Reiches“) bezeichnet. Seine Hauptaufgabe war die Preisfestsetzung. Gemäß dem safawidischen Verwaltungshandbuch Tadhkirat al-mulūk von ca. 1725 sollten die Vorsteher jeder Gilde von Isfahan monatlich eine Vereinbarung über die Preise der von ihnen verkauften Produkte zur Genehmigung an den Muhtasib al-Mamālik senden. Der Muhtasib sollte Stellvertreter in den verschiedenen Landesteilen einsetzen, die in seinem Auftrag sicherstellten, dass die Handwerksgilden ihre Güter zu den festgelegten Preisen verkauften. Handwerker, die sich nicht an die vom Muhtasib bestätigten Preisfestsetzungen hielten, sollten mit einer Schandmaske (tachta-kulāh) herumgeführt werden. Jean Chardin, der in spätsafawidischer Zeit durch Persien reiste, berichtet, dass in Isfahan die Preise tatsächlich jeden Samstag durch den Muhtasib festgelegt wurden und jeder Verkäufer, der höhere Preise verlangte, schwer bestraft wurde. Er gibt auch an, dass es bei der Festlegung der Preise zu Bestechungen kam und Verkäufer dem Muhtasib Geschenke machten, um ihn dazu zu bringen, die Preise auf einem möglichst hohen Niveau festzulegen. Den Unterhalt des Muhtasib von Isfahan bildete eine Gebühr, die verschiedene Geschäfte und Zünfte an ihn entrichteten.
Gegen Ende der Safawidenzeit erlebte das Muhtasib-Amt einen Niedergang, als andere Amtsträger wie Dārūgha und Kalāntar sich zunehmend in die Amtsgeschäfte des Muhtasib einmischten. Diejenigen seiner Aufgaben, die mit Verstößen gegen die Scharia zu tun hatten, wurden immer häufiger vom Dārūgha übernommen. Unter der kurzlebigen Zand-Dynastie wurde das Amt aber erneut gestärkt. Es wird überliefert, dass Karīm Chān Zand (reg. 1760–1779) in jeder Stadt einen Muhtasib einsetzte, „der sich um die Korrektheit und Stimmigkeit der Maße und Gewichte, der Warenpreise, von Handel und Wandel in der Stadt kümmerte“. Edward Scott Waring, der um 1802 Schiras besuchte, berichtet, dass der Muhtasib, der dem dortigen Darūgha untergeordnet war, Personen bei Verwendung falscher Gewichte sogar mit dem Tode bestrafte.
ʿAbdallāh Chān Amīn ad-Daula, von 1827 bis 1834 Großwesir unter dem Kadscharen-Herrscher Fath Ali Schah, schaffte das Muhtasib-Amt erstmals ganz ab. Das Verschwinden des Muhtasib aus den iranischen Städten wird auch durch Berichte europäischer Reisender bestätigt. Allerdings wurde das Amt unter Nāser ad-Din Schah Anfang der 1860er Jahre in einer säkularisierten Form noch einmal neu belebt. C.J. Wills, der Iran in den frühen 1880er Jahren besuchte, berichtet, dass falsche Maße und Gewichte von den Muhtasibs zerbrochen und verfaulte und verdorbene Lebensmittel von ihnen beschlagnahmt wurden. Handwerker mussten eine spezielle Ihtisābiya-Steuer abführen. In Teheran war das Amt als Idāra-yi iḥtisāb („Iḥtisāb-Verwaltung“) bekannt, beschränkte sich aber im Wesentlichen auf die Stadtreinigung. Die Muhtasibs und die Ihtisābīya-Steuer wurden erst 1926 im Zuge der allgemeinen Verwaltungsreform von Reza Schah Pahlavi abgeschafft.
… im Mogulreich
Im frühen Mogulreich, das in der Nachfolge der Timuriden stand und sich über große Teile Indiens erstreckte, spielte das Muhtasib-Amt zunächst keine große Rolle. Das Munšaʾāt-i Namkīn, ein Verwaltungshandbuch aus der Zeit von Akbar I. (1556–1605), enthält zwar eine anonyme Ernennungsurkunde für einen Muhtasib, in dem diesem eine ganze Anzahl von Aufgaben übertragen werden (darunter auch die Reparatur der Moscheen), doch finden sich in den Chroniken der Zeit kaum Nachrichten über das Wirken von offiziellen Muhtasibs.
Größere Bedeutung erhielt das Amt erst unter Aurangzeb (reg. 1658–1707). Er übertrug kurz nach seiner Inthronisierung dem aus Transoxanien stammenden Gelehrten Mullā ʿIwaz Wadschīh, der schon unter seinem Vater Schah Dschahan als Mufti gedient hatte, das Amt des Armee-Muhtasibs (iḥtisāb-i ʿaskar). Zeitgenössische Geschichtsschreiber wie Muhammad Kāzim (gest. 1681) erklären diese Maßnahme mit Aurangzebs Interesse am Islam, seiner Frömmigkeit und seinem Bestreben, verbotene Bräuche und Belustigungen zu eliminieren, aus seinem Reich eine „dauerhafte Heimstätte für die göttlichen Gebote“ zu machen und das von Mohammed übermittelte Gesetz zu verbreiten. Der Historiograph Mustaʿidd Chān (gest. 1723) urteilte, dass es niemanden gab, der das Amt des Muhtasib mit solcher Ernsthaftigkeit, Härte und Schärfe ausübte und dabei so viele „Häuser des Lasters und der Ausschweifung“ (abniya-yi fisq u fuǧūr) zerstörte wie Mullā ʿIwaz Wadschīh. Er behielt diesen Posten bis zum Oktober 1663, danach folgten ihm bis zum Ende der Herrschaft Aurangzebs noch vier andere Gelehrte in diesem Amt nach.
Aurangzeb ließ außerdem in allen Provinzen seines Reiches einen kaiserlichen Befehl (yarlīġ) verbreiten, der anordnete, die Begehung unsittlicher und verbotener Handlungen nach den Regeln des Muhtasib-Amtes zu bekämpfen. Chroniken bezeugen, dass in dieser Zeit Muhtasibs in den Städten Jodhpur, Ajmer, Amber, Ahmadabad und Patan eingesetzt wurden. Auch die 1686 bzw. 1687 neu eroberten Städte Bijapur und Hyderabad wurden mit Muhtasibs ausgestattet. Die Einsetzung erfolgte üblicherweise durch das Amt des Sadr entsprechend einem kaiserlichen Dekret (sanad). Die Muhtasibs waren jeweils dem Faujdar unterstellt und mussten ihm regelmäßig ihre Aufwartung machen. Sie konnten Personen nur dann inhaftieren, wenn sie dazu seine Erlaubnis hatten. In manchen Fällen hatte ein und dieselbe Person den Posten des Qādī, Muhtasib und Chatīb in mehreren Distrikten inne. In Ajmer war das Muhtasib-Amt mit dem Posten des Lehrers an der Madrasa des Heiligtums von Muinuddin Chishti verbunden. Nach dem Tode des ersten Amtsinhabers wurde es in dessen Familie weitervererbt.
Die bedeutenden Muhtasibs des Mogulreichs waren in das Mansab-System integriert. Mullā ʿIwaz zum Beispiel, der Hof-Muhtasib von Aurangzeb, hatte den Rang von 1000 zat und 200 Reitern (sawār), der Muhtasib von Gujarat den Rang von 250 zat und zehn Reitern. Die Muhtasibs der einzelnen Städte erhielten je nach Größe des Ortes Dotationen in Bargeld und Ländereien. Der Muhtasib von Ahmadabad zum Beispiel bekam ein monatliches Gehalt von 25 Rupien, derjenige von Ajmer eine Rupie pro Tag.
Wie in anderen Staaten hatten die Muhtasibs im Mogulreich personelle Unterstützung. Mullā ʿIwaz Wadschīh, dem Hof-Muhtasib von Aurangzeb, stand eine Anzahl von Mansabdārs zur Seite. Sie sollten ihn bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben unterstützen und gegen diejenigen vorgehen, die sich den von ihm getroffenen Maßnahmen widersetzten. Die Muhtasibs der Städte wurden auf gleiche Weise von ein paar Berittenen aus den Truppen der Gouverneure begleitet oder hatten Fußsoldaten zu ihrer Unterstützung. Außerdem enthielten die Ernennungsurkunden der Muhtasibs häufig die Anweisung an die lokalen Beamten, ihn im Bedarfsfall zu unterstützen.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Muhtasibs unter Aurangzeb war die Durchsetzung des Verbots berauschender Getränke. Sie sollten gegen den Konsum und Verkauf sowohl von Wein, als auch von Bhang und Boza vorgehen. Niccolò Manucci, der sich Ende des 17. Jahrhunderts in Indien aufhielt, berichtet, dass man fast jeden Morgen hörte, dass irgendwo Schüsseln und Pfannen, die der Herstellung des Bhang-Getränks dienten, von Helfern des Muhtasibs zerschlagen wurden.
Auch die Durchsetzung des Musikverbots, das 1667 durch Aurangzeb in einem Ferman bekräftigt worden war, spielte in der Aktivität der Muhtasibs eine wichtige Rolle. Da in sufischen Kreisen Musikaufführungen sehr beliebt waren, insbesondere zum Anlass des Prophetengeburtstags, hatten die Muhtasibs allerdings große Schwierigkeiten, dieses Verbot auch wirklich durchzusetzen. Aus Ahmedabad ist ein Fall bezeugt, in dem ein Sufi-Scheich des Chishtiyya-Ordens mit seinen Anhängern so heftigen Widerstand gegen den Muhtasib leistete, dass dieser seinen Plan, das Musikverbot durchzusetzen, schließlich aufgeben musste. Auch in Ajmer, dem Zentrum des Chishtiyya-Ordens, kam es einmal zu einem gewaltsamen Konflikt, als ein Muhtasib von außerhalb der Stadt beim ʿUrs-Fest Qauwālī-Musiker festnehmen wollte.
Eine weitere Aufgabe der Muhtasibs war die Bekämpfung der Prostitution. In Ajmer ging der Muhtasib nicht nur gegen Prostituierte, sondern auch gegen Tanzmädchen (kanchanis) vor. Die Muhtasibs spielten auch eine gewisse Rolle bei der Niederhaltung der Hindus. So wird berichtet, dass nach der Eroberung von Golkonda im Jahre 1687 ʿAbd ar-Rahīm, der Muhtasib von Hyderabad, beauftragt wurde, die nicht-islamischen Riten und Ketzereien, die sich unter der Herrschaft von Abū l-Hasan Qutb-Schāh verbreitet hatten, aus der Stadt zu eliminieren, die Hindu-Tempel zu zerstören und an ihrer Stelle Moscheen zu errichten.
… im Kalifat von Sokoto
In Westafrika wurde das Muhtasib-Amt erstmals während des Kalifats von Sokoto eingeführt. Der erste Kalif Uthman Dan Fodio (reg. 1807–1817) setzte den Muezzin Muhammad Julde als Muhtasib ein, der dieses Amt bis zu seinem Tod unter ʿAlī ibn Bello (reg. 1842–1859) versah. Abdullahi dan Fodio, der Bruder Uthmāns, verfasste eine eigenständige Schrift über die Ausübung der Hisba mit dem Titel Ḍiyāʾ ahl al-iḥtisāb alā ṭarīq al-sunna wa al-ṣawāb, in der er sich an al-Ghazālī anlehnte. Im Gegensatz zu al-Ghazālī war er allerdings der Auffassung, dass der Muhtasib auch in Privathäusern begangene Vergehen verfolgen dürfe, dann nämlich, wenn eine Beschwerde bei ihm eingegangen sei.
… im Emirat Buchara und in Russland
Für das Emirat Buchara ist die Existenz eines Muhtasib bereits für die Regierungszeit von Amīr Dāniyāl Biy (reg. 1758–1785) belegt. Unter Schāh Murād (reg. 1785–1800), der sehr religiös war, wurde das Amt dann stark ausgebaut. Ein Chronist berichtet, dass er in der ganzen Stadt und in allen Gebieten Bucharas vollkommene Muhtasibs (muḥtasibān-i kāmil) einsetzte und sie damit beauftragte, die Menschen in die Moscheen zu holen und den Unwissenden unter ihnen die religiösen Pflichten und Gebote beizubringen. Sein Sohn und Nachfolger Amīr Haidar (reg. 1800–1826) übernahm das Amt in der von seinem Vater erweiterten Form und vergab es als das „Amt des Muhtasib über die Staatsbediensteten und das Volk“ (iḥtisāb-i sipāhī u fuqarā). Europäische Reisende berichten, dass zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Buchara Händler und Kunden tatsächlich nachmittags gewaltsam zum Gebet zusammengetrieben wurden.
Das Muhtasib-Amt bestand in Buchara noch bis 1920 weiter. Aus der Zeit kurz nach der Februarrevolution 1917 ist eine Ernennungsurkunde erhalten, in der der letzte Herrscher des Emirats, Mīr ʿAlīm Chān, dem neuen Muhtasib neben religiöse und ökonomischen auch richterliche Aufgaben zuwies. Zu den religiösen Aufgaben gehörte, dass er die Bevölkerung zur Teilnahme am Freitagsgebet und die Kinder zum Besuch der Koranschule (maktab) anhalten und gegen Glücks- und Schachspieler sowie Konsumenten von Wein und anderen berauschenden Getränken vorgehen sollte. Daneben war er aber auch für die Maße und Gewichte und für die Reinlichkeit der Geräte der Fleischer und Seifensieder zuständig. Bei der Bestrafung von Delinquenten sollte er die Standesunterschiede zwischen den Vornehmen, Mittleren und Niedrigen berücksichtigen. Zu den richterlichen Aufgaben gehörte, dass er auch für Eheschließungen, Erbfälle und Rechtsstreitigkeiten zuständig war. So sollte er bei Eheschließungen die Eheverträge aufsetzen und dafür sorgen, dass in diese nicht mehr als die zwei anerkannten Bedingungen für die Auflösung der Ehe durch die Frau (sechs Monate Abwesenheit des Mannes, unzulässiges Schlagen der Frau durch den Mann) aufgenommen werden. Für die Eheverträge konnte er Gebühren erheben. Bei Erbfällen hatte er das Erbe unter den Pflichterben zu verteilen. Bei Rechtsstreitigkeiten sollte er die Prozessparteien vorladen und gemäß der Scharia ein Urteil fällen.
In Russland wurde nach der Gründung der Orenburger Mohammedanischen Geistlichen Versammlung (Orenburgskoje magometanskoje duchownoje sobranije; OMDS) im Jahre 1789 ein Verwaltungsapparat von muslimischen Geistlichen geschaffen, zu dem auch 51 Muhtasibs gehörten. Sie waren jeweils für eine bestimmte Region zuständig und hatten die richterliche Tätigkeit der dort tätigen Imame in Personenstandsangelegenheiten zu überwachen. Als Muchtasibate existieren diese administrativen Einheiten innerhalb der verschiedenen muslimischen Geistlichen Verwaltungen Russlands bis heute weiter.
… in Marokko
In Marokko ist das Muhtasib-Amt nach dem Mittelalter erst wieder um die Wende zum 20. Jahrhundert belegt. In dieser Zeit hatten die meisten größeren Städte des Landes einen Muhtasib, ihre Einsetzung erfolgte durch den Sultan. Fès hatte sogar zwei Muhtasibs, einen für Fès el Bali und einen für Fès el-Djedid. Derjenige von Fès el Bali war Si Muhammad at-Tāzī, ein Bruder des Finanzministers. Er hatte einen Verschlag in der Medina, zu dem er aber nur selten kam. Seine Gerichtssitzungen hielt er vor der Tür seines Privathauses ab. Eugène Aubin beschreibt, dass das gesamte wirtschaftliche Leben in den marokkanischen Städten in dieser Zeit vom Muhtasib kontrolliert wurde. Nach dem Gouverneur und dem Qādī war er der wichtigste Beamte. Im Volksmund wurde er el-fdouli („der Neugierige“) genannt, weil er sich in alle Sachen einmischen durfte. Er legte die Preise von Mehl, Butter, Seife, Honig, Fleisch, Kohle und sogar von Süßgebäck fest, wobei die Preise manchmal bis zu zwei Mal pro Tag angepasst wurden. Außerdem überwachte er die öffentlichen Bäder, führte die Aufsicht über die Handwerkerzünfte, kontrollierte die Qualität der Waren und hatte die Jurisdiktionskompetenz für alle Handelsgeschäfte. Bei seiner Rechtsprechung stützte er sich auf das Urteil von Sachverständigen aus den verschiedenen Sūqs.
Wichtigste Strafmaßnahme des Muhtasib war das öffentliche Herumführen der Delinquenten, bei dem sie laut ihr Vergehen ausrufen mussten. In Fès hatte der Muhtasib außerdem das Recht, Bürger zu inhaftieren, doch wurde 1895 durch ein königliches Dekret die höchstmögliche Haftstrafe auf zwei Tage beschränkt. In einer Ernennungsurkunde aus dem Jahre 1912 wird der Muhtasib von Fès al Bali beauftragt, Betrügern und denjenigen, die nicht volles Maß geben, „auf die Hände zu hauen“.
Der Muhtasib erhielt für seine Dienste keine Entlohnung von staatlicher Seite, sondern wurde durch die Handwerker selbst bezahlt. Die Müller hatten dem Muhtasib in Fès monatlich sechs Peseten zu entrichten, die Grieß- und Brotverkäufer 60 Uqiya, die Fleischer 0,25 Peseta pro geschlachtetes Schaf und zwei Pfund Fleisch pro Tag. Außerdem erhielt der Muhtasib Gebühren für die Eichung von Gewichten und Maßen.
Das Amt während der Protektoratszeit
Nach der Errichtung des französischen Protektorats über weite Teile Marokkos führten rechtliche und politische Entwicklungen dort zu einer Marginalisierung der Muhtasibs: 1914 wurde durch ein königliches Dekret die Zuständigkeit für die Qualitätskontrolle der Lebensmittel und die Bekämpfung des Betrugs im Warenhandel den französischen Justizbehörden übertragen, ein Dekret aus dem Jahre 1917 unterstellte die Muhtasibs den Gouverneuren, die ihrerseits mit der Aufsicht über die Handwerkerzünfte betraut wurden, und 1918 wurde die Zuständigkeit der Muhtasibs auf die Festlegung der Preise von Lebensmitteln beschränkt. In einem französischen Bericht über die Zünfte Marokkos aus dem Jahr 1923 wird beschrieben, dass in vielen marokkanischen Städten die Preisfestlegung der Muhtasibs im Einverständnis mit den Bevollmächtigten (umanāʾ) der verschiedenen Berufsgruppen erfolgte.
In den 1930er Jahren gab es Überlegungen, das Muhtasib-Amt wieder aufzuwerten. So sollte nach dem Plan de Réformes marocaines, den 1934 das marokkanische Aktionskommittee der französischen Regierung dem marokkanischen Sultan Mohammed V. und dem französischen Generalresidenten vorlegte, Mohtaceb der Titel derjenigen marokkanischen Beamten sein, die an der Spitze der Stadtverwaltungen stehen. Der Plan wurde aber nicht umgesetzt. Die Unzufriedenheit der lokalen Händler und Handwerker mit der bestehenden Situation führte allerdings dazu, dass 1938 bei einheimischen Waren die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Betrug wieder dem Muhtasib übertragen wurde.
In Tétouan, der Hauptstadt von Spanisch-Marokko, spielte der Muhtasib noch bis in die 1950er Jahre eine wichtige Rolle im wirtschaftlichen Leben. Er führte die Warenkontrolle durch und hatte die Aufsicht über 38 Zünfte mit insgesamt 4000 Personen, die er, so wie es die andalusischen Hisba-Handbücher vorsehen, durch Bevollmächtigte (umanāʾ) kontrollierte. Die Bevollmächtigten wurden zwar von den Zünften vorgeschlagen, jedoch von ihm ernannt. Alles, was mit Arbeitsüberwachung, Reklamationen, Zahlungs- und Lieferungsverzögerungen, Schlichtung und Bestrafung zusammenhing, war Domäne des Muhtasib, der seine Dienststelle in einem neueren Gebäude am Tétouaner Marktplatz El-Ghersa el-Kebīra hatte und hier als Schnellrichter fungierte. Diejenigen Handwerker, die aufgrund von Betrug oder Unvermögen nicht vertrauenswürdig waren, entfernte er aus den Zünften. Auf den Märkten ahndete der Muhtasib jede Art ungesetzlicher Geschäftsführung und setzte im Einvernehmen mit Verkäufern und Sachverständigen die Preise der einzelnen Marktartikel fest, wobei er den Verkäufern einen Gewinn von 20 Prozent gestattete. Außerdem unterhielt er ein Fundbüro und fungierte als Badehausinspektor. Aufwertung erfuhr das Amt zusätzlich dadurch, dass dem Muhtasib 1941 das Präsidium in der Städtischen Versammlung (Junta municipal) übertragen wurde. Amtsinhaber in den 1950er Jahren war ein vom Makhzen ernannter Vertrauensmann ohne juristische Ausbildung. Er hatte einen Stellvertreter, einen Sekretär, einen Hilfsschreiber und sieben Marktpolizisten. Daneben unterstanden ihm ein ehrenamtlicher Marktbevollmächtigter (amīn as-sūq), der den Verkäufern die Plätze für ihre Stände zuwies und diesbezügliche Streitigkeiten schlichtete, sowie ein Getreidemesser (kaiyāl), der den Getreidemarkt kontrollierte.
Das Muhtasib-Gesetz von 1982
Nach der Unabhängigkeit Marokkos verlor das Muhtasib-Amt stark an Bedeutung, doch wurde es 1982 nach Brotunruhen im Vorjahr mit dem „Gesetz 02-82 über die Zuständigkeiten des Muhtasib und der Bevollmächtigten der Korporationen“ in prestigeträchtiger Weise wiederbelebt. Dem Muhtasib wurde durch dieses Gesetz die Aufgabe übertragen, die Preise und Qualität bestimmter Produkte und Dienstleistungen zu kontrollieren, über die Redlichkeit der Handelsgeschäfte und die öffentliche Hygiene zu wachen sowie im öffentlichen Raum begangene Handlungen, die gegen die guten Sitten verstoßen, den Behörden zu melden. Bei Verfehlungen sieht das Muhtasib-Gesetz vor allem Geldstrafen vor. Artikel 6 bestimmt als Höchstgrenze für Geldstrafen 50.000 Dirham. Bei schweren Verfehlungen oder Wiederholungsfällen kann der Muhtasib außerdem den Betrieb bis zu einer Dauer von sechs Tagen schließen.
Bei der Ernennung der ersten Muhtasibs einen Tag nach der Bekanntmachung des Gesetzes bekräftigte König Hassan II. die Beziehung des neu geschaffenen Amtes zu der klassischen islamischen Institution. Ausgewogenheit und das heilige Buch des Korans, so betonte er, sollten die beiden einzigen Waffen der neuen Amtsinhaber sein. Als Verfahren für die Ernennung wurde festgelegt, dass für jeden Posten die betreffenden Stadträte und Berufskammern eine Liste mit drei Namen vorlegen sollten, von denen der König dann einen auswählen würde. Das Gesetz sieht Vertrauensleute für die Innungen vor, denen der Muhtasib vorstehen soll, orientiert sich also an der andalusischen Hisba-Ordnung. Der Muhtasib ist befugt, Ermittlungen durchzuführen, also beispielsweise bei der Qualitätskontrolle von Lebensmitteln Proben zu nehmen, um Analysen durchführen zu lassen.
Die konkreten Produkte und Dienstleistungen, für deren Kontrolle der Muhtasib zuständig ist, sollten von Verordnungen bestimmt werden, doch sind diese nie erlassen worden. Heute gibt es einen Muhtasib in allen größeren marokkanischen Städten. Das Amt wird von älteren, verdienten Funktionären ausgeübt, hat jedoch nur geringe praktische Bedeutung.
… in der indonesischen Provinz Aceh
In der indonesischen Provinz Aceh, die 2005 Teilautonomie erlangte, wurde das Muhtasib-Amt im Zuge der Einführung der Scharia reaktiviert. 2006 wurde hier die Funktion des Dorf-Muhtasib (muhtasib desa) geschaffen, der in ländlichen Gebieten für die Durchsetzung der Scharia-Ordnung auf lokaler Ebene verantwortlich ist. Der Dorf-Muhtasib ist hierbei ein Dorfbewohner, der vom Dorfoberhaupt (geucik) in seine Funktion eingesetzt wird und diese ehrenamtlich wahrnimmt. Die einzelnen Dorf-Muhtasibs werden in den Distrikt-Büros der staatlichen Scharia-Agentur (Dinas Syariat Islam) ausgebildet und erhalten von dieser Behörde eine Zertifizierung.
Kulturgeschichtliche Beziehungen zu Ämtern außerhalb des Islams
Die Frage der antiken Vorläufer des Muhtasib-Amtes
Die Forschung zum Muhtasib hat sich in der Vergangenheit viel mit der Frage befasst, ob das Amt antike Ursprünge hat. Maurice Gaudefroy-Demombynes erklärte sich 1939 in einem Aufsatz überzeugt, dass der abbasidische Muhtasib eine islamisierte Version des römischen Ädils sei. 1947 bekräftigte er in einer Rezension diese These und stellte außerdem eine Verbindung zum byzantinischen Amt des agoranomos her.
Die These einer historisch-genetischen Beziehung zwischen Agoranomos und Muhtasib wurde in den folgenden Jahren wiederholt von verschiedenen anderen Wissenschaftlern aufgegriffen. Georges Marçais deutete den Muhtasib als typisches Element der Islamischen Stadt: So wie beim kulturellen Übergang von der griechischen Antike zum Islam die Freitagsmoschee die Rolle des Forums als Zentrum des öffentlichen Lebens übernommen habe, habe der Muhtasib den Agoranomos beerbt. In beiden Fällen hätten Institutionen, die ursprünglich rein weltlich waren, im Islam eine zusätzliche religiöse Dimension erhalten. Joseph Schacht vertrat die Auffassung, dass die Muslime zunächst von den Byzantinern das Amt des Agoranomos übernommen und dieses mit den Begriffen ṣāḥib as-sūq oder ʿāmil as-sūq („Herr/Inspektor des Marktes“) übersetzt hätten. In der frühen Abbasidenzeit habe sich daraus das islamische Amt des Muhtasib entwickelt.
Schon 1970 sprach sich indessen Benjamin R. Foster in einem Aufsatz gegen die These von einer Beziehung zwischen Agoranomos und Muhtasib aus. Da es in der römischen und byzantinischen Zeit zahlreiche Ämter gab, die ähnliche Aufgaben wie der Muhtasib wahrnahmen, gebe es keinen Grund, den Muhtasib speziell auf den Agoranomos zurückzuführen. Der Begriff agoranomos sei zudem in Syrien und Ägypten in der Zeit vor dem Beginn der islamischen Herrschaft nicht geläufig gewesen. Von daher sei es unmöglich, eine Beziehung zwischen Agoranomos und Muhtasib anzunehmen. Foster sah den Muhtasib eher in der Tradition des römischen Ädils. Ernst Klingmüller, der die Beziehung zwischen Muhtasib und Agoranomos 1975 ebenfalls in einem Aufsatz thematisierte, zog dort auch Parallelen zu verschiedenen anderen Ämtern wie dem Defensor civitatis des spätantiken Römischen Reichs. Er meinte, dass sich in den ersten islamischen Jahrhunderten eine „administrative Amalgamierung dieser Verwaltungsinstitution“ vollzogen habe. Erst im Zuge dieses Wandlungsprozesses und durch Rückbeziehung auf den „religiös neu angereicherten Begriff der hisba“ sei das Muhtasib-Amt entstanden.
Daniel Sperber lenkte 1977 die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Ähnlichkeit zwischen muḥtasib und ḥashban, einem Begriff, den die palästinensischen Juden in der Spätantike für den Marktinspektor verwendeten. Nach Ansicht von Daniel Sperber ist muḥtasib eine Lehnübersetzung des Begriffs ḥashban. Ḥashban wiederum betrachtete er als eine Lehnübersetzung für das griechische Wort logistés („Rechnungsrevisor“), das in der griechischen Antike für den Marktinspektor verwendet wurde und als Synonym für den Begriff agoranomos diente. Zwischen den drei Begriffen muḥtasib, ḥashban und logistés sah er insofern eine enge Beziehung, als sie alle drei eine Person bezeichnen, die etwas berechnet und für den Markt zuständig ist. Gestützt auf Sperbers Ausführungen, kehrten in den nachfolgenden Jahren William Floor und Patricia Crone zu der These von dem Agoranomos als Vorläufer des Muhtasib zurück. Sie modifizierten diese These allerdings insofern, als sie nicht mehr wie Schacht den ṣāḥib as-sūq als das entscheidende Bindeglied zwischen Agoranomos und Muhtasib betrachteten, sondern wie Sperber annahmen, dass die Entwicklung vom agoranomos über den logistés zum ḥashban und schließlich zum muḥtasib führte.
Gegen die These von dem ḥashban als Vorbild für den Muhtasib spricht allerdings, dass die ersten sicheren Belege für das Muhtasib-Amt aus dem Irak stammen, während der ḥashban-Begriff in Palästina verwendet wurde. Der Muhtasib bleibt außerdem insofern eine neue Institution des Islams, als sich in der Antike Beamte, die wie er die Befolgung kultischer Pflichten und die Einhaltung der öffentlichen Moral überwachten, kaum finden lassen.
Übernahme des Muhtasib-Amtes in christlichen Staaten
Mathessep und Mustasaf
Das Amt des Muhtasib war zur ayyubidischen Zeit bereits so fest in den städtischen Ordnungen des Vorderen Orients etabliert, dass es im 13. Jahrhundert auch in benachbarten Kreuzfahrerstaaten übernommen wurde, so in der Stadt Tyros und im Königreich Zypern. In den Assisen von Jerusalem erscheint es unter der Bezeichnung mathessep.
Das Muhtasib-Amt wurde außerdem unter der Bezeichnung Almotacén bzw. Mustasaf nach der Reconquista von den christlichen Herrschern Spaniens übernommen. Der Mustasaf im christlichen Königreich Valencia war für eine Anzahl von Polizeifunktionen zuständig, die auch die Marktaufsicht und die Kontrolle der öffentlichen Moral und der religiösen Gebote einschloss. Ähnlich wie der andalusische Muhtasib wählte sich der Mustasaf aus allen Handwerkergruppen Inspektoren, die ihn bei seiner Arbeit unterstützten. Das Amt des Mustasaf, das eine exakte Kopie des Muhtasib war, wurde im 14. Jahrhundert noch in verschiedenen anderen ostspanischen Städten wie Barcelona und Vilafranca del Penedès eingeführt. Es entstand ein eigenes Genre von Mustasaf-Handbüchern, die die Bestimmungen aus den Hisba-Handbüchern zum Teil wörtlich übernahmen. Die große Bedeutung, die das Mustasaf-Amt in den christlichen Königreichen hatte, führte dazu, dass umgekehrt in den muslimischen Gemeinschaften dieser Territorien das Muhtasib-Amt noch an Bedeutung gewann.
Muhtasib und Ombudsman
Nach einer verbreiteten Ansicht geht auch das moderne Amt des Ombudsmanns indirekt auf den Muhtasib zurück. König Karl XII. von Schweden (1697–1718) soll bei seinem Aufenthalt im Osmanischen Reich die Institution des Muhtasib kennengelernt und nach diesem Vorbild in Schweden das Amt des Justizkanzlers geschaffen haben. Diesem wurde 1809 der vom Parlament bestellte Ombudsman zur Seite gestellt, der weitgehend parallele Befugnisse besaß.
Aufgrund des angenommenen historischen Zusammenhangs zwischen den beiden Ämtern wurde in Pakistan, als dort 1983 das Amt des Ombudsmans eingeführt wurde, für diesen der Titel Wafaqi Mohtasib gewählt. Der Federal Wafaqi Mohtasib, der bis heute als eigenständiges Amt existiert, wird vom Präsidenten für eine Periode von vier Jahren eingesetzt und hat die Aufgabe, Unrecht, das Personen durch staatliche Behörden widerfahren ist, aufzudecken und zu beseitigen. Die Behörde des Wafaqi Mohtasib unterhält Regionalbüros in allen Teilen des Landes und nimmt auch Online-Beschwerden entgegen. Neben dem Federal Wafaqi Mohtasib gibt es in Pakistan auch Muhtasibs auf Provinzebene. In der Northwest Frontier Province unternahm 2005 eine Allianz von den Taliban nahestehenden Parteien den Versuch, die Kompetenzen des Provinz-Muhtasibs im Sinne der klassischen Hisba-Lehre auszuweiten und ihm auch die Ahndung von Verstößen gegen die Scharia zu übertragen. Das Oberste Gericht Pakistans erklärte jedoch den diesbezüglichen Gesetzentwurf, der als „Hisba Bill“ bezeichnet wurde, für verfassungswidrig und wies den Provinzgouverneur an, ihn nicht zu unterschreiben.
Literatur
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Einzelnachweise
Amt (Religion)
Islam und Wirtschaft
Islamisches Recht
Beruf (Rechtspflege)
Wirtschaft (Osmanisches Reich)
Wirtschaftsgeschichte (Iran)
Wirtschaft (Marokko)
Handelsgeschichte |
10040120 | https://de.wikipedia.org/wiki/Portr%C3%A4t%20des%20Ohm%20Friedrich%20Corinth | Porträt des Ohm Friedrich Corinth | Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth ist ein Ölgemälde des deutschen Malers Lovis Corinth. Es ist als Hochformat auf Leinwand ausgeführt und hat die Maße 98 × 79 Zentimeter. Das Porträt seines Ohm entstand 1900 bei einem Besuch des Künstlers bei seinem Onkel in Moterau (heute Sabarje) in Ostpreußen. Es befand sich bis 1987 im Besitz der Familie Corinth, zuletzt bei Wilhelmine Corinth in New York City. Danach wurde es von der deutschen Bundesregierung für das neu gegründete Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg angekauft, in dessen Sammlung es sich bis heute befindet.
Bildbeschreibung
Das Gemälde zeigt Friedrich Corinth, den Onkel des Künstlers, in dessen Wohnzimmer auf einem Holzstuhl sitzend. Er ist in einen braunen Morgenrock gekleidet und sitzt im Gegenlicht vor einem geöffneten und hell erleuchteten Fenster. Der rechte Arm hängt nach unten, der linke liegt auf dem linken Oberschenkel und schließt die Körperform. Das Licht des Fensters teilt den Raum in eine helle linke und eine dunklere rechte Seite, wodurch vor allem das Gesicht und die linke Hand hervorgehoben und die Haltung auf dem Stuhl betont wird. Der Körper ist vom grauen Rock verhüllt, Konturen werden „im Vagen“ gehalten. Das Gesicht ist dem Betrachter und dem Maler zugewandt, die hell-blauen Augen sind geöffnet und schauen den Maler und Betrachter direkt an. Es ist vom dichten grauen Kopfhaar und dem kräftigen Backenbart umrahmt, der das Kinn frei lässt. Auch Charlotte Berend-Corinth erwähnt in ihrem Werkverzeichnis die leuchtend hell-blauen Augen und das üppige dunkelgraue Haupthaar.
Die Möblierung des Zimmers ist nur undeutlich zu erkennen. Rechts neben dem Holzstuhl befindet sich eine hüfthohe Kommode oder ein Tisch, das helle Fenster hinter dem Onkel endet in etwa gleicher Höhe mit einer Fensterbank und wird von hellen Gardinen gesäumt, die nach Charlotte Berend-Corinth „in hellem Gelb“ gemalt sind. An der Wand links des Porträtierten befindet sich ein Bild, auf dem eine stehende Person vor einem See zu erkennen ist. Am oberen rechten Rand ist das Bild mehrzeilig signiert und beschriftet mit „Mein Ohm 78 J. a Moterau bei Tapiau Juli 1900 Lovis Corinth“.
Deutung
Die Kunsthistorikerin Andrea Bärnreuther deutet die Nutzung des Gegenlichtes und die damit nur undeutlich erkennbare Gestalt des Onkels als „die Würde der Person achtende Zurückhaltung des Bildes“ [und Künstlers], der dem Porträtierten „das Geheimnis des Lebens [beläßt], das sich der festlegenden Bestimmung entzieht“. Sie resümiert weiter: „In der ruhigen Gelassenheit dessen, der auf den Tod wartet, wendet der Ohm sein Gesicht mit weit geöffneten Augen und leicht geöffnetem Mund dem Betrachter zu. Es ist der Blick eines Menschen, der sein Leben gelebt hat – der Blick eines Lebens auf Abruf.“
Bärnreuther führt weiter aus, dass Corinth „mit der Einbeziehung des Interieurs in die Darstellung“ den Blick öffnet „über die geistig-körperliche Erscheinung des alt gewordenen Mannes hinaus in die Abgeschlossenheit seiner begrenzten häuslichen Sphäre, die den Dargestellten am Rande der Gesellschaft zeigt.“ Diese Gesellschaft beschreibt sie als „im Wandel begriffen“, die „den Kult der Jugend“ durch „den Zerfall der alten Ordnungen“ kommen sieht. Sie bezieht das Bild auf das zwei Jahre später von Corinth gemalte Porträt des Dichters Peter Hille. Mit beiden gelingt Corinth „mit der Auffassung des Porträts als Gestus im gesellschaftlichen Raum der Vorstoß in die Darstellung sozialer Existenz“.
Sabine Fehlemann, die ehemaligen Direktorin des Von der Heydt-Museums in Wuppertal, stellte das Bild in den Kontext der künstlerischen Entwicklung Corinths. Gemeinsam mit den Bildern Porträt der Mutter Rosenhagen und Die Geigenspielerin, auf dem er mit Margarete Marschalk die spätere Ehefrau Gerhart Hauptmanns porträtierte, zeigt für sie das Porträt des Ohm Friedrich Corinth wie er „auch im Porträt die feste akademische Form der Gestaltung immer mehr verläßt, um Stimmung und Atmosphäre mehr und mehr einfließen zu lassen.“
Hintergrund und Entstehung
Der Onkel und die Tante in Moterau
Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth malte Lovis Corinth während eines Aufenthalts bei seinem Onkel im Juli 1900. Lovis Corinth entstammte einer landwirtschaftlich geprägten Familie in Tapiau in Ostpreußen, dem heutigen Gwardeisk. Sein Vater war Landwirt und durch Heirat mit seiner Mutter, einer Witwe, auch Gerber des Ortes. Die Verwandtschaft Corinths lebte in den umliegenden Dörfern. Auch der Onkel Friedrich Corinth war Landwirt und lebte in Moterau (heute Sabarje). Lovis Corinth besuchte sie regelmäßig und beschrieb sie auch in seinen Kindheitserinnerungen als Anekdote zu den Besuchen an hohen Feiertagen:
Corinth porträtierte seinen Onkel und seine Tante 1880 bereits in zwei seiner frühesten Ölskizzen als Porträt des Ohm in Moterau und Porträt der Tante in Moterau. Er begann 1876 seine künstlerische Ausbildung an der Königlichen Kunstakademie in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, und blieb dort bis 1880, als er auf Empfehlung seiner Lehrer nach München ging. Die beiden Bilder mit einem Format von jeweils 42 cm × 32 cm verblieben nach Fertigstellung bei den Verwandten in Moterau und wurden später an einen R. Stange in Heiligenbeil, heute Mamonowo, weitergegeben. Der spätere und heutige Verbleib beider Porträts ist unbekannt. Der Kunsthistoriker Alfred Kuhn veröffentlichte in seiner Corinth-Monografie von 1925 eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1879, die die Tante, den Ohm und einen „Otto“ in Moterau zeigen. Aus dem gleichen Jahr stammen Zeichnungen der Ställe und der Küche auf dem Hof seines Onkels. Charlotte Berend-Corinth notierte in ihrem Werkverzeichnis Lovis Corinth: Die Gemälde, dass diese beiden Bilder die ersten Arbeiten Corinths waren, die sie gemeinsam mit dem Künstler notiert hatte. Sie verweist zudem darauf, dass es sich um den gleichen Onkel handelt, der auch im Porträt des Ohm Friedrich Corinth von Lovis Corinth porträtiert wurde.
Zeitliche Einordnung in das Werk Corinths
Zur Zeit der Entstehung des Bildes befand sich das Leben von Lovis Corinth im Umbruch. Seit dem Beginn seines Studiums in München versuchte er, in der Münchner Kunstszene Anerkennung zu erlangen, konnte sich dort jedoch nur schwer etablieren. Zum Ende der 1890er Jahre intensivierte er seine Kontakte zu den Malern Walter Leistikow und Ernst Liebermann in Berlin, die dort 1898 die Berliner Secession gründeten und starkes Interesse an einer Beteiligung Corinths zeigten. Zur Zeit der Entstehung des Bildes befand sich Corinth auf einer Reise in Königsberg und Umgebung, nachdem er vorher einige Zeit auf dem Gut Schulzendorf in Brandenburg als Logiergast der Familie von Richard Israel verbrachte und sich dort auch mit Leistikow traf. Direkt an die Königsberg-Reise schloss sich eine gemeinsame Reise mit Leistikow nach Dänemark an.
1900 malte Corinth mehrere Porträts, darunter auch eines seiner bekannten Selbstporträts. Unter den Porträtierten dieser Zeit finden sich vor allem Künstler und Schriftsteller aus dem Umfeld Corinths in München und Berlin, darunter Eduard Graf von Keyserling, Gerhart Hauptmann und Walter Leistikow.
Als 1900 das von Corinth gemalte Bild Salome für die Ausstellung der Münchener Secession abgelehnt wurde, beschloss Corinth enttäuscht, nach Berlin zu gehen. Leistikow bat ihn, die Salome für die Ausstellung der Berliner Secession zur Verfügung zu stellen, und es wurde ein sehr großer Erfolg. Im Herbst des Jahres bekam er eine Einzelausstellung bei Paul Cassirer, und er war regelmäßiger Gast bei Gerhart Hauptmann. In dem Jahr pendelte er entsprechend regelmäßig zwischen Berlin und München und mietete sich ein provisorisches Atelier, im Herbst 1901 siedelte er vollständig nach Berlin über.
Provenienz und Ausstellungen
Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth verblieb nach der Fertigstellung im Privatbesitz von Lovis Corinth, aus dessen Nachlass es in den Besitz seiner Familie und später seiner Tochter Wilhelmine Corinth, später Wilhelmine Corinth-Klopfer, kam. Es ist möglich, dass sich das Bild erst im Besitz von Charlotte Berend-Corinth befand, die es nach New York brachte, bevor sie es an ihre Tochter weitergab. 1987 kaufte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland das Bild zusammen mit dem Bild Kuhstall direkt bei Wilhelmine Corinth-Klopfer für das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg (Inventarnummer 8084/87, acqu. 1987).
Das Porträt wurde auf zahlreichen Ausstellungen gezeigt, beginnend mit der Ausstellung der Berliner Secession 1913 in Berlin. Im gleichen Jahr war das Bild auch in einer Kunstausstellung in Düsseldorf zu sehen. 1918 zeigte Corinth das Bild erneut bei der Berliner Secession und 1923 in der dortigen Nationalgalerie. Corinth starb 1925; im Folgejahr wurde das Porträt beim Kunstverein Chemnitz, dem Kunstverein Frankfurt, dem Kunstverein Kassel, dem Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden sowie erneut in der Nationalgalerie ausgestellt. Weitere Ausstellungen mit dem Porträt fanden 1927 beim Sächsischen Kunstverein in Dresden und 1929 bei der Neuen Secession in München und beim Hagenbund in Wien statt. 1936 zeigte die Kunsthalle Basel das Bild zum vorerst letzten Mal im deutschsprachigen Raum.
Zwischen 1950 und 1952 war das Bild Teil einer Wanderausstellung der Werke Corinths in zahlreichen Museen der Vereinigten Staaten und Kanada. 1956 und 1958 zeigte das Volkswagenwerk Wolfsburg das Bild erstmals wieder in Deutschland: im Rahmen der Ausstellung Deutsche Malerei und der Gedächtnisausstellung zur Feier des 100. Geburtstages Corinths. 1958 bis 1959 veranstalteten die Kunsthalle Basel, der Kunstverein Hannover und die Städtische Galerie München sowie die Tate Gallery in London Gedächtnisausstellungen mit dem Bild. 1964 zeigte es die Gallery of Modern Art in New York, 1967 der Badische Kunstverein in Karlsruhe, 1976 das Indianapolis Museum of Art und 1979 die Dixon Gallery in Memphis. 1985 war das Bild im Museum Folkwang in Essen zu sehen, bevor es 1987 in den Besitz des Ostpreußischen Landesmuseums Lüneburg überging. 1996 und 1997 gehörte es zu einer Wanderausstellung im Haus der Kunst in München, der Nationalgalerie in Berlin, dem Saint Louis Art Museum und der Tate Gallery. 1999 wurde es im Von der Heydt-Museum in Wuppertal im Rahmen einer Corinth-Ausstellung und 2009 erneut in der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien gezeigt.
Belege
Literatur
Andrea Bärnreuther: Porträt des Ohm Friedrich Corinth. In: Peter-Klaus Schuster, Christoph Vitali, Barbara Butts (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel, München 1996, ISBN 3-7913-1645-1, S. 138–139.
Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth: Die Gemälde. Neu bearbeitet von Béatrice Hernad. Bruckmann Verlag, München 1992, ISBN 3-7654-2566-4, S. 83.
Gemälde von Lovis Corinth
Gemälde (19. Jahrhundert)
Werk der Porträtmalerei
Ostpreußisches Landesmuseum |
10601297 | https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenstimmrechtsbewegung%20in%20Deutschland | Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland | Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland entwickelte sich ab den 1890er Jahren, als zum einen das allgemeine Wahlrecht für Männer auf die politische Agenda kam und zum anderen die Frauenbewegung durch die Beschlussfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Erfahrung machte, dass die Anliegen der Frauen nicht gehört wurden. Der Begriff der Stimmrechtsbewegung wird allgemein auf einen Teil der bürgerlichen Frauenbewegung bezogen. Doch auch die sozialistische Frauenbewegung setzte sich für das Frauenwahlrecht ein, wobei beide Seiten auf die gegenseitige Abgrenzung Wert legten. Zum Bewegungskern gehörten die überregional agierenden Aktivistinnen Anita Augspurg, Minna Cauer, Lida Gustava Heymann, Helene Stöcker, Marie Stritt, Clara Zetkin und Martha Zietz, die ein soziales und politisches Netzwerk bildeten. Sie wirkten als Vortragsreisende und Rednerinnen und galten als Vorbilder und Bahnbrecherinnen.
Mit der Gründung des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht 1902 in Hamburg (1904 in Deutscher Verband für Frauenstimmrecht umgewandelt) begann die Organisationsphase der Bewegung. Nach der Liberalisierung der Vereinsgesetze 1908 nahm die Zahl der Stimmrechtsvereine und der darin engagierten Frauen stark zu. Welches Frauenwahlrecht gefordert wurde, wurde kontrovers diskutiert, was schließlich zu einer Zersplitterung der regionalen und lokalen Stimmrechtsvereine in mehrere Dachverbände führte. Die 1909 gegründete Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht forderte das Wahlrecht für Frauen, aber nicht das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Frauen, wie die Forderung des 1913 entstandenen Deutschen Frauenstimmrechtsbunds lautete. Der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht nahm eine mittlere, gemäßigte Position ein. Trotz der Querelen wuchs die bürgerliche Stimmrechtsbewegung. Ende 1918 gehörten den Stimmrechtsvereinen ungefähr 10.000 Mitglieder an. Das Vortrags- und Pressewesen der Stimmrechtsbewegung trug maßgeblich zur Meinungsbildung der deutschen Öffentlichkeit im Hinblick auf das Frauenstimmrecht bei.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs schloss sich die Frauenbewegung dem sogenannten Burgfrieden der politischen Parteien und Gruppierungen an. Die Stimmrechtsaktivitäten kamen zum Erliegen. Die Frauenbewegungsvereine engagierten sich in großem Umfang im Rahmen des Nationalen Frauendienstes an der sogenannten Heimatfront für den Krieg. Erst 1917, als klar wurde, dass nach dem Krieg in Anerkennung für die Kriegsanstrengungen in Preußen nur für die Männer das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden sollte, schlossen sich die Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung und der sozialistischen Frauenbewegung zusammen, um gemeinsam für das Frauenwahlrecht zu kämpfen. Anfang November 1918 fanden große Kundgebungen zur Einführung des Frauenwahlrechts statt. Auf Aufforderung des Bundes Deutscher Frauenvereine wurde im Reichstag mit der Ausarbeitung eines Gesetzes für das Frauenwahlrecht begonnen, das wegen der Revolution nicht mehr zur Abstimmung kam. Am 12. November 1918 proklamierte der Rat der Volksbeauftragten das gleiche, geheime, direkte, allgemeine Wahlrecht für alle Männer und Frauen ab einem Alter von 20 Jahren. Deutschland gehörte damit zu den ersten europäischen Ländern, in denen das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Der Deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht, zu dem sich 1916 der Frauenstimmrechtsverband und die Frauenstimmrechtsvereinigung zusammengeschlossen hatten, löste sich 1919 auf.
Vorgeschichte
Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution wurde dem bis dahin ständisch geprägten politischen System das Ideal der Gleichheit als Ordnungsprinzip für politische Teilhabe gegenübergestellt. Immanuel Kant fasste die Gesellschaft als Zweckverband von Individuen auf, doch den Status des „aktiven Bürgers“ knüpfte er an bestimmte Qualifikationen: ökonomische und soziale Selbständigkeit und das männliche Geschlecht. Die demokratischen Kräfte kritisierten im 19. Jahrhundert die Beschränkung des Status des wahlberechtigten Bürgers auf die Besitzenden, d. h. das sogenannte Zensuswahlrecht, und forderten das allgemeine Wahlrecht, verteidigten gleichzeitig aber die Beschränkung auf Männer. Das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht gab es im 1871 neugegründeten Deutschen Reich von Anfang an. Dagegen galt im wichtigsten Einzelstaat Preußen das auf Männer beschränkte Dreiklassenwahlrecht, wobei die Stimmen nach dem Steueraufkommen des Einzelnen unterschiedliches Gewicht hatten.
Als erste Einmischung einer Frau in die politische Öffentlichkeit in Deutschland gilt die Zuschrift einer Leserin, Louise Otto, 1843 an die Sächsischen Vaterlands-Blätter, in der sie auf eine Frage des Herausgebers nach der politischen Stellung der Frau reagierte. Otto schrieb: „Die Theilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht.“ Ohne Frauen oder die Lösung der Geschlechterfrage würde es keine Demokratisierung der Gesellschaft geben. Diese Stellungnahme löste eine Flut von weiteren Zuschriften – von Männern und Frauen – aus. Die Presse wurde zu einem entscheidenden Medium für die Mobilisierung und das Sichtbarmachen expliziter Frauenanliegen. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 gab Otto die Frauen-Zeitung unter dem Motto „Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen!“ heraus, in der sie die Politisierung der Frauen, eine selbständigere Stellung der Frauen in der Gesellschaft sowie eine Verbesserung der Bildungschancen und der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen forderte. Doch sie konnte nur kurze Zeit frei publizieren und politisch agieren. 1850 wurde ihre Zeitung auf Grund eines neuen sächsischen Pressegesetzes (Lex Otto genannt) verboten. Die Arbeiterinnen- und Dienstbotenvereine, die sie mitgegründet hatte, wurden auf Basis der preußischen Vereinsgesetze von 1850 aufgelöst.
Das preußische Vereinsgesetz von 1850, das später von den meisten deutschen Ländern übernommen wurde und bis 1908 galt, verbot „Frauenpersonen, Schülern und Lehrlingen“ die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und die Teilnahme an politischen Versammlungen. Die Anwesenheit von Frauen erlaubte es den diensthabenden Polizeibeamten, die Versammlung zu schließen, eine Geldbuße zu verhängen und sogar die Schließung des Vereins zu verordnen. Was als politisch galt, wurde im Laufe der kommenden Jahrzehnte mehrfach gerichtlich verhandelt. 1887 stellte das Reichsgericht klar, dass darunter „alle Angelegenheiten“ fielen, die „Verfassung, Verwaltung, Gesetzgebung des Staates, die staatsbürgerlichen Rechte der Unterthanen und die internationalen Beziehungen der Staaten zu einander in sich begreifen.“
In den 1860er Jahren entstanden die ersten bürgerlichen Frauenvereine, die angesichts der Rahmenbedingungen darauf bedacht waren, politisch neutral zu erscheinen. Das Frauenwahlrecht war unter diesen Vorzeichen ein zu heikles Thema, als dass ein Frauenverein sich dafür einsetzen konnte. Die neuen Vereine, vorneweg der 1865 gegründete erste überregionale Frauenverein, der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF), widmeten sich vornehmlich der Frage der Frauenbildung oder sozialen Fragen. In der Zeit von 1878 bis 1890 wurden zudem durch die Sozialistengesetze sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Vereinen Versammlungen und Schriften verboten, deren Zweck der Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung war. Dies verstärkte noch die bestehenden Klassengegensätze unter den Frauen und führte über 1890 hinaus zu einer entschiedenen Abgrenzung der bürgerlichen Frauen von den Sozialdemokratinnen.
Die rechtliche Situation bedingte, dass das Frauenwahlrecht in Deutschland bis in die 1890er Jahre offen und direkt nur von einzelnen Persönlichkeiten, aber nicht von Organisationen gefordert wurde. 1869 kritisierten der britische Philosoph John Stuart Mill und seine Stieftochter Helen Taylor in ihrem Buch The Subjection of Women scharf die rechtliche Unterwerfung des weiblichen unter das männliche Geschlecht und forderten die vollkommene Gleichheit. Die noch im gleichen Jahr erschienene Übersetzung Die Hörigkeit der Frau von Jenny Hirsch machte die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in Deutschland erstmals in der breiten Öffentlichkeit bekannt. 1876 veröffentlichte die Schriftstellerin Hedwig Dohm das Plädoyer Der Frauen Natur und Recht, in dem sie das Frauenstimmrecht als ein den Frauen „natürlich zukommendes Recht“ einforderte. Sie gestand keine sachlichen Gründe zu, das Wahlrecht auf Männer zu beschränken. Sie räumte zwar ein, dass die Gesellschaft ein natürliches politisches Recht einschränken könnte, wenn „dieses Recht sich als unvereinbar erwiese mit der Wohlfahrt des Staatslebens“. Doch forderte sie Beweise für einen solchen „Antagonismus zwischen Staatsleben und Frauenrechten“. Ohne solche Beweise seien die Berechtigung und Notwendigkeit eines allgemeinen Frauenstimmrechts gegeben.
Frühe Phase der Stimmrechtsbewegung bis 1902
Mitte der 1890er Jahre formierte sich – ausgelöst durch die sogenannte Umsturzvorlage – der Widerstand gegen das Vereinsrecht. Mit der Vorlage wurde die Handhabung der Vereinsgesetze in Preußen und Bayern verschärft, was von den Polizeibehörden zu Schikanen gegen die Arbeiterinnenvereine genutzt wurde. Selbst gewerkschaftliche Zusammenkünfte und kulturelle Veranstaltungen wurden als politische Aktionen gewertet und die Aktivistinnen strafrechtlich verfolgt. Clara Zetkin startete 1895 in der sozialdemokratischen Gleichheit eine Kampagne gegen die Polizeiwillkür. Im selben Jahr stellte die SPD-Fraktion im Reichstag einen Antrag zum Frauenstimmrecht, der von August Bebel in einer vielbeachteten Rede vertreten wurde. Schon 1891 hatte die deutsche Sozialdemokratie die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in ihr Parteiprogramm aufgenommen.
Auch die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen engagierten sich gegen die rigiden Vereinsgesetze. Die Frauenvereine legten von 1895 bis 1907 insgesamt zehn entsprechende Petitionen vor, mit denen die Frauen mobilisiert werden sollten. Doch der Erfolg ließ auf sich warten. 1894 forderten die Frauenrechtlerinnen Helene Lange und Lily von Gyzicki (später bekannt als Lily Braun) erstmals in öffentlichen Reden das Frauenwahlrecht und publizierten ihre Gedankengänge im Anschluss. In zahlreichen Veröffentlichungen in den Zeitschriften der Frauenbewegung und im Rahmen vieler Vorträge wurde die Debatte zum Frauenwahlrecht geführt. Dies galt sowohl für alle Flügel der bürgerlichen als auch für die proletarische Frauenbewegung. Die Frauenstimmrechtsfrage war damit im Deutschen Reich auf der politischen Agenda angekommen.
Auch die internationalen Kontakte, die sich aufgrund der seit 1878 stattfindenden internationalen Frauenkongresse immer weiter verstärkten, trugen dazu bei, dass das Frauenstimmrecht in Deutschland gefordert wurde. So inspirierte die Einführung des Frauenwahlrechts im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einzelnen Ländern und Staaten (z. B. 1869 in Wyoming, 1881 auf der britischen Isle of Man, 1893 in Neuseeland, 1894 in Südaustralien) die Frauenbewegungen in anderen Ländern, darunter die deutsche. Über sämtliche Formen der politischen Teilhabe von Frauen im Ausland wurde in der bürgerlichen Frauenbewegungspresse wie in der Gleichheit intensiv berichtet.
1893 besuchten vier Delegierte deutscher Frauenvereine den ersten International Congress of Women des 1888 gegründeten International Council of Women (ICW), der parallel zur Weltausstellung in Chicago stattfand. Dabei lernten sie die Dachorganisation der amerikanischen Frauenvereine (National Council of Women) kennen und warben nach ihrer Rückkehr dafür, die deutschen Frauenvereine in gleicher Weise zusammenzuschließen, um mehr Aufmerksamkeit für gemeinsame Forderungen zu erhalten. Unter Federführung des Lette-Vereins und Anna Schepeler-Lettes wurde 1894 der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachverband der bürgerlichen Frauenvereine gegründet. Neben dem Lette-Verein waren der ADF, der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV), der Verein Frauenwohl, der Kaufmännisch-gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte Berlin und der Verein Jugendschutz die wichtigsten Gründungsvereine. Auguste Schmidt vom ADLV wurde die erste Vorsitzende des BDF. 1897 wurde der BDF als dritter nationaler Dachverband Mitglied im ICW.
Der BDF definierte sich als „gemeinnützig“ in Abgrenzung zu „politisch“ und lehnte in der Gründungsversammlung mit dieser Begründung die Aufnahme sozialdemokratischer Arbeiterinnenvereine ab. Eine Minderheit, darunter Minna Cauer und weitere Frauen des Vereins Frauenwohl, hatte sich gegen diese Abgrenzung ausgesprochen. Die Führerinnen der proletarischen Frauenbewegung, allen voran Clara Zetkin, lehnten ihrerseits eine Zusammenarbeit ab und verfolgten einen Kurs der „reinlichen Scheidung“ zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung. Die Interessen der proletarischen und der bürgerlichen Frauen seien unvereinbar. Als 1895 die bürgerliche Frauenbewegung im SPD-Presseorgan Vorwärts bei Frauen aller Parteien und Klassen um Unterschriften für eine Petition für eine Reform des Vereinsrechtes warb, veranlasste dies Zetkin zum Gegenaufruf „Dieser Petition keine proletarische Unterschrift!“. Zetkin wollte ihren Einfluss wahren und die Konkurrenz aus dem bürgerlichen Frauenlager abwehren.
In den Jahren ab 1895 arbeiteten Minna Cauer, Anita Augspurg und Marie Stritt eng zusammen, um den BDF für ihre neuen Ideen zu gewinnen. 1896 überzeugten sie den BDF, eine Kampagne (von der Presse als „Frauen-Landsturm“ verspottet) gegen den Entwurf für das neue Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zu führen. Der Entwurf wie auch die schließlich beschlossene Fassung benachteiligte Frauen stark. Im Juni 1896 hielten Cauer und Augspurg in Berlin eine öffentliche Versammlung gegen den Plan ab, an dem 3.000 Personen teilnahmen und bei der eine Resolution gegen das einseitige „Männerrecht“ verabschiedet wurde, die schließlich 25.000 Unterschriften erhielt. Bei der zweiten Lesung im Reichstag wurde ein von Marie Stritt scharf und emotional formuliertes Flugblatt verteilt, für das der Spottname „Frauen-Landsturm“ stolz übernommen worden war. Das BGB wurde trotzdem ratifiziert, aber die durchgeführte Massenversammlung und der bis dahin unbekannte radikale Tonfall stellten eine neue Agitationsstufe für die deutsche Frauenbewegung dar.
1897 plädierte Augspurg erstmals für das Frauenwahlrecht. Dies führte innerhalb des Vereins Frauenwohl zu einer ersten „offenen und rückhaltlosen“ Diskussion über das politische Stimmrecht.
Radikaler und gemäßigter Flügel der Frauenbewegung
Um 1898/99 kam es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung zu einem Zerwürfnis, das sich vordergründig am Umgang mit dem Thema Prostitution, grundsätzlicher jedoch an Fragen des Vorgehens und der Organisationsform des BDF entzündete. Anita Augspurg, Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und andere befürworteten ein kritischeres, stärker programmatisches Vorgehen als die eher pragmatische Mehrheit um Helene Lange und später Gertrud Bäumer. Hanna Bieber-Böhm, die führende Figur der deutschen Sittlichkeitsbewegung, hatte sich ab Ende der 1880er Jahre für den Kampf gegen die Prostitution eingesetzt und die Behandlung des als peinlich empfundenen Themas im BDF durchgesetzt. Ihr moralisch geprägter Ansatz setzte auf die Bestrafung der Prostitution. Zehn Jahre später forderten neue Aktivistinnen wie Anna Pappritz und Katharina Scheven dagegen – inspiriert von den britischen Abolitionistinnen –, alle nur Frauen betreffenden Sonderbestimmungen abzuschaffen. Ihr Fokus lag auf der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, sie plädierten für Aufklärung und einfach zugängliche und kostenlose ärztliche Behandlung.
Bei der BDF-Generalversammlung 1898 forderten Augspurg und Cauer den Wechsel zu einem abolitionistischen Vorgehen beim Kampf gegen die Prostitution sowie ein politisches Engagement der Frauenbewegung. Diesen Positionen schloss sich nur eine Minderheit in der Frauenbewegung an, die sich von da an selbst als „radikal“ beschrieb. Die frisch gewählte neue Vorsitzende des BDF, Marie Stritt, mit der Augspurg im Verein Frauenbildungsreform in München jahrelang zusammengearbeitet hatte, stellte sich auf die Seite der Mehrheit, fortan als die Gemäßigten bezeichnet, was Augspurg ihr nie verzieh.
Da sie sich im BDF nicht durchsetzen konnten, initiierten Augspurg und Cauer bei der nächsten öffentlichen Delegiertenversammlung des Vereins Frauenwohl die Gründung des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine, der die Trennung zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Frauen ablehnte und sich zu der Forderung nach dem Frauenstimmrecht bekannte. Der neue Verband richtete entsprechend Arbeiterinnenausschüsse in jedem Verein ein, deren Erfolg aber durch das „Sendungsbewusstsein“ und den „automatischen“ Führungsanspruch der bürgerlichen Frauen gegenüber den Arbeiterinnen behindert wurde.
Die ältere historische Forschung hat unreflektiert die Zuschreibung radikal/gemäßigt und die Selbstdarstellung als Avantgarde, wie in Veröffentlichungen der Radikalen um Cauer und Augspurg immer wieder postuliert, übernommen und fortgeschrieben. So wurde zum Beispiel die „Krone-Metapher“ immer wieder kolportiert, obwohl keine der Gemäßigten nach 1890 diese Aussage so gemacht hatte:
Neuere Analysen der Historikerinnen Gisela Bock, Angelika Schaser und Kerstin Wolff haben jedoch gezeigt, dass sich die Flügel weder in der Argumentation noch in der Taktik signifikant unterschieden. Die Wahlrechtsforderung kam in beiden Flügeln der deutschen Frauenbewegung gleichzeitig auf. In den Jahren 1894 bis 1898 und bis 1902 ging es den Vertreterinnen beider Flügel vor allem darum, für diese Forderung eine breite Unterstützung bei den Frauen zu bekommen. Dabei verwendeten sowohl radikale als auch gemäßigte Frauenrechtlerinnen Formulierungen, die das Frauenstimmrecht als „letztes Ziel“ beschrieben (z. B. 1897 Augspurg, 1899 Helene Lange). Die faktischen Unterschiede waren also marginal, trotzdem – wie Susanne Kinnebrock betont hat – zeigte die Zuordnung von Personen und Positionen zu den unterschiedlichen Flügeln Wirkung, da sie im Bewusstsein der führenden Akteurinnen fest verankert war.
Die Polarisierung innerhalb der Frauenbewegung führte zu einer informellen Arbeitsteilung der beiden Flügel. Die radikalen Frauenrechtlerinnen beschränkten sich eher auf Propaganda („Agitations-Fachfrauen“), wogegen die gemäßigten Frauenrechtlerinnen und Vereine die praktische Arbeit machten. So kam es, dass etliche Radikale, die auch an praktischer Arbeit interessiert waren, sich mehr und mehr in gemäßigten Vereinen engagierten und so schließlich zum anderen Flügel gezählt wurden (z. B. Anna Pappritz).
Zeitschriften der frühen Phase
1895 gab Minna Cauer mit Unterstützung von Lily von Gizycki (später Lily Braun) eine neue Zeitschrift, Die Frauenbewegung, heraus, die sich zum Sprachrohr für den sich formierenden „radikalen“ Teil der Frauenbewegung entwickelte. Schon 1895 wurde in der Frauenbewegung eine Kontroverse um das Frauenstimmrecht zwischen Georg von Gizycki und Henriette Goldschmidt veröffentlicht. Nachdem sich Lily von Gizycki aus der Redaktion zurückgezogen und in der SPD engagiert hatte, übernahm Anita Augspurg ihre Stelle. Ab 1899 wurde Die Frauenbewegung durch die von Augspurg redigierte Beilage Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung erweitert.
Frühe Organisationsphase bis 1907
Gründung des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht 1902
Der direkte Anlass für die Gründung der ersten deutschen Stimmrechtsorganisation war die Erste Internationale Frauenstimmrechtskonferenz, die im Februar 1902 in Washington, D.C. stattfand. Der International Council of Women setzte sich nicht für das Frauenstimmrecht ein, deshalb strebten führende internationale Frauenrechtlerinnen, darunter Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, seit dem dritten International Congress of Women des ICW 1899 in London einen zusätzlichen internationalen Verband an. Da die bestehenden deutschen Frauenorganisationen einschließlich des Dachverbands BDF noch zögerten, das Frauenstimmrecht zu fordern, konnten keine deutschen Delegierten nach Washington entsandt werden.
Augspurg schlug vor, den Sitz eines deutschen Frauenstimmrechtsvereins in einen der deutschen Staaten zu verlegen, dessen Vereinsgesetz – anders als das preußische – die Beteiligung von Frauen an einem Verein mit politischer Ausrichtung nicht explizit unterband. Die Frauen der anderen deutschen Bundesstaaten konnten Mitglied werden, dies war vereinsrechtlich nicht unterbunden. Entsprechend gründeten führende Mitglieder des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine kurzentschlossen den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht, dessen Ziel es war, den deutschen Frauen die Ausübung ihrer politischen Rechte zu sichern. Neben Augspurg und Heymann, die Vorsitzende und Vizevorsitzende wurden, gehörten zu den Gründungsmitgliedern Minna Cauer, Charlotte Engel-Reimers, Agnes Hacker, Käthe Schirmacher, Helene Stöcker und Adelheid von Welczeck (insgesamt waren es 13 Gründungsmitglieder). Weitere bekannte Frauenrechtlerinnen traten in den nächsten Monaten ein, darunter Marie Raschke, Anna Pappritz und Marie Stritt. Auch der Hamburger Frauenwohl-Verein trat geschlossen bei. Augspurg konnte im Namen des Vereins eine Grußadresse zur internationalen Frauenstimmrechtskonferenz telegraphieren.
Über die Vereinsgründung wurde in der Presse breit und nicht nur ablehnend berichtet. Insbesondere Teile der liberalen Presse (Neue Hamburger Zeitung und Frankfurter Zeitung) begrüßten die neue Organisation. Während die konservativen und anti-semitischen Blätter und die Provinzzeitungen der Stimmrechtsbewegung unterstellten, den Sozialismus zu fördern, unterstützten die liberalen nationalen Zeitungen bald die Stimmrechtsaktivistinnen. Sie beauftragten zudem führende Frauenrechtlerinnen, regelmäßig Artikel zur Frauenbewegung zu schreiben.
Mit der Vereinsmitgliedschaft, deren Pflichtjahresbeitrag mit drei Mark bewusst niedrig gehalten wurde, war die unentgeltliche Lieferung der Zeitschrift Die Frauenbewegung verbunden. Schon im Gründungsjahr konnte ein erster Erfolg gefeiert werden, 35 Frauen des neuen Stimmrechtsvereins erhielten eine Audienz bei Reichskanzler Bernhard von Bülow und konnten dort ihre Forderungen vortragen. Im Vordergrund stand vor allem die Änderung der Vereinsgesetze.
Ende 1902 verabschiedete der BDF schließlich eine eingebrachte Resolution zum Frauenwahlrecht und stellte sich damit hinter die Stimmrechtsforderung:
Da mit der Resolution aus seiner Sicht eine gemeinsame Basis geschaffen war, trat der Stimmrechtsverein 1903 dem BDF bei. Auch der größte und einflussreichste Verband des BDF, der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF), nahm 1905 die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in sein Programm auf.
Zweite Internationale Frauenstimmrechtskonferenz 1904 in Berlin
1904 fand in Berlin die Zweite Internationale Frauenstimmrechtskonferenz mit dem Ziel statt, den internationalen Frauenstimmrechtsverband zu gründen. Ort und Zeit der zweiten Stimmrechtskonferenz ergaben sich, weil der International Congress of Women des ICW 1904 auf Einladung des BDF in Berlin tagte und so der organisatorische Aufwand für eine internationale Frauenstimmrechtskonferenz reduziert war. Das vorbereitende Komitee bestand aus der Pionierin der US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung Susan B. Anthony (Vorsitzende), Anita Augspurg (2. Vorsitzende), der Engländerin Florence Fenwick Miller (Schatzmeisterin) und der Amerikanerin Carrie Chapman Catt (Sekretariat). Die Organisation vor Ort lag in den Händen von Vertreterinnen des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine, Minna Cauer, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Else Lüders.
Die Stimmrechtskonferenz fand eine Woche vor dem ICW-Kongress statt und zog einen Gutteil der Berichterstattung auf sich. Auf der Konferenz wurde der Gründungsakt für die International Woman Suffrage Alliance (IWSA) vollzogen und Catt und Augspurg als Präsidentin und Vizepräsidentin des neuen internationalen Bunds gewählt.
Umwandlung in Dachverband 1904
Der IWSA nahm nur nationale Dachverbände auf. Entsprechend wurde der deutsche Stimmrechtsverein nach der Konferenz in einen Verband namens Deutscher Verband für Frauenstimmrecht (mit Zweigvereinen und Ortsgruppen) umgewandelt. Bis zu dieser Umwandlung waren nur Einzelmitgliedschaften im Stimmrechtsverein möglich gewesen. Danach konnten auch korporative Mitglieder aufgenommen werden. 1904 gründeten sich drei Ortsvereine und traten dem Verband bei – in Hamburg unter Führung von Martha Zietz und Lida Gustava Heymann, in Bremen unter Führung von Luise Koch und in Frankfurt am Main unter Führung von Helene Lewison. Wo die Vereinsgesetze die formelle Gründung von Ortsgruppen unterbanden, baute der Verband ein Netz von Vertrauenspersonen auf, die die Verbindung zwischen dem Vorstand und den Einzelmitgliedern in den Städten herstellte.
Ab 1906 initiierte der Dachverband verstärkt die Gründung von Landesvereinen. In Baden, Mitteldeutschland, Sachsen und Württemberg entstanden entsprechende Stimmrechtsvereine. Für Preußen wurde ein Landesausschuss gegründet, der nach der Liberalisierung der Vereinsgesetze 1908 in einen Landesverein umbenannt wurde. Landesvereine in Hessen, Bayern, Mecklenburg, Schlesien und Oldenburg kamen hinzu. 1907/08 hatte der Verband knapp 2500 Mitglieder in 7 Landes- und 19 Ortsvereinen, mehr als 200 Männer waren ebenfalls Mitglied.
Aktivitäten der Stimmrechtsvereine 1902–1907
Schon ab 1902 warben die Vorstandsmitglieder mit Vortragsreisen für das Frauenwahlrecht. Häufige und beliebte Rednerinnen waren Martha Zietz, Maria Lischnewska, Anita Augspurg, Adelheid von Welczeck und Lida Gustava Heymann. Die ersten Versammlungen wurden im Februar 1902 in Hamburg und Berlin vor teils mehr als 1000 Besuchern abgehalten. Die Vorträge platzierten das Thema in vielen deutschen Städten, was zu Beitritten von Einzelmitgliedern und zu Gründungen von Ortsvereinen im gesamten Reichsgebiet führte.
Zu den Aktivitäten der einzelnen Mitgliedsvereine gehörten vielfältige Mobilisierungs- und Aktionsformen: neben öffentlichen Versammlungen regelmäßige Diskussionsabende von Arbeitsausschüssen, die Gründung eines parlamentarischen Komitees, die Erstellung eines Arbeitsplans zu Wahlagitation, die Veröffentlichung und Verteilung von Aufrufen und Flugblättern, die Erarbeitung von Denkschriften und Petitionen, u. a. Bei den öffentlichen Versammlungen sprachen prominente Wortführerinnen der Stimmrechtsbewegungen, aber auch englische Suffragetten, deren Reden besonders großen Zuspruch fanden. Inhaltlich behandelten die zahlreichen Artikel in der Bewegungspresse weniger die Berechtigung der Frauenstimmrechtsforderung als in der Zeit vor 1902. Stattdessen fokussierten sie auf die Diskussion über die direkte Teilnahme von Frauen und Frauenbewegung an der Politik.
Der Stimmrechtsverband druckte Stimmrechtsmarken und -postkarten und verbreitete sie als Werbe- und Finanzierungsmittel. Die Mitglieder wurden aufgefordert, das Stimmrechtszeichen der International Woman Suffrage Alliance zu tragen, das von allen nationalen Verbänden als Erkennungs- und Bekenntnissymbol übernommen worden war.
Der Verband reichte Petitionen zum Vereinsrecht, zur Neuregelung der Wahlkreiseinteilung und zu Mitbestimmungsrechten im beruflichen Bereich ein. Ab 1905 bemühten sich die Mitglieder verstärkt um die Neubelebung der kommunalen Wahlrechte von Frauen. Um zu zeigen, dass „die Frauen politischer Rechte würdig sind“, engagierten sich die Mitglieder bei der Vorbereitung auf Wahlen, wie beispielsweise bei den Reichstagswahlen 1904 und 1908 und bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg. Dabei gab es immer das Problem, Kandidaten oder Parteien zu finden, die die Forderung nach dem Frauenwahlrecht unterstützten. Oftmals investierten die Frauen viel Energie in den Wahlkampf eines Kandidaten einer links-liberalen Partei, doch die Gegenleistung, die Aufnahme der Forderung nach dem Frauenwahlrecht in das Parteiprogramm, blieb nach erfolgreicher Wahl trotzdem aus. Ein Beispiel war die erfolgreiche Wahlkampagne für den Kandidaten Rudolf Oeser der Deutschen Volkspartei 1907 in Frankfurt am Main, die zum größten Teil in den Händen von Vertreterinnen des Frankfurter Stimmrechtsvereins lag.
Verankerung der Forderung nach dem demokratischen Wahlrecht in der Satzung 1907
In Reaktion auf den Vorwurf der Sozialdemokraten, sie seien die einzigen, die sich für das allgemeine und gleiche Wahlrecht einsetzten, präzisierte der Stimmrechtsverband 1907 auf seiner zweiten Generalversammlung, was er unter politischer Gleichberechtigung verstand:
Die Klarstellung in § 3 der Verbandssatzung führte zu einer mehrjährigen Auseinandersetzung. Der Paragraph enthielt für die damaligen Zeitgenossen einen Widerspruch, da das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer nur von einem Teil des Parteienspektrums gefordert wurde, nämlich der Sozialdemokratie und der radikal-liberalen Demokratischen Vereinigung.
Im preußischen Landesausschuss für Frauenstimmrecht des Verbands (ab 1908 ein Landesverein) formierte sich um Maria Lischnewska Widerstand gegen die nun klar formulierte Position des Verbands. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht sollte erst gefordert werden, wenn die Liberalen so stark geworden waren, dass im preußischen Landtag Sozialdemokratie und Zentrum gemeinsam nicht die Mehrheit bilden würden. Lischnewska warf Augspurg vor, dass ihre Anschauungen zu sehr denen der „Sozialdemokratie älterer Richtung“ entsprechen würden.
Nach der Gründung hatte der Stimmrechtsverband zunächst die Zeitschrift Die Frauenbewegung als Verbandsorgan genutzt. Mit Verweis auf die partei-politische Neutralität wurde bei der zweiten Generalversammlung 1907 entschieden, dass die Frauenbewegung nicht mehr diese Funktion haben könnte, da sie die radikale Richtung der Frauenbewegung vertrete. Stattdessen rief der Verband die Zeitschrift für Frauenstimmrecht ins Leben, die sowohl als eigenständige Zeitschrift als auch als monatliche Beilage der Frauenbewegung erschien und von Augspurg redigiert wurde. Das Motto der Zeitschrift war „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“. Das Titelblatt zeigte eine allegorische Darstellung des Kampfes um das Stimmrecht, bei der vor der aufsteigenden Sonne eine Frauengestalt triumphierend eine zerbrochene Kette in die Höhe hielt. Obwohl Augspurg die Gründung der Zeitschrift als „ersten Meilenstein“ des Schaffens der Stimmrechtsbewegung in Deutschland bezeichnete, trat sie als Autorin in der Zeitschrift kaum in Erscheinung.
Erste internationale Konferenz sozialistischer Frauen
1903 begannen die sozialdemokratischen Frauen mit der Propaganda für das Frauenwahlrecht. Auf dem Dresdner SPD-Parteitag stellten sie erfolgreich den Antrag, dass in allen Fällen, in denen die Partei das allgemeine, geheime, gleiche und direkte Wahlrecht forderte, das Frauenwahlrecht explizit eingeschlossen und „mit allem Nachdruck“ gefordert werden müsse. Allerdings konnten wegen des Verbots des politischen Engagements für Frauen durch die Vereinsgesetze die proletarischen Frauen nicht der SPD beitreten. Die Organisation beruhte daher auf sogenannten Vertrauensfrauen, die von den lokalen Frauengruppen gewählt und von den SPD-Ortsvorständen als Repräsentantinnen für die Frauen akzeptiert wurden. Bis 1908 wurden 407 solche Vertrauensfrauen gewählt. Im Rahmen von sozialistischen Bildungsvereinen wurde versucht, die Arbeiterinnen für die gewerkschaftliche und politische Arbeit zu gewinnen. 1907 gab es 94 derartige Vereine mit mehr als 10.000 Mitgliedern.
1907 fand in Stuttgart, initiiert von den deutschen Sozialistinnen, die erste internationale Konferenz sozialistischer Frauen statt, mit der eine relativ unabhängige sozialistische Frauenbewegung entstand. Schon bei der Eröffnung machte Ottilie Baader klar, dass das Frauenstimmrecht eine zentrale Forderung der Sozialistinnen war: „Ich begrüße alle Mitkämpferinnen, die gekommen sind, um die unentbehrlichste Waffe für uns, das Frauenstimmrecht, mit erobern zu helfen.“ Auch Clara Zetkin forderte in ihrer im Vorfeld veröffentlichten Rede das Frauenwahlrecht. Nach kontroverser Diskussion verpflichteten sich die sozialistischen Parteien aller Länder, sich energisch für die Einführung des uneingeschränkten allgemeinen Frauenwahlrechts einzusetzen und gemeinsame Aktionen zu entwickeln. Dazu sollte die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in allen Parteiprogrammen verankert werden.
Organisierte Hochphase 1908–1914
Liberalisierung der Vereinsgesetze
Schon in der Verfassung von 1871 war der Anspruch auf eine reichseinheitliche Regelung der Vereinsgesetze formuliert worden. Doch erst als der Widerspruch zwischen der aktiven Beteiligung von Frauen in vielen Bereichen des sozialen Lebens und ihrem Ausschluss sowie die willkürliche Handhabung der Vereinsgesetze zu offensichtlich wurden, entstand der ernsthafte politische Wille für eine Reform. So wurde zum Beispiel 1901 die Gesellschaft für soziale Reform gegründet, die mit Rücksicht auf das preußische Vereinsrecht nur männliche Mitglieder zuließ, obwohl das Engagement der Frauenvereine aus Armenpflege, Arbeitsnachweisen, Fürsorgeerziehung, Gewerbeaufsicht und Rechtspflege nicht mehr wegzudenken war. In einem anderen Fall führte 1902 der konservative Bund der Landwirte, der auf die Duldung der Polizei bauen konnte, in Berlin unter Beteiligung von Frauen unbehelligt eine Massenveranstaltung durch. Die eklatante Diskrepanz zur Behandlung der Arbeiterinnenvereine führte dazu, dass der preußische Innenminister eine sogenannte „Segment-Verordnung“ erließ, die es Frauen erlaubte, an politischen Versammlungen teilzunehmen, wenn sie im Veranstaltungslokal durch ein Seil von den Männern getrennt waren und sich nicht an der Diskussion beteiligten. Die Verordnung wurde in der Presse verspottet. Eine neue Regierungskoalition, der sogenannte Bülowblock, verabschiedete schließlich 1908 ein reichseinheitliches öffentliches Vereinsrecht, das in Bezug auf Frauen keine Sonderregelungen mehr enthielt, was mit der gesteigerten Teilnahme der Frau an öffentlichen Angelegenheiten begründet wurde. Frauen hätten auch im Staatsdienst „zum Teil selbständige und mit Verantwortung verknüpfte“ Aufgaben übernommen, weshalb den Frauen die organisierte Wahrnehmung ihrer Berufsinteressen zu gestatten sei. Frauen konnten nun auch Parteien beitreten.
Die Liberalisierung der Vereinsgesetze führte zur Gründung einer Vielzahl von neuen Frauenstimmrechtsvereinen. Zudem wuchs in den bestehenden Stimmrechtsvereinen – und damit auch im Dachverband – die Zahl der Mitglieder stark an. Die Mitgliedschaft wurde damit heterogener und der in den Anfangsjahren bestimmende linke, radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung um Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann verlor immer mehr an Einfluss, wozu taktische Fehler und Befindlichkeiten beitrugen.
Richtungsstreit und organisatorische Zersplitterung der Stimmrechtsbewegung
Nach der zweiten Generalversammlung kam es im Stimmrechtsverband zu einem Richtungsstreit, wie man sich ohne parteipolitische Festlegung für das demokratische Wahlrecht einsetzen könnte. Für die Verbandsmitglieder bestand ein Konflikt zwischen der feministischen Forderung nach dem Frauenwahlrecht und anderweitigen politischen Überzeugungen. Weitere Konfliktlinien waren unterschiedliche Ansichten zur imperialistischen Außenpolitik und zur Kooperation mit den von Männern getragenen Parteien.
Entlang der drei Konfliktlinien gab es vier Gruppierungen innerhalb der Stimmrechtsbewegung: erstens eine nationalistische Gruppierung um Maria Lischnewska und Käthe Schirmacher, die einerseits die Autonomie der Frauenbewegung betonte, andererseits das demokratische Wahlrecht ablehnte, zweitens eine nationalliberale Gruppierung, die ebenfalls das demokratische Wahlrecht ablehnte, aber weniger imperialistisch-nationalistisch eingestellt war als die Gruppierung um Lischnewska und Schirmacher, drittens eine radikal-demokratische Gruppierung um Minna Cauer, die entschieden das demokratische Wahlrecht für beide Geschlechter vertrat, sich in den politischen Parteien engagierte und eine imperialistische Außenpolitik kritisierte, und viertens die von Lida Gustava Heymann bestimmte Gruppierung, die das demokratische Wahlrecht und die Autonomie der Frauenbewegung befürwortete.
Ab 1908 strebte der preußische Landesverein unter Führung von Minna Cauer und Tony Breitscheid die Zusammenarbeit mit den Parteien an, die für das gleiche, direkte und geheime Wahlrecht eintraten. Entsprechend unterstützte der Landesverein die Demokratische Vereinigung. Damit war der Landesverein parteipolitisch nicht mehr neutral. Zudem propagierte er die von den englischen Suffragetten übernommene „test-question“-Politik, bei der die Wahlunterstützung für Kandidaten zur Reichstagswahl von deren Unterstützung des demokratischen Wahlrechts ohne Unterscheidung von Mann und Frau abhängig gemacht werden sollte.
§ 3 der Verbandssatzung und die Aktivitäten des preußischen Landesvereins lösten 1908/09 den Austritt des Kölner Mitgliedvereins aus dem Stimmrechtsverband und die Gründung weiterer Frauenstimmrechtsvereine aus (schlesischer Verein um Else Hielscher und Marie Wegner, rheinisch-westfälischer Verein um Li Fischer-Eckert und Elsbeth Krukenberg). Diese Vereine forderten für Männer und Frauen die gleichen Staatsbürgerrechte, aber kein bestimmtes Wahlrecht, insbesondere nicht die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen. Sie schlossen sich schließlich zur Deutschen Vereinigung für Frauenstimmrecht zusammen. Organ der Vereinigung wurde die Zeitschrift Frau und Staat, die als Beilage zum Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine erschien. Trotz der Austritte und Neugründungen gab es weiterhin eine starke und wachsende Gruppe von Gegnerinnen des allgemeinen Wahlrechts im Stimmrechtsverband. Sie wurde „Reformpartei“ genannt.
Auf der dritten Generalversammlung 1909 versuchte der Verband den Konflikt zu entschärfen, indem § 3 zwar bekräftigt wurde, aber Provinzialvereinen der direkte Anschluss an den Verband, also nicht als Untergruppierung des jeweiligen Landesvereins, zugestanden wurde. Damit sollte den preußischen Provinzialvereinen, die sich nicht dem radikalen preußischen Landesverein unterordnen wollten, eine Brücke gebaut werden. Bei der vierten Generalversammlung zwei Jahre später war schließlich ein Antrag von Emma Nägeli und Maria Lischnewska erfolgreich und § 3 der Satzung wurde umformuliert. Statt für beide Geschlechter wurde nun nur noch für Frauen das „allgemeine, gleiche, direkte und geheime, aktive sowie passive Wahlrecht“ gefordert. Die Richtungskämpfe führten zum Rücktritt von Augspurg und Heymann aus dem Vorstand, da sie nicht bereit waren, mit der ebenfalls gewählten Marie Stritt zusammenzuarbeiten. Der Vorstand bestand nun aus Marie Stritt als Vorsitzende sowie Martha Zietz, Anna Lindemann, Maria Lischneska und Käthe Schirmacher und war damit stark national-liberal ausgerichtet.
Bei der gleichen Generalversammlung beschloss der Verband, eine neue Zeitschrift mit dem Namen Frauenstimmrecht zu gründen, deren Redaktion er Augspurg übertrug. Dies brachte Cauers Zeitschrift Frauenbewegung in ökonomische Schwierigkeiten, da die Zeitschrift für Frauenstimmrecht zumindest noch zum Teil als deren Beilage erschienen war und damit den Abonnentenkreis abgesichert hatte. Die Freundschaft zwischen Cauer und Augspurg zerbrach an dieser Entwicklung, auch wenn sie später noch zusammenarbeiteten. Cauer entschloss sich, die Zeitschrift für Frauenstimmrecht weiterzuführen, allerdings nur noch als Beilage zur Frauenbewegung. Die Redaktion übernahm Cauer selbst.
Bei der Eisenacher Generalversammlung des Stimmrechtsverbands 1913 wurde beschlossen, dass die Redaktion der Zeitschrift Frauenstimmrecht inhaltlich und formell im Einverständnis mit dem Verbandsvorstand zu erfolgen hätte. Daraufhin gab Augspurg die Redaktion ab, die nun Adele Schreiber übernahm. 1914 wurde die Zeitschrift in Die Staatsbürgerin umbenannt.
Die neue Formulierung des § 3 war für National-Liberale immer noch parteipolitisch gefärbt, da noch Ähnlichkeiten mit den Forderungen der Demokratischen Vereinigung und der Sozialdemokratie erkennbar waren. Die Mehrzahl der Provinzialvereine lehnte 1912 die neue Fassung des § 3 in einer Beiratsabstimmung ab. Trotzdem blieb sie auch noch im Folgejahr in Kraft, da bei der Generalversammlung keiner der Änderungsanträge die notwendige Dreiviertel-Mehrheit erhielt. Augspurg und Heymann, mehrere hundert weitere Mitglieder sowie zwei Provinzialvereine (Hamburg und Bayern) traten daraufhin aus dem Verband aus. Augspurg und Heymann gründeten 1913 den Deutschen Frauenstimmrechtsbund, der die ausgetretenen Vereine zusammenschloss. Es gab nun drei bürgerliche Dachverbände für das Frauenstimmrecht, was ein Jahr später von Minna Cauer so beschrieben wurde:
Die Historikerin Kerstin Wolff hat betont, dass die widerstreitenden Meinungen in der Stimmrechtsbewegung eben nicht einfach als für und wider das Frauenwahlrecht gedeutet werden könnten. Vielmehr ließen sie sich mit taktischen Erwägungen und mit der Problematik erklären, dass innerhalb der Frauenbewegung, die sich sonst als politisch neutral verstand, erstmals ein parteipolitisches Thema behandelt wurde.
Mitgliedszuwachs und Gründung weiterer lokaler Stimmrechtsvereine
Ungeachtet des Richtungsstreits wuchs die Stimmrechtsbewegung in dieser Phase weiter, und es wurden weitere lokale Stimmrechtsvereine gegründet. Die Gründung der lokalen Vereine folgte einem gleichbleibenden Muster: Eine überregional bekannte Frauenrechtlerin kam zu einem Vortrag, in dem sie über die Stimmrechtsfrage und die politischen Aufgaben von Frauen sprach. Am Ende des Vortrags wurde meist eine Stimmrechtsgruppe gegründet, was oft schon von einer lokalen Kontaktperson oder einem befreundeten Verein vorbereitet worden war.
Es gab zwei Mobilisierungsschübe für Neugründungen: 1907/08 mit der Liberalisierung der Vereinsgesetze und 1911/12 mit der Spaltung und Ausdifferenzierung der Bewegung. Insgesamt sind für die Jahre 1902 bis 1914 mindestens 157 Stimmrechtsgruppen in Deutschland nachgewiesen. Das Netz aus Ortsgruppen überzog das ganze Land. Die „Überorganisierung“ wurde schon von Zeitgenossinnen kritisch gesehen. Doch bereits damals wurde betont: „Die Frauenbewegung lebt in ihren Vereinen.“ Während der Historiker Richard J. Evans die Zersplitterung eher als Schwächung ansah, interpretierte die Soziologin Ulla Wischermann die „Diffusion“ der Vereine im Verlauf der Bewegungsgeschichte als Expansion und verwies darauf, dass mit der Flügelbildung eine Erweiterung von Themen, Forderungen und Protestrepertoires einherging.
Ab 1911 gewann der Stimmrechtsverband jedes Jahr um die 1000 Mitglieder hinzu. 1913 hatte er fast 9.000 Mitglieder in 90 Ortsgruppen und 11 Landesvereinen. Die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht konnte 1912 fast 2.000 und 1914 3.500 Mitglieder in 37 Ortsgruppen und vier Landesverbänden vorweisen. Der Deutsche Frauenstimmrechtsbund hatte 1914 etwa 2.000 Mitglieder. Im Vergleich zu den anderen im BDF zusammengefassten Vereinen, die 1908 etwa 200.000 Mitglieder hatten (1918 328.000), war die Stimmrechtsbewegung nur ein kleiner Teil der Frauenbewegung.
Aktivitäten der Stimmrechtsvereine 1908–1914
Auch in dieser Phase gehörten zum Spektrum der Aktivitäten der Stimmrechtsvereine politische Propaganda, staatsbürgerliche Bildung für Frauen, gesellige Zusammentreffen und Veranstaltungen. Die Vereine engagierten sich über das Thema Frauenwahlrecht hinaus für Fragen im Kontext von Sittlichkeit, Universitätsstudium oder Mädchenbildung und kooperierten hierzu mit anderen lokalen Vereinen. Die Vereine wirkten sowohl nach innen als auch nach außen. Sie bemühten sich um Aufklärung und Überzeugung der eigenen Mitglieder wie auch die Mobilisierung neuer Frauenkreise. Zwischen den überregionalen und lokalen Vereinen gab es funktionelle Unterschiede und eine Arbeitsteilung: Überregional widmete man sich eher der Programmbestimmung und Protestplanung, während lokal die praktische Arbeit erfolgte.
Um Gruppenidentität und -bewusstsein zu fördern, versuchte die deutsche Stimmrechtsbewegung Praktiken der englischen Suffragetten zu übernehmen, was insbesondere Augspurg und Heymann propagierten. So übernahm der Bayerische Landesverein die Farben der Suffragetten (purpur, weiß und grün) für Banner und Fahnen zum Schmuck bei Versammlungen oder für Plakate, Einladungen und Karten. Die Suffragetten trugen bei Versammlungen und Umzügen vor allem weiße Kleider und Hüte, eine Symbolik, die sich in Deutschland nicht durchsetzte. Hier galten helle Kleider als zu unpraktisch und zu jugendlich.
Auch das gemeinsame Singen bei den englischen Stimmrechtsveranstaltungen hatte Augspurg und Heymann beeindruckt. Augspurg schrieb Texte für zwei kämpferische Stimmrechtslieder, die sie in der ersten Nummer des neuen Verbandsorgans Frauenstimmrecht 1912 veröffentlichte und die bei Versammlungen gesungen wurden. Dem Weckruf zum Frauenstimmrecht lag die Melodie der Marseillaise zugrunde, der „Nationalhymne der Frauen“ „Das Lied der Deutschen“.
1909 hatten die deutschen Delegierten, darunter Anna Pappritz, Frieda Radel und Regine Deutsch, bei der 5. Internationalen Stimmrechtskonferenz der IWSA in London die Aktionsformen der britischen Frauenbewegung miterlebt, darunter Demonstrationen, Paraden und Autokorsos. Sie waren beeindruckt, hielten die Methoden aber für kaum übertragbar. Eine Straßendemonstration von (bürgerlichen) Frauen widersprach den gängigen Konstruktionen von Weiblichkeit und war außerdem unter den herrschenden politischen Verhältnissen schwer zu realisieren. Dennoch versuchten der Berliner und der Bayerische Stimmrechtsverein noch im gleichen Jahr, Demonstrationen durchzuführen, allerdings vergeblich. Erst 1912 fand in München eine Demonstrationsfahrt für das Frauenstimmrecht mit 18 Landauern statt. Adele Schreibers Bericht von der Fahrt in der Zeitschrift Frauenstimmrecht belegt, was für ein Schritt diese Demonstration für die bürgerlichen Frauen darstellte: „Das Unerhörte wurde Wirklichkeit – wir haben es gewagt –, die erste Propagandafahrt durch eine deutsche Großstadt!“ Bis nach dem Ersten Weltkrieg blieb dies die einzige Frauenstimmrechtsdemonstration der bürgerlichen Frauenbewegung.
Zweite internationale Konferenz sozialistischer Frauen und Internationaler Frauentag
Bei der zweiten internationalen Konferenz sozialistischer Frauen 1910 in Kopenhagen wurde auf Antrag von Clara Zetkin, Käte Duncker und weiteren die Durchführung eines Internationalen Frauentags beschlossen. Angeregt wurden sie vom Bericht der Amerikanerin May Wood-Simons über 1909 und 1910 in den USA erfolgreich durchgeführte Frauentage. Organisation und Verwaltung der Veranstaltung übernahm Luise Zietz, die im Rahmen des Aktiontags eine Reihe von deutschlandweiten Demonstrationen für das Frauenstimmrecht organisierte. Der erste Internationale Frauentag 1911 erwies sich unter der Parole „Heraus mit dem Frauenwahlrecht!“ als ausgesprochen erfolgreich. Mehr als eine Million Frauen gingen auf die Straße und forderten soziale und politische Gleichberechtigung. Die radikalen Frauenrechtlerinnen Minna Cauer, Else Lüders und Marie Lischnewska nahmen ebenfalls an Versammlungen des Frauentags teil. Die Gleichheit erschien mit einer 16-seitigen Sondernummer mit dem Titel „Frauenwahlrecht“.
Trotz des Erfolgs verzichteten die Organe der gemäßigten Frauenbewegung (von Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine über Neue Bahnen bis hin zu Die Frau) darauf, die Massendemonstrationen zu erwähnen. Auch Augspurg kommentierte sie in der Zeitschrift für Frauenstimmrecht nur zurückhaltend. Nur Cauer äußerte sich in ihrer Zeitschrift Frauenbewegung mit Sympathie und Begeisterung für die Aktion. Die bürgerliche Frauenbewegungspresse reagierte wohl kühl wegen der Polemik der Sozialistinnen gegen die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen während des Frauentags. So hieß es in einem Flugblatt zum Frauentag:
Trotz innerparteilicher Opposition gelang es den sozialdemokratischen Frauen bis 1914 jedes Jahr einen internationalen Frauentag durchzuführen.
Versuch der Bildung eines Kartells der Stimmrechts-Dachverbände
Auf einen Vorschlag von Augspurg und Heymann hin vereinbarten 1914 der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht, der Deutsche Frauenstimmrechtsbund und die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht ein Kartell mit dem Ziel, nach außen eine „geschlossene Front“ zu zeigen. Das Kartell sollte die Zusammenarbeit bei Demonstrationen, Petitionen und die Vertretung in der International Women Suffrage Alliance, die nur eine nationale Vertretung zuließ, erleichtern. Der gemeinsame Nenner war die Forderung nach dem Frauenwahlrecht, Details zur Ausgestaltung dieses Wahlrechts wurden nicht benannt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte, dass das Kartell praktische Wirkung zeigte.
Erster Weltkrieg
Nationaler Frauendienst
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete abrupt die Aktivitäten der bürgerlichen Stimmrechtlerinnen wie der Sozialistinnen für das Frauenwahlrecht. Die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung schlossen sich dem sogenannten nationalen Burgfrieden an und unterstützten die Kriegsanstrengungen an der sogenannten Heimatfront. Der BDF konzipierte den Nationalen Frauendienst (NFD). In dessen Rahmen arbeiteten freiwillige Ehrenamtliche in der öffentlichen Fürsorge mit und waren dabei in den Behördenapparat eingebunden. Die Frauen des NFD übernahmen die Prüfung der gestellten Anträge auf Kriegsunterstützung, organisierten Kochkurse, gaben die Lebensmittelanweisungen aus, kümmerten sich um Sammel- und Beratungsstellen und stellten die Familien-, Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge sicher.
Pazifistische Aktivitäten von Teilen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung
Sowohl in der bürgerlichen als auch in der sozialdemokratischen Frauenbewegung waren nicht alle Frauen bereit, den Krieg zu unterstützen. Die sozialistischen Kriegsgegnerinnen nutzten als Sprachrohr gegen Militarismus und Krieg die von Clara Zetkin herausgegebene Zeitschrift Die Gleichheit, die allerdings unter der strikten Kontrolle der Zensur stand. Im März 1915 lud Zetkin zu einer Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg in Bern ein, an der 70 Delegierte aus acht Ländern teilnahmen. Die auf der Konferenz beschlossene Resolution „Krieg diesem Krieg!“ wurde in ganz Europa illegal verbreitet. Zetkin wurde wegen Landesverrats verhaftet und der Konferenzbericht in der Gleichheit vollständig zensiert. 1917 entzog die SPD Zetkin die Herausgabe der Zeitung Die Gleichheit, weil sie nicht die offizielle Parteilinie vertrat.
Auch Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann setzten sich entschlossen für einen baldigen Frieden ein. Ihr Ziel war eine internationale Fraueninitiative zur Beendigung des Weltkrieges. In den Ortsgruppen des Stimmrechtsbundes organisierte das Paar Versammlungen zu pazifistischen Themen, was zu etlichen Austritten führte. Da der ursprünglich für Juni 1915 geplante Kongress der IWSA in Berlin vom deutschen Verband kurz nach Kriegsbeginn abgesagt wurde, organisierte das Paar 1915 gemeinsam mit der Holländerin Aletta Jacobs, der Ungarin Rosika Schwimmer und der Amerikanerin und späteren Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams eine internationale Frauenkonferenz gegen den Krieg in Den Haag. Bei der Konferenz, an der mehr als 1000 Frauen aus zwölf Ländern teilnahmen, wurde der Internationale Frauenausschuss für dauernden Frieden gegründet, aus dem später die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) hervorging. Nach der Konferenz galten die deutschen Teilnehmerinnen als Vaterlandsverräterinnen.
Zusammenschluss zum Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht
1916 wurde das Kartell der Stimmrechts-Dachverbände endgültig aufgegeben. Die gemäßigte und die konservative Stimmrechtsfraktion hatten, anders als die radikale, eine gemeinsame Basis im nationalen und patriotischen Denken. So schlossen sich der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht und die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht unter Führung Marie Stritts zum Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht zusammen. Das Exekutivkomitee bestand aus Ida Dehmel, Li Fischer-Eckert und Illa Uth, die aus der Vereinigung kamen, und Rosa Kempf, Luise Koch, Alma Dzialoszynski und Emma Nägeli aus dem bisherigen Verband. § 3 in der Formulierung von 1911 wurde aufgegeben. Der Reichsverband vertrat ein beschränktes Frauenwahlrecht. Mehrere Mitgliedsverbände des bisherigen Verbandes traten daraufhin aus. Drei davon schlossen sich dem Frauenstimmrechtsbund an. Im neuen Verband hatten die Mitglieder des bisherigen Verbands zwar die Mehrheit, die Forderungen des neuen Verbands entsprachen aber eher denen der Frauenstimmrechts-Vereinigung, das heißt der Reichsverband vertrat die konservative Richtung der Frauenbewegung.
1918 bestand der Reichsverband aus zehn Landesvereinen, elf Provinzialvereinen und 86 Ortsgruppen mit insgesamt ungefähr 10.000 Mitgliedern.
Intensivierung der Anstrengungen um das Frauenstimmrecht ab 1917
Am 7. April 1917 kündigte der Kaiser in seiner Osterbotschaft als Belohnung für die Kriegsanstrengungen die Abschaffung des Klassenwahlrechts in Preußen an, erwähnte dabei aber das Frauenwahlrecht nicht. Die Frauenorganisationen, die sich im Rahmen des Nationalen Frauendienstes stark in die Kriegsanstrengungen eingebracht hatten, waren konsterniert. Die enttäuschende Osterbotschaft brachte schließlich eine organisationsübergreifende Zusammenarbeit hervor, was durch den Übertritt Clara Zetkins, die eine solche Zusammenarbeit immer abgelehnt hatte, zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erleichtert wurde. Am 22. September vereinbarten der BDF, die Stimmrechtsverbände und die sozialdemokratischen Frauen, künftig gemeinsame Aktionen für das Frauenstimmrecht durchzuführen, die Regierung aber weiterhin getrennt anzusprechen. Am 22. April 1918 fand in Berlin eine erste gemeinsame Versammlung von BDF, Stimmrechtsverbänden und SPD-Frauen zum Frauenwahlrecht statt. In Anschluss ging eine Deputation der Versammlung zum preußischen Abgeordnetenhaus, um die Forderungen erneut vorzutragen.
Nachdem das preußische Herrenhaus am 2. Oktober das gleiche Wahlrecht für Männer beschlossen hatte, wobei Frauen weiterhin ausgeschlossen waren, unterzeichneten am 25. Oktober Frauen aller wichtigen politischen Frauenorganisationen ein Schreiben an den Reichskanzler Max von Baden, in dem dringend eine Audienz wegen der Einführung des Frauenwahlrechts gefordert wurde. Zu den Unterzeichnerinnen gehörten Anita Augspurg für den Deutschen Frauenstimmrechtsbund, Gertrud Bäumer für den Bund Deutscher Frauenvereine, Gertrud Hanna für das Arbeiterinnensekretariat der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Deutschlands, Lida Gustava Heymann für den Deutschen Frauenausschuß für dauernden Frieden, Marie Juchacz für die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands, Helene Lange für die Frauen der Fortschrittlichen Volkspartei, Clara Mende für die nationalliberalen Frauen und Marie Stritt für den Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht. Das Gespräch kam nicht zustande. Anfang November fanden in Berlin, Hamburg und München große Kundgebungen zur Einführung des Frauenwahlrechts statt, zu denen die bürgerlichen und sozialdemokratischen Frauenorganisationen gemeinsam aufgerufen hatten.
Am 4. November legte der BDF den Fraktionsführern der Parteien im Reichstag die Denkschrift Stellung der Frau in der politisch-sozialen Neugestaltung mit der Aufforderung vor, sofort mit Initiativanträgen die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen herbeizuführen. Um dem Druck von der Straße zu begegnen beschlossen Vertreter der so genannten Mehrheitsparteien (SPD, Fortschrittliche Volkspartei, Zentrumspartei) am 7. November eine Wahlrechtsreform unter Berücksichtigung von Verhältnis- und Frauenwahlrecht anzustoßen. Der entsprechende Initiativantrag wurde nach langwierigen Abstimmungen am 9. November kurz vor Mittag unterzeichnet und dem Reichstag zugeleitet. Durch die Ausrufung der Republik am Nachmittag wurde er nicht mehr bearbeitet und die parlamentarische Auseinandersetzung um das Frauenstimmrecht – so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ley – endete als Farce.
Am 12. November proklamierte der Rat der Volksbeauftragten das gleiche, geheime, direkte, allgemeine Wahlrecht für alle Männer und Frauen, die mindestens 20 Jahre alt waren. Deutschland gehörte damit zu den europäischen Ländern, die 1918 das Frauenwahlrecht einführten. Die europäischen Vorreiter waren Finnland 1906, Norwegen 1913, Dänemark und Island 1915 und Russland 1917 gewesen. Die Vorsitzende des Deutschen Reichsverbandes für Frauenstimmrecht, Marie Stritt, kommentierte in der Staatsbürgerin:
Auch international wurde der „bedeutendste Sieg, der je für unsere Sache gewonnen wurde,“ gefeiert. „Deutschland,“ so die Herausgeberin Mary Sheepshanks im Organ der IWSA, Jus Suffragii, „werde die Ehre haben, die erste Republik zu sein, die auf wahrhaften Prinzipien der Demokratie gründet, dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für alle Männer und Frauen.“
Die Weimarer Verfassung vom 31. Juli 1919 gab dem Frauenstimmrecht in Art. 22 Abs. 1 auf Reichsebene Verfassungsrang.
Ende der organisierten Stimmrechtsbewegung
Der Deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht löste sich 1919 auf. Der BDF, der es nun als seine vorrangige Aufgabe ansah, die Frauen „überparteilich“ auf die Wahlen vorzubereiten, verpflichtete die Frauenvereine auf „strengste politische Neutralität“. Führende Frauenrechtlerinnen traten in die politischen Parteien ein und wurden zum Teil auch in den Reichstag gewählt, unter anderem Adele Schreiber, Tony Breitscheid, Meta Hammerschlag für die MSPD und Gertrud Bäumer, Marie Baum, Marie-Elisabeth Lüders für die Deutsche Demokratische Partei.
Die Politikerin Marianne Weber stellte in der ersten Rede einer Frau in einem deutschen Parlament heraus, dass die weiblichen Abgeordneten – gerade wegen der Leistungen der Frauen während des Krieges – gut auf die Aufgaben beim Wiederaufbau des Staates vorbereitet waren:
Als erste Abgeordnete in der Nationalversammlung sprach Marie Juchacz mehr als vier Wochen später und betonte die Selbstverständlichkeit des Wahlrechts für Frauen:
Schon 1919/1920 mahnten führende Repräsentantinnen des BDF, dass mit dem Frauenwahlrecht die Gleichstellung der Frau noch nicht erreicht war. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein bemühte sich in den folgenden Jahren insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene um die Interessen der Frauen. Dennoch fehlte es den Frauenrechtsorganisationen an Nachwuchs, und die sozialpolitischen Institutionen der Frauenbewegung verloren ihre Bedeutung. Die inhaltliche Neuorientierung der Frauenbewegungsvereine fand keine große Resonanz. Die Mitgliederzahlen der Vereine gingen drastisch zurück.
Im Juni 1920 richtete die International Woman Suffrage Alliance in Genf die erste Nachkriegskonferenz aus, an der Marie Stritt als Vertreterin der deutschen Regierung teilnahm. Damit war ein Anfang gemacht, die alten internationalen Frauenbeziehungen wieder aufzubauen. Doch mit der Auflösung des Reichsverbands fehlte in der IWSA eine deutsche Vertretung. Nach mehrjährigen Diskussionen und Verhandlungen zwischen Vertreterinnen des ADF und des aufgelösten Reichsverbands beschloss der ADF 1923, sich der IWSA als deutscher Zweig anzuschließen. Der ADF nahm den Untertitel Deutscher Staatsbürgerinnenverband an und benannte sich schließlich ganz um. Staatspolitische und internationale Aspekte rückten in den Vordergrund der Verbandsarbeit. Marie Stritt wirkte in den Folgejahren als ADF-Delegierte bei den IWSA-Konferenzen.
Bei der IWSA-Konferenz 1926 in Paris hielt Gertrud Bäumer eine leidenschaftliche, positiv aufgenommene Rede. Adele Schreiber wurde zur Vize-Präsidentin des Verbandes gewählt. Eine Umarmung von Gertrud Bäumer und der Französin Madame Malaterre-Sellier wurde als Symbol des Friedens gewertet. Allerdings kam es während der Konferenz zum sogenannten Flaggenzwischenfall, bei dem die deutsche Flagge im Versammlungssaal mehrfach ausgetauscht wurde (von der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs zur Fahne der Weimarer Republik und zurück). Vom 17. bis zum 23. Juni 1929 trafen sich der International Council of Women und der IWSA in Berlin zum Kongress und zu ihren Jubiläumsfeiern.
Am Ende der Weimarer Republik hatte die deutsche Frauenbewegung wieder Anschluss an die internationale Bewegung gefunden. Doch mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 kam sie zu ihrem endgültigen Ende. Der Deutsche Staatsbürgerinnenverband löste sich 1933 auf, um die Gleichschaltung in der Deutschen Frauenfront zu verhindern.
Historiographie und Wirkungsgeschichte
Bereits vor Erreichen des Frauenwahlrechts legten Anna Lindemann 1913, Auguste Kirchhoff 1916 und Frieda Ledermann 1918 erste historische Rückblicke auf die Frauenstimmrechtsbewegung vor. Als besonders wirksam erwies sich ein Leitartikel von Clara Zetkin vom November 1918 in der Roten Fahne, mit dem sie das Frauenwahlrecht „als Geschenk einer Revolution, die von proletarischen Massen getragen wurde“ reklamierte. Dieser Einschätzung ist die Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik und in der DDR lange gefolgt, bis die neuere Forschung begann, die Bedeutung der jahrzehntelangen Agitation der Frauenbewegung hervorzuheben.
In der Zeit des Nationalsozialismus gingen durch Verfolgung und Vertreibung viele Unterlagen zur Stimmrechtsbewegung verloren, wie die von Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg. Diese befanden sich während Hitlers „Machtergreifung“ 1933 auf einer Auslandsreise, von der sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehrten. Die Bibliothek und alle Unterlagen aus der jahrzehntelangen Arbeit von Heymann und Augspurg in der nationalen und internationalen Frauenbewegung gingen verloren. Im Schweizer Exil schrieb Heymann bis 1941 die gemeinsamen Erinnerungen unter dem Titel Erlebtes-Erschautes nieder. Diese wurden erst 1972 veröffentlicht und haben die historischen Darstellungen der Stimmrechtsbewegung von da an stark beeinflusst.
Im Zuge der neuen Frauenbewegung wurde die erste deutsche Frauenbewegung, darunter die Frauenstimmrechtsbewegung, historisch aufgearbeitet. Richard J. Evans und Barbara Greven-Aschoff veröffentlichten 1976 bzw. 1981 jeweils umfassende Darstellungen der deutschen Frauenbewegung von 1894–1933. Die Soziologin und Rechtshistorikerin Ute Gerhard arbeitete 1984 die Rechtsgeschichte und Rechtskämpfe der Radikalen auf, bevor sie – veranlasst durch die Fernsehdokumentation Unerhört – 1990 ebenfalls eine Geschichte der Frauenbewegung vorlegte. Weitere Studien fokussierten auf Teilaspekte wie die Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, das Politikverständnis der bürgerlichen Frauenbewegung oder auf die Entwicklung der Argumentationslinien der Befürworter und Gegner des Frauenwahlrechts. 1998 legte die Juristin Ute Rosenbusch erstmals eine umfassende und quellennahe Arbeit über den Weg der deutschen Frauen zum Wahlrecht vor, die regionale Aspekte berücksichtigte.
Gisela Bock (1999) und Angelika Schaser (2006) haben in bahnbrechenden Arbeiten die in der historischen Forschung immer wieder nacherzählten Stereotype und den oftmals implizit oder explizit postulierten deutschen „Sonderweg“ zum Frauenwahlrecht kritisiert. So sagten sie, in früheren Forschungsarbeiten wäre versäumt worden, die Entwicklung in Deutschland mit der tatsächlichen Entwicklung in anderen Ländern zu vergleichen, und die Quellen wären falsch interpretiert worden.
Bock führte vier miteinander verschränkte Argumentationsmuster an, mit denen die „Sonderwegthese“ begründet worden war. So wurde der „Differenzansatz“ der deutschen Frauenbewegung beklagt. Im Mittelpunkt der Argumentation der deutschen Frauenrechtlerinnen hätten Begriffe wie „Geschlechterdifferenz“, „Weiblichkeit“, „weibliche Eigenart“, „Leistung“, „Pflicht“, „Mutterschaft“ und „Mütterlichkeit“ gestanden. In den angelsächsischen Bewegungen hätten dagegen die Begriffe „Geschlechtergleichheit“, „Freiheit“, „Individualismus“ und „Rechte“ dominiert. Bock zeigte dagegen auf, dass beispielsweise die englischen Suffragetten ebenso mit der Geschlechterdifferenz argumentierten wie die bürgerlich-gemäßigten Frauenrechtlerinnen in Deutschland.
Eine weitere Kritik der älteren Studien war die angenommene „scharfe Trennungslinie“ zwischen der liberal-gemäßigten Majorität und der liberal-radikalen Minorität der Frauenbewegung, was neuere Forschung inzwischen relativiert und in Teilen widerlegt hat. Die ältere Forschungsliteratur kritisierte zudem die Art des Auftretens der Frauenbewegung als „zögernd“, „vorsichtig“, „zurückhaltend“ und „ängstlich“, was negativ mit dem „Draufgängertum“ der Suffragetten der britischen Frauenwahlrechtsbewegung verglichen wurde. Tatsächlich stellten die Suffragetten aber nur eine Minderheit in der britischen Bewegung dar.
Die gemäßigte Mehrheit der Frauenbewegung – anders als die radikale Minorität – hätte erst spät begonnen, das Frauenwahlrecht zu fordern, und wäre dem internationalen Stand hinterhergehinkt. Im Vergleich mit der Situation in England und den Vereinigten Staaten ergab die Analyse von Bock jedoch, dass es in allen Ländern einen gemeinsamen Faktor gab, der den Beginn des Kampfes der Frauen um das Wahlrecht auslöste. „Eine Frauenwahlrechtsbewegung entstand dann, wenn das Wahlrecht für Männer zur Debatte stand“, so Bocks Schlussfolgerung. In Deutschland war das ab Ende des 19. Jahrhunderts der Fall. Kerstin Wolff hat ergänzt, dass in der älteren Forschung die zeitgenössischen Aussagen der Frauenrechtlerinnen (beispielsweise von Helene Lange 1896 „daß endlich Deutschland […] in dieser Frage am allerweitesten zurück ist“) unreflektiert übernommen wurden. Diese strategischen Äußerungen, die darauf abzielten, die Stimmrechtsforderung durch gleichlautende Kämpfe im Ausland zu legitimieren, wären in der späteren Rezeption verkannt worden.
Nach der Jahrtausendwende kamen – abgesehen von den Jubiläen 2008 und 2018 – kaum mehr historiographische Einzelstudien zur deutschen Frauenstimmrechtsbewegung hinzu. Zum 100-jährigen Jubiläum der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland gab es eine bundesweite Kampagne, zu der die zentrale Sonderausstellung Damenwahl! im Historischen Museum Frankfurt gehörte. Ende 2018 wurde das Doku-Drama Die Hälfte der Welt gehört uns – Als Frauen das Wahlrecht erkämpften im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt.
Literatur
Leicht überarbeitet erneut veröffentlicht:
Weblinks
Frauen Macht Politik, Informationsseite zu 100 Jahren Frauenwahlrecht der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin e.V.
Dossier Zur Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland bereitgestellt vom Archiv der deutschen Frauenbewegung
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11111200 | https://de.wikipedia.org/wiki/Warmhaus-Riesenkrabbenspinne | Warmhaus-Riesenkrabbenspinne | Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne (Heteropoda venatoria), häufig vereinfachend auch nur Riesenkrabbenspinne genannt, ist eine Spinne aus der gleichnamigen Familie der Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae). Die mit einer Beinspannweite von bis zu 120 Millimetern sehr große Spinnenart stammt wahrscheinlich aus den tropischen Bereichen Asiens, hat sich mittlerweile jedoch weltweit ausgebreitet. In eigentlich überlebensfeindlichen geografischen Gebieten bevorzugt die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne beheizte Gebäude menschlicher Siedlungsbereiche und hierbei insbesondere Warmhäuser, ein Umstand, auf den auch ihr erster Namensbestandteil zurückgeht.
Weil die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne mitunter Bananenplantagen bewohnt und deshalb an gehandelten Bananen gefunden werden kann, wird sie auch als „Bananenspinne“ bezeichnet. Diese Trivialbezeichnung hat sie mit einigen Arten der Gattung Cupiennius aus der Familie der Fischerspinnen (Trechaleidae) und auch mit Vertretern der Gattung Phoneutria innerhalb der Familie der Kammspinnen (Ctenidae), die ebenfalls auf Bananenplantagen leben, gemein. Im Gegensatz zu letzteren, zu denen auch die giftige Brasilianische Wanderspinne (P. nigriventer) gehört, ist die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne für den Menschen weitestgehend ungefährlich.
Die nachtaktive Warmhaus-Riesenkrabbenspinne legt wie alle Angehörigen der Familie der Riesenkrabbenspinnen kein Spinnennetz zum Fangzweck an, sondern erlegt Beutetiere freilaufend als Lauerjäger. Wegen ihrer für Spinnen beachtlichen Dimensionen weist die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ein vergleichsweise großes Beutespektrum auf, wozu auch größere und wehrhaftere Gliederfüßer sowie kleinere Wirbeltiere gehören. Eine weitere besondere Eigenschaft der Art ist die Fähigkeit des Männchens zur Lauterzeugung durch Reiben zweier Körperteile (Stridulation), die bei der Balz Anwendung findet.
Merkmale
Das Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne erreicht eine Körperlänge von 17 bis 34 Millimetern, das Männchen eine von bis zu 21 Millimetern. Ausgewachsene Exemplare der Art erreichen eine Beinspannweite von etwa 70 bis 120 Millimetern, was die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne zu einer vergleichsweise großen Spinne macht.
Der Körperbau der Art entspricht dem anderer Vertreter der Echten Riesenkrabbenspinnen (Heteropoda), womit auch die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne einen für Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae) üblichen deutlich abgeflachten Habitus (äußere Erscheinung) aufweist. Ebenso gleicht die Beinanordnung der anderer Riesenkrabbenspinnen, d. h., das zweite Beinpaar ist deutlich länger. Beide Augenreihen sind nach hinten gebogen und die vorderen Mittelaugen sind kleiner als die vorderen Seitenaugen. Die hinteren Seitenaugen befinden sich auf leichten Erhebungen. Ähnlich wie bei Wolfsspinnen (Lycosidae) sind auch gut getarnte Individuen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne in der Nacht mit einer geeigneten Lichtquelle, z. B. einer Taschenlampe, durch die reflektierenden Augen leicht auffindbar.
Die Grundfärbung der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist braun. Beide Geschlechter verfügen über einen gelb- bis cremefarbenen Clypeus (Bereich zw. Augen und Cheliceren bzw. Kieferklauen) und ein breites Randband, das den Carapax (Rückenschild des Prosomas bzw. Vorderkörpers) umgibt, der bei beiden Geschlechtern unterschiedlich gefärbt ist. Dazu haben sowohl das Männchen als auch das Weibchen schwarze Flecken auf den Beinen, aus denen eine auffällige und kurz ausfallende Behaarung entspringt.
Sehsinn
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne besitzt wie für Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae) üblich eine gute Sehfähigkeit. Hierbei bestehen Parallelen zum ebenfalls guten Sehvermögen der zur Familie der Fischerspinnen (Trechaleidae) zählenden Großen Wanderspinne (Cupiennius salei). Diese vollführt eine ähnliche Lebensweise wie die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, jedoch ist ihre Augenstellung deutlich anders. Verglichen mit letzterer Art ist die Große Wanderspinne allerdings auch im Bezug auf ihr visuelles Sichtfeld deutlich besser erforscht.
2012 wurde das Sehvermögen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne anhand von zwei Versuchsreihen erforscht. Dazu wurden nacheinander je ein Exemplar der Art pro Versuch in eine Laufarena gesetzt. Mithilfe der ersten Versuchsreihe wurden in der Arena zwei unterschiedlich breite schwarze Papierrechtecke aufgestellt, die visuell von der Spinne als Unterschlupf wahrgenommen werden sollten. So sollte analysiert werden, ob die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ein visuell gesteuertes Verhalten aufweist. Das Versuchstier bevorzugte häufig das breitere Rechteck gegenüber dem schmaleren und steuerte bei vielen Versuchen mit den unterschiedlichen Rechtecken dieses an. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Rechteck angelaufen wurde, sank, je schmaler dieses wurde. Bei weiteren Versuchen dieser Reihe, wo zwei ähnlich große Papierrechtecke aufgestellt wurden, wurden beide etwa gleich häufig angesteuert. Das Ergebnis der Studie ist, dass die Augen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne über eine räumliche Auflösung von mindestens 4° bis 8° verfügen.
Die zweite Versuchsreihe diente dazu, den Sehsinn der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne im Zusammenhang mit ihren Laufspuren zu ermitteln. Diese wurden von dieser Art direkt und geradlinig angelaufen, wodurch sie sich diesbezüglich von der Großen Wanderspinne unterscheidet, die sich derartigen Objekte in einem seitlichen Zick-Zack-Kurs nähert. Es wird vermutet, dass dieses Verhalten bei dieser Art dazu dient, unterschiedliche Entfernung verschiedener optisch wahrgenommener Objekte besser unterscheiden zu können. Da die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne dieses Verhalten nicht aufweist, wird vermutet, dass sie Entfernungen visuell von der Großen Wanderspinne abweichend oder gar nicht wahrnimmt.
Sexualdimorphismus
Wie bei vielen anderen Spinnen existiert auch bei der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ein beachtlicher Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter), der sich neben der Körpergröße auch im Körperbau und der Färbung von Weibchen und Männchen bemerkbar macht.
Weibchen
Das Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist wesentlich kräftiger gebaut und hat im Verhältnis kürzere Beine als das Männchen. Dabei tritt insbesondere das Opisthosoma (Hinterleib) deutlich kräftiger als beim Männchen in Erscheinung. Das Randband auf dem Carapax ist beim Weibchen dunkelgelb gefärbt. Ansonsten ist das Weibchen verglichen mit dem Männchen kontrastarm gezeichnet.
Männchen
Das weniger kräftig gebaute Männchen hat längere Beine als das weibliche Gegenstück. Hier tritt das Randband des Carapaxes cremefarben in Erscheinung. Das Männchen verfügt im Gegensatz zu dem Weibchen zusätzlich über ein dunkles Längsband auf dem Opisthosoma und einen hell umrandeten und blassen Bereich hinter den Augen.
Genitalmorphologische Merkmale
Das Männchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne kann von allen anderen Arten der Echten Riesenkrabbenspinnen (Heteropoda) durch die zwei zahnartige Fortsätze unterschieden werden. Diese befinden sich an der für die Gattung typischen retrolateralen (weiter von der Körpermitte entfernt liegende) Apophyse (chitinisierter Fortsatz) an jedem der beiden Bulbi (männliche Geschlechtsorgane). Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Warmhaus-Riesenkrabbenspinnen ist der Verlauf der Spermophoren (Samenschläuche) bei jedem der beiden Bulbi: Ein einzelner Spermophor weist in der distalen (seitlich vom Körper abgewandten) Hälfte des Tegulums (zweites Sklerit bzw. Glied des Bulbus) einen großflächigen, rechtwinklig kurvenartigen Verlauf auf.
Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne hat an beiden Seiten je ein Läppchen, die sich beide auf medianer Ebene berühren und dabei anteriorale (vorhergehende) und posteriorale (hinten gelegene) Teile des Septums freilegen.
Ähnliche Arten
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wird gelegentlich mit anderen ihr optisch ähnlichen Spinnenarten verwechselt. Beispiele sind in den beiden folgenden Unterabschnitten aufgeführt.
Ähnlichkeiten mit Heteropoda tetrica
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne kann innerhalb der Gattung der Echten Riesenkrabbenspinnen (Heteropoda) vor allem mit der in Indochina verbreiteten Art Heteropoda tetrica verwechselt werden. Das Männchen dieser Art hat allerdings zusätzlich zu dem Randband noch zwei parallel angeordnete Streifen vor dem Band.
Die Weibchen beider Arten können zumeist nur durch Merkmale der sehr ähnlich aufgebauten Epigynen sicher unterschieden werden. Beim Weibchen von H. tetrica hat das mittlere Septum eine größere Variabilität als bei der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne.
Verwechslungen mit Loxosceles reclusa
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wird in den Vereinigten Staaten gelegentlich mit der nicht näher verwandten Spinnenart Loxosceles reclusa aus der Familie der Sechsäugigen Sandspinnen (Sicariidae) verwechselt. Verglichen mit der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne kann der Biss von Loxosceles reclusa für den Menschen medizinisch deutlich relevantere Symptome hervorrufen.
Vorkommen
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne war ursprünglich vermutlich in Südostasien beheimatet und wurde in vielen Teilen der Welt, darunter Europa, Afrika, Amerika, den pazifischen Inseln und Makaronesien eingeführt. In Gebieten, die der Art in freier Natur bedingt durch jahreszeitliche Schwankungen kein Überleben ermöglichen, darunter Zentraleuropa, kommt sie synanthrop (an menschliche Siedlungsbereiche gebunden) vor.
Lebensräume
Über die bevorzugten Habitate (Lebensräume) der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet liegen keine genaueren Informationen vor. In klimatisch ungünstigen Gebieten ist die dort eingeschleppte Art besonders in beheizten Einrichtungen, darunter vor allem Gewächshäusern und geheizten Lagerhäusern, vorfindbar. Aus dem US-Staat Florida liegen allerdings auch Berichte über eine Anpassung außerhalb menschlicher Behausungen vor, wo die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne insbesondere Avocado-Haine bewohnt.
Präferenz für Bananenpflanzen
Zusammen mit Arten der Gattung Cupiennius aus der Familie der Fischerspinnen (Trechaleidae) und Arten der Gattung Phoneutria aus der Familie der Kammspinnen (Ctenidae) wird die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne auch als „Bananenspinne“ bezeichnet. Der Name leitet sich aus ihrer Vorliebe für die Pflanze der Dessertbanane (Musa × paradisiaca) ab, wobei auf entsprechenden Plantagen Weibchen weitaus häufiger als Männchen anzutreffen sind.
Die Präferenz für Bananenplantagen lässt sich damit erklären, dass die Pflanzen der Dessertbanane neben dem Nahrungsangebot an Beutetieren tagsüber auch viele Rückzugsorte für die nachtaktiven Spinnen bieten. Die Spinne nutzt dazu je nach Alter verschiedene Hohlräume an den Pseudostämmen, den Deckblättern und den Fruchtkörpern. Dabei wird der obere Bereich mit dem Blattwerk und den Früchten gegenüber dem unteren Bereich der Bananenpflanzen bevorzugt. Ausgewachsene Tiere, insbesondere Weibchen mit Eikokons, suchen zumeist unter den losen Blattscheiden und den Zwischenräumen zwischen den Fruchtkörpern sowie -ständen Zuflucht. Jungtiere sind dagegen auch in den Rillen an Blattscheidenstielen und unter den Deckblättern anzutreffen. Diese Bevorzugung höherliegender Pflanzenteile kann durch die Anwesenheit von Fressfeinden im unteren Bereich der Bananenstaude erklärt werden.
Die Fundrate an den jeweiligen Bereichen der Bananenpflanze variiert zeitlich, wie zum Beispiel in Kamerun beobachtet werden konnte. Zwischen April und August konnten Exemplare der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne vor allem in den Zwischenräumen unter den losen Blattscheiden um den Pseudostämmen sowie in Rillen an Blatt- oder Stielen der Bananenpflanzen gefunden werden. Zwischen September und März, d. h. zur Blütezeit der Bananenpflanzen, halten sich die Spinnen vermehrt in den Rillen der Stiele der Blattscheiden und zwischen den Deckblättern sowie den Früchten im oberen Teil der Pflanze auf.
Lebensweise
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist vornehmlich nachtaktiv. Tagsüber hält sie sich in temporären Unterschlüpfen verborgen. Bedingt durch den abgeflachten Körperbau der Spinne können dies auch schmale Ritzen sein.
Jagdverhalten
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne lebt wie nahezu alle Spinnen ausschließlich räuberisch, jagt wie andere Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae) ohne Fangnetz und erlegt Beutetiere demzufolge freilaufend. Wie alle Riesenkrabbenspinnen erreicht sie dabei hohe Laufgeschwindigkeiten.
Beutefang und Aufspüren von Beutetieren
Wie genau die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ihre Beute fängt, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Einer beobachtungsbasierten Theorie aus China zufolge ist die Spinne ein Lauerjäger, d. h., sie wartet auf Beutetiere, die dann mit Hilfe eines schnell ausgeführten Giftbisses überwältigt werden. Es wird zudem vermutet, dass die Art auch aktiv nach Beutetieren sucht, wie es bei anderen Riesenkrabbenspinnen der Fall ist. Befinden sich fliegende Insekten in Reichweite, können diese angesprungen werden. Die Registrierung und Ortung der Beute geschieht zuvor vermutlich mittels der lyraförmigen Organe, d. h. der für Spinnen typischen Wahrnehmungsorgane für Schallschwingungen.
Beutespektrum
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist ein opportunistischer Jäger und erlegt demzufolge alle Beutetiere, die die Spinne zu überwältigen vermag. Am häufigsten werden andere Gliederfüßer erbeutet. Unter 2013 geschehenen Versuchen wurde erwiesen, dass die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne eine Vielzahl von Insekten wie Schaben, Grashüpfer, Stubenfliegen, Mücken, Läuse, Libellen und Marienkäfer als Beute annimmt. Lediglich kleinere Individuen der Art mit einer Körperlänge von bis zu 15 Millimetern erbeuteten Fliegen, Mücken und Läuse, die von den größeren Spinnen zumeist ignoriert wurden. Ameisen wurden in der Versuchsreihe gänzlich gemieden. Auch andere Spinnen wie Echte Radnetzspinnen (Araneidae) aus den Gattungen der Riedkreuzspinnen (Neoscona) und der Südlichen Radnetzspinnen (Argiope), Zitterspinnen (Pholcidae) aus der Gattung der Moskito- (Crossopriza) und der Echten Zitterspinnen (Pholcus), Springspinnen (Salticidae) aus der Gattung Plexippus und Kugelspinnen (Theridiidae) aus der Gattung der Echten Kugelspinnen (Theridion) nahmen die Exemplare der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne unter Laborbedingungen als Beute an. Hierbei erwiesen sich jedoch insbesondere Schaben und an zweiter Stelle Moskito-Zitterspinnen als bevorzugte Beute der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne.
Die Art wurde auch dabei beobachtet, wehrhafte Beutetiere wie Skorpione oder kleine Wirbeltiere wie Fledermäuse zu überwältigen. 2017 wurde ein Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne dabei beobachtet, ein Exemplar des ebenfalls an menschliche Siedlungsbereiche angepassten Asiatischen Hausgecko (Hemidactylus frenatus) zu verzehren, das es zum Zeitpunkt der Sichtung bereits überwältigt und schon zur Hälfte ausgesogen hatte. Die Spinne maß eine Körperlänge von 23 und eine Beinspannweite von 110 Millimetern. Der Fund geschah im Dorf Jaymoni im Distrikt Bagerhat im Südwesten von Bangladesch. Bei dem Fundort handelte es sich um eine hölzerne Säule.
Anlockung nachtaktiver Beutetiere
Das helle Randband am Carapax der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist frontal als deutlicher Streifen ausgebildet, der dazu dient, nachtaktive und flugfähige Insekten mit guter Sehfähigkeit, darunter Nachtfalter und einige Bienen, zur Spinne zu locken. Dieser Streifen reflektiert Licht im Bereich von 300 bis zu 700 Nanometern. Allerdings ist bis heute nicht genau geklärt, wie der Streifen die jeweiligen Beutetiere anlockt.
Ähnliche Phänomene sind auch von anderen Spinnen bekannt, etwa Nephila pilipes aus der Familie der Seidenspinnen (Nephilidae), die über gelbe Ventralstreifen auf dem Opisthosoma verfügt, die dieselbe Funktion haben. Weitere Beispiele, die derartige Färbungen auf dem Opisthosoma aufweisen, sind die Spinnenarten Leucauge magnifica (gelbe Ventralstreifen) aus der Familie der Streckerspinnen (Tetragnathidae), Neoscona punctigera (paarige Ventralpunkte) und Argyrodes fissifrons (silbrige Punkte) aus der Familie der Kugelspinnen (Theridiidae). Im Gegensatz zur Warmhaus-Riesenkrabbenspinne legen allerdings diese Arten allesamt Radnetze für den Beutefang an, sodass die Beutetiere dann in deren Netze gelockt werden. Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, die kein Spinnennetz zum Fangzweck anlegt, erbeutet die Tiere dann direkt, sobald diese in Reichweite gelangen.
Ferner besteht die Vermutung, dass der helle Streifen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne auch dazu dient, nachtaktive Prädatoren mit guter Sicht, etwa Geckos, abzuschrecken, was auch schon bei N. pilipes berichtet wurde. Eine dritte Funktion des Streifens, die vermutet wird, ist das nächtliche Erkennen von Geschlechtspartnern. Diese Annahme rührt von der guten Sehfähigkeit der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, die bei anderen nachtaktive freilaufenden Spinnen, etwa der Großen Wanderspinne (Cupiennius salei), auch gut an die Dunkelheit angepasst ist. Ferner ist überliefert, dass Streifenzeichnungen in der Gesichtsregion bei Springspinnen (Salticidae) einen großen Einfluss auf deren Partnerwahl haben.
Lebenszyklus und Phänologie
Der Lebenszyklus der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ist wie bei anderen Spinnen in mehrere Abschnitte unterteilt. Das Fortpflanzungsverhalten und das Heranwachsen der Jungtiere wurde besonders in Gefangenschaft dokumentiert.
Die Phänologie (Aktivitätszeit) der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne umfasst das ganze Jahr. Gleiches trifft auch auf die Entwicklungszeit zu, sodass ausgewachsene Exemplare und Jungtiere simultan zu jeder Jahreszeit angetroffen werden können. Auch die Paarungszeit ist bei der Art nicht auf eine zeitliche Periode beschränkt.
Anlegen des Spermanetzes
Wie bei anderen Spinnen, so legt auch ein geschlechtsreifes Männchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ein sog. Spermanetz an und nimmt die darauf zuvor abgegebenen Spermien über seine Bulbi auf, ehe es ein Weibchen aufsucht. Die Bulbi werden nach der Aufnahme der Spermien fünf bis 25 Sekunden lang vom Männchen gesäubert.
Balz
Wurde ein Weibchen gefunden, beginnt das Männchen mit seinem bemerkenswerten Balzverhalten, das neben optischen Signalen zusammen mit dem weniger anderer Spinnen, darunter der Fettspinne (Steatoda bipunctata) oder einiger Spring- (Salticidae) oder Vogelspinnen (Theraphosidae), mitunter Stridulationen (Lauterzeugung durch Reiben zweier Körperteile) enthält. Zuerst nähert sich das Männchen allerdings vorsichtig dem Weibchen und hält dabei sein erstes Beinpaar angehoben nach vorne gestreckt. Dann reibt es diese Beine auf jeder Seite aneinander, während das Weibchen unbeweglich verbleibt.
Optische Reize
Das Balzverhalten der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wird unter anderem durch das Wahrnehmen optischer Eigenschaften seitens des Weibchens beeinflusst, darunter von der Größe des Männchens. Ein größeres Männchen wird von einem Weibchen mit größerer Wahrscheinlichkeit als Partner angenommen als ein kleineres. Es wird vermutet, dass dies damit zusammenhängt, dass ein kleineres Männchen einem Weibchen mit größerer Wahrscheinlichkeit entkommen oder von diesem schlechter wahrnehmbar sein kann. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass ein größeres Männchen auch über einen größeren Frontalstreifen verfügen kann, der neben seiner Funktion als Lockmittel für Beutetiere und Abwehrmittel gegen Prädatoren eine wichtige Rolle bei der Partnerwahl spielt.
Ein besser ernährtes Männchen weist einen größeren Streifen als eines auf, das weniger Nahrung zu sich genommen hat. Deshalb wird vermutet, dass Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne Männchen mit gedeckterem Nährstoffbedarf von solchen mit einem geringeren unterscheiden können, die dann letztendlich weniger bevorzugt werden. Allerdings ist bisher unklar, ob die Art chromatische von achromatischen Farbmustern unterscheiden kann. Einige nachtaktive Spinnen, etwa viele Vogelspinnen (Tharaphosidae), verfügen über auffällige Setae (chitinisierte Haare), weshalb auch hier vermutet wird, dass die Farbmuster dieser Spinnen eine wichtige Rolle bei der Paarung spielen. Im Gegensatz dazu scheint die näher verwandte und ebenfalls kontrastreich gefärbte Große Wanderspinne (Cupiennius salei) farbenblind zu sein.
Stridulation
Die Stridulation bildet den zweiten elementaren Bestandteil der Balz der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne. Für die Stridulation spreizt das Männchen alle vier Beinpaare, heftet alle daran befindlichen Tarsen (Fersenglieder) an den Untergrund und hebt den Körper leicht an. Im Gegensatz zu den anderen stridulationsfähigen Spinnen erzeugt das Männchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne diese Geräusche jedoch nicht mittels der Pedipalpen, sondern vermutlich überwiegend durch die beiden hinteren Beinpaare. Es gibt jedoch keine morphologisch wesentlich anders entwickelten Stridulationsorgane als bei den anderen Arten. Bei der Stridulation sind außer an den beiden beteiligten Beinpaaren, dem vierten und dem letzten, auch entlang dem Opisthosoma verlaufende Vibrationen geringen Ausmaßes feststellbar. Bei 1980 gemessenen Frequenzen der Vibrationen der Beine eines balzenden Männchens der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne beliefen sich deren Werte auf 63, 83 und 125 Hertz, wobei das vierte Beinpaar die höchste der ermittelten Frequenzen aufwies. Untersuchungen legen jedoch die Vermutung nahe, dass lediglich die Beinbewegungen und besonders die des vierten Beinpaares ausschlaggebend für die Erzeugung von Geräuschen sind und dass es sich bei den Schwingungen des Opisthosomas lediglich um passive und von den Beinbewegungen induzierte Vibrationen handelt. Das aus den Vibrationen des vierten Beinpaares resultierende Geräusch ist ein auch für das menschliche Gehör schwach wahrnehmbares Brummen, das für dieses bis zu 30 Zentimeter weit hörbar ist und in verschieden langen Abständen innerhalb von vier Abschnitten unterschiedlicher Töne erklingt.
Zuerst ertönen mehrere eng aneinander liegende Wellenzüge, deren Schwingungsrate sukzessiv ansteigt und deren Dauer gesamt etwa 25 Sekunden beträgt (ein einzelner Wellenzug dauert etwa zweieinhalb bis vier Sekunden). Darauf folgt als „Primärabschnitt“ ein zweiteiliger Brummton, der zuerst im Ton A und nach einiger Zeit im Ton B ertönt. Die Frequenz fällt hier deutlich höher und homogener als bei den vorherigen Wellenzügen aus, wobei jedoch auch der zweite Teil dieses Abschnitts eine höhere oder niedrigere Frequenz als der erste besitzen kann. Beim dritten Abschnitt wird das akustische Signal für kurze Zeit nahezu gänzlich ausgesetzt und stattdessen vermutlich durch ein Erkundungsverhalten mit einer Dauer von 30 Sekunden ersetzt. Den vierten und letzten Abschnitt bilden dann ähnlich wie beim ersten mehrere Wellenzüge geringer Frequenz. An den letzten Abschnitt anknüpfend kann erneut der erste wieder begonnen werden und sich somit das Balzverhalten wiederholen.
Paarung
Sollte das Weibchen paarungswillig sein und demzufolge auch eine Paarung erfolgen, trommelt das Männchen mit seinen Pedipalpen auf den Untergrund und führt vibrierende Bewegungen aus, ehe es langsam das Weibchen frontal besteigt. Beide Geschlechtspartner nehmen dadurch die für Echte Webspinnen, die ohne Fangnetz jagen, typische Position ein, bei der sie in die jeweils entgegengesetzte Richtung blicken. Unmittelbar vor der Paarung umschließt das Männchen mit den beiden hinteren Beinpaaren das Prosoma des Weibchens.
Die eigentliche Paarung kann bis zu sechs Stunden dauern und das Männchen streicht bei der erstmaligen Einfuhr eines Bulbus die Ventralseite des Weibchens mit seinen Pedipalpen. Während der Paarung wechselt das Männchen seine in die Spermathek des Weibchens einzuführenden Bulbi permanent in einem Abstand von durchschnittlich 20,4 Sekunden, maximal einer Minute. Dabei dauert auch eine einzelne Einführung des jeweiligen Bulbus sechs bis sieben Sekunden. Um dies zu erreichen, kippt das Männchen sein Prosoma entweder zur rechten oder zur linken Seite, hebt mit dem vorderen Beinpaar das Opisthosoma seiner Partnerin, sodass die Einfuhr mit dem jeweils auf der gekippten Seite liegenden Bulbus erfolgen kann.
Nach der Paarung befreit sich oft das zumeist erschöpfte Weibchen gewaltsam vom Griff des Männchens und es kommt nicht selten zu Kannibalismus seitens des Weibchens gegenüber seinem Geschlechtspartner. Die meist höhere Fundrate von weiblichen Individuen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne gegenüber männlichen könnte so erklärt werden.
Kokonherstellung und Eiablage
Ungefähr 10 bis 15 Tage nach der Paarung beginnt das Opisthosoma des trächtigen Weibchens infolge der darin heranreifenden Eier deutlich anzuschwellen. Die Produktion des Eikokons tritt etwa 28 bis 30 Tage nach der Paarung ein. Dieser ist von rundlicher Form, seitlich abgeflacht und besitzt einen Durchmesser von 12,7 bis 25,4 Millimetern und eine Höhe von 3,18 bis 6,35 Millimetern. Im Kokon wurden bei verschiedenen Untersuchungen 188 bis 436 Eier beziehungsweise durchschnittlich 163 und maximal 400 Eier gezählt. Diese haben einen Durchmesser von 1,5 Millimetern. Anfangs ist der Kokon noch cremeweiß gefärbt.
Um den Kokon zu konstruieren, beugt sich das Weibchen vor und nimmt eine etwas C-förmige Körperhaltung ein. Anschließend produziert es Fäden aus Spinnseide aus seinen Spinnwarzen und legt diese auf den Bodengrund, um eine kugelförmige flache Scheibe mit einem Durchmesser von etwa 20 Millimetern zu bilden. Dieser Vorgang dauert zumeist ca. 20 Minuten. Die Spinne bewegt sich dann wiederholt um den Umkreis dieser Scheibe, um jedes Mal mehr Seidenstränge auf dem äußersten Strang abzulegen, bis die kugelförmige Scheibe eine untertassenförmige Struktur mit einer Höhe von etwa einem Millimeter angenommen hat. Danach geht sie um die Seidenstruktur herum und lässt sich dann etwa zwei Minuten lang darauf nieder, um ihre Eier zu legen. Während der Eiablage verliert das Opisthosoma des Weibchens langsam, aber deutlich sichtbar an Volumen. Nach der Eiablage nimmt das Weibchen wieder die C-förmige Körperstellung ein und widmet sich der Fertigstellung des Kokons, indem es erneut das Seidenkonstrukt um dessen Achse umkreist, um weitere Seidenstränge abzulegen und somit den Kokon von oben zu versiegeln.
Inkubation
Nach der Fertigung des Kokons drückt das Weibchen diesen für etwa zwei Minuten unter sich an sein Opisthosoma, ehe es den Kokon mit Hilfe seiner Pedipalpen vom Untergrund trennt. Der Kokon wird von dem Weibchen während der gesamten Inkubationszeit mit Hilfe der Cheliceren und der Pedipalpen nahe am Sternum (Brustschild des Prosomas) gehalten. Der anfangs helle Kokon verdunkelt sich allmählich und schrumpft überdies im Laufe der Zeit leicht. Das Weibchen trägt den Kokon bis zum Schlupf, der etwa 30 Tage nach der Eiablage erfolgt, ununterbrochen mit sich herum und nimmt in dieser Zeit keine Nahrung zu sich. Aufgrund dessen kann auch der Hungertod des Weibchens daraus resultieren oder der Kokon wird vom Weibchen aufgefressen. Kokons mit unbefruchteten Eiern werden von ihren Herstellern fallen gelassen oder ebenfalls verzehrt. In diesem Fall wird die Inkubation unterbrochen und somit auch ein Schlupf der Jungtiere ohne Weiteres verhindert.
Ein begattetes Weibchen kann nacheinander maximal drei Kokons produzieren. Mit zunehmender Anzahl der von einem Weibchen angelegten Kokons wird die Schlupfrate allerdings geringer und kann unter einem Drittel der Maximalschlupfrate des ersten Kokons herabfallen. Das zeitliche Intervall der nacheinander folgenden Eikokons liegt bei etwa 50 bis 60 Tagen. Ferner ist möglich, einem Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne einen zuvor von einem anderen gefertigten Kokon zu geben, der von diesem dann angenommen und wie der eigene behandelt wird. In diesem Falle findet auch ein Schlupf der Jungtiere nach einer erfolgreichen abgeschlossenen Inkubation statt.
Schlupf
Die Jungspinnen schlüpfen nach etwa acht bis 14 Tagen in Form von Prälarven und durchleben in dieser Form zwei Stadien. Im ersten wird das Chorion des Eis größtenteils abgestoßen und bleibt am hinteren Ende der Prälarve als zerknittert erscheinende Masse zurück. Das erste Stadium dauert ein bis sechs Tage. Im zweiten wird die Vitellinmembran (Dotterhaut) vollständig abgestoßen. Nach etwa fünf oder sechs Tagen nach dem Beginn dieses Stadiums erscheinen die Augenpigmente und kurz darauf auch die für die Art typischen Zeichenelemente und die Seten. In diesem Stadium verbleiben die Prälarven bis zu zehn Tagen, ehe sie sich das erste Mal häuten und sich somit im Larvenstadium befinden. Diese beiden Prozesse finden noch im Eikokon statt
Etwa 28 Tage nach der Eiablage werden mehrere winzige Löcher an der Hülle des Eikokons sichtbar, der nun kurz vor dem Schlupf der Jungtiere einen grauen Farbton annimmt. In regelmäßigen Abständen vergrößert das Weibchen diese Löcher mit seinen Beinen. Nach weiteren 29 bis 40 Tagen (durchschnittlich etwa 32) verlassen die Jungspinnen nun den Eikokon, wobei bei einigen Eiern die Inkubation fehlschlagen kann und ein Schlupf hier somit nicht erfolgt. Geschlüpfte Jungtiere versammeln sich zuerst auf der Hülle des nun leeren Eikokons, der noch immer vom Weibchen gehalten wird und in die sie sich bei Störungen zurückziehen. Die Jungtiere werden selbstständig, indem sie zu diesem Zeitpunkt Seidenstränge produzieren und sich mit deren Hilfe vom Kokon aus abseilen. Der leere Eikokon wird vom Weibchen nach dem Schlüpfen etwa 10 Tage lang gehalten, bis es diesen schließlich fallen lässt. Daraufhin ist dessen Nahrungsbedarf bedingt durch die zuvorigen Phasen der Entwicklung stark gestiegen und es versucht für diesen Zweck, eine Vielzahl an Beutetieren zu erlegen.
Entwicklung der Jungtiere
Wie bei Gliederfüßern üblich, wachsen auch die Jungtiere der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne über Häutungen heran und durchleben dabei mehrere Fresshäute (Häutungsstadien von Spinnen). Männchen durchlaufen dafür insgesamt neun Häutungen und Weibchen zwölf. Im Regelfall häuten sich diese Jungspinnen einmal im Monat. Ein bis zwei Tage vor der Häutung stellt ein Jungtier die Nahrungsaufnahme ein, nimmt einen dunkleren Farbton an und beginnt nun unmittelbar vor der Häutung sich an einem Spinnfaden kopfüber aufzuhängen und zieht anschließend die Beine zusammen. Die Häutung findet nachts statt und dauert etwa 30 Minuten. Ein gehäutetes Jungtier nimmt nach etwa weiteren fünf Tagen nach der Häutung die Nahrungsaufnahme wieder auf.
Nach jeder Häutung nehmen die verschiedenen Körperteile unterschiedlich an Größe zu. Insbesondere bei heranwachsenden Männchen ist die Verlängerung der Beine nach einer Häutung zumeist höher als bei Weibchen. Insbesondere ab der siebten Häutung wird der Sexualdimorphismus deutlich. Der Ansatz der Bulbi wird bei Männchen hier sichtbarer und die Beine sind verglichen mit denen von Weibchen in diesem Stadium deutlich länger. Bei Spinnen, die unter Laborbedingungen das Adultstadium erreicht haben, nimmt das Prosoma eine Länge von 5,6 Millimeter an. Eine Abweichung von 0,3 Millimetern kann dabei auftreten. Das Opisthosoma wird nach der Reifehäutung 5,8 Millimeter mit einer Abweichung von 0,5 Millimetern lang. Die vier Beinpaare erreichen nach der Reifehäutung eine Gesamtlänge von 47,1 Millimetern mit einer Abweichung von 3,1 Millimetern. Die Pedipalpen werden zum Schluss 4,9 Millimeter lang, wobei auch hier eine Abweichung in diesem Fall von 0,5 Millimetern auftreten kann.
Während einer Häutung kann es vorkommen, dass Bestandteile der Gliedmaßen im alten Exoskelett (chitinisierte Stützstruktur) stecken bleiben und nach Abtrennung mit der abgestreiften Exuvie (abgeworfenes Exoskelett nach einer Häutung) verschmelzen. In der darauf folgenden Häutung werden die fehlenden Extremitäten ersetzt, die danach jedoch kleiner sind. Mit jeder darauf folgenden Häutung wachsen diese Gliedmaßen jedoch an die Größe der ursprünglichen heran. Lediglich ausgewachsene Spinnen können keine verloren gegangenen Extremitäten mehr regenerieren, da diese sich nach der letzten Häutung, der sog. Reifehäutung, nach der dann auch die Geschlechtsreife eintritt, nicht mehr häuten.
Dauer des Heranwachsens und Lebenserwartung
Die Männchen benötigen für das Heranwachsen dadurch, dass sie weniger Häutungen durchlaufen, mit 304,7 Tagen und einer eventuell auftretenden Abweichung von 12 Tagen etwas weniger Zeit als die Weibchen, deren Entwicklung sich auf 391,6 Tage mit einer möglichen Abweichung von 2,9 beläuft.
Unter Laborbedingungen erreichen Männchen eine gesamte Lebensdauer (mitsamt dem Embryonalstadium) von 355 bis zu 586 und Weibchen eine von 298 bis zu 710 Tagen. Die Überlebensrate beträgt unter diesen Bedingungen 85 %.
Toxikologie
Das Gift der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne besteht aus niedermolekularen Substanzen und Salzen sowie aus Peptiden und Proteinen. Letztere wirken teilweise als Spinnentoxine, deren Beschaffenheit und Wirkung mithilfe der Toxikologie erforscht wird.
Zusammensetzung des Giftes
Das Gift der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wird als klare, farblose Flüssigkeit, die sich leicht in Wasser lösen lässt, beschrieben. Es wirkt tödlich auf Küchenschaben mit einem LD50-Wert von 28,18 μg/g. Seine Dichte beträgt 978 mg/ml, der Proteingehalt beträgt etwa 32 %. Unter den Proteinen finden sich über 100 Peptide, von denen der Großteil in einem Molekulargewichtsbereich von 3000 bis 5000 Da liegt, was 27 bis 40 Aminosäuren entspricht. In diesem Gewichtsbereich befinden sich auch die drei Heteropodatoxine (HpTx) sowie das Insektizid μ-Sparatoxin-Hv2. Anhand der Peptidsequenz und der Position der Cystein-Einheiten können 154 Peptid-Präkursoren aus dem Spinnengift in 24 Familien unterteilt werden.
Die Heteropodatoxine sind Inhibitoren für spannungsaktivierte Kaliumkanäle mit Massen von 3,4 kDa bis 4 kDa. Sie bestehen aus 30–33 Aminosäuren mit amidiertem C-Terminus und weisen ein Sequenzidentität von 39–41 % untereinander auf. Dabei sind die sechs die Tertiärstruktur bestimmenden Cystein-Einheiten in ähnlichen Positionen und bilden drei Disulfid-Brücken aus. Außerdem weist das HpTx3 mit 39 % eine hohe Gemeinsamkeit mit dem in Grammostola rosea vorkommenden Hanatoxin 2 (HaTx2) auf. Die HpTx blocken die Kv4.2-Kanäle spannungsabhängig, was zu einem verlängerten Aktionspotential führt.
Das μ-Sparatoxin-Hv2 wirkt hauptsächlich insektizid. Auf die Navs-Kanäle von Küchenschabenzellen wirkt das Toxin mit einem IC50 von 6,25 μg/ml bzw. 833,7 nM, während es keinen Effekt auf Kalium- und Calciumkanäle hat. Auf Rattenzellen hat das Toxin eine schwächere Wirkung und blockiert die Kanäle nur partiell, während es auf Mäuse bei einer Dosis von 7,0 μg/g keine Wirkung zeigt.
Die Peptide als Indikator für die evolutionäre Entwicklung von Spinnentoxinen
Anhand der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne lässt sich die Evolution von Cystein-reichen Peptiden zwischen den Vogelspinnenartigen (Mygalomorphae) und den Echten Webspinnen (Araneomorphae) verdeutlichen. Die Art zählt wie alle der Riesenkrabbenspinnen zu den vergleichsweise primitiver gebauten Echten Webspinnen. Die phylogenetischen Beziehungen zwischen den Spinnenfamilien zeigen, dass sich die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wie andere Riesenkrabbenspinnen stammesgeschichtlich zwischen den primitiveren Vogelspinnen (Theraphosidae) und den moderneren Wolfsspinnen (Lycosidae) befindet. Mit diesen und einigen weiteren Spinnenfamilien teilen auch die Riesenkrabbenspinnen die Jagdtatiken als Lauerjäger, die ohne Spinnennetz jagen und stehen somit in Kontrast zu den netzbauenden Spinnen, die sich erst später entwickelt haben und deren Gifte eine höhere Komplexität und Wirksamkeit aufweisen.
Cysteinhaltigen Peptide sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne zu den frühzeitlicheren rezenten Vertretern der Echten Webspinnen zählt, da der Anteil an Cystein in Spinnentoxinen mit fortschreitender evolutionärer Entwicklung abgenommen hat. Die Cystein-reichen Peptide mit je sechs Cystein-Einheiten können bei Vogelspinnenartigen, etwa der Schwarzen (Cyriopagopus hainanus) und der Blauen Tigervogelspinne (C. schmidti) sowie den Vogelspinnenarten Grammostola rosea und Chilobrachys jingzhao über 69 % der gesamten Proteine ausmachen. Bei der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne sind es 55 % des Toxinproteins, während die Giftpeptide der zu den Kreuzspinnen (Araneus) zählenden Art Araneus ventricosus nur noch zu 10 % aus Cystein-reichen Peptiden mit sechs Cysteinbindungen besteht. Einige Spinnenarten, darunter die Raubspinnenart Dolomedes mizhoanus, die wie die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne ohne Fangnetz jagt, sowie die zu den Wolfsspinnen zählende Südrussische Tarantel (Lycosa singoriensis) weisen keine dieser Proteine in ihren Toxinen auf.
Identifikation und Nomenklatur
Ein Vorläufer der Cystein-reichen Peptide in voller Länge enthält je eine Signalsequenz und ein reifes Peptid, während einige Vorläufer der Cystein-reichen Peptide zusätzlich ein Präkursor-Protein vor der reifen Toxinsequenz enthalten, was auch auf Vorläufer der überwiegenden Mehrheit der zuvor berichteten Peptide der Spinnentoxine zutrifft. Die Ausrichtung der resultierenden Aminosäuresequenzen ergab für die meisten auftretenden Formen der Cystein-reichen Peptiden eine weitgehende Variation der Molekülstruktur von den Transkripten.
Systematik
Die Systematik befasst sich im Bereich der Biologie sowohl mit der taxonomischen (systematischen) Einteilung als auch mit der Bestimmung (Biologie) und mit der Nomenklatur (Disziplin der wissenschaftlichen Benennung) von Lebewesen einschließlich der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne.
Der Artname venatoria ist eine Abwandlung des lateinischen Substantivs venator, welches übersetzt „Jäger“ bedeutet.
Beschreibungsgeschichte
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne erfuhr seit ihrer Erstbeschreibung mehrere Umstellungen und Umbenennungen. Erstbeschreiber Carl von Linné gab der Art 1767 den Namen Aranea venatoria (damals wurden alle Spinnen in diese heute nicht mehr bestehende Gattung eingeteilt). Als Pierre André Latreille 1804 die Gattung Heteropoda erstmals beschrieb, ordnete er auch die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne in selbige ein und sie erhielt die noch heute gültige Bezeichnung Heteropoda venatoria, die ab der Zeit um 1900 nahezu durchgehend genutzt wird. Heute ist die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne die Typusart der Gattung.
Unterarten
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne besitzt neben der Nominatform H. v. venatoria zwei weitere Unterarten, die 1881 von Tord Tamerlan Teodor Thorell erstbeschrieben wurden. Bei diesen handelt es sich um folgende:
H. v. emarginata
H. v. foveolata
Synonymisierte Arten und Unterarten
Unter Peter Jäger wurden 2014 mehrere vorherige Arten aus der Familie der Riesenkrabbenspinnen mit der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne synonymisiert und verloren somit ihren Artstatus. Ein Beispiel ist die 1845 von Carl Ludwig Koch entdeckte Art Ocypete thoracica, die von Jäger anhand der Illustration Kochs durch die Zeichnung des Carapax als Warmhaus-Riesenkrabbenspinne identifiziert werden konnte. 1878 beschrieb Tord Tamerlan Teodor Thorell angeblich ein von der indonesischen Insel Ambon stammendes Männchen. Er erwähnt bereits damals die Ähnlichkeit dieses Tiers zur Warmhaus-Riesenkrabbenspinne und erwog, ob es sich dabei um eine Unterart von dieser handelt.
Carl Ludwig Kochs Sohn Ludwig Carl Christian Koch beschrieb zwei Weibchen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne als neue Arten unter dem heute nicht mehr verwendeten Gattungsnamen Sarotes. Davon ist eine, Sarotes aulicus anhand der Illustration als Warmhaus-Riesenkrabbenspinne identifizierbar. Die zweite ist Sarotes invictus, die von Friedrich Wilhelm Bösenberg und Embrik Strand falsch bestimmt wurde. Strand erkannte den Irrtum und ordnete in einer 1906 und somit drei Jahre nach dem Tod Bösenbergs erschienenen Publikation das gefundene Exemplar der mit der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne nah verwandten Art Heteropoda invicta zu. Ferdinand Karsch fertigte bereits 1881 eine Illustration eines Männchens an, das allerdings eindeutig eines der zur gleichen Familie zählenden Art Sinopoda forcipata darstellt. Der weibliche Holotyp von Sarotes invictus hingegen ist deutlich der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne zuzuordnen, was die Synonymisierung mit der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne bekräftigt.
Auch der Holotyp der 1881 von Karsch erstbeschriebenen Art Sinopoda formicata erwies sich 2014 als Exemplar der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne. Dieser Holotyp besitzt eine Länge von 27,3 Millimetern und wurde anfangs von Karsch um etwa 30 gemessen. Diese Fehlmessung mag vielleicht daraus resultieren, dass in Ethanol eingelagerten Spinnen mit der Zeit einen längeren Petilous (Trennstiel zwischen Prosoma und Opisthosoma) bekommen, was von Karsch eventuell nicht beachtet wurde.
Eine weitere der Gattung Sarodes zugeordnete Art war S. truncus, die 1878 von Henry Christopher McCook erstbeschrieben wurde. McCook erwähnte schon damals die starke Ähnlichkeit von S. truncus zur Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, die sich lediglich durch die Form des Prosomas von anderen ihm bekannten Individuen von letzterer Art unterschied, weshalb McCook selber in Frage stellte, ob S. truncus wirklich eine eigene Art bildet. Da der Erstbeschreiber dieser fragwürdigen Art selber betont, dass alle anderen Eigenschaften des von ihm beschriebenen Exemplars mit den arttypischen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne übereinstimmen, wird vermutet, dass das Prosoma dieses Exemplars durch eine Fehlhäutung verformt wurde und somit das abweichende Erscheinungsbild des Prosomas erklärt werden könnte.
Strand beschrieb 1907 folgende drei Unterarten:
Heteropoda venatoria chinesica
Heteropoda venatoria japonica
Heteropoda venatoria maculipes
Bei H. v. chinesica und H. v. japonica unterscheiden sich lediglich die zwei Zähne und der distale Rand der retrolateralen Tibiaabophyse von der Nominatform der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, was nicht als Kriterium für eine eigene Art sowie Unterart ausreichend wäre. Bei H. v. maculipes erwähnt Strand eine Farbvariation, die sich jedoch im Nachhinein nie bestätigen ließ.
Strand beschrieb 1915 außerdem die sehr ähnliche Art Heteropoda nicki aus Java und die Unterart H. n. quala aus Sumatra, die beide eine der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne sehr ähnliche Epigyne und Vulva aufweisen. Sowohl H. nicki als auch die Unterart lassen sich lediglich durch die von Strand angegebene und kleiner ausfallende Größe als die für die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne übliche unterscheiden, obgleich auch ähnlich kleine Individuen letzter Art etwa vom Krakatau-Archipel bekannt sind. Gleiches trifft auch auf die 1961 von Takeo Yaginuma erstbeschriebene Art Heteropoda tokarensis zu, deren Illustrationen sich ebenfalls 2014 als Warmhaus-Riesenkrabbenspinne rausstellte.
Von Benoy Krishna Tikader wurde 1977 die Art Heteropoda andamanensis von den Andamanen erstbeschrieben, die durch Illustrationen anfangs tatsächlich arteigene Merkmale aufwies. Diese waren die hakenförmige dorsal-retrolaterale Tibiaabophyse und das leicht sichtbare mediane Septum bei den Bulbi sowie die sehr schmale anteriore (vorhergehende) Breite des Prosomas. Allerdings wurden von Tikader und Veena D. Sethi 1988 die Illustrationen überarbeitet, sodass die abgebildeten Exemplare von nun an ein breiteres Prosoma und eine zwar vorhandene, aber nicht mehr hakenförmige dorsal-retrolaterale Tibiaabophyse. Außerdem berühren sich nun die Seitenlappen der Epigyne, wie es bei der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne der Fall ist. Weitere Eigenschaften, die H. andamanensis mit dieser auf den Illustrationen teilte, sind die Form und der Verlauf des Samenleiters sowie der Spermophoren, was die Synonymisierung bekräftigt.
Tikader beschrieb neben H. andamanensis im gleichen Jahr auch Heteropoda nicobarensis, die, entsprechend der Bezeichnung auf den Nikobaren entdeckt wurde. Sethi und Tikader fertigten 1988 erstmals eine Illustration des weiblichen Holotyps mitsamt der Vulva an. Alle Illustrationen und insbesondere die des Holotyps entsprechen ebenfalls der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne. Auch die 1991 von Ai-Hua Li erstbeschriebene Art Heteropoda hainanamensis lässt sich anhand der Illustrationen der drei aus der chinesischen Provinz Hainan weiblichen Holotypen als Synonym der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne belegen.
Warmhaus-Riesenkrabbenspinne und Mensch
Es kommt insbesondere in den tropischen Gebieten nicht selten zu einer Begegnung zwischen dem Menschen und der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne. Die Art erhält bei ihm deshalb und nicht zuletzt bedingt durch ihre globale Einschleppung einen unterschiedlich ausfallenden Ruf.
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne als Nützling
Insbesondere in den tropischen Gebieten gilt die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne nicht selten als Nützling und als willkommener Gast in Häusern, da sie dort eine Vielzahl von Schädlingen wie Schaben dezimiert. Auch auf Bananenplantagen hat sich die Art als nützlich erwiesen und kann dort bei ausreichend hoher Individuendichte die Populationen von Schädlingen erheblich minimieren.
Aufgrund der nomadischen Lebensweise und dem großen Beutespektrum, das viele Schädlinge umfasst, wird die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne überdies als nützlicher als andere, insbesondere netzbauende Spinnen betrachtet. Neben Befällen von Schaben sollen sich auch solche von Fliegen mithilfe der Art vergleichsweise leicht bekämpfen lassen. Ein Versuch, der 1990 in Gebäuden in Südafrika durchgeführt wurde, hatte diese Annahme bekräftigt, als in den Gebäuden ausgesetzte Individuen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne innerhalb von zweieinhalb Monaten die gesamten Populationen der darin vorkommenden Fliegen insgesamt um 99 % reduziert haben. Damit sank auch das Vorkommen von gastrointestinalen (den Verdauungstrakt betreffenden) Infektionen auf den Menschen in dieser Region, da die Fliegen als Überträger dieser fast gänzlich dezimiert worden sind.
Als Lebensmittel
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne zählt zu den essbaren Spinnen. Eine Verzehrshistorie ist wissenschaftlich für Venezuela dokumentiert.
Terraristik
Die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne wird, bedingt durch ihr für Spinnen imposantes Erscheinungsbild, auch gelegentlich als Heimtier in der Terraristik gehalten. Die Art gilt aufgrund ihrer Robustheit und Anpassungsfähigkeit als pflegeleicht, jedoch sollte ihre hohe Laufgeschwindigkeit beachtet werden. Nachzuchten gibt es in Gefangenschaft ebenfalls.
Einfuhr durch Bananenfrüchte und Reaktionen
Da Individuen der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne sich bedingt durch ihren Körperbau geschickt und nicht selten unbemerkt an Bananenstauden verstecken können, kommt es gelegentlich zu oftmals als unerfreulich betrachteten Einfuhren sowohl von lebendigen als auch verstorbenen Exemplaren der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne oder deren Exuvien durch den Import von Bananenfrüchten. Dies hat der Art auch die Bezeichnung „banana spider“ (übersetzt: „Bananenspinne“) eingebracht. Sie sollte jedoch nicht mit den unter der gleichen Bezeichnung bekannten und für den Menschen ebenfalls deutlich gefährlicheren Vertretern der Gattung Phoneutria aus der Familie der Kammspinnen (Ctenidae) verwechselt werden.
Insbesondere in Gebieten, in denen die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne zumindest im Freiland nicht etabliert ist, können Funde der Art etwa in Supermärkten durch das imposante und für einige Menschen gefährlich wirkende Erscheinungsbild Panik auslösen. Dies wird durch die Befürchtung verstärkt, dass es sich bei diesen Individuen der Art um wesentlich gefährlichere und in der Vergangenheit ebenfalls durch Bananenstauden exportierte Spinnen, etwa um solche der Brasilianischen Wanderspinne (Phoneutria nigriventer), handeln könne. Ein Beispiel ist ein 2016 in einem Supermarkt der Kette Rewe in der zum oberfränkischen Landkreis Kronach gelegenen Gemeinde Wilhelmsthal gefundenes Exemplar der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne, das später sicher als Individuum der Art durch Arachnologen des Senckenberg-Forschungsinstitutes in Frankfurt am Main identifiziert werden konnte.
Bissunfälle und Symptome
Bedingt durch ihre Größe und ihre kräftigen Cheliceren ist es der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne möglich, beim Biss die Haut des Menschen zu durchdringen. Die Art ist jedoch nicht aggressiv und beißt nur in größter Not. Ausgenommen sind trächtige Weibchen oder solche, die ihren Eikokon verteidigen. Ansonsten können sich Bissunfälle der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne dadurch ergeben, dass Individuen der Art unachtsam gehalten, bedrängt oder eingequetscht werden.
Die Symptome des Bisses gelten als medizinisch nicht relevant. Vermerkt sind lokale Schmerzen und gelegentlich Schwellungen im Bereich der Bisswunde. Die Schmerzen klingen innerhalb weniger Minuten wieder ab.
Bedrohung und Schutz
Die globalen Bestände der Warmhaus-Riesenkrabbenspinne werden von der IUCN nicht erfasst. Demzufolge gibt es keine Angaben über potentielle Gefährdungen der Art und sie unterliegt auch keinem Schutz.
Auch in der Roten Liste gefährdeter Arten Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird die Art nicht bewertet, da die Warmhaus-Riesenkrabbenspinne in Deutschland nicht heimisch ist und ohnehin nur in beheizten Einrichtungen vorkommt. Hier gilt die Art als sehr selten und ihre Bestände nehmen langfristig zu.
Einzelnachweise
Literatur
Weblinks
Heteropoda venatoria (Linnaeus, 1767) bei araneae - Spiders of Europe
Heteropoda venatoria (Linnaeus, 1767) bei Global Biodiversity Information Facility
Heteropoda venatoria (Linnaeus, 1767) bei Fauna Europaea
Heteropoda venatoria (Linnaeus, 1767) beim Rote-Liste-Zentrum
Heteropoda venatoria (Linnaeus, 1767) beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V.
University of Florida: Huntsman Spider, Heteropoda venatoria (Linnaeus) (Arachnida: Araneae: Sparassidae). von Glavis Bernard Edwards Jr.
Riesenkrabbenspinnen
Spinnen als Lebensmittel |
11165074 | https://de.wikipedia.org/wiki/San%20Francisco%20Mechanics%E2%80%99%20Institute | San Francisco Mechanics’ Institute | Das Mechanics’ Institute in San Francisco ist eine 1855 gegründete Kulturinstitution, die heute eine der ältesten Bibliotheken an der Westküste der Vereinigten Staaten, verschiedene Initiativen zur Erwachsenenbildung sowie mit dem Mechanics’ Institute Chess Club den ältesten Schachklub der USA betreibt.
Das San Francisco Mechanics’ Institute entstand gegen Ende des Kalifornischen Goldrauschs aus der Überzeugung, dass die Bereitstellung von Wissen die Grundlage wirtschaftlichen Fortschritts sei. Nachdem die finanzielle Situation der Einrichtung zu Beginn äußerst angespannt war, verlegte sich das Mechanics’ Institute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Ausrichtung von Gewerbe- und Industrieschauen in eigens zu diesem Zweck errichteten Ausstellungspavillons. Gleichzeitig stellte es seinen Mitgliedern zahlreiche Bildungsangebote zur Verfügung, unter denen Vorträge zu wissenschaftlichen und kulturellen Themen sowie die Bibliothek und der Schachklub eine besondere Rolle einnahmen. Von 1868, dem Gründungsjahr der Universität Berkeley, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte das Mechanics’ Institute Mitsprache bei der Verwaltung der ältesten Universität Kaliforniens. Nachdem alle Gebäude des Mechanics’ Institutes im schweren Erdbeben des Jahres 1906 zerstört worden waren, verkauften seine Mitglieder in den Folgejahren Grundstücke im Herzen San Franciscos und gaben einen Neubau in der Post Street 57 in Auftrag, in dem die Einrichtung bis heute beheimatet ist.
Zu den bekannten Mitgliedern des San Francisco Mechanics’ Institute gehören der Unternehmer Levi Strauss, die Schriftsteller Mark Twain und Jack London ebenso wie der Journalist und Schriftsteller Ambrose Bierce und weitere Persönlichkeiten San Franciscos. Der Mechanics’ Institute Chess Club erfreute sich zeit seines Bestehens zahlreicher Besuche internationaler Schachgrößen wie Johannes Hermann Zukertort, Emanuel Lasker, José Raúl Capablanca, Alexander Alexandrowitsch Aljechin und Max Euwe.
Geschichte
Die Gründung im Jahr 1855
Als eine kleine Gruppe von Unternehmern am 11. Dezember 1854 in San Francisco zusammenkam, um über die Gründung einer Bildungseinrichtung für Erwachsene unter dem Namen „Mechanics’ Institute“ zu beraten, hatte sich der 1848 begonnene Kalifornische Goldrausch bereits merklich abgekühlt. San Franciscos Warenhäuser waren überfüllt, die Preise befanden sich im freien Fall und mehrere Bankhäuser mussten ihre Geschäfte einstellen. Rund die Hälfte der Einwohner der Stadt war arbeitslos. Die Annals of San Francisco vermerkten hierzu, San Francisco befinde sich „in einer Phase großer wirtschaftlicher Bedrängnis“. Angesichts der ungewissen Zukunft Kaliforniens schien die Förderung technischen Wissens eine gute Antwort auf die Frage danach zu sein, was ökonomisch nach dem Goldrausch kommen solle. Da das noch junge Kalifornien zu jener Zeit in großem Maße auf den teuren Import von Gütern aller Art angewiesen war, wurde dem Aufbau einer eigenen Landwirtschaft und Industrie eine besondere Bedeutung zugemessen. Wobei die dem Mechanics’ Institute zugrundeliegende Idee keineswegs neu war. Bereits 1821 hatte der Schotte George Birkbeck mit der Gründung der School of Arts of Edinburgh den Anfang für eine ganze Reihe von Mechanics’ Institutes gemacht, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen Teilen der englischsprachigen Welt verbreitet hatten.
Im März 1855 nahm der Plan des San Francisco Mechanics’ Institute Gestalt an. Unter dem Vorsitz des Fabrikbesitzers Benjamin Haywood beschlossen die in der Stadthalle von San Francisco versammelten Unternehmer die Einrichtung einer Leihbibliothek. Die Bücher dieser Bibliothek sollten – was zu damaligen Zeiten durchaus nicht immer üblich war – allen Mitgliedern in frei zugänglichen Regalen zur Verfügung stehen. Zugleich sollten die Räumlichkeiten ausreichend Platz für Schachspiele bieten, vermutlich um den Mitgliedern zugleich Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Training ihrer geistigen Fähigkeiten zu bieten. Zur Finanzierung wurde eine Kapitalgesellschaft gegründet, deren Anteilspreis zunächst auf 25 Dollar festgesetzt wurde. Die jährliche Mitgliedsgebühr betrug 5 Dollar. Am 24. April 1855 wurde die Kapitalgesellschaft offiziell eingetragen und dieses Datum gilt bis heute als das Gründungsdatum des San Francisco Mechanics’ Institute.
Finanzielle Schwierigkeiten: das erste Jahr
Während der Glaube an technischen Fortschritt und den Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft Kaliforniens unter den Gründern des Mechanics’ Institute groß war, hielten sich die finanziellen Mittel der Einrichtung zunächst in engen Grenzen. Sechs Monate nach der Gründungsversammlung bezog das Mechanics’ Institute eigene Räumlichkeiten im Express Building an der nordöstlichen Ecke der im heutigen Finanzbezirk San Franciscos gelegenen Straßenkreuzung California und Montgomery. Der Buchbestand zählte drei Bände: eine Kopie der Verfassung der Vereinigten Staaten, eine Bibel und eine juristische Abhandlung zum Eigentumsrecht. An Finanzmitteln standen 300 Dollar zur Verfügung, wovon nach vier Monaten und der Anschaffung von 75 weiteren Bänden nur 125 Dollar übrig blieben. Schon ein Jahr nach seiner Gründung und einem zwischenzeitlichen Umzug in größere Räumlichkeiten ging dem Mechanics’ Institute das Geld aus.
Der drohende Bankrott der noch jungen Einrichtung konnte allein durch die Verpflichtung der Schauspielerin Julia Dean Hayne (1830–1868) abgewendet werden, die sich 1856 bereit erklärte, die Einnahmen aus einer Aufführung des Theaterstückes Madeleine, the Belle of Faubourg an das Mechanics’ Institute zu spenden. Was die Schauspielerin zu diesem Schritt bewog, ist nicht bekannt. Gesichert ist allerdings, dass die Erlöse in einer Höhe von 1029 Dollar das Mechanics’ Institute für weitere zwölf Monate vor dem finanziellen Ruin bewahrten und es ihm sogar ermöglichten, weitere Bücher anzuschaffen.
Gewerbe- und Industrieschauen
Als die Geldmittel des Mechanics’ Institute im Jahr 1857 erneut zur Neige gingen, entwickelten dessen Direktoren ein Konzept, das bis ins Jahr 1899 für die finanzielle Absicherung der übrigen Bildungsangebote sorgte. Nach dem Vorbild der Londoner Great Exhibition des Jahres 1851 und der New Yorker Exhibition of the Industry of All Nations des Jahres 1853 planten sie die erste große Gewerbe- und Industrieschau San Franciscos, die unter dem Titel The First Industrial Exhibition of the Mechanics’ Institute of the City of San Francisco am 7. September 1857 eröffnet werden sollte.
In der Ankündigung dieser Veranstaltung hieß es:
Als Ausstellungsgelände hatte der reiche Unternehmer James Lick ein Grundstück zwischen den Straßen Post und Sutter am südwestlichen Ende der Stadt kostenfrei zur Verfügung gestellt. Für den Bau des Ausstellungsgebäudes brachten die Mitglieder des Mechanics’ Institute 7000 Dollar in Barmitteln, Baumaterialien und kurzfristigen Darlehen auf.
Die erste Gewerbe- und Industrieschau San Franciscos dauerte 19 Tage und zeigte insgesamt 941 verschiedene Ausstellungsstücke, darunter Möbel, Sättel und Zaumzeug, Klaviere, Billardtische, Weintrauben der damals noch weitgehend unbekannten Rebsorte „Zinfandel“, Stücke versteinerter Bäume, ein Autograph Cotton Mathers sowie Lithografien, die ein gewisser E. J. Muygridge aus England importiert hatte. Aussteller erhielten Preise in 45 Kategorien. Am Abend eines jeden Tages unterhielt eine Kapelle die Besucher mit einem Konzert. Durch reges Besucherinteresse wurde die Ausstellung finanziell ein voller Erfolg: nach Abzug großzügiger Spenden an die beiden Waisenhäuser der Stadt und den Kosten für den Bau des Ausstellungsgebäudes blieben dem Mechanics’ Institute 2784 Dollar übrig.
Angeregt durch den Erfolg dieser Unternehmung organisierte das Mechanics’ Institute bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen, eigens für diesen Zweck errichteten Ausstellungsgebäuden, weitere Gewerbe- und Industrieschauen. Im Jahr 1899 fand die letzte Ausstellung statt, bei der das Mechanics’ Institute einen Verlust von 7600 Dollar erlitt. Damit war die Ära der regelmäßigen Gewerbe- und Industrieschauen in San Francisco beendet. Das zu jenem Zeitpunkt genutzte Ausstellungsgebäude wurde bis zu seiner Zerstörung im Erdbeben von 1906 für andere Zwecke, wie etwa der Austragung von Boxkämpfen, für Konzerte, oder als Rollschuhbahn verwendet.
Mitsprache bei der Verwaltung der Universität Berkeley
Zu den zentralen Aufgaben eines jeden Mechanics’ Institutes gehörte die Ausrichtung von kostenfreien oder zu geringen Preisen angebotenen Vorträgen. Auch das San Francisco Mechanics’ Institute verpflichtete seit seiner Gründung bekannte Redner für solche Anlässe. Aufgrund der anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten in den ersten Jahren waren solchen Initiativen zunächst jedoch enge Grenzen gesetzt. Dies änderte sich mit der Entdeckung von Silberlagerstätten in der Comstock Lode, die in den 1860er Jahren einen Silberrausch unweit der Grenze zwischen Nevada und Kalifornien auslöste. Durch den Zufluss von Kapital nach San Francisco und die Unterstützung von reichen Geschäftsleuten wie dem Unternehmer und Bankier William Ralston startete das Mechanics’ Institute im Jahr 1863 eine Reihe von Vorträgen, für das es Redner wie den Geologen Josiah D. Whitney oder den Sklaverei-Gegner Thomas Starr King gewinnen konnte.
Als dann im Jahr 1868 die University of California gegründet wurde, garantierten deren Statuten dem Mechanics’ Institute ein Mitspracherecht, indem sie einem Mitglied des Mechanics’ Institute einen dauerhaften Sitz im Verwaltungsrat der Universität Berkeley einräumten. Andrew Smith Hallidie, zur damaligen Zeit Präsident des Mechanics’ Institute und später bekannt als „Vater der San Francisco Cable Cars“, gehörte zu den ersten sechs „ex-officio regents“ der Universität, die diese Rolle aufgrund ihres Amtes einnahmen und zu denen unter anderem auch der Gouverneur des Staates Kalifornien, dessen Stellvertreter sowie der Sprecher des kalifornischen Repräsentantenhauses gehörten. Das Mitspracherecht des Mechanics’ Institute an der ersten Universität Kaliforniens spiegelte dessen Bedeutung im kulturellen Leben der Stadt San Francisco wider.
Wenngleich Hallidie den Campus der Universität Berkeley lieber in San Francisco anstatt an ihrem heutigen Standort im Osten der Bucht von San Francisco angesiedelt hätte, gab die enge Verzahnung zwischen der Universität und dem Mechanics’ Institute diesem die Gelegenheit, seine Rolle als Bildungseinrichtung zu stärken. Es hatte nicht allein Einfluss auf den Lehrplan der Universität, sondern war darüber hinaus auch in der Lage, bekannte Mitglieder der verschiedenen Fakultäten als Redner zu verpflichten. Über mehrere Jahrzehnte hinweg diente das 1866 errichtete Gebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street als Außenstelle der staatlichen Universität in Berkeley. Vorlesungen von angesehenen Professoren wie dem Geologen Joseph LeConte, dem deutschstämmigen Agrarwissenschaftler Eugene Woldemar Hilgard und Ezra Carr, einem Freund John Muirs, zogen bis zu 500 Studenten in die Räume des Mechanics’ Institute.
Die in diese Zeit fallende und von Hallidie vorangetriebene Umwandlung des Mechanics’ Institute in eine Stiftung sicherte der Einrichtung die Möglichkeit, Spenden einzuwerben und auf diese Weise seine Einkünfte aus Gewerbe- und Industrieschauen und Mitgliedsbeiträgen zu ergänzen. Auf diese Weise erlebte das Mechanics’ Institute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit. Das Mitspracherecht an der Verwaltung der Universität Berkeley erlosch erst im Jahr 1974.
Zerstörung und Neubeginn
In den frühen Morgenstunden des 18. April 1906 wurde San Francisco von einem Erdbeben erschüttert, das zu den schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten gehört. Um 5:12 Uhr Ortszeit wurden die Bewohner der Stadt von einem 20 bis 25 Sekunden dauernden Vorbeben aus dem Schlaf gerissen, bevor noch in derselben Minute das rund 42 Sekunden dauernde Hauptbeben einsetzte. Es waren jedoch nicht diese von Oregon über Nevada bis nach Los Angeles zu spürenden Erdstöße, die die fast völlige Zerstörung San Franciscos verursachten, sondern die zahlreichen Feuer, die nach dem Erdbeben ausbrachen und nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten.
Von dem dreistöckigen Bibliotheksgebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street 31 stand nach dem Beben nur noch diejenige Mauer, an der die Bronzetafel zu Ehren James Licks angebracht war. Neben dieser Bronzetafel konnten einige Sitzungsprotokolle, ein Mitgliederverzeichnis, ein paar Verträge sowie das Gründungsdokument des Mechanics’ Institute gerettet werden. Diese Schriftstücke hatten sich in zwei Tresoren befunden, die die Erdstöße überstanden hatten. Die zur Zeit des Bebens in der Bibliothek befindlichen Bücher hingegen waren zerstört. Der durch den Einsturz des Gebäudes verursachte Verlust seiner Bibliothek wog umso schwerer, als das Mechanics’ Institute nur wenige Monate zuvor die Bücher der Mercantile Library San Franciscos übernommen hatte. Von der auf diese Weise auf 200.000 Bände angewachsenen Sammlung blieben allein diejenigen übrig, die an die Mitglieder des Mechanics’ Institute zum Zeitpunkt des Erdbebens ausgeliehen waren.
Der große Ausstellungspavillon in der Nähe der City Hall dagegen hatte zunächst nur wenig Schaden genommen. Weil das im Untergeschoss der City Hall untergebrachte Central Emergency Hospital zerstört worden war, richteten ein Arzt und mehrere Krankenschwestern deshalb im Mechanics’ Pavilion noch in den Morgenstunden des 18. April ein Notkrankenhaus ein. Als sich die Feuer dann aber im Verlauf des Tages ausbreiteten, legten sie auch den Mechanics’ Pavilion in Schutt und Asche. Damit hatte das Mechanics’ Institute durch das Erdbeben und die anschließenden Brände einen nahezu vollständigen Verlust erlitten.
Schon vier Monate nach dem verheerenden Brand bezog das Mechanics’ Institute eine Behelfsunterkunft in der Grove Street 99. Durch Buchspenden von Bibliotheken und Privatpersonen sowie durch eigene Anschaffungen war der Buchbestand wieder auf 5000 Bände angewachsen. Im Jahr 1907 dann wurde unter der Führung des damaligen Präsidenten des Mechanics’ Institute, dem deutschstämmigen Rudolph J. Taussig, ein Neubau am ehemaligen Standort in der Post Street in Auftrag gegeben, der aufgrund einer Neuvergabe der Hausnummern nun die Nummer 57 trug. Die Kosten des neunstöckigen Neubaus wurden durch Grundstücksverkäufe getragen und als Architekt konnte Albert Pissis gewonnen werden, der in San Francisco schon vor dem Erdbeben durch seine im Beaux-Arts-Stil ausgeführten Gebäude einen guten Ruf genoss. Die Arbeiten in der Post Street begannen im April 1909 und schon im darauffolgenden Juli wurde die Bibliothek des Mechanics’ Institute wiedereröffnet.
Das Mechanics’ Institute im 20. und 21. Jahrhundert
Seit seiner Gründung war das Schachspiel ein fester Bestandteil der kulturellen Angebote des Mechanics’ Institute. Neben dem normalen Spielbetrieb richteten seine Mitglieder lokale Turniere sowie – über Telegrafenverbindungen – auch Fernschach-Turniere mit Spielern aus Kanada und anderen Teilen der Vereinigten Staaten aus. Die Schachabteilung des Mechanics’ Institute hatte sich auf diese Weise einen Ruf erarbeitet, der weit über Kalifornien hinausreichte. Waren schon im 19. Jahrhundert Schachgrößen wie Johannes Hermann Zukertort und Emanuel Lasker nach San Francisco gekommen, so setzte sich diese Tradition vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fort. Der kubanische Weltmeister José Raúl Capablanca spielte 1916 und dann wieder 1926 in Simultanschachveranstaltungen Partien gegen Mitglieder des Mechanics’ Institute. Der russisch-französische Weltmeister Alexander Alexandrowitsch Aljechin erinnerte sich später, dass er bei seiner Tour durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1929 die stärksten Spieler „in San Francisco, an einem Ort genannt Mechanics’ Institute“ getroffen habe. Im Jahr 1949 trat der spätere Präsident des Weltschachbundes Max Euwe im Simultanschach gegen Mitglieder des Mechanics’ Institute Chess Club an.
Allein im Jahr 1948 gab es kurzzeitig Auseinandersetzungen über die Zukunft des Schachklubs. Einzelne Mitglieder störten sich an dem aus ihrer Sicht verwahrlosten Äußeren der Schachspieler und setzten sich für eine Schließung des Klubs ein. Die Reaktion der lokalen Presse und der schachbegeisterten Mitglieder des Mechanics’ Institute auf dieses Vorhaben war jedoch so heftig, dass der Plan schnell aufgegeben wurde. In der Folge wurde die Möblierung des Schachraums in der vierten Etage des Gebäudes in der Post Street 57 erneuert und der Satz „Es soll einen Schachraum geben“ in der Satzung des Mechanics’ Institute festgeschrieben. Aktive Spieler der Schachabteilung nehmen bis heute Posten im Kuratorium des Mechanics’ Institute ein.
In den 1920er Jahren begann das Mechanics’ Institute Mitglieder zu verlieren. Richard Reinhardt, Verfasser der im Jahr 2005 zum 150-jährigen Jubiläum erschienenen Geschichte des Mechanics’ Institute, führt dies auf den zunehmenden Einfluss des Radios zurück. Er beschreibt, wie die in der San Francisco Bay Area verfügbaren Radiostationen bis zum Aufkommen des Fernsehens mit ihren Programmen in Konkurrenz zu den Leseräumen von Bibliotheken traten. Bis zum Beginn der 1940er Jahre verlor das Mechanics’ Institute auf diese Weise nahezu ein Viertel seiner Mitglieder. Als sich dann ab den 1950er Jahren das Fernsehen zum Massenmedium entwickelte, stellten zahlreiche Kulturinstitutionen San Franciscos ihren Betrieb ein und auch das Mechanics’ Institute geriet weiter unter Druck. Um dem Mitgliederschwund zu begegnen und eine zusätzliche Finanzquelle zu erschließen, folgte es – beginnend in den 1960er Jahren – anderen Vereinen, Museen und Alumni-Organisationen in den USA und bot im Rahmen des sogenannten „Affinity Charter System“ (dt. in etwa: „Charterflüge für Gleichgesinnte“) Billigflüge für Ferienreisen seiner Mitglieder an. Auf diese Weise stiegen die Mitgliederzahlen zunächst zwar stark an, als der Airline Deregulation Act des Jahres 1978 jedoch das Ende des Affinity Charter System einläutete, fielen die Mitgliederzahlen von zwischenzeitlich 12.000 auf unter 7.000 Mitglieder. Bis ins Jahr 2019 sank die Zahl der Mitglieder auf einen historischen Tiefstand von rund 4.000. Während das Mechanics’ Institute in früheren Zeiten noch zahlreiche Persönlichkeiten San Franciscos, darunter Levi Strauss, Ambrose Bierce, Mark Twain und Jack London zu seinen Mitgliedern zählte, gilt es heute als „verstecktes Kleinod“ und als „egalitäre Oase in einem sich schnell ändernden San Francisco“.
Heute bietet das Mechanics’ Institute seinen Mitgliedern Autorenlesungen, Schreibworkshops, Kurse zu Computer- und Internetthemen, Buchzirkel und Filmvorführungen. Der Schachklub engagiert sich stark im Bereich Jugendarbeit und bietet darüber hinaus Schacheinführungen für Frauen an. Über das Videoportal Twitch können kommentierte Partien des Mechanics’ Institute Chess Club abgerufen werden. Die mehr als 160.000 Bände umfassende Bibliothek ist an allen Wochentagen geöffnet und bietet den Mitgliedern des Mechanics’ Institutes einen freien Zugang zum Internet. Den größten Teil seiner jährlichen Einnahmen erzielt das Mechanics’ Institute durch Vermietung von Büroflächen in der Post Street 57.
Literatur
Quellen
Das Mechanics’ Institute in San Francisco selbst hält den umfangreichsten Bestand an Quellen zu seiner Geschichte. Im Zuge des Erdbebens im Jahr 1906 konnte der damalige Sekretär des Kuratoriums, Joseph Cummings, den Inhalt zweier Tresore aus dem eingestürzten Gebäude des Mechanics’ Institute in der Post Street 31 retten. Weitere Schriftstücke aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich im Keller des Gebäudes befanden, wurden dagegen zerstört. Der heutige Bestand umfasst unter anderem:
Satzungen
Constitution and by laws, 1870–1899
Constitution, by-laws, and rules of the Mechanics’ Institute of the City of San Francisco, California [1895].
Constitution of the Mechanics’ Institute of San Francisco, California, April 7, 1908.
Protokolle
Minutes of the Board of Trustees of the Mechanics’ Institute, Band 1: 1854–1857, Band 2: 1857–1860, Band 3: 1869–1874, Band 4: 1891–1895, Band 5: 1895–1897, Band 6: 1897–1899, Band 7: 1899–1904, Band 8: 1904–1913, Band 9: 1913–1923.
Berichte über abgehaltene Gewerbe- und Industrieschauen [1857–].
Jahresberichte [1855–].
Mechanics’ Institute lectures: 1855–1931 (maschinenschriftliche Aufstellung).
President’s report to the members of the Mechanics’ Institute [1965-].
Darstellungen
Hildie V. Kraus: A cultural history of the Mechanics’ Institute of San Francisco, 1855–1920, Leeds 2007 (15-seitiger Abriss, parallel veröffentlicht in der Zeitschrift Library history: official journal of the Library & Informationen Group of CILIP, Library History Group, Band 23, Juni 2007).
Richard Reinhardt: Four Books, 300 Dollars, and a Dream. An Illustrated History of the First 150 Years of the Mechanics’ Institute of San Francisco, San Francisco 2005, ISBN 0-9776435-0-6 (Maßgebliche Darstellung zur Geschichte des Mechanics’ Institute mit zahlreichen Abbildungen).
[William G. Merchant]: 100 years of Mechanics’ Institute of San Francisco, 1855–1955, San Francisco 1955 (Merchant war im Jubliäumsjahr amtierender Präsident des Mechanics’ Institute; neben einer 30-seitigen Abhandlung zur Geschichte enthält das Heft eine „List of Officers, 1855–1955“).
John Hugh Wood: Seventy-Five Years of History of the Mechanics’ Institute of San Francisco, San Francisco 1930.
Weblinks
Mechanics’ Institute, offizielle Webseiten (in Englisch)
Anmerkungen
Organisation (San Francisco)
Mechanics Institute
Kulturelle Organisation (Vereinigte Staaten) |
11204611 | https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftliches%20Werk%20Leonhard%20Eulers | Wissenschaftliches Werk Leonhard Eulers | Das wissenschaftliche Werk von Leonhard Euler ist das umfangreichste von einem Mathematiker jemals geschaffene. Es umfasst unter anderem grundlegende Resultate in den Bereichen Infinitesimalrechnung, Analysis, Mechanik, Astronomie, Geodäsie, Zahlentheorie, Algebra, Trigonometrie, Geometrie, Musiktheorie und Optik.
Zu Eulers berühmtesten Resultaten zählen die Lösung des Basler Problems, der Polyedersatz und die Eulersche Identität, wobei letztere eine enge Verbindung zwischen zahlreichen fundamentalen mathematischen Konstanten zieht. Für diese und andere Ergebnisse erhielt Euler auch posthum viele Ehrungen.
Eulers Forschung war sehr vielseitig. Er arbeitete in fast allen Bereichen der Mathematik und gilt als einer der produktivsten Mathematiker der Geschichte. Seine gesammelten Schriften der Opera omnia umfassen bisher 76 Bände. Insgesamt gibt es 866 Publikationen von ihm. Eulers Name ist mit einer großen Anzahl von Resultaten und wissenschaftlichen Themenbereichen verbunden.
Nach Leonhard Euler sind gleich zwei mathematische Konstanten benannt: die Eulersche Zahl aus der Analysis (siehe Exponentialfunktion) und die Euler-Mascheroni-Konstante γ (Gamma) aus der Zahlentheorie, die manchmal nur als Eulersche Konstante bezeichnet wird und ungefähr gleich 0,57721 ist. Es ist nicht bekannt, ob γ rational oder irrational ist. Im Gegensatz dazu ist die Irrationalität der Zahl e bekannt und wurde zuerst von Euler gezeigt (siehe auch: Beweis der Irrationalität der eulerschen Zahl).
Eine breitere Leserschaft erlangte zudem seine populärwissenschaftliche Schrift Lettres à une princesse d’Allemagne von 1768, in der er in Form von Briefen an die Prinzessin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte 2. Grades Friedrichs II., die Grundzüge der Physik, der Astronomie, der Mathematik, der Philosophie und der Theologie vermittelte.
Leonhard Eulers Werk beeinflusste viele Generationen an Mathematikern nachhaltig. So sagte Carl Friedrich Gauß: „Das Studium der Werke Eulers bleibt die beste Schule in den verschiedenen Gebieten der Mathematik und kann durch nichts anderes ersetzt werden“. Wegen der großen Zahl an Publikationen und Korrespondenzen zu anderen Mathematikern und Persönlichkeiten, ziehen sich Bestrebungen, ein Eulersches Gesamtwerk herauszugeben, bis in die heutige Zeit hinein. Durch die Herausgabe der Opera Omnia über die Euler-Kommission gilt dieses Unterfangen jedoch als weitestgehend umgesetzt.
Mathematische Notationen
Euler führte in seinen zahlreichen Lehrbüchern mehrere Notationskonventionen ein. Durch die weite Verbreitung der Bücher setzten sich viele seiner Notationen nachhaltig durch. Er führte das Konzept der mathematischen Funktion ein und schrieb als erster f(x), um die Funktion f zu bezeichnen, die auf das Argument x angewandt wird. Der „formale“ von Euler verwendete Funktionsbegriff war ein wichtiger Meilenstein in Richtung der heutigen Definition:
Von ihm stammen auch die bis heute gebräuchlichen Notationen für die trigonometrischen Funktionen, der Buchstabe e für die Basis des natürlichen Logarithmus, der griechische Buchstabe Σ (Sigma) für Summen und der Buchstabe i zur Bezeichnung der imaginären Einheit; das Zeichen Δ (Delta) für die Differenz stammt ebenfalls von Euler. Die Verwendung des griechischen Buchstabens π zur Bezeichnung des Verhältnisses von Kreisumfang und -durchmesser (Kreiszahl) wurde ebenfalls von Euler popularisiert, obwohl sie ursprünglich auf den walisischen Mathematiker William Jones zurückgeht.
Analysis und Funktionentheorie
Elementare Analysis
Euler kann als einer der Begründer der Analysis angesehen werden. Der Mathematikhistoriker Thomas Sonar beschreibt in seinem Buch 3000 Jahre Analysis (2011) Leonhard Euler als einen „echten Giganten für die Analysis“. Eulers Bedeutung für dieses Feld wird nicht nur über die Einführung eines rigorosen Funktionsbegriffs hervorgehoben. So sei er „ungeschlagener Meister“ im Umgang mit Potenzreihen, die er als „unendliches Polynom verstanden“ zu seinem ständigen „Arbeitspferd“ machte.
Euler leistete Pionierarbeit bei der Verwendung analytischer Methoden zur Lösung von Problemen der Zahlentheorie. Damit vereinte er zwei ungleiche Zweige der Mathematik und führte ein neues Studiengebiet ein, die analytische Zahlentheorie.
Infinitesimalrechnung
Wegen anhaltender Forschung war die Infinitesimalrechnung im 18. Jahrhundert auf dem Vormarsch. Insbesondere Eulers Freunde, die Bernoullis, waren für einen Großteil der frühen Fortschritte auf diesem Gebiet verantwortlich. Dank ihres Einflusses wurde das Studium der Infinitesimalrechnung zum Hauptschwerpunkt von Eulers Arbeit. In seinem Werk Institutiones calculi differentialis (1755) beschäftigte er sich systematisch mit der Differentialrechnung. Euler wählte die Interpretation: „Kleiner als jede angebbare Größe“ für infinitesimale Größen. In den Institutiones calculi differentialis aus dem Jahr 1755 definiert Euler:
Euler betrachtet also das Rechnen mit unendlich kleinen Größen als „Nullenrechnung“. Für diese führte er eine „unendlich kleine“ Größe und eine „unendlich große“
Größe (nicht zu verwechseln mit der imaginären Einheit) ein – und nutzte diese für Herleitungen korrekter Aussagen. So nutzte Euler mit den für „eine zunächst beliebige Zahl gültigen Ansatz“
um die für die Eulersche Zahl geltende Reihe
herzuleiten. Diese Formel liefert eine äußerst schnell konvergente Reihe für die Zahl , es gilt zum Beispiel
Vor dem Hintergrund zu Eulers Formel für ist zu erwähnen, dass für der Grenzwert
gültig ist, was seine -Notation in die moderne Sprache eines mathematischen Limes einordnet.
Taylorreihen
Euler ist in diesem Kontext für die Entwicklung und häufige Verwendung von Potenzreihen bekannt. Diese können als „unendlich lange Polynome“ aufgefasst werden, aus denen sich eine Funktion aus ihrem lokalen Verhalten (d. h. unter Kenntnis all ihrer Ableitungen und einem Punkt) in manchen Fällen „global rekonstruieren“ lässt. Unter anderem gab er direkte Beweise für Taylorreihen der Exponentialfunktion
und der Arkustangensfunktion. Indirekte Beweise stammen von Newton und Leibniz aus der Zeit 1665 bis 1680. Ebenso entwickelte Euler die Sinus- und Kosinusfunktion in ihre Taylor-Reihen um den Entwicklungspunkt 0:
Diese benutzte er, um mittels einfachen Einsetzens die Eulersche Formel für die Exponentialfunktion herzuleiten.
Unendliche Reihen
1736 fand er (ebenfalls durch Verwendung von Potenzreihen) den lange gesuchten Grenzwert für die unendliche Summe der reziproken Quadratzahlen:
Summiert man also „alle“ (unendlich vielen) Kehrwerte der Quadratzahlen auf, ist das Ergebnis die Zahl . Das bedeutet, dass für jede noch so kleine Zahl (etwa ) eine Quadratzahl existiert, so dass für alle folgenden Quadratzahlen gilt
Da er für dieses Ergebnis bis dato nicht bekannte Manipulationstechniken für Potenzreihen verwendet hatte, wurde sein ursprünglicher Beweis nicht akzeptiert. Jedoch veröffentlichte Euler im Jahr 1743 einen anderen Beweis. Aus einer Verallgemeinerung dieses sogenannten Basler Problems leitete er eine geschlossene Darstellung für die geraden Bernoulli-Zahlen ab. Er zeigte beispielsweise, dass die Summe der Kehrwerte aller vierten Potenzen und sechsten Potenzen ebenfalls gegen rationale Vielfache entsprechender Potenzen von streben.
und ganz allgemein
Diese galt sehr lange als beste Methode für die Berechnung der Bernoulli-Zahlen .
Er nutzte die Identität
mit dem Arkustangens um eine schnell konvergierende Reihe für herzuleiten. Unendliche Reihen wie zum Beispiel
oder auch
mit der Riemannschen Zeta-Funktion gehen ebenfalls auf Euler zurück. Es war Euler, der als erster divergente Reihen systematisch untersuchte.
Trigonometrische Funktionen
Euler ist der erste Autor, der die Winkelfunktionen auf einen Kreis mit Radius 1 bezieht und sie dadurch normiert. Das geschieht im sechsten Kapitel der Introductio. Insbesondere folgt nach dem Satz des Pythagoras dann sofort
Eine Reihe von Grundformeln der Trigonometrie wurden systematisch von Euler hergeleitet. Er benutzte die Additionstheoreme der trigonometrischen Funktionen und gab als erster einen einfachen und klaren Beweis der bekannten Formel von De Moivre. Dieser Beweis gilt auch aus heutiger Sicht als streng, falls man davon absieht, dass die vollständige Induktion formal nicht abgeschlossen wurde. Euler erhielt aus diesen Formeln die Entwicklung der trigonometrischen Funktionen in Potenzreihen, indem er dasselbe Verfahren wie im Falle der Exponentialfunktion benutzte.
Auch die Partialbruchzerlegung des Kotangens war Gegenstand von Eulers Forschung. Diese diskutierte er unter anderem in einem Brief an Christian Goldbach vom 30. Juni 1742.
Im Kontext mit seinen Studien über Funktionen einer komplexen Variablen, die teilweise von d’Alembert antizipiert wurden, gelangte Euler mittels einer schon von Johann Bernoulli verwendeten nicht-reellen Substitution zum Resultat
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Euler mittels mehrfacher Anwendung des Additionstheorems auf die Funktionen die Produktformel
generierte.
Exponentialfunktion und Logarithmus
Euler verwendete erstmals die Exponentialfunktion und Logarithmen in analytischen Beweisen und definierte sie erfolgreich für komplexe Zahlen. Dadurch wurde deren Anwendungsbereich stark erweitert. Damit fand er die enge Beziehung zu den trigonometrischen Funktionen. Für jede reelle Zahl (im Bogenmaß) besagt die Eulersche Formel, dass die komplexe Exponentialfunktion die Gleichung
erfüllt. Ein spezieller Fall der obigen Formel ist als die Eulersche Identität
bekannt. Eulers Formel zieht Beweise der Additionstheoreme und die Formel von De Moivre nach sich. So gilt zum einen
Auch bezüglich der Additionstheoreme bedient man sich der Multiplikativität der Exponentialfunktion. Zum andern haben wir demnach
Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn Real- und Imaginärteil übereinstimmen – zum Beispiel gilt also .
Begründung der Variationsrechnung
Euler gilt neben Lagrange als einer der Begründer der Variationsrechnung. An verschiedene Problemstellungen und Ideen von Jakob und Johann Bernoulli anknüpfend, formulierte Euler schon sehr früh deren Hauptprobleme und entwickelte allgemeine Methoden zu deren Lösung. Dies geschah in seiner 1744 herausgebrachten Methodus inveniendi lineas curvas. Diese Spezialdisziplin (von den Brüdern Bernoulli ansatzweise initiiert) wurde von Euler erstmals konzipiert und systematisiert. Sie beschäftigt sich mit Extremwertproblemen allgemeinster Art. Im Gegensatz zur Differentialrechnung, bei der oft lokale Maxima oder Minima von Funktionen bestimmt werden, ist die Variationsrechnung durch Probleme charakterisiert, bei denen eine oder mehrere unbekannte Funktionen derart zu bestimmen sind, dass ein gegebenes, von diesen Funktionen abhängiges bestimmtes Integral extremale Werte annimmt.
Nach Euler ist die in der Variationsrechnung gebräuchliche Euler-Lagrange-Gleichung benannt.
Von Carl Gustav Jacobi stammt folgende Einschätzung:
Integralrechnung
In seinem Werk Institutiones calculi integralis (1768–1770), erschienen in drei Bänden, beschäftigte sich Euler mit der Integralrechnung. Darin finden sich die Methoden der unbestimmten Integration in moderner Form erschöpfend dargestellt für die Fälle, in denen die Integration auf elementare Funktionen führt. Viele Methoden sind erst von Euler entwickelt worden, und noch heute ist die Eulersche Substitution, mit deren Hilfe gewisse irrationale Differentiale rationalisiert werden können, ein Begriff. Er fand einen Weg, Integrale mit komplexen Grenzen zu berechnen, womit er wichtige Teile der Entwicklung der komplexen Analysis vorwegnahm.
Es ist zu bemerken, dass ein Vorläufer der nach Laplace benannten Laplace-Transformation bereits 1766 von Euler in seiner Institutiones calculi integralis studiert worden war. Laplace hatte sie erstmals im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie angewandt.
Fourierreihen
Euler arbeitete auch im Bereich der Fourierreihen. Er leitete die für Werte gültige Formel
aus der Reihe
an der Stelle her:
Obwohl die Reihe zur Rechten nirgends konvergiert, lieferte beidseitiges Integrieren, nach Wahl der richtigen Integrationskonstanten, die heute als korrekt bekannte Eulersche Reihe.
Dies ist ein typisches Beispiel der von Euler zugrunde gelegten „Allgemeinheit der Algebra“. Obwohl einige von Eulers Beweisen nach modernen Standards der mathematischen Strenge nicht akzeptabel sind, führten seine Ideen, wie eben demonstriert, zu vielen Fortschritten.
Transzendente Funktionen
Als Vorreiter auf diesem neuen Gebiet schuf Euler die Theorie der hypergeometrischen Reihen, der q-Reihen und der hyperbolischen trigonometrischen Funktionen.
Riemannsche Zeta-Funktion
Auch die Funktionalgleichung der Riemannschen Zeta-Funktion , die Euler für die verwandte Funktion
in der Form
angab, sowie einige deren Werte an negativen Stellen, waren Euler bereits bekannt. Dabei handelt es sich nicht um eine klassische Gleichung, wie etwa , die nur vom Wert gelöst wird, sondern um eine Identität, d. h. die Gleichung stimmt, egal was eingesetzt wird. Beispielsweise ist eine (triviale) Identität, und im Falle der Zeta-Funktion stellte Euler einen für alle gültigen Zusammenhang zwischen den Werten und her. Diese vermutete er nach umfassenden numerischen Berechnungen, die auf der heute als richtig bekannten Darstellung
beruhten. Die Riemannsche Zeta-Funktion spielt eine sehr wichtige Rolle in der Zahlentheorie und die Funktionalgleichung wurde von Bernhard Riemann, der erstmals einen strengen Beweis vorlegte, benutzt, um seine Theorie über Primzahlen aufzubauen.
Beta- und Gamma-Funktion
Bereits im Jahr 1729 entwickelte Euler unter Hilfenahme des binomischen Lehrsatzes die für natürliche Zahlen gültige Formel
Daraus leitete er eine Integraldarstellung für die Fakultätsfunktion ab:
Diese Resultate führten zur Entdeckung der Beta- und Gammafunktion durch Euler, der ihre grundlegenden Eigenschaften studierte. In Korrespondenz mit Christian Goldbach im Jahr 1729 verallgemeinerte Euler zunächst die Fakultät und führte 1730 das Euler-Integral der zweiten Art ein, das für komplexe Werte mit positivem Realteil die Euler-Gammafunktion darstellt:
Bereits in einem Brief von 1729 an Christian Goldbach hatte Euler eine Formel für die halbzahlige Fakultät erwähnt in der Form: . Das Integral erster Art stellt die Beta-Funktion für dar:
Aus den besonderen Eigenschaften dieser Funktionen leitete Euler nicht nur Beziehungen zur Euler-Mascheroni-Konstanten ab, sondern gab auch die Produktformeln
und
wobei letztere als Eulerscher Ergänzungssatz (Euler reflection formula) bekannt ist. Die Beta-Funktion ist die Grundlage der Beta-Verteilung aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Gamma-Funktion taucht bei der Gamma-Verteilung auf, spielt aber auch in Funktionen- und Zahlentheorie unter anderem im Kontext vervollständigter L-Funktionen eine wichtige Rolle.
Elliptische Integrale
Eulers großes Interesse an elliptischen Integralen und elliptischen Funktionen geht auf seine frühen Jahre bei Johann Bernoulli zurück. Während seines Studiums an der Berliner Akademie erhielt Euler am 23. Dezember 1751 ein zweibändiges Werk von Giulio Fagnano mit dem Titel Produzioni Matematiche, das 1750 für seine formale Überprüfung veröffentlicht wurde. Diese Arbeit enthielt die Formel für die Verdoppelung der Bogenlänge der Lemniskate, deren Polarkoordinatengleichung , und deren algebraische Gleichung lautet. Euler wurde durch diese Arbeit enorm inspiriert und half, einen neuen Bereich algebraischer Funktionen zu schaffen.
Euler war imstande, das heute als Additionstheorem für elliptische Integrale (erster Gattung) bekannte Resultat zu beweisen. Setzt man mit ganzen Zahlen , so folgt aus der Gleichheit
bereits
Dies wird Eulersches Additionstheorem (Euler addition theorem) genannt. Im Jahre 1753 entdeckte Euler viele Additionsformeln für elliptische Integrale, die gewöhnlich in direktem Bezug zum Additionstheorem stehen.
Zahlentheorie und Kombinatorik
Eulers Interesse an der Zahlentheorie lässt sich auf den Einfluss von Christian Goldbach, seinem Freund in der Sankt Petersburger Akademie, zurückführen. Dabei ist Zahlentheorie im Grunde die Wissenschaft der natürlichen Zahlen und deren Eigenschaften. Eine zahlentheoretische Eigenschaft einer Zahl ist dabei zum Beispiel, ob sie durch eine andere Zahl geteilt werden kann oder durch wie viele Zahlen sie geteilt werden kann. Beispielsweise hatte Euler die Einsicht, dass eine ungerade Zahl größer als nur durch und sich selbst teilbar ist (eine Primzahl ist), wenn es bis auf Reihenfolge nur eine Möglichkeit gibt, sie als Summe von zwei teilerfremden positiven Quadratzahlen zu schreiben. Damit ist sie gleichzeitig darstellbar als mit einer natürlichen Zahl . (Gleiches gilt sinngemäß für die Quadratzahlen von Primzahlen, etwa ). So besitzt in etwa die Zahl einen nicht-trivialen Teiler, ist also keine Primzahl, da
Aber im Falle gilt , die Zahlen und sind teilerfremd, und sonst gibt es keine weitere Möglichkeit zu einer Zerlegung in zwei nicht-triviale Quadrate. Also ist eine Primzahl. Zu beachten ist jedoch, dass auf der anderen Seite nicht jede Primzahl als Summe zweier Quadrate geschrieben werden kann. Lediglich die Primzahlen der Form sind stets die Summe zweier Quadratzahlen. Viele von Eulers frühen Arbeiten zur Zahlentheorie basieren auf den Werken von Pierre de Fermat. Euler entwickelte einige von Fermats Ideen und widerlegte manche seiner Vermutungen.
Nach Euler sind verschiedene Zahlen und Zahlenfolgen benannt, siehe dazu Eulersche Zahlen (Begriffsklärung).
Elementare Zahlentheorie
Zum Beispiel widerlegte er Fermats Vermutung, alle Fermat-Zahlen seien ebenfalls Primzahlen, indem er zeigte, dass die Zahl durch 641 teilbar ist.
Er trug wesentlich zur Theorie der vollkommenen Zahlen bei, die die Mathematiker seit Euklid fasziniert hatten. Euler bewies, dass die von Euklid gezeigte Beziehung zwischen (geraden) vollkommenen Zahlen und Mersenne-Primzahlen sogar eins zu eins ist, ein Ergebnis, das als Euklid-Euler-Satz bekannt ist. 1772 hatte Euler in einem Brief an Goldbach korrekt behauptet, dass 2.147.483.647 eine Mersenne-Primzahl ist. Sie galt bis 1867 als die größte gefundene Primzahl. Bereits 1732 konnte er die 19-stellige vollkommene Zahl
konstruieren.
Algebraische Zahlentheorie
Er gab gleich mehrere Beweise für den kleinen Fermatschen Satz und war der erste, der einen Beweis publizierte (der von Leibniz im Jahr 1683 geführte Beweis tauchte erst 1894 auf). Sein erster Beweis wurde mittels Induktion geführt, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Er führte auch die Eulersche Phi-Funktion ein. Mit Hilfe der Eigenschaften dieser Funktion verallgemeinerte er Fermats kleinen Satz zu dem, was heute als Satz von Euler bekannt ist.
Euler leistete wichtige Vorarbeit zu Lagranges Vier-Quadrate-Satz, indem er 1751 bewies, dass sich jede positive rationale Zahl als Summe vierer rationaler Quadrate schreiben lässt. Bereits zuvor, im Jahre 1748, hatte er in einem Brief an Goldbach die Identität
erwähnt, womit sich das Problem auf Primzahlen reduzieren ließ. Nachdem Lagrange gezeigt hatte, dass sich jede positive ganze Zahl als Summe vierer ganzer Quadrate schreiben lässt, lieferte Euler kurz darauf einen einfacheren Beweis. Es gilt zum Beispiel
Bemerkenswert ist eine weitere Idee Eulers, die aus seiner Beschäftigung mit der Partitio numerorum hervorging, den Satz von Lagrange zu beweisen. Dafür betrachtete er die Potenzreihe
wobei für den Vier-Quadrate-Satz für alle n hinreichend ist. Diese Beweisidee deutete Euler in Briefen an Goldbach und in einigen Arbeiten (wie E394, E586) an. So schrieb er im August 1750: „Dieser Weg deucht mir noch der natürlichste zu sein, um zum Beweis […] zu gelangen“. Bei der betrachteten Potenzreihe handelt es sich um die vierte Potenz einer modifizierten Thetareihe – Jacobi ging später diesen Weg um den Satz von Lagrange rein analytisch zu beweisen.
Ebenso zeigte er Fermats Satz über die Summe zweier Quadrate. Dieser liefert ein Kriterium, wann sich eine positive ganze Zahl als Summe zweier ganzer Quadrate schreiben lässt. Beispielsweise gilt , jedoch gibt es für die Zahl keine Möglichkeit für eine solche Zerlegung.
Euler zeigte den großen Fermatschen Satz für die Fälle und . Er bewies, dass keine Quadratzahl größer als Null als Summe zweier Biquadrate größer als Null geschrieben werden kann, womit bereits folgt, dass die Gleichung keine positiven ganzzahligen Lösungen besitzt. Im Fall faktorisierte Euler zu . Durch die Verwendung dieser Variante der Gaußschen Zahlen und einer impliziten Annahme der eindeutigen Faktorisierung konnte Euler einen Beweis konstruieren, der die Unmöglichkeit des Falls zeigte. Wie bei seinem Beweis für den Fall beruhte der von Euler geführte Beweis in erster Linie auf Manipulationen algebraischer Symbole und Paritätsargumenten und führte wenig neue Methoden ein. Wie Generationen von Mathematikern nach ihm scheiterte Euler jedoch am allgemeinen Beweis des großen Fermatschen Satzes. Ein vollständiger Beweis wurde erst 1995 durch Andrew Wiles und Richard Taylor als Konsequenz des Modularitätssatzes für semi-stabile elliptische Kurven erbracht.
Euler vermutete das Gesetz der quadratischen Reziprozität, das später durch Carl Friedrich Gauß bewiesen wurde. Dabei handelt es sich um eines der grundlegendsten Konzepte der Zahlentheorie.
Kombinatorik
Obwohl die Kombinatorik erst später zu einem neuen modernen Zweig der Mathematik wurde, haben Probleme des Zählens eine lange und frühe Geschichte. Euler betrachtete Probleme der Permutationen und Kombinationen und formulierte ein bestimmtes Problem wie folgt: Angesichts einer beliebigen Folge von Buchstaben , wie viele Möglichkeiten gibt es, sie neu anzuordnen, sodass keine wieder auf die ursprünglich besetzte Position zurückkehrt? In diesem Zusammenhang führte Euler die Notation ein, um die Anzahl der Permutationen der Buchstaben darzustellen, bei denen keiner seine ursprüngliche Position wieder einnimmt. Eine solche Permutation wird heute als fixpunktfreie Permutation bezeichnet.
Mit einem einfachen Argument bewies Euler mehrere Rekursionsformeln für , darunter die doppelte Rekursionsformel
Er gab auch die explizite Formel
an, die beweist, dass der Quotient aus fixpunktfreien Permutationen und allen Permutationen rapide gegen die Zahl konvergiert.
Ebenfalls auf Euler geht der Pentagonalzahlensatz
zurück, er zeigte ihn 1750. Daraus lässt sich eine Rekursionsformel für die Partitionen herleiten. Diese wurde von Percy Alexander MacMahon dazu verwendet, die Werte der Partitionsfunktion bis zu berechnen. Dabei zählt die Funktion , auf wie viele Arten und Weisen sich als Summe natürlicher Zahlen schreiben lässt. Zum Beispiel ist , denn . Es gilt . Der Pentagonalzahlensatz ist zudem ein Eckpfeiler zwischen der Kombinatorik und der Theorie der Modulformen.
In den 1780er Jahren befasste Euler sich mit griechisch-lateinischen oder Eulerschen Quadraten, in denen in jeder Zeile und auch in jeder Spalte jedes Element einer Menge G mit n Elementen und ebenso jedes Element einer Menge L mit n Elementen genau einmal vorkommen muss, und jedes Tupel (g,l) ∈ G×L muss im gesamten n×n-Quadrat genau einmal vorkommen. Euler fand Methoden zur Konstruktion von Eulerschen Quadraten mit ungerader oder durch vier teilbarer Größe n. Es gelang ihm jedoch nicht, auch für n ≡ 2 mod 4 Lösungen zu finden. Der Fall n = 6 ist als Problem der 36 Offiziere oder 36-Offiziere-Rätsel bekannt geworden, das Euler 1779 aufgab und das keine klassische Lösung besitzt.
Analytische Zahlentheorie
Euler verknüpfte die Natur der Primzahlverteilung mit Ideen aus der Analysis. Zum Beispiel bewies er, dass die Summe der Kehrwerte der Primzahlen divergiert. Dabei fand er die Verbindung zwischen der Riemannschen Zeta-Funktion und den Primzahlen; seine Entdeckung ist heute als Euler-Produkt-Formel für die Riemannsche Zeta-Funktion bekannt:
wobei sich das Produkt über alle Primzahlen erstreckt. Wie sich später herausstellte, hat diese Identität weitreichende Konsequenzen für Aussagen über die Verteilung der Primzahlen. Eulers Arbeiten auf diesem Gebiet führten zur Entwicklung des Primzahlsatzes.
Kettenbrüche
Auf der Grundlage früherer Arbeiten seiner Vorgänger begann Euler seine Forschungen zu Kettenbrüchen und veröffentlichte 1737 in einer Arbeit mit dem Titel De Fractionibus Continuis viele neue Ideen und Ergebnisse. Er bewies auch, dass jede rationale Zahl durch einen endlichen Kettenbruch dargestellt werden kann und fand eine unendliche Kettenbruch-Darstellung für die Zahl in folgender Form:
Daraus (und aus einer ebenfalls unendlichen Darstellung als Kettenbruch für ) folgerte Euler die Irrationalität von und . Er gab nicht-reguläre Kettenbrüche (also ohne ausschließlich Einsen in den Zählern der neuen Brüche) für die Kreiszahl , wie in etwa
Er bewies zusätzlich ein Theorem, das besagt, dass die Lösung einer quadratischen Gleichung dann und nur dann reell ist, wenn sie eine periodische Kettenbruchentwicklung hat.
Die Euler-Mascheroni-Konstante
Euler entdeckte 1734 (möglicherweise früher) zuerst einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum natürlicher Logarithmen und der harmonischen Folge. Obwohl die Terme für größer werdende Werte gegen 0 streben, gilt
Also ist die Summe der Kehrwerte aller natürlichen Zahlen unbeschränkt. Zieht man jedoch von der harmonischen Folge jeweils den Term ab, so wird das unbeschränkte Wachstum weggehoben und die Differenz konvergiert gegen einen Wert, der heute Euler-Mascheroni-Konstante oder Eulersche Konstante genannt wird:
Trotz dieser fundamentalen Definition sind die algebraischen Eigenschaften von bis heute weitgehend ungeklärt. Es wird vermutet, dass irrational ist, jedoch wurde bisher kein Beweis dafür gefunden. Im Jahr 1736 hatte er die Zahl in seiner Arbeit E47 bereits auf 15 Stellen berechnet.
Geometrie, Topologie und Graphentheorie
Geometrie
Die Mehrzahl seiner Entdeckungen in der Geometrie gelangen Euler durch die Anwendung algebraischer und analytischer Methoden. Das Lehrgebäude sowohl der ebenen wie auch der sphärischen Trigonometrie verdankt seine heutige Form – einschließlich der Notationsweise – Leonhard Euler. Seine – von Johann Bernoulli angeregten – Studien über geodätische Linien auf einer Fläche waren richtungsweisend für die später einsetzende Entwicklung der Differentialgeometrie. Von noch größerer Bedeutung waren seine Entdeckungen in der Flächentheorie, von der Gaspard Monge und andere Forscher in der Folge ausgehen sollten. In seinen späten Jahren schließlich nahm Euler seine Arbeiten über die allgemeine Theorie der Raumkurven exakt dort wieder auf, wo Clairaut 1731 aufgehört hatte – allerdings wurden sie erst postum gedruckt.
In den Grundlagen der Differentialgeometrie lieferte er Beiträge für die Krümmung einer Kurve und leitete eine analytische Formel für die Radien der Schmiegekreise her. Außerdem entdeckte er die zwei Hauptnormalschnitte einer Oberfläche und die Hauptkrümmungen und . Eines seiner Ergebnisse, die sogenannte Euler-Gleichung, ergibt die Krümmung eines beliebigen anderen Normalenabschnitts, der einen Winkel mit einem der Abschnitte mit der Hauptkrümmung einschließt, in der Form
Es war Euler, der sich erstmals mit abwickelbaren Oberflächen (z. B. einem Zylinder oder einem Kegel) beschäftigte, d. h. Oberflächen, die ohne Verzerrungen wie Dehnung oder Reißen in eine Ebene verformt werden können. Eine Fläche wird als Regelfläche bezeichnet (z. B. ein Zylinder, Kegel, Hyperboloid oder hyperbolisches Paraboloid), wenn sie durch die Bewegung einer geraden Linie im Raum erzeugt werden kann.
Es ist bekannt, dass Euler rein mathematisch die zuerst von Jakob Bernoulli und Christiaan Huygens studierte Kreisevolvente als günstigste Profilform der Flanken bei Zahnrädern eruiert hat. Diese Kurve liefert – sinnvoll verwendet – optimale mechanische Eigenschaften bezüglich Reibungsverlust, Geräuscharmut und Kraftübertragung (technisch realisiert wurde diese Entdeckung bzw. Erfindung Eulers erst im 19. Jahrhundert mit der Evolventenverzahnung). Weniger bekannt ist, dass Euler in dieser bereits 1762 entstandenen Arbeit E330 die heute nach Felix Savary benannte Gleichung antizipiert hat. Sie dient zur Bestimmung des Krümmungsradius einer Rollkurve und ermöglicht eine elegante Konstruktion deren Krümmungszentren.
Innerhalb der elementaren Geometrie beschäftige sich Euler unter anderem mit einem Vorläufer des Doppelverhältnisses und den „Möndchen“ des Hippokrates. Letzteren widmete er zwei weit auseinander liegende Arbeiten E73 und E423. In einer kurzen Abhandlung E648 aus dem Jahre 1779 löste Euler das sog. Taktionsproblem des Apollonius. Dies verlangt die (elementar stets mogliche) Konstruktion eines (vierten) Kreises, der drei beliebig gegebene Kreise in der Ebene berührt. Dieses Problem wurde jedoch bereits vor Euler von François Viète, Isaac Newton und anderen gelöst. Kurz darauf verallgemeinerte er in E733 das Problem auf den dreidimensionalen Raum und fand die Konstruktion der Berührungskugel zu vier beliebig gegebenen Kugeln. Auch diese Konstruktion führt bloß auf eine quadratische Gleichung und kann somit elementar geleistet werden.
Topologie
In einem Brief vom 14. November 1750 aus Berlin an Christian Goldbach nach Sankt Petersburg kündigte Euler seine Entdeckung eines fundamentalen Zusammenhangs zwischen wichtigen Größen eines konvexen Polyeders an. Seine Entdeckung war die Formel bezüglich Anzahl der Ecken (E), Kanten (K) und Flächen (F) eines konvexen Polyeders, eines planaren Graphen. Dieser Satz wird heute als Eulerscher Polyedersatz bezeichnet.
Acht Jahre nach seinem Brief, 1758, veröffentlichte er zwei Arbeiten zu dem Thema. Die erste enthielt seine Entdeckung, die zweite einen Beweisversuch. Eulers Beweis, in dem er die untersuchten Objekte in einzelne Tetraeder zerlegen wollte, enthielt jedoch nach heutigem Maßstab an Strenge einen Fehler. Diese Lücke wurde 1924 durch Henri Lebesgue hervorgehoben.
Euler erhoffte sich mit seiner Arbeit alle Polyeder klassifizieren zu können, erreichte dieses Ziel jedoch nicht. Nach Veröffentlichung der beiden Arbeiten wandte er sich dem Thema nicht mehr zu.
Die Konstante im Eulerschen Polyedersatz wird heute als Euler-Charakteristik des Graphen (oder eines anderen mathematischen Objekts) bezeichnet und steht mit dem mathematischen Geschlecht des Objekts direkt in Zusammenhang. Der erste lückenlose Beweis des Polyedersatzes gelang erst Adrien-Marie Legendre. Die Untersuchung und Verallgemeinerung dieser Formel, insbesondere durch Cauchy und L’Huilier, markiert den Beginn der (algebraischen) Topologie.
Graphentheorie
Im Jahr 1735 (1741 veröffentlicht mit der Arbeit Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis) präsentierte Euler eine Lösung für das Königsberger Brückenproblem.
Die Stadt Königsberg in Preußen lag am Fluss Pregel und umfasste zwei große Inseln, die durch sieben Brücken miteinander und mit dem Festland verbunden waren. Das Problem besteht darin, zu entscheiden, ob es möglich ist, einen Weg zu wählen, der jede Brücke genau einmal überquert und zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Das ist nicht möglich, weil zu mindestens einem Landstück eine ungerade Anzahl an Brücken führt. Diese Bedingung ist bereits durch die zur zentralen Insel führenden Brücken erfüllt. Das Brückenproblem ist gleichbedeutend mit der Frage, ob es für den der Stadtkarte entsprechenden Graphen einen Eulerkreis gibt.
→
→
Diese Lösung gilt als der erste Satz der Graphentheorie, insbesondere der planaren Graphentheorie.
Angewandte Mathematik
Numerik und Differentialgleichungen
Euler-Maclaurin-Formel
Im Jahr 1732 entdeckte Euler die Formel
mit den Bernoulli-Zahlen und dem Restglied
Dabei bezeichnen Bernoulli-Polynome. Diese wurde unabhängig von ihm von Colin Maclaurin gefunden und trägt heute den Namen Euler-Maclaurin-Formel. Die Formel stellt einen Zusammenhang zwischen Summen und dem Integral her. Die hinteren Terme beinhalten die (höheren) Ableitungen von an den Grenzstellen und sind bei geschickter (meist nicht zu hoher) Wahl von meist schnell zu berechnen. Nützlich ist die Summenformel von Euler und Maclaurin dann, wenn die Summe sehr schwer, das Integral jedoch leicht zu berechnen ist. Zum Beispiel ist
schwer allgemein zu berechnen, während die Rechnung
deutlich einfacher zu vollziehen ist (siehe auch: Integralrechnung und Stammfunktion) – zu beachten ist, dass die Summenformel auf keine bestimmten Grenzen festgelegt ist und somit auch bei 1 statt 0 beginnen kann. Beginnt man alternativ an einem großen Startwert , ist somit ungefähr gegeben durch
Andersherum kann mit der Summenformel ein (schwer zu berechnendes) Integral über diskrete Summen angenähert werden. Dementsprechend praktischen Nutzen zog Euler aus dieser Formel, um unendliche Reihen, die langsam konvergieren, schnell numerisch anzunähern. So gab er gute Näherungen für die Werte und und fand auf 20 Stellen genau:
Hätte Euler stattdessen für eine solche Präzision „naiv“ die Terme summiert, wäre der Zeitaufwand mit 20 Sekunden pro Summand bei etwa 63 Billionen Jahren gelegen. Erwiesenermaßen etablierte Eulers ursprüngliche Methode der Berechnung von für höhere Werte von die numerische Mathematik als ein neues Forschungsgebiet.
Explizites Euler-Verfahren
Während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts unternahmen Mathematiker ernsthafte Versuche, gewöhnliche Differentialgleichungen in Form von elementaren Funktionen und Quadraturen zu lösen. Als diese Methoden scheiterten, lösten sie Gleichungen mit Hilfe unendlicher Reihen und mit numerischen Methoden. Im Jahre 1768 entwickelte Euler ein einfaches Finite-Differenzen-Verfahren zur numerischen Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung
mit der gegebenen Anfangsbedingung . Mit einer einheitlichen Schrittweite zwischen den Punkten , konstruierte Euler die Punkte mit , und erhielt dann die Formel
Hierbei bezeichnet die O-Notation von Landau und bedeutet in diesem Falle, dass das Fehlerrauschen jenseits im rechten Ausdruck im Wesentlichen durch die „winzige“ Zahl nicht überschritten wird. Falls stetig ist, dann konvergiert die Folge der Euler-Polygonlinien gleichmäßig mit zu der unbekannten Funktion auf einem ausreichend kleinen geschlossenen Intervall, das enthält.
Euler-Winkel
Nach ihm sind auch die bedeutenden Euler-Winkel benannt. Es handelt sich dabei um ein Tripel aus Winkeln, mit denen die Orientierung (Drehlage) eines festen Körpers im dreidimensionalen euklidischen Raum beschrieben werden kann. Eine algebraische Beschreibung, mit der die Drehlage von beliebigen Punkten berechnet werden konnte, wurde erst ab 1775 von Euler in zunehmender Tiefe formuliert. In der ersten Arbeit zeigte er, dass die neun Elemente der Abbildungsmatrix (welche die Drehung beschreiben) wegen der Längentreue einer Bewegung nicht unabhängig voneinander sind, sondern durch nur drei voneinander unabhängige Winkel festgelegt werden, der Euler-Winkel.
In der Aerodynamik von Flugzeugen werden bis heute die Euler-Winkel verwendet. Dabei ist es Praxis, ein erdfixes Koordinatensystem zu verwenden, um die Position und Orientierung eines Flugzeugs relativ zur Erde zu beschreiben. Da es sich bei dem Koordinatensystem nicht um ein kartesisches System handelt, ergeben sich in der Regel aber einige Probleme bei der Formulierung der Flugzeugdynamik. Durch weitere Differenzierung kann dem begegnet werden. Während die Position des Flugzeugs am besten mittels eines erdfixen Koordinatensystems beschrieben werden kann, werden die Komponenten des Trägheitstensors in der Bewegungsgleichung am besten mittels eines Koordinatensystems beschrieben, welches das Gravizentrum des Flugzeugs als Ursprung hat. Die Orientierung eines Flugzeugs relativ zur Erde kann nun mit den sogenannten Euler-Winkeln beschrieben werden. Daher ist es notwendig, die Transformation zwischen den beiden oberen Koordinatensystemen mittels der drei Eulerwinkel-Drehungen abzuleiten.
Lotterien
Euler beschäftigte sich auch mit Lotterien. 1749 trat ein italienischer Geschäftsmann namens Roccolini an Friedrich den Großen, den damaligen König von Preußen, mit dem Vorschlag heran, ein Lotteriesystem einzuführen, bei dem fünf Zahlen von 1 bis 90 gezogen werden sollten. Der König sandte den Vorschlag an seinen wissenschaftlichen Berater Euler mit der Bitte um eine mathematische Überprüfung bezüglich der Einführung einer staatlichen Lotterie in Deutschland. Auf den königlichen Wunsch hin interessierte sich Euler sehr für die Analyse der verschiedenen Aspekte des genuesischen Lotteriesystems und entwickelte ein verbessertes Lotteriesystem, nachdem er bei der Analyse dieses Glücksspiels kombinatorische Fragen angesprochen hatte. In der Folge wurde die Berliner Lotterie 1763 in Deutschland gegründet.
Im selben Jahr, in dem Preußen sein erstes Lotto veranstaltete, verlas Euler vor der Berliner Akademie eine Arbeit mit einer detaillierten und allgemeinen Analyse dieses Lottos. Eulers Arbeit wurde posthum veröffentlicht. Eines der grundlegenden Ergebnisse, die Euler erzielte, bestand darin, eine Formel für die Gewinnwahrscheinlichkeit der Wette zu finden, bei der r aus t gezogenen Zahlen bei einer Gesamtzahl von n richtig erraten werden müssen. Seine Formel lautete:
Anhand dieser Wahrscheinlichkeitsberechnungen berechnete Euler drei praktische Szenarien für die Auszahlungen auf alle Wetten und berücksichtigte dabei die Möglichkeit, einen Gewinn für die Lotterieveranstalter zu erzielen.
Bevölkerungswachstum
Im Jahr 1907, fast 125 Jahre nach Eulers Tod, verwendete Alfred J. Lotka Eulers Arbeit Recherches générales sur la mortalité et la multiplication du genre humain um die Euler-Lotka-Gleichung zur Berechnung von Bevölkerungswachstumsraten abzuleiten. Dabei handelt es sich um eine grundlegende Methode, die in der Populationsbiologie und -ökologie bis heute verwendet wird.
Physik
Mechanik
Eulers Abhandlungen zur Mechanik lassen sich, entsprechend seinem „Programm“, in folgende Bereiche einteilen: Grundlagen der Mechanik (Aufbau und Struktur der Materie, Kraft und Kraftmaß, Prinzipien der Mechanik), Mechanik materieller Punkte, Mechanik starrer, Mechanik biegsamer nicht elastischer, Mechanik elastischer, Mechanik flüssiger sowie Mechanik gasförmiger Körper. In Schriften wie Mechanica, sive motus scientia analytica exposita (1736), Découverte d’un nouveau principe de mécanique (1752) und Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum (1765) wandte Euler dabei die Mathematik auf Fragen der Physik an. Laut Clifford Truesdell „tragen in der Tat nur wenige Werke so viel zur Mechanik bei“ wie die zweit genannte Arbeit.
Punktmechanik
Eulers Mechanikschrift von 1736 ist vorwiegend der Punktmechanik gewidmet. Die Besonderheit ihres Aufbaus ist, dass im Anschluss an die mechanischen Prinzipien, die nach Newtonscher Art formuliert sind, der jeweilige Objektbereich durch algebraische Zusatzannahmen definiert wird. Die Zusatzannahmen bestimmen die Art der Kraft-Funktion .
Damit kommt Euler je nach Kraftfunktion auf unterschiedliche Differentialgleichungen, die zugleich den Gegenstandsbereich definieren: Punktmassen im Raum unter Einwirkung von Zentralkräften, Berücksichtigung von weiteren Reibungskräften, periodische Bewegungsabläufe usw.
So formuliert Euler auch die differentielle Keplergleichung als Folgerung aus allgemeinen Annahmen über die Zentripetalkraft. Euler deduziert die zentrale Differentialgleichung in der damals von Johann Bernoulli und John Keill eingeführten Darstellung durch eine Fußpunktkurve (engl. ‚pedal curve‘):
.
In der heutigen Fassung entspricht das einer Phasenraum-Darstellung, bestehend aus dem Größenpaar des zentralen Radius und des tangential gerichteten Bahnimpulses . Auf diese Weise vereinheitlicht Euler verschiedene Themengebiete der Mechanik durch algebraische oder analytische Umformulierungen.
Im zweiten Teil der Mechanica (1736) werden entsprechend Bewegungen des mathematischen Pendels untersucht, erstmals auch mit endlicher Amplitude.
Mechanik starrer Körper
Euler bemerkte, dass die damals allgemein akzeptierten Prinzipien der Mechanik nicht ausreichten, um das Problem der Bewegung eines starren Körpers in voller Allgemeinheit zu lösen. Der Drehimpulssatz (um eine raumfeste Achse) findet sich – implizit formuliert – bereits in Eulers Manuskript von 1734 zu seiner Mechanica sowie in seiner 1738 verfassten, aber erst 1749 publizierten Scientia navalis. Zum ersten Mal hergeleitet wurde der Drehimpulssatz (bezüglicher einer raumfesten Achse) für Systeme diskreter Massenpunkte in einer Abhandlung Eulers über die Bewegung der Mondknoten, die Euler 1744 der Berliner Akademie der Wissenschaften präsentierte und 1750 publizierte. Am 3. September 1750 las er vor der Berliner Akademie ein Mémoire, in dem er das Prinzip „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“ im Kontext der Eulerschen Gleichung der Starrkörper-Rotation als eigene und neue Entdeckung vorstellte. Jedoch erst 1775 publizierte Euler den Drehimpulssatz in seiner allgemein gültigsten Form als unabhängiges neues mechanisches Prinzip. Aus einer Idee Johann Bernoullis in dessen Werk Hydraulica und aus der Anwendung eines Schnittprinzips an einem infinitesimal kleinen Volumenelement gewann Euler den Impulssatz der Mechanik,
also das heute so geläufige „Kraft = Masse × Beschleunigung“, das auch als Grundgleichung der Translationsbewegung bekannt ist. Das Gesetz wird bis heute namentlich Newton zugeschrieben (als das 'Zweite Newtonsche Axiom'), findet sich in dieser Form dort aber nicht. Den differentiellen Charakter des Gesetzes für die drei räumlichen Dimensionen und seinen Unterschied zu den Gesetzen bei Drehbewegungen dargestellt zu haben (siehe unten den Eintrag zu 'Technische Mechanik') ist der Verdienst Eulers.
Strömungsmechanik
Historisch gesehen wurden im 18. Jahrhundert von Jean d’Alembert, Daniel Bernoulli, Alexis Clairaut und Joseph Lagrange beträchtliche Fortschritte in der theoretischen Strömungsmechanik erzielt. Unter diesen großen Mathematikern leistete Euler die grundlegendsten Beiträge zur Strömungsmechanik, indem er seine berühmten Bewegungsgleichungen, die Euler-Gleichungen der Strömungsmechanik, aufstellte.
Eulers Hauptwerk auf dem Gebiet der Strömungsmechanik beruhte im Wesentlichen auf der Kontinuumshypothese und den Newtonschen Bewegungsgesetzen. Seine Arbeit bildet die Grundlage der mathematischen Theorie der Strömungsmechanik, die von seiner Entdeckung der Variationsrechnung sowie partieller Differentialgleichungen umfasst war. Er leistete grundlegende Beiträge zur Hydrostatik und Hydrodynamik in der Zeit von 1752 bis 1761 und veröffentlichte 1757 mehrere wichtige Artikel in diesen Bereichen in der Mémories de l’Academie des Sciences de Berlin. Der erste dieser Artikel befasste sich mit den grundlegenden allgemeinen Konzepten, Prinzipien und Gleichgewichtsgleichungen von Flüssigkeiten. Die zweite und die dritte Arbeit beschäftigten sich im Wesentlichen mit der Massenerhaltungsgleichung (oder der Kontinuitätsgleichung) und den nichtlinearen Euler-Bewegungsgleichungen kompressibler Flüssigkeitsströmungen. Anschließend formulierte er die Bewegungsgleichungen und die Kontinuitätsgleichung für eine nichtviskose, inkompressible Flüssigkeitsströmung mit dem ersten Beweis des berühmten d’Alembertschen Paradoxons in einer nichtviskosen Flüssigkeitsströmung, die an einem starren Körper vorbeifließt.
Außerdem arbeitete Leonhard Euler in der Mechanik auf den Gebieten der Turbinengleichung und der Kreiseltheorie, in der er neben den Eulerschen Gleichungen die Euler-Winkel einführte. Er gilt als der Entwickler der weltweit ersten Wasserturbine. Eine Rekonstruktion der Eulerschen Turbine zeigte, dass ihr Wirkungsgrad von 71 % nur wenig unter dem moderner Turbinen (Stand 2015) liegt. Auch das technisch realisierbare Prinzip des Flügelradantriebs und der Schiffsschraube ist Euler zu verdanken.
Technische Mechanik
Die erste analytische Beschreibung der Knickung eines mit einer Druckkraft belasteten Stabes geht ebenfalls auf Euler zurück; er begründete damit die Stabilitätstheorie. Er half bei der Entwicklung der Euler-Bernoulli-Balkengleichung, die zu einem Eckpfeiler des Ingenieurwesens wurde.
Die zu den Grundlagen der Elastostatik gehörende Biegedifferentialgleichung vierter Ordnung in der Form
kann bereits in der Schrift Euler (1740) gefunden werden. Dabei sind w in der Bedeutung der Durchbiegung und q in der Bedeutung einer Streckenlast (‚differentiellen Querkraft‘) bereits in Eulers Original ersichtlich, und k, das heute allgemein das Produkt (Elastizitätsmodul mal Flächenmoment) bezeichnet, ist eine unbestimmte elastische Kraft.
Bemerkenswert ist, dass Euler in dieser und anderen Schriften aus der Phase seines Schaffens zwischen 1734 bis 1740 Resultate zur technischen Mechanik entwickelt, die aus einer neuen und verallgemeinerten Theorie des Schwingungsmittelpunktes entstanden sind. Der Übergang zu elastischen Kontinua wird dabei als Variationsaufgabe am starren Körper verstanden und informell umgesetzt.
Das gilt auch für eine detaillierte Auseinandersetzung mit mechanischen Problemen zur Verbesserung von Ankerwinden, die auch aus dieser früheren Phase der Veröffentlichungen stammt. In der für ihn typischen Herangehensweise, die rein technische Fragestellung auf das Grundlegende der physikalischen Prinzipien zu bringen, nahm Euler die Preisfrage der Pariser Académie des sciences von 1737 zum Anlass, um sich der technischen Verbesserung aller Einfachen Maschinen mit Drehwirkung zuzuwenden. Die mit dem zweiten Preis ausgezeichnete Auseinandersetzung Euler (1741) umfasst gleich mehrere Neuerungen für die damalige Mechanik:
das erste Auftreten der dynamischen Wellrad- oder Winden-Formel, einschließlich der Berücksichtigung von Reibungsverlusten.
auf der Grundlage dieser Formel eine umfassende Behandlung der Extremwert-Kriterien der Analysis zur technischen Realisierung der besten Maße einer Ankerwinde.
eine Beurteilung Eulers über den lückenhaften Zustand der damaligen Mechanik. Es ermangele ihr an zureichenden Prinzipien für die dynamische Beschreibung von Maschinen. Damit wandte Euler sich insbesondere momentaner Rotation in analytischen Begriffen zu.
eine allgemeine Untersuchung von Drehmomenten und ihr Zusammenhang zu dem von Euler so genannten ‚Moment der Materie‘, welches später das Trägheitsmoment bedeuten wird. Damit verbunden tritt erstmals die Grundgleichung der Drehbewegung als betragsmäßiges Gesetz „Drehmoment = Drehbeschleunigung × Trägheitsmoment“ auf, kurz
Die Schrift erklärt diesen Zusammenhang gleichfalls als ein neu entdecktes ‚Prinzip der Mechanik‘ und diskutiert die formal beachtliche ‚Analogie ‘ zum Grundgesetz der Translationsbewegung.
nicht zuletzt das Bekenntnis Eulers zu einem ganzheitlichen Bild von den Wissenschaften, an deren Spitze mathematische Erkenntnisse stehen.
Wenn nach Euler ein Unterschied zwischen Mathematik und ihren technischen Anwendungen bestehen würde, worauf auch manche Preisfragen der Königlichen Akademie hindeuten, so wäre dies ein künstlich hergestellter und ein für die Förderung des Zusammenhalts aller Wissenschaften unwesentlicher. Mechanik ist (nach damaligem Verständnis) angewandte Mathematik. Vielmehr sind die technischen Bereiche mit den theoretischen Methoden der Analysis und Geometrie zu verknüpfen, um in der technischen Konstruktion gesicherte Aussagen zu gewinnen. Eine technische Mechanik musste nach Eulers Verständnis zugleich auch allgemeine, mathematische Mechanik sein.
Zur letztgenannten Neuerung formuliert Euler:
Astronomie
Abgesehen von der erfolgreichen Anwendung seiner analytischen Werkzeuge auf Probleme der klassischen Mechanik wandte Euler diese auch in der Astronomie an – diese Arbeiten wurden im Laufe seiner Karriere durch eine Reihe von Preisen der Pariser Akademie anerkannt. Zu seinen Errungenschaften gehören die genaue Bestimmung der Bahnen von Kometen und anderen Himmelskörpern, das Verständnis der Natur von Kometen und die Berechnung der Sonnenparallaxe. Seine Berechnungen trugen zur Entwicklung präziser Längengradtabellen bei.
Nach Victor J. Katz gilt es als gesichert, dass Euler der erste Mathematiker in Europa war, der das Kalkül der trigonometrischen Funktionen systematisch durchdrang. Er tat dies in Arbeiten, die ab 1739 erschienen. Die Bedeutung der trigonometrischen Funktionen wurde ihm einige Jahre später bewusst, als er anstrebte, bestimmte Differentialgleichungen zu lösen, insbesondere lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten. Die im Nachhinein offensichtliche Tatsache, dass die Rechnung mit trigonometrischen Funktionen ein Schlüssel zum Verständnis „periodischer Phänomene“, einschließlich der Bewegungen von Planeten und Satelliten, ist, scheint für die Astronomen vor Euler nicht offensichtlich gewesen zu sein. Euler war der erste, der sich mit der Formulierung und Lösung des Störungsproblems beschäftigte – dem Schlüsselproblem, das formuliert und gelöst werden musste, wenn das Newtonsche Gravitationsgesetz als Grundlage für die Planeten- und Mondtheorie etabliert werden sollte.
Mit dem Kalkül der trigonometrischen Funktionen in der Hand konstruierte er eine Reihe von Mondtabellen. Diese wurden 1746 in seinem Opuscula varii argumenti veröffentlicht. Eulers erster Versuch, mit den planetarischen Störungen fertig zu werden, erfolgte als Reaktion auf den Preiswettbewerb der Pariser Akademie von 1748. Der Preis wurde ausgeschrieben für „eine Theorie von Jupiter und Saturn, die die Ungleichheiten erklärt, die diese Planeten in ihren Bewegungen gegenseitig zu verursachen scheinen, insbesondere über den Zeitpunkt ihrer Konjunktion“. Newton hatte in seiner Principia von „einer Störung der Umlaufbahn des Saturn in jeder Konjunktion dieses Planeten“ geschrieben, „die so empfindlich ist, dass die Astronomen darüber ratlos sind“. Als Reaktion auf die Ankündigung des Preisausschreibens der Pariser Akademie für 1748 schrieb Euler zwei Memoiren, die beide Mitte 1747 fertiggestellt wurden. In der ersten, die Euler der Berliner Akademie vorlegte, leitete er die Differentialgleichungen für das Problem der Störungen ab. Die zweite, eine Ableitung der Störungen des Saturn durch Jupiter, wurde im Wettbewerb eingereicht und mit dem Preis ausgezeichnet, obwohl Euler es versäumte, die scheinbare Verlangsamung des Saturn oder die Beschleunigung des Jupiter zu erklären. Eulers Preisaufsatz überzeugte mit den innovativen Methoden, die er zur Bewältigung planetarischer Störungen einführte.
Optik
In der Optik veröffentlichte er Werke zur Wellentheorie des Lichts und zur Berechnung von optischen Linsen zur Vermeidung von Farbfehlern. Er widersprach Newtons Korpuskeltheorie des Lichts in den Opticks, die damals vorherrschend war. Seine Arbeiten zur Optik aus den 1740er Jahren trugen dazu bei, dass die von Christiaan Huygens vorgeschlagene Wellentheorie des Lichts zur vorherrschenden Denkweise wurde, zumindest bis zur Entwicklung der Quantentheorie des Lichts.
Fast die Mehrzahl von Eulers Schriften zur Optik, im ganzen sieben aus fünfzehn, sind Fragen der Dispersion gewidmet. Dabei beschäftigte ihn unter anderem wiederholt die Frage, ob Rot oder Violett die größere Frequenz hat. Euler wechselte diesbezüglich seine Ansicht dreimal, jedes Mal auf Grund einer theoretischen Betrachtung, zu der ihn ein neues Experiment, von dem er hörte, veranlasst hatte. In der Nova theoria hatte noch Rot die größte Frequenz, in zwei späteren Arbeiten korrigierte er diese Ansicht unter anderem auf Grund seiner Theorie der Beobachtungen von Farben dünner Schichten. Dann aber wird er durch eine Betrachtung über die Elastizität von Metalllamellen wiederum auf die erste, falsche Ansicht zurückgeführt, um dann schließlich zur richtigen zurückzukehren.
Ballistik
1745 übersetzte Euler das Werk New principles of gunnery des Engländers Benjamin Robins ins Deutsche. Es erschien im selben Jahr in Berlin unter dem Titel Neue Grundsätze der Artillerie enthaltend die Bestimmung der Gewalt des Pulvers nebst einer Untersuchung über den Unterscheid(sic) des Wiederstands(sic) der Luft in schnellen und langsamen Bewegungen. Seit Galilei hatten die Artilleristen die Flugbahnen der Geschosse als Parabeln angesehen, wobei sie den Luftwiderstand für vernachlässigbar hielten. Robins hat als einer der ersten Experimente zur Ballistik ausgeführt und gezeigt, dass die Flugbahn durch den Luftwiderstand wesentlich beeinflusst wird. Somit wurde dank Robins und mit Eulers Hilfe „das erste Lehrbuch der Ballistik“ geschaffen. Es wurde zum Beispiel in Frankreich (in französischer Übersetzung) als offizielles Lehrbuch in den Militärschulen eingeführt. Napoleon Bonaparte musste es als Leutnant studieren.
Schiffbau
Weniger bekannt sind Eulers Arbeiten zum Stabilitätskriterium von Schiffen, in denen er das bereits erworbene, aber wieder verlorengegangene Wissen von Archimedes erneuerte. Die Scientia navalis, das bis weit ins 19. Jahrhundert vorgreifende Hauptwerk über das Schiffsingenieurwesen, erschien während der ersten Berliner Jahre.
Der erste Band definiert allgemeine Prinzipien der Hydrostatik und errichtet die erste Theorie der Trägheitsmomente ausgedehnter Körper, auf deren Grundlage das Stabilitätskriterium für Schiffsschwingungen analysiert wird. Im Ergebnis stimmen Eulers Ansatz über so genannte „rückführende Momente“,
und Bougers Ansatz über die Schwingung um das so genannte Metazentrum überein.
Algebra
In der Algebra beschäftigte sich Euler unter anderem mit der expliziten Gestalt von Einheitswurzeln. Diese treten als Lösungen der Gleichungen auf. Im 18. Jahrhundert galt es als wegweisende Problemstellung, die Lösungen dieser Gleichungen algebraisch geschlossen durch „Radikale“ auszudrücken. Auch Euler hatte in diesem Bereich Erfolge und löste die Einheitsgleichungen bis . Als technisch besonders schwierig gilt hierbei das Verfahren für , das die Lösungen in Termen von Quadrat- und Kubikwurzeln ausdrückt.
Euler studierte intensiv Diophantische Gleichungen der Form und , wobei ganzzahlig sind und keine Quadratzahl ist. In größerer Allgemeinheit untersuchte er Gleichungen des Typs
bei denen die Diskriminante keine Quadratzahl ist.
Euler arbeitete Näherungsmethoden für die Lösung numerischer Gleichungen aus und bearbeitete ferner – wahrscheinlich von Daniel Bernoulli angeregt – das Eliminationsproblem. So gelang ihm ein Beweis des bereits Newton bekannten Satzes, dass zwei algebraische Kurven vom Grad m bzw. n höchstens mn Schnittpunkte haben können. In diesem Zusammenhang gelangte er zum wichtigen Begriff der Resultante. In den beiden Abhandlungen E147 und E148 vom Jahre 1750 gab Euler eine stichhaltige Erklärung des sogenannten Cramerschen Paradoxons.
1770 brachte er das Buch Vollständige Anleitung zur Algebra heraus. Er erarbeitete eine Methode zur Lösung von quartischen Gleichungen. Euler bemerkte ebenfalls, dass sich quintische Gleichungen im Allgemeinen nicht mehr durch Radikale (also geschlossene Verkettungen von Wurzelausdrücken) auflösen lassen. Dieses Resultat wurde jedoch erst später durch Niels Henrik Abel und Évariste Galois bewiesen.
Logik
Euler wird auch die Verwendung geschlossener Kurven zur Veranschaulichung der syllogistischen Argumentation zugeschrieben. Diese Diagramme sind als Euler-Diagramme bekannt geworden. In den Briefen 101 bis 108 (an eine deutsche Prinzessin), die im Februar und März 1761 verfasst wurden, werden die heute als Venn-Diagramme bezeichneten Diagramme vorgestellt, obwohl das eine falsche Bezeichnung ist. Diagramme für mathematische Darstellungen in der Logik tauchten in einigen Abhandlungen des achtzehnten Jahrhunderts zu diesem Thema auf, und es ist möglich, dass Johann Heinrich Lambert sie kurz vor Eulers Briefen verwendete. In den Briefen 101 und 102 betonte Euler die Notwendigkeit einer disziplinierten Sprache bei der Darstellung allgemeiner Ideen und ihrer Erweiterung; er verwendete Kreise in Diagrammen, um verschiedene Formen von Syllogismen und hypothetischen Propositionen zu erklären.
Ein Euler-Diagramm ist ein diagrammatisches Mittel zur Darstellung von Mengen und ihren Beziehungen. Euler-Diagramme bestehen aus einfachen geschlossenen Kurven (normalerweise Kreisen oder auch Ellipsen) in der Ebene, die jeweils Mengen darstellen. Jede Eulerkurve teilt die Ebene in zwei Bereiche oder „Zonen“: den inneren Bereich, der symbolisch die Elemente der Menge einschließt und darstellt, und den äußeren Bereich, der alle Elemente darstellt, die nicht zur Menge gehören (Komplement). Die Größen oder Formen der Kurven spielen dabei keine Rolle. Das Diagramm soll lediglich veranschaulichen, wie sie sich überlappen. Die räumlichen Beziehungen zwischen den von jeder Kurve begrenzten Bereichen (Überlappung, Eingrenzung oder keines von beiden) entsprechen mengentheoretischen Beziehungen (Schnittmenge, Teilmenge und Disjunktheit). Kurven, deren innere Zonen sich nicht schneiden, stellen disjunkte Mengen dar. Zwei Kurven, deren innere Zonen sich schneiden, repräsentieren Mengen, die gemeinsame Elemente haben (nicht-leere Schnittmenge): Die Zone innerhalb beider Kurven stellt dabei die Menge der Elemente dar, die beiden Mengen gemeinsam sind. Eine Kurve, die vollständig im Bereich einer anderen enthalten ist, stellt eine Teilmenge dieser dar.
Euler-Diagramme (und die allgemeineren Venn-Diagramme) wurden ab den 1960er Jahren im Zuge der Neuen Mathematik als Teil des Unterrichts in der Mengenlehre aufgenommen.
Kartographie und Geodäsie
Großes Interesse legte Euler für astronomisch-geodätische und kartographische Fragen an den Tag, für deren Lösung bei der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf Joseph-Nicolas Delisles Anregung eine neue wissenschaftliche Institution ins Leben gerufen wurde – das sogenannte Geographische Departement. Euler war dort als Delisles Helfer eine Reihe von Jahren tätig. Der Einblick in verschiedene Dokumente dieses Departements, vor allem in die Protokolle, brachte viele Einzelheiten über Eulers Tätigkeit auf dem Gebiet der Geodäsie und Kartographie zutage. So konnte z. B. festgestellt werden, dass Eulers Anstellung im Geographischen Departement durchaus seinen Wünschen und wissenschaftlichen Neigungen entsprach. Eulers erste Arbeit war die vom Senat angeforderte Karte von Russlands europäischen Grenzen. Am 2. September beriet sich Euler mit Delisle darüber, wie eine solche Karte am besten zu konstruieren sei. Euler beendete die Karte der europäischen Grenzen Russlands am 6. September 1736. Erst am 14. Oktober 1736 war die von Euler und Delisle gemeinsam begonnene Karte, nach Korrekturen des Adjunkten Wassili Jewdokimowitsch Adodurow, endgültig fertiggestellt.
Mathematische Musiktheorie
Auch im Bereich der Musik beruhten Eulers Gedanken hauptsächlich auf der Mathematik: Er begründete eine auf mathematischen Gesetzen aufbauende Musiktheorie (unter anderem Tentamen novae theoriae musicae, 1739, Music mathématique, Paris 1865). Sein Modell des Tonnetzes wird noch heute bei Berechnungen zur reinen Stimmung verwendet. Obwohl seine Schriften über Musiktheorie nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausmachen (einige hundert Seiten, bei einer Gesamtproduktion von etwa dreißigtausend Seiten), spiegeln sie dennoch ein bereits früh gewecktes Interesse wider, das ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr verlassen hat.
Zum Verständnis von Eulers Musiktheorie muss bekannt sein, dass musikalische Intervalle in der sog. reinen Stimmung mit den Tonstufen Oktave, Quinte, Quarte und große Terz entsprechend den Frequenzverhältnissen 1:2, 2:3, 3:4 bzw. 4:5 zum Grundton aufgebaut werden. Im Gegensatz dazu steht die heute meist gebräuchliche gleichstufige Stimmung (wohltemperiert), bei der zwei Töne eines Halbtons stets das exakte Frequenzverhältnis haben.
Der Musikwissenschaftler Martin Vogel stellt fest: „Eine durchaus brauchbare und für die Praxis geeignete Konsonanzgradberechnung wurde von Leonhard Euler aufgestellt.“ Er fährt fort, „daß ihre Ergebnisse mit den tonpsychologischen Testen weitgehend übereinstimmen. Für die praktische Arbeit des Komponierens und des Analysierens lassen sich aus ihr wichtige Folgerungen gewinnen“. „Euler geht davon aus, daß der Mensch in einer geordneten Welt leben will und daß das nicht gar zu anstrengende Erfassen dieser Ordnung sein Wohlbefinden steigert. … Euler folgerte weiter: Je einfacher ein Verhältnis sei, durch je kleinere Zahlen es ausgedrückt werde, desto deutlicher könne es wahrgenommen werden und desto angenehmer sei seine Wirkung.“ Euler versucht nun, diese Einfachheit genauer zu definieren und so in mathematische Formeln zu fassen, dass es dem Höreindruck möglichst gut entspricht. Dabei verwendet er Primzahltheorien.
Zunächst definiert Euler für Konsonanzen, d. h. Zusammenklänge, einen „Grad“. Dieser soll die „Schwierigkeit“ eines Zusammenklangs von Tönen mathematisch erfassen. Ein niedriger Grad spricht dabei für einen „annehmlichen“ – ein hoher Grad für einen „unannehmlichen“ Klang. Als Funktion verwendete Euler den Gradus suavitatis („Grad der Lieblichkeit, der Verträglichkeit“) , der rein abstrakt als eine zahlentheoretische Funktion interpretiert werden kann: Für eine natürliche Zahl n mit Primfaktorzerlegung ist er definiert durch
Der Gradus suavitatis stellt somit eine Bewertung der Primfaktorzerlegung natürlicher Zahlen dar und ist umso größer, je größer die auftretenden Primzahlen und je größer deren Exponenten sind. Zweiklänge werden nun wie folgt gradiert: Für das Verhältnis a:b, wobei bereits vollständig gekürzt wurde, d. h., a und b sind teilerfremd, setzt man
Euler nennt die Zahl (das kleinste gemeinsame Vielfache von a und b), den Exponenten von a:b. Damit hat zum Beispiel die reine Quinte einen Grad von 4, denn es gilt . Dieses Prinzip lässt sich auf beliebige Akkorde erweitern, indem das kgV des Gesamtklangs verwendet wird. Für einen Dreiklang a:b:c, wobei a, b und c jeweils teilerfremd sind, hat man zum Beispiel . Eulers Argumente erklären zum Beispiel, warum ein Dur-Dreiklang (wie C-E-G, im Verhältnis 4:5:6) „fröhlicher“ klingt als ein Moll-Dreiklang (E-G-H, im Verhältnis 10:12:15). In seinem Schema hat der Dur-Dreiklang den neunten und der Moll-Dreiklang den vierzehnten Grad – der Moll-Dreiklang ist daher „trauriger“, weil „Freude durch die Dinge, die eine einfachere, leichter wahrnehmbare Ordnung haben, und Traurigkeit durch die Dinge, deren Ordnung komplexer und schwieriger wahrnehmbar ist“ vermittelt wird. Euler benutzte also das Prinzip des Exponenten, um eine Ableitung des Gradus suavitatis von Intervallen und Akkorden aus ihren Primfaktoren vorzuschlagen – man muss sich vor Augen halten, dass er dabei zunächst nur das Quint-Terz-System, d. h. die 1, die 2 und die Primzahlen 3 und 5, berücksichtigte. Die oben erwähnte Gradusfunktion, die dieses System auf beliebig viele Primzahlen ausdehnt, wurde später vorgeschlagen.
Zu den Ergebnissen dieser Berechnungen konstatiert Vogel: „Mit den gängigen Intervallvorstellungen stimmt Eulers System nicht voll überein. Wer sich aber klar macht, wie diese Vorstellungen sich herausbildeten und wie schlecht fundiert die Theorie ist, auf die sie sich stützen, wird sich sagen, daß es eigentlich nicht anders sein kann, daß ein neuer Ansatz, der uns weiter bringen soll, nicht gleich in die alten Gleise einmünden darf. Eulers Grade entsprechen nicht durchweg den allgemeinen Vorstellungen, sie entsprechen aber recht gut dem Höreindruck.“
Während die konventionelle Musiktheorie oftmals von einer klaren Grenze zwischen konsonanten und dissonanten Intervallen ausgeht, ergeben sich bei Euler nur noch graduelle Unterschiede, also feine Abstufungen zwischen verschiedenen Graden der Verschmelzung der beiden gleichzeitig erklingenden Töne. Damit nimmt er ein wichtiges Prinzip der Neuen Musik, z. B. von Schönberg, vorweg, wo die prinzipielle Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz nicht mehr gilt.
Im Kapitel „Eulers Grenzen“ versucht Vogel plausibel zu machen, dass die Anwendung von Eulers Formeln auf drei- und mehrstimmige Akkorde zu keinen sinnvollen Ergebnissen führt. Dagegen betont Vogel für zweistimmige Akkorde (= Intervalle): „Im praktischen Umgang mit Intervallen erweist sich Eulers Einstufung jedoch als außerordentlich brauchbar. Diese Feststellung betont die praktische Seite. Die theoretische Begründung wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“
Eulers Konsonanztheorie bedarf aber der Ergänzung durch seine Substitutionstheorie: Beim Hören von Musik, deren Intonation vom Ideal leicht abweicht, nehmen wir seiner Meinung nach in unserer inneren Vorstellung nach Möglichkeit nicht die Tonhöhen wahr, die tatsächlich erklingen, sondern diejenigen, die unserem Ideal eher entsprechen würden. „Das Ohr hört zurecht. Das Ohr hört ökonomisch. Es hört die dargebotenen Intervalle im Sinne der einfachsten Verhältnisse zurecht. Das Ohr erkennt das eigentlich gemeinte Intervall, so wie das Auge im Geometrieunterricht an der Tafel ein rechtwinkliges Dreieck hinnimmt und zurechtsieht, auch wenn sein Winkel nicht exakt ein rechter ist.“ Damit wird ein Vorwurf entkräftet, dem Eulers Konsonanzgrad-Berechnungen oftmals begegnen: „Eulers Lehre von den Schwingungsrhythmen ist oft mit dem billigen Einwand abgetan worden, daß dann eine leichte Verstimmung genüge, um aus der reinsten Konsonanz die rauheste Dissonanz werden zu lassen. Statt einer reinen Quinte 300/200 brauche man nur eine Verstimmung von 301/200 anzunehmen, um ein nicht mehr apperzipierbares Verhältnis zu erhalten. Einem solchen Einwand hat Euler, was seinen Kritikern meist nicht bekannt ist, mit seiner Substitutionstheorie vorgebeugt. Es sei genügend bewiesen, daß sich das geistig erfaßte Tonverhältnis oftmals von dem akustisch gegebenen Verhältnis unterscheide. In solchen Fällen sei die apperzipierte Proportion einfacher als die wirkliche. Die Differenz sei so klein, daß sie der Wahrnehmung entgehe. Das Ohr sei daran gewöhnt, als ein einfacheres Zahlenverhältnis gelten zu lassen, was nur wenig davon abweiche.“
„Eulers These vom Zurechthören im Sinne der einfachsten Verhältnisse ist aber kein Freibrief für unreines Musizieren und schlechte Intonation. Euler läßt keinen Zweifel daran, daß ein möglichst hoher Grad an Reinheit anzustreben sei. Je leichter die Intervalle erfaßbar seien, desto weniger ermüde das Ohr und desto größer sei auch der Musikgenuß.“
Das Prinzip des Zurechthörens liegt auch der Verwendung von temperierten Stimmungssystemen zugrunde, wie sie in der Musik oftmals verwendet werden, und zwar insbesondere bei Tasteninstrumenten.
Ein weiterer Ansatz von Eulers Musiktheorie ist die Definition sog. „Gattungen“, d. h. von möglichen Unterteilungen einer Oktave durch die Primzahlen 3 und 5. Diese repräsentieren aufeinanderfolgende Töne, die gewissen Frequenzverhältnissen folgen, und sind demnach Tonleitern. Euler beschreibt 18 solcher Gattungen, aufbauend auf den Primzahlen 3 und 5. Dabei wird wie folgt verfahren: Jedes Produkt beschreibt eine Folge von Vielfachen einer Grundfrequenz – dabei werden alle möglichen Teiler von genommen. Für hat man zum Beispiel die Verhältnisse 1:1, 1:2, 1:3, 1:5, 1:6, 1:10, 1:15, 1:30. Da die Zahl 2 jedoch (bis auf Oktave) nichts an den vorkommenden Klängen ändert (eine Frequenzverdopplung definiert einen Oktavsprung), spielt die Zweierpotenz keine Rolle für die Gattung.
Euler stellte seine Gattungen in kompakten Tabellen vor, die musikalische und mathematische Notationen visuell nebeneinander stellen. Er zeigte damit, wie wichtig ihm beide waren und wie er versuchte, sie zusammenzubringen:
Dieses Prinzip wurde von Adriaan Fokker weiterentwickelt. Beispielsweise lässt sich der Fall innerhalb einer Oktave auf die folgenden Verhältnisse normieren: 1:1, 8:9, 16:21, 2:3, 4:7, 32:63.
Die Gattungen 12 (bei Euler ), 13 (bei Euler ) und 14 (bei Euler ) sind korrigierte Versionen der diatonischen, chromatischen bzw. enharmonischen Versionen aus dem Altertum. Die 18. Gattung () ist die „diatonisch-chromatische“, „die allgemein in allen Kompositionen verwendet wird“, und die sich als identisch mit dem von Johann Mattheson beschriebenen System erweist. Euler sah später noch die Möglichkeit, Gattungen einschließlich der Primzahl 7 zu beschreiben. Euler entwickelte ein spezielles Diagramm, das Speculum musicum, um die diatonisch-chromatische Gattung zu veranschaulichen, und erläuterte die Wege in diesem Diagramm für bestimmte Intervalle, was an sein Interesse an der Graphentheorie, im Besonderen der Sieben Brücken von Königsberg, erinnert. Das Konzept erregte erneut Interesse als Tonnetz in der Neo-Riemannschen Theorie (Neo-Riemannian Theory), benannt nach dem Musiktheoretiker Hugo Riemann.
Populäre Darstellungen und Themen
Besondere Bedeutung in der breiten Öffentlichkeit erlangte Eulers populärwissenschaftliche Schrift Lettres à une princesse d’Allemagne von 1768, in der er in Form von Briefen an die Prinzessin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte Friedrichs II., die Grundzüge der Physik, der Astronomie, der Mathematik, der Philosophie und der Theologie vermittelte. Euler begann den ersten Brief mit einer Erklärung des Begriffs „Größe“ (la grandeur). Ausgehend von der Definition eines Fußes definierte er die Meile und motivierte die unterschiedlichen Maße durch praktische Beispiele. So sei es besser, den Abstand zwischen Berlin und Magdeburg mit 18 Meilen (in einer Übersetzung ist von 83 Englischen Meilen die Rede) statt 432.000 Fuß (43,824 feet) zu beziffern. Spätere Briefe beinhalteten Optik, Magnetismus, Elektrizität, aber auch Astronomie. Unter anderem schätzte Euler die Entfernung von Erde und Sonne auf „trente Millions de Milles“ (dreißig Millionen Meilen).
Die ersten beiden Bände der 234 ursprünglich in Französisch verfassten Briefe erschienen 1768 in Sankt Petersburg und der dritte 1774 in Frankfurt. Die Briefe wurden später in Paris nachgedruckt, der erste Band 1787, der zweite 1788 und der dritte 1789. Die erste Ausgabe der 1787 in Paris veröffentlichten Lettres enthielt Eloge de M. Euler, einen sechsunddreißigseitigen Nachruf verfasst von Marquis de Condorcet, der dem Leser biografische Skizzen und Höhepunkte von Eulers Karriere bot. Obwohl Euler die Briefe auf Französisch verfasst hat, gilt es als gesichert, dass Condorcet einige redaktionelle Änderungen vorgenommen hat, da der Text vom Original abweicht.
Euler widmete sich zusätzlich Aufgaben der Schachmathematik, zum Beispiel dem Springerproblem. Dieses behandelt die Frage, ob es möglich ist, dass die Springer-Schachfigur jedes Feld eines Schachbretts bei einem Rundlauf genau einmal passieren kann. Euler erwähnte das Problem bei einem Brief an Christian Goldbach im Jahre 1757. In den Jahren 1758–1759 verfasste er schließlich eine Arbeit über die Thematik, die 1766 in den Berliner Mémoires veröffentlicht wurde.
Er gilt als Erfinder des griechisch-lateinischen Quadrats, einer Vorform des Sudoku. Hierbei handelt es sich (bei Ordnung n) um ein quadratisches nxn-Schema, in dessen Felder Elemente zweier (n-elementiger) Mengen so eingetragen sind, dass in jeder Spalte und Zeile genau ein Exemplar jedes Elements auftaucht. Beispiele sind:
In seiner Arbeit Recherches sur une nouvelle espece de quarres magiques gibt Euler hunderte Beispiele solcher Quadrate und beschäftigt sich auch mit Quadraten, deren Diagonalen die geforderte Eigenschaft erfüllen. Am Ende behauptet er, ohne jedoch einen rigorosen Beweis vorzulegen, dass kein griechisch-lateinisches Quadrat der Größe 4k + 2 konstruiert werden kann. Erst um 1960 wurde gezeigt, dass sich Euler geirrt hatte. Es existieren stets griechisch-lateinische Quadrate, mit Ausnahme der Ordnungen 2 und 6. Für die algebraisch-algorithmische Konstruktion wurde u. a. auf Gruppentheorie, endliche Körper, projektive Geometrie und Blockpläne zurückgegriffen.
Aufarbeitung des archivierten Nachlasses
Posthumer Publikationsprozess
Nach Eulers Tod veröffentlichte die Akademie von Sankt Petersburg bisher nicht erschienene Arbeiten Eulers in ihren Mémoires posthum. Wegen der großen Zahl an Dokumenten (in etwa 100 Aufsätze) wurde der Publikationsprozess erst 1830 für abgeschlossen erklärt. Doch es stellte sich bald heraus, dass Euler noch weitere Arbeiten verfasst hatte. Nachdem Paul Heinrich von Fuss als Nachfolger seines Vaters 1825 Sekretär der Sankt Petersburger Akademie geworden war, durchforschte er deren Archive und fand einige Pakete aus dem Briefwechsel Eulers u. a. mit den Bernoullis. Aus diesem erwuchs ein Verzeichnis über die Korrespondenzen in zwei Bänden unter dem Titel Correspondance mathématique et physique de quelques céleèbres géomètres du XVIIIème siècle. Diesem wurde eine Auflistung der Eulerschen Schriften beigefügt. Nachdem das Verzeichnis von Fuss’ Vater Nikolaus noch nicht 700 Nummern enthielt, wurde dieses nun auf 756 ergänzt. Für die weitere Vervollständigung wurden die Archive erneut durchsucht und man brachte ein noch nicht veröffentlichtes Werk unter dem Titel Astromania mechanica hervor.
Veröffentlichung eines Gesamtwerkes
Erste Versuche im 19. Jahrhundert
Die ersten Versuche, Eulers Gesamtwerk zu veröffentlichen, gehen auf die 1830er Jahre zurück. Es gab im Wesentlichen zwei Initiativen. Eine davon wurde von Paul Heinrich Fuss ins Leben gerufen. Obwohl Fuss von vielen prominenten Mathematikern, darunter Carl Gustav Jacobi, ermutigt wurde, wurde das Projekt schließlich aufgegeben, als sich herausstellte, dass es die finanziellen Möglichkeiten des Budgets der Akademie übersteigen würde. Das einzige Ergebnis der Initiative von Fuss und Jacobi war die Veröffentlichung von zwei Bänden der Commentationes arithmeticae im Jahr 1849, die 94 bereits veröffentlichte Artikel und fünf unveröffentlichte Manuskripte umfassen.
Zur gleichen Zeit unternahm eine Gruppe belgischer Mathematiker ein ähnliches Projekt. Sie waren insofern erfolgreicher als Fuss und Jacobi, als dass fünf Bände dieser Ausgabe tatsächlich gedruckt wurden. Diese Ausgabe wurde scharf kritisiert, insbesondere von dem belgischen Mathematikhistoriker Henri Bosmans, der sie als „sehr schlechtes Werk“ bezeichnete. In der Absicht, Eulers Werke einem großen Teil der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatten die Herausgeber die Originaltexte teils willkürlich abgeändert, auch wenn das Original bereits in Französisch verfasst war. Als treibender Motor der Herausgeber wird die einfache Zugänglichkeit durch andere Mathematiker gesehen, auf die das Werk noch heute „stimulierend wirken“ sollte.
Beginn des 20. Jahrhunderts
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts startete die Russische Akademie der Wissenschaften mit dem Auftakt des zweihundertsten Jahrestages von Eulers Geburtstag eine neue Initiative zur Veröffentlichung von Eulers Gesamtwerk. Angesichts des Scheiterns früherer Versuche suchten die Russen nach Verbündeten, mit denen sie sich Arbeit und Kosten teilen konnten; die Institution, die ihnen in Bezug auf Euler in den Sinn kam, war die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, in deren Dienst Euler 25 Jahre lang gestanden hatte. Die Berliner Akademiker waren anfangs von diesem Plan ziemlich begeistert. Aber als sich herausstellte, dass die Russische Akademie die Aufgabe auf Veröffentlichung des mathematischen und physikalischen Korpus aufteilen, und ersteren für sich beanspruchen wollte, schwand die Begeisterung. Die Preußische Akademie bat den angesehensten Physiker unter ihren Mitgliedern, Max Planck, um eine Einschätzung des Vorschlags. In einer berühmten Erklärung sagte Planck, dass es vielleicht stimmt, dass sich Mathematiker immer noch von Eulers Schriften inspirieren lassen, aber dass dies nicht im gleichen Maße auf Physiker zuträfe. Er vermutete, dass die Veröffentlichung von Eulers physikalischen Schriften „nicht im Interesse der Physik als Wissenschaft unserer Zeit“ liege und lehnte deshalb eine Beteiligung der Preußischen Akademie an der Finanzierung des Projekts ab. Da eine Gesamtausgabe für die Russische Akademie zu teuer war, endete auch diese Initiative mit einem Misserfolg.
Gustaf Eneströms Euler-Verzeichnis
In den Jahren 1910 bis 1913 legte der schwedische Mathematiker Gustaf Eneström ein Verzeichnis an, das alle Eulerschen Werke auflistet. Dieses weist 866 Nummern auf, die nach dem Prinzip E001, …, E866 geordnet sind.
Gründung der Euler-Kommission und die Opera omnia
Nach den gescheiterten Versuchen im 19. Jahrhundert war der 200. Geburtstag von Leonhard Euler im April 1907 für die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft der Anlass, erneut eine Gesamtausgabe von Eulers Veröffentlichungen in Angriff zu nehmen. Die Initiative war von dem Mathematiker Ferdinand Rudio ausgegangen, der am Zürcher Polytechnikum (der heutigen ETH Zürich) Professor für Mathematik war. In einer flammenden Rede bei der Feier zu Eulers 200. Geburtstag, die in Anwesenheit zahlreicher ausländischer Gelehrter in Basel stattfand, appellierte Rudio mit Geschick an den Schweizer Patriotismus und die internationale Solidarität: Für Eulers Heimatland „sei die Herausgabe seiner Werke eine Ehrenpflicht“, aber die Schweiz „brauche dazu die Unterstützung der beiden Länder, in denen Euler zu Ruhm und Ehre gekommen sei“, Deutschlands und Russlands:
Rudios Worte stießen überall auf starke Resonanz. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft setzte eine Euler-Kommission ein, die das Unternehmen durchführen sollte, und Rudio wurde zu deren Präsident gewählt. Die erste Aktion der jungen Kommission war ein Spendenaufruf. Ein Versprechen zur weiteren finanziellen Unterstützung kam außerdem von der Petersburger Akademie. Diese bot zudem an, „alle in ihren Archiven befindlichen Materialien, die zur bestmöglichen Ausführung des Unternehmens nötig sein sollten, zur Verfügung zu stellen“. So gelangte von 1910 bis 1912 in sieben Kisten der gesamte Euler-Nachlass als Diplomatenpost über die russische Botschaft in die Schweiz. Obwohl die Arbeit (unterstützt von bedeutenden Mathematikern wie Alexander Ljapunow) zunächst zügig voranging, wurde die Euler-Kommission durch die politischen Zerwürfnisse in Europa in Mitleidenschaft gezogen. Gegen das kommunistische System der Sowjetunion bestanden in der Schweiz erhebliche Vorbehalte, und zwischen 1918 und 1946 gab es zwischen den beiden Staaten keinerlei diplomatische Beziehungen. Trotzdem standen die Wissenschaftler weiterhin in erschwerter Verbindung. Während eine Bitte vom 28. Mai 1921 um Zeitaufschub wegen „kriegsbedingter Probleme“ von russischer Seite noch akzeptiert wurde, forderte die Petersburger Akademie 1930 die Manuskripte wieder zurück. Die Euler-Kommission weigerte sich, dieser Bitte nachzugehen, was einen regen Briefwechsel auslöste. Die Schweizer Seite versuchte zunächst mit unterschiedlichen Argumenten, die Rückgabe der Manuskripte immer wieder hinauszuzögern. Im Juli 1930 erklärte sich die sowjetische Akademie damit einverstanden, dass die Manuskripte noch „für einige Zeit“ in Zürich bleiben und bat um einen genauen Zeitplan für die Edition der ausstehenden Bände. Nachdem der Anfrage aus Russland, zumindest diejenigen Manuskripte zurückzugeben, die nicht mehr benötigt würden, von Andreas Speiser nicht nachgegeben wurde, wurde der Ton schärfer. So setzte die sowjetische Akademie am 5. Juni 1933 selbst eine Frist fest:
Obwohl die Kommission diesen Vorgaben zunächst zustimmte, musste sie bereits im nächsten Jahr feststellen, dass der Zeitplan nicht einzuhalten war. In einem erfolglosen Appell an Giuseppe Motta, den Leiter des Politischen Departements der Schweiz, schrieb Speiser, dass „diese Herausgabe […] mindestens zwanzig Jahre in Anspruch nehmen“ dürfte. Aufgrund weiteren Drucks aus Russland begann man nun zusätzlich mit dem Anfertigen von Abschriften und außerdem Photographien. Dies war 1938 abgeschlossen. Die endgültige Übergabe der Dokumente erfolgte jedoch erst am 15. Mai 1947 in Zürich. Die Euler-Kommission machte sich erfolgreich um die Veröffentlichung der Opera Omnia verdient.
Von den 81 vorgesehenen Bänden in vier Reihen sind mittlerweile (Stand 2018) 76 erschienen. Series I (Mathematik: 29 Bände) und Series III (Physik, Varia: 12 Bände) sind vollständig, von den 31 Bänden der Series II (Mechanik, Astronomie) stehen noch zwei aus (II/26 und II/27 zur Himmelsmechanik), die frühestens im Laufe des Jahres 2019 inhaltlich abgeschlossen werden sollten. In der Series IVA (Briefwechsel) sind von den 9 geplanten Bänden bisher 8 erschienen, darunter die beiden Doppelbände IVA/3 und IVA/4. Die Vernissage des neuesten Bandes IVA/8 war am 23. November 2018. Der letzte Band IVA/9 wird von einer Gruppe von Historikern unter der Leitung von Antonio Moretto bearbeitet.
Weitere Veröffentlichungen von 1950 bis 1980 in der Sowjetunion
Als der Euler-Nachlass nach Russland in das Archiv der Leningrader Akademie zurückkam, erhielten sowjetische Wissenschaftler neue Möglichkeiten für umfangreiche Forschungen und nutzten diese Gelegenheit energisch. Im Jahr 1958 berichteten Gleb K. Michailow (geb. 1929) und Wladimir Iwanowitsch Smirnow (1887–1974) erstmals über diese Aktivitäten. Außerdem wurde 1962 und 1965 in zwei Bänden eine sehr ausführliche, aber nicht kommentierte Liste des im Archiv der Akademie aufbewahrten Euler-Materials veröffentlicht. Der erste Band enthält eine Liste von 2.268 Briefen von und an Euler (ohne Annotationen), die im Petersburger Archiv aufbewahrt werden. Seit den 1950er Jahren widmete die Sowjetische Akademie und nun auch die Russische Akademie der Wissenschaften der Erschließung und Bearbeitung der Korrespondenz Leonhard Eulers, die in den ursprünglichen Plänen der Opera omnia Euleri nicht enthalten war, besondere Aufmerksamkeit. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erschien die allgemeine Korrespondenz in drei Bänden und die Korrespondenz zwischen Euler und Christian Goldbach wurde veröffentlicht. 1963 erschien ein Band mit ausgewählten wissenschaftlichen Briefen, die Euler an 19 (junge) Wissenschaftler schrieb (alle Briefe wurden ins Russische übersetzt). Eine Liste von Eulers Briefen wurde in russischer Sprache von Adolf Pavlovič Jušskevič (1906–1993) und Vladimir Ivanovič Smirnov herausgegeben, die alle bekannten Briefe in Russland und außerhalb Russlands enthielt. Insgesamt enthält die Liste 2.654 Briefe von und an Euler sowie eine kurze Zusammenfassung.
In den 1970er Jahren wurde die Zusammenarbeit zwischen der Euler-Kommission in Zürich und der Sowjetischen Akademie durch die Erweiterung der Euler-Ausgabe intensiviert. Die Korrespondenz und die wissenschaftlichen Notizen werden in einer neuen vierten Serie der Opera omnia Euleri gesammelt. Im Jahr 1975 erschien der erste Band dieser Reihe und enthielt eine überarbeitete Liste mit 2.892 Briefen der Korrespondenz.
Im digitalen Zeitalter
Eine große Anzahl der Eulerschen Primärquellen ist als Folge der Digitalisierung im Internet frei verfügbar. Eulers Opera omnia obliegen im Gegensatz dazu nicht der freien Nutzung, aber digitale Abbildungen der Originalversionen von über 95 Prozent seiner veröffentlichten Werke, die von den Originalseiten des 18. Jahrhunderts gescannt wurden, sind im sog. Euler-Archiv aufrufbar. Als Gründer dieser Website gelten die damaligen Studenten Lee Stemkoski und Dominic Klyve. Den Online-Dokumenten fehlen die Korrekturen und die Einführungen der Herausgeber der Opera omnia, aber sie sind für jeden mit einer Internetverbindung zugänglich, und die Herausgeber des Euler-Archivs fügen nach und nach Links zu Kommentaren und Übersetzungen hinzu. Es wird geschätzt, dass bis 2033 (Eulers 250. Todesjahr) die relativen Rollen der Ausgaben in print und digital zueinander besser eingeschätzt sein werden.
Rezeption
Sein mathematisches Werk inspirierte viele Generationen von Mathematikern nachhaltig. Unter anderem beeinflusste er die Arbeit von Pierre-Simon Laplace, Joseph-Louis Lagrange, Carl Friedrich Gauß, Carl Gustav Jacobi, Niels Henrik Abel, Évariste Galois, Karl Weierstraß und Bernhard Riemann.
Mathematikhistoriker heben die Bedeutung des Eulerschen Werkes bis in die Gegenwart hervor. Dirk Struik sieht in Eulers „Fruchtbarkeit“ eine „Quelle der Überraschung und Bewunderung“. Hinsichtlich des Eulerschen Werkes bemerkt er in seinem Abriss der Geschichte der Mathematik 1967, dass dessen Studium „nicht so schwer wäre, wie es scheint“, denn Eulers Latein sei „sehr einfach“ und seine Bezeichnungen „gleichen fast den heutigen“. Eulers Methode bestand darin, von einfachsten Beispielen ausgehend zu allgemeineren Zusammenhängen zu gelangen, wodurch die Darstellung im Gegensatz zum heute gebräuchlichen abstrakten Stil in die Breite ging; dementsprechend wurden auch Mängel an mathematischer Strenge moniert.
Schriften
Leonhard Euler gilt als einer der produktivsten Mathematiker der Geschichte. Seine gesammelten Schriften der Opera omnia umfassen bisher 76 Bände. Insgesamt gibt es 866 Publikationen von ihm. Sein Gesamtwerk umfasst damit schätzungsweise ein Drittel des gesamten Korpus mathematischer, physikalischer und mechanischer Forschung innerhalb der letzten drei Viertel des 18. Jahrhunderts.
Über die Hälfte des Eulerschen Gesamtwerks sind der reinen Mathematik (Algebra, Analysis und Geometrie) gewidmet. Und über ein Drittel entfallen auf die verschiedenen theoretischen und technischen Gebiete der Mechanik und Physik (einschließlich Himmelsmechanik / Astronomie).
Publikationen (Auswahl)
Mechanica sive motus scientia analytice exposita. 2 Bände, 1736 (E015, E016).
Tentamen novae theoriae musicae. 1739 (E033).
Einleitung zur Rechen-Kunst zum Gebrauch des Gymnasii bey der Kayserlichen Academie der Wissenschafften in St. Petersburg. 2 Bände, Academische Buchdruckerey, Sankt Petersburg; Band 1 1738, Band 2 1740. ( Band 1, Band 2).
Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis. 1741 (E053).
Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes sive solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti. 1744 (E065).
Introductio in analysin infinitorum. 2 Bände, 1748 (E101, E102).
Découverte d’un nouveau principe de Mécanique. In: Mémoires de l’académie des sciences de Berlin. Band 6, 1752, S. 185–217 (E177).
Institutiones calculi differentialis. 2 Bände, 1755 (E212).
Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum. 1765 (E289).
Lettres à une princesse d’Allemagne. 3 Bände, 1768 (E343, E344, E417).
Institutiones calculi integralis. 3 Bände, 1768–1770 (E342, E366, E385).
Vollständige Anleitung zur Algebra. 2 Bände, 1770 (E387, E388, Band 2 ).
Scientia Navalis, 2 Bände, Petersburg 1749. (E110, E111.) Englische Übersetzung des lateinischen Originals von I. Bruce (2022), Naval Science (Zugriff: 18. Januar 2023).
Deutsche Übersetzungen und Ausgaben seiner Werke
Leonhard Euler’s vollständige Anleitung zur Integralrechnung. Hrsg. Joseph Solomon, 3 Bände, Wien 1828 bis 1830, Band 1, ETH-Bibliothek, Band 1, Archive, Band 2, Archive, Band 3, Archive.
Leonhard Euler’s Mechanik oder analytische Darstellung der Wissenschaft. 3 Bände, Hrsg. J. Ph. Wolfers, Greifswald 1848 bis 1853, Band 1, Archive, Band 2, Archive, Band 3, Archive.
Euler, Johann Bernoulli, Jacob Bernoulli: Abhandlungen über Variationsrechnung. 1. Teil, Ostwalds Klassiker 46, Leipzig 1894; .
Euler: Zwei Abhandlungen über Sphärische Trigonometrie. Ostwalds Klassiker 73, Leipzig 1896; .
Euler: Drei Abhandlungen über Kartenprojektion. Ostwalds Klassiker 93, Leipzig 1898; .
Jakob Bernoulli, Leonhard Euler: Abhandlungen über das Gleichgewicht und die Schwingungen der ebenen elastischen Kurven. Ostwalds Klassiker 175, Leipzig 1910.
Euler: Vollständigere Theorie der Maschinen, die durch Reaktion des Wassers in Bewegung versetzt werden (1754). Ostwalds Klassiker 182, Leipzig 1911.
Euler: Drei Abhandlungen über die Auflösung der Gleichungen (1783, 1764, 1790). Ostwalds Klassiker 226, Leipzig 1928.
Euler: Einleitung in die Analysis des Unendlichen. Teil 1, Einführung Wolfgang Walter, Springer, 1983.
Euler: Zur Theorie komplexer Funktionen. Einleitung A. P. Juschkewitsch, Ostwalds Klassiker 261, Akademische Verlagsgesellschaft, 1983.
Opera Omnia
Euler veröffentlichte rund zwei Dutzend Bücher und 500 wissenschaftliche Aufsätze. Der deutsche Mathematiker Ferdinand Rudio (1856–1929) initiierte die Herausgabe von Eulers sämtlichen Werken. Zu Lebzeiten Rudios wurden mehr als 30 Bände publiziert. Bis 2013 sind über 70 Einzelbände erschienen, außerdem vier Bände aus dem umfangreichen Briefwechsel. Die Arbeiten erscheinen in der Originalsprache, meist Französisch oder Latein.
Die gesammelten Werke werden seit 1911 als Opera Omnia im Birkhäuser (Springer) Verlag herausgegeben durch die Euler-Kommission, die von Ferdinand Rudio gegründet wurde. Damals waren auch Adolf Krazer, Rudolf Fueter, Heinrich Weber, Paul Stäckel und Karl von der Mühll an der Herausgabe beteiligt. Zu den späteren Herausgebern von Einzelbänden gehörten Ludwig Schlesinger, Friedrich Engel, Andreas Speiser, Clifford Truesdell (Physik, Mechanik, der ganze Band 11-1 ist eine Geschichte der Elastizitätstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, verfasst von Truesdell), Alexander Michailowitsch Ljapunow, Georg Faber, August Gutzmer, Carl Boehm, Constantin Carathéodory, Henri Dulac, Max Herzberger, Emile Cherbuliez, Charles Blanc und Eric Aiton (Physik). Hauptherausgeber nach Rudio waren Andreas Speiser (ab 1928), Walter Habicht (ab 1965) und seit 1985 Hans-Christoph Im Hof. Weitere Herausgeber waren unter anderem Emil Fellmann, Adolf Juschkewitsch, Henri Dulac, Pierre Costabel, René Taton, Wladimir Iwanowitsch Smirnow, Alot T. Grigorjan, Joachim Otto Fleckenstein, Johann Jakob Burckhardt, Gleb K. Mikhailov, Franz Lemmermeyer, Andreas Kleinert und Martin Mattmüller.
Die Edition besteht aus
Reihe 1: Mathematik, 30 Bände (vollständig). Erster Band war 1911 die Anleitung zur Algebra. Band 16 besteht aus zwei Teilbänden.
Reihe 2: Mechanik und Astronomie, 27 Bände in 30 Teilbänden (vollständig).
Reihe 3: Physik und Sonstiges, 12 Bände (vollständig).
Reihe 4a: Briefwechsel. Geplant: 9 Bände für die rund 3100 Briefe mit rund 300 Korrespondenten. Bisher erschienen: 8 Bände.
Reihe 4b: Notizbücher, Tagebücher und Unveröffentlichtes (geplant).
Briefe
Beim Briefwechsel sind im Rahmen der Opera Omnia erschienen:
Band 1 (Zusammenfassung Inhalte, Übersicht, 1975),
Band 2 (mit Johann I. und Nikolaus I. Bernoulli),
Band 5 (mit Clairaut, d’Alembert und Lagrange) und
Band 6 (mit Maupertuis und Friedrich II.).
Außerdem sind außerhalb der Opera Omnia folgende Briefwechsel erschienen:
mit Goldbach (Akademie Verlag, Berlin 1965),
mit den Berliner und Petersburger Akademien (Akademie Verlag, Berlin, 3 Bände: 1959, 1961, 1976),
mit Tobias Mayer (American Elsevier, 1971).
Paul-Heinrich Fuss veröffentlichte 1845 Teile des Briefwechsels von Euler mit Goldbach, Nikolaus Fuss, Johann I, Nikolaus und Daniel Bernoulli. Im Band 14 der Werkausgabe von Lagrange ist auch der Briefwechsel mit Euler.
Briefe an eine deutsche Prinzessin
Einzelnachweise
Leonhard Euler |
97 | https://de.wikipedia.org/wiki/Arsen | Arsen | Arsen [] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol As und der Ordnungszahl 33. Im Periodensystem der Elemente steht es in der 4. Periode und der 5. Hauptgruppe, bzw. 15. IUPAC-Gruppe oder Stickstoffgruppe. Arsen kommt selten gediegen vor, meistens in Form von Sulfiden. Es gehört zu den Halbmetallen, da es je nach Modifikation metallische oder nichtmetallische Eigenschaften zeigt.
Umgangssprachlich wird auch das als Mordgift bekannte Arsenik meist einfach „Arsen“ genannt. Arsenverbindungen kennt man schon seit dem Altertum. Als mutagenes Klastogen können Arsenverbindungen als Gift wirken, welches Chromosomenaberrationen hervorrufen und somit karzinogene Wirkung besitzen kann.
Arsen wird zur Dotierung von Halbleitern und als Bestandteil von III-V-Halbleitern wie Galliumarsenid genutzt. Die organische Arsenverbindung Arsphenamin (Salvarsan) galt trotz schwerer und schwerster Nebenwirkungen Anfang des 20. Jahrhunderts als Durchbruch in der Behandlung der Syphilis. Heute wird Arsentrioxid als letzte Behandlungsoption in der Therapie der Promyelozytenleukämie angewendet.
Geschichte
Der Name Arsen geht auf zurück, der antiken Bezeichnung des Arsenminerals Auripigment. Sie findet sich schon bei Dioskurides im 1. Jahrhundert. Die griechische Bezeichnung scheint ihrerseits ihren Ursprung im Altpersischen (al-)zarnik (goldfarben, Auripigment, „Arsen“) zu haben und gelangte wohl durch semitische Vermittlung ins Griechische. Volksetymologisch wurde der Name fälschlicherweise vom gleichlautenden (alt- und neu-)griechischen Wort abgeleitet, das sich etwa mit männlich/stark übersetzen lässt. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Bezeichnung Arsen gebräuchlich. Das Elementsymbol wurde 1814 von Jöns Jakob Berzelius vorgeschlagen.
Der erste Kontakt von Menschen mit Arsen lässt sich aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. nachweisen: In den Haaren der im Gletschereis erhaltenen Mumie des volkstümlich Ötzi genannten Alpenbewohners ließen sich größere Mengen Arsen nachweisen, was archäologisch als Hinweis darauf gedeutet wird, dass der betroffene Mann in der Kupferverarbeitung tätig war – Kupfererze sind oft mit Arsen verunreinigt. Im klassischen Altertum war Arsen in Form der Arsen-Sulfide Auripigment (As2S3) und Realgar (As4S4) bekannt, die etwa von dem Griechen Theophrastos, dem Nachfolger Aristoteles, beschrieben wurden. Auch der griechische Philosoph Demokrit hatte im 5. Jahrhundert v. Chr. nachweislich Kenntnisse über Arsenverbindungen. Der Leidener Papyrus X aus dem 3. Jahrhundert nach Chr. lässt darauf schließen, dass sie benutzt wurden, um Silber goldartig und Kupfer weiß zu färben. Der römische Kaiser Caligula hatte angeblich bereits im 1. Jahrhundert nach Chr. ein Projekt zur Herstellung von Gold aus dem (goldgelben) Auripigment in Auftrag gegeben. Die Alchimisten, die Arsen-Verbindungen nachweislich der Erwähnung im antiken Standardwerk Physica et Mystica kannten, vermuteten eine Verwandtschaft mit Schwefel und Quecksilber. Arsen(III)-sulfid kam als Malerfarbe und Enthaarungsmittel zum Einsatz sowie zur äußerlichen als auch inneren Behandlung von Lungenkrankheiten.
Im Mittelalter wurde Arsenik (Arsen(III)-oxid) im Hüttenrauch (staubbeladenes Abgas metallurgischer Öfen) gefunden. Albertus Magnus beschrieb um 1250 erstmals die Herstellung von Arsen durch Reduktion von Arsenik mit Kohle. Er gilt daher als Entdecker des Elements, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass das elementare Metall schon früher hergestellt wurde. Paracelsus führte es im 16. Jahrhundert in die Heilkunde ein. Etwa zur gleichen Zeit wurden Arsenpräparate in der chinesischen Enzyklopädie Bencao Gangmu des Apothekers Li Shizhen beschrieben. Dieser Autor hebt insbesondere die Anwendung als Pestizid in Reisfeldern hervor.
Im 17. Jahrhundert wurde das gelbe Auripigment bei niederländischen Malern als Königsgelb populär. Da sich das Pigment über längere Zeiträume hinweg in Arsen(III)-oxid umwandelt und von der Leinwand bröckelt, entstehen Schwierigkeiten bei der Restaurierung. Von 1740 bis 1808 wurden Arsenpräparate in Europa mit Erfolg als Beizmittel im Pflanzenschutz eingesetzt. Wegen ihrer hohen Giftigkeit wurde diese Nutzung schließlich verboten. Der Einsatz von Arsenzusätzen für den Bleiguss beruht auf der größeren Härte solcher Bleilegierungen, typische Anwendung sind Schrotkugeln. Obwohl die Giftigkeit und die Verwendung als Mordgift bekannt war, ist Arsen im beginnenden 19. Jahrhundert eines der bedeutendsten Asthmamittel. Grundlage sind anscheinend Berichte, in denen den Chinesen nachgesagt wurde, sie würden Arsen in Kombination mit Tabak rauchen, um Lungen zu bekommen, die stark wie Blasebälge seien. Ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert fanden Arsenverbindungen äußerlich und innerliche Anwendungen bei bösartigen Geschwülsten, Hauterkrankungen und (etwa in Form der Fowlerschen Tropfen) bei Fieber.
Arsen wurde in Form von Kupferarsenaten in Farbmitteln wie dem Pariser Grün eingesetzt, um Tapeten zu bedrucken. Bei hoher Feuchtigkeit wurden diese Pigmente durch Schimmelpilzbefall in giftige flüchtige Arsenverbindungen umgewandelt, die nicht selten zu chronischen Arsenvergiftungen führten.
Im Ersten Weltkrieg wurden Arsenverbindungen in chemischen Kampfstoffen (Blaukreuz) oder Lewisit eingesetzt. Bei den Opfern bewirkten sie durch Angriff auf Haut und Lungen grausame Schmerzen und schwerste körperliche Schädigungen.
Vorkommen
Arsen kommt in geringen Konzentrationen von bis zu 10 ppm praktisch überall im Boden vor. Es ist in der Erdkruste ungefähr so häufig wie Uran oder Germanium. In der kontinentalen Erdkruste kommt Arsen mit durchschnittlich 1,7 ppm vor, wobei es durch seinen lithophilen Charakter (= Silikat liebend) in der oberen Kruste angereichert ist (2 ppm gegenüber 1,3 ppm in der unteren Kruste); damit liegt Arsen in der Tabelle der häufigsten Elemente an 53. Stelle.
Arsen (Scherbenkobalt) kommt in der Natur gediegen, das heißt in elementarer Form, vor und ist daher von der International Mineralogical Association (IMA) als eigenständiges Mineral anerkannt. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Arsen unter der System-Nr. 1.CA.05 (Elemente – Halbmetalle (Metalloide) und Nichtmetalle – Arsengruppen-Elemente) (8. Auflage: I/B.01-10) eingeordnet. Die im englischsprachigen Raum ebenfalls geläufige Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.03.01.01.
Weltweit sind zurzeit (Stand: 2011) rund 330 Fundorte für gediegenes Arsen bekannt. In Deutschland wurde es an mehreren Fundstätten im Schwarzwald (Baden-Württemberg), im bayerischen Spessart und Oberpfälzer Wald, im hessischen Odenwald, in den Silberlagerstätten des Westerzgebirges (Sachsen), am Hunsrück (Rheinland-Pfalz), im Thüringer Wald sowie in Reichenstein/ Niederschlesien gefunden. In Österreich trat Arsen an mehreren Fundstätten in Kärnten, Salzburg und der Steiermark zutage. In der Schweiz fand sich gediegen Arsen in den Kantonen Aargau und Wallis.
Weitere Fundorte sind in Australien, Belgien, Bolivien, Bulgarien, Chile, China, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Japan, Kanada, Kasachstan, Kirgisistan, Madagaskar, Malaysia, Marokko, Mexiko, Mongolei, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Peru, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Slowakei, Spanien, Tschechien, Ukraine, Ungarn, im Vereinigten Königreich (Großbritannien) und in den Vereinigten Staaten (USA) bekannt.
Weit häufiger kommt das Element in verschiedenen intermetallischen Verbindungen mit Antimon (Allemontit) und Kupfer (Whitneyit) sowie in verschiedenen Mineralen vor, die überwiegend der Klasse der Sulfide und Sulfosalze angehören. Insgesamt sind bisher (Stand: 2011) 565 Arsenminerale bekannt. Die höchsten Konzentrationen an Arsen enthalten dabei unter anderem die Minerale Duranusit (ca. 90 %), Skutterudit und Arsenolith (jeweils ca. 76 %), die allerdings selten zu finden sind. Weit verbreitet sind dagegen Arsenopyrit (Arsenkies), Löllingit, Realgar (Rauschrot) und Auripigment (Orpiment, Rauschgelb). Weitere bekannte Minerale sind Cobaltit (Kobaltglanz), Domeykit (Arsenkupfer), Enargit, Gersdorffit (Nickelarsenkies), Proustit (Lichtes Rotgültigerz, Rubinblende), Rammelsbergit sowie Safflorit und Sperrylith.
Arsenate finden sich häufig in phosphathaltigen Gesteinen, da sie eine vergleichbare Löslichkeit aufweisen und das häufigste Sulfidmineral Pyrit kann bis zu einigen Massenprozent Arsen einbauen.
Arsen wird heutzutage als Nebenprodukt der Verhüttung von Gold-, Silber-, Zinn-, Kupfer-, Cobalt- und weiteren Buntmetallerzen sowie bei der Verarbeitung von Phosphatrohstoffen gewonnen. Die größten Produzenten im Jahr 2009 waren China, Chile, Marokko und Peru. Arsen ist nur schwer wasserlöslich und findet sich daher nur in geringen Spuren, etwa 1,6 ppb (Milliardstel Massenanteilen) in Meeren und Ozeanen.
In der Luft findet man Arsen in Form von partikulärem Arsen(III)-oxid. Als natürliche Ursache dafür hat man Vulkanausbrüche identifiziert, die insgesamt jährlich geschätzte 3000 Tonnen in die Erdatmosphäre eintragen. Bakterien setzen weitere 20.000 Tonnen in Form organischer Arsenverbindungen wie Trimethylarsin frei. Ein großer Teil am freigesetzten Arsen entstammt der Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Kohle oder Erdöl. Die geschätzten Emissionen, verursacht durch den Straßenverkehr und stationäre Quellen, betrugen 1990 in der Bundesrepublik Deutschland 120 Tonnen (20 Tonnen in den alten, 100 Tonnen in den neuen Bundesländern). Die Außenluftkonzentration von Arsen liegt zwischen 0,5 und 15 Nanogramm pro Kubikmeter.
Gewinnung und Darstellung
Arsen fällt in größeren Mengen als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Kupfer, Blei, Cobalt und Gold an. Dies ist die Hauptquelle für die kommerzielle Nutzung des Elements.
Es kann durch thermische Reduktion von Arsen(III)-oxid mit Koks oder Eisen und durch Erhitzen von Arsenkies (FeAsS) oder Arsenikalkies (FeAs2) unter Luftabschluss in liegenden Tonröhren gewonnen werden. Dabei sublimiert elementares Arsen, das an kalten Oberflächen wieder in den festen Aggregatzustand zurückkehrt.
FeAsS_{(s)} -> FeS_{(s)} {}+ As_{(g)}
Arsenkies zersetzt sich in Eisensulfid und elementares Arsen.
FeAs2_{(s)} -> FeAs_{(s)} {}+ As_{(g)}
Arsenikalkies zersetzt sich in Eisenarsenid und elementares Arsen.
Für die Halbleitertechnik wird Arsen, dessen Reinheit über 99,99999 Prozent betragen muss, durch Reduktion von mehrfach destilliertem Arsen(III)-chlorid im Wasserstoffstrom hergestellt:
2AsCl3 + 3H2 -> 6HCl + 2As
Arsentrichlorid reagiert mit Wasserstoff zu Chlorwasserstoff und elementarem Arsen.
Früher wurde es auch durch Sublimation aus Lösungen in flüssigem Blei erzeugt. Dabei wird der Schwefel der Arsen-Erze durch das Blei in Form von Blei(II)-sulfid gebunden. Die hierbei erzielten Reinheiten von über 99,999 Prozent waren für Halbleiteranwendungen nicht ausreichend. Eine andere Möglichkeit besteht im Auskristallisieren bei hohen Temperaturen aus geschmolzenem Arsen oder in der Umwandlung in Monoarsan, einer anschließenden Reinigung sowie der Zersetzung bei 600 °C in Arsen und Wasserstoff.
Eigenschaften
Arsen bildet mit Stickstoff, Phosphor, Antimon und Bismut die 5. Hauptgruppe des Periodensystems und nimmt wegen seiner physikalischen und chemischen Eigenschaften den Mittelplatz in dieser Elementgruppe ein. Arsen hat eine relative Atommasse von 74,92159. Der Radius des Arsen-Atoms beträgt 124,5 Pikometer. In kovalent gebundenem Zustand ist er etwas kleiner (121 Pikometer). Aufgrund der Abgabe der äußeren Elektronen (Valenzelektronen) bei der Ionisierung reduziert sich der Radius beträchtlich auf 34 Pikometer (As5+; das äußerste p- und das äußerste s-Atomorbital bleiben unbesetzt) beziehungsweise 58 Pikometer (As3+; nur das p-Orbital ist unbesetzt). In chemischen Komplexverbindungen ist das As5+-Kation von vier Bindungspartnern (Liganden), As3+ von sechs umgeben. Arsen tritt allerdings nur sehr selten in eindeutig ionischer Form auf.
Der Wert für die Elektronegativität liegt nach Pauling auf der von 0 (Metalle) bis 4 (Nichtmetall) reichenden Skala bei 2,18 und ist damit mit dem Wert des Gruppennachbarn Phosphor vergleichbar. Der Halbmetall-Charakter des Arsens zeigt sich zudem darin, dass die benötigte Dissoziationsenergie von 302,7 kJ/mol, also die Energie, die aufgebracht werden muss, um ein einzelnes Arsen-Atom aus einem Arsen-Festkörper herauszulösen, zwischen der des Nichtmetalls Stickstoff (473,02 kJ/mol; kovalente Bindung) und des Metalls Bismut (207,2 kJ/mol; metallische Bindung) liegt. Unter Normaldruck sublimiert Arsen bei einer Temperatur von 613 °C, geht also aus dem festen Aggregatzustand direkt in die Gasphase über. Arsendampf ist zitronengelb und setzt sich bis ungefähr 800 °C aus As4-Molekülen zusammen. Oberhalb von 1700 °C liegen As2-Moleküle vor.
Arsen zeigt je nach Verbindungspartner Oxidationsstufen zwischen −3 und +5. Mit elektropositiven Elementen wie Wasserstoff oder Metallen bildet es Verbindungen, in denen es eine Oxidationsstufe von −3 einnimmt. Beispiele dafür sind Monoarsan (AsH3) und Arsenkupfer (Cu3As). In Verbindungen mit elektronegativen Elementen wie den Nichtmetallen Sauerstoff, Schwefel und Chlor besitzt es die Oxidationsstufe +3 oder +5; erstere ist dabei gegenüber den in derselben Hauptgruppe stehenden Elementen Stickstoff und Phosphor tendenziell bevorzugt.
Modifikationen
Arsen kommt wie andere Elemente der Stickstoffgruppe in verschiedenen allotropen Modifikationen vor. Anders als beim Stickstoff, der in Form zweiatomiger Moleküle mit kovalenter Dreifachbindung vorkommt, sind die entsprechenden As2-Moleküle instabil und Arsen bildet stattdessen kovalente Netzwerke aus.
Graues Arsen
Graues oder metallisches Arsen ist die stabilste Form. Es hat eine Dichte von 5,73 g/cm3. Seine Kristalle sind stahlgrau, metallisch glänzend und leiten den elektrischen Strom.
Betrachtet man den strukturellen Aufbau des grauen Arsens, dann erkennt man Schichten aus gewellten Arsen-Sechsringen, welche die Sesselkonformation einnehmen. Darin bilden die Arsen-Atome eine Doppelschicht, wenn man sich den Aufbau der Schicht im Querschnitt ansieht. Die Übereinanderlagerung dieser Doppelschichten ist sehr kompakt. Bestimmte Atome der nächsten darüberliegenden oder darunterliegenden Schicht sind von einem Bezugsatom fast ähnlich weit entfernt wie innerhalb der betrachteten Doppelschicht. Dieser Aufbau bewirkt, dass die graue Arsen-Modifikation wie die homologen Elemente Antimon und Bismut sehr spröde ist. Deswegen werden diese drei Elemente häufig auch als Sprödmetalle bezeichnet.
Gelbes Arsen
Wird Arsen-Dampf, in dem Arsen gewöhnlich als As4-Tetraeder vorliegt, schnell abgekühlt, so bildet sich das metastabile gelbe Arsen mit einer Dichte von 1,97 g/cm3. Es besteht ebenfalls aus tetraedrischen As4-Molekülen. Gelbes Arsen ist ein Nichtmetall und leitet infolgedessen den elektrischen Strom nicht. Es kristallisiert aus Schwefelkohlenstoff und bildet kubische, stark lichtbrechende Kristalle, die nach Knoblauch riechen. Bei Raumtemperatur und besonders schnell unter Lichteinwirkung wandelt sich gelbes Arsen in graues Arsen um.
Schwarzes Arsen
Schwarzes Arsen selbst kann seinerseits in zwei verschiedenen Formen vorkommen. Amorphes schwarzes Arsen entsteht durch Abkühlung von Arsen-Dampf an 100 bis 200 °C warmen Oberflächen. Es besitzt keine geordnete Struktur, sondern liegt in einer amorphen, glasartigen Form vor, analog zum roten Phosphor. Die Dichte beträgt 4,7 bis 5,1 g/cm3. Oberhalb 270 °C wandelt sich das schwarze Arsen in die graue Modifikation um. Wird glasartiges, amorphes schwarzes Arsen bei Anwesenheit von metallischem Quecksilber auf 100 bis 175 °C erhitzt, so entsteht das metastabile orthorhombische schwarze Arsen, das mit dem schwarzen Phosphor vergleichbar ist.
Natürlich gebildetes orthorhombisches schwarzes Arsen ist in der Natur als seltenes Mineral Arsenolamprit bekannt.
Braunes Arsen
Bei der Reduktion von Arsenverbindungen in wässriger Lösung entstehen ähnlich wie beim Phosphor Mischpolymerisate. Bei diesen bindet ein Teil der freien Valenzen des Arsens Hydroxygruppen (–OH). Man nennt diese Form des Arsens braunes Arsen.
Reaktionen
Arsen reagiert heftig mit Oxidationsmitteln und Halogenen. So verbrennt Arsen an der Luft mit bläulicher Flamme zu einem weißen Rauch von giftigem Arsen(III)-oxid.
4As + 3O2 -> 2As2O3
Arsen reagiert mit Sauerstoff zu Arsen(III)-oxid.
Ohne äußere Wärmezufuhr findet die Reaktion mit Chlor unter Feuererscheinung zu Arsen(III)-chlorid statt.
2As + 3Cl2 -> 2AsCl3
Arsen reagiert mit Chlor zu Arsentrichlorid.
Eine weitere Oxidation ist möglich.
AsCl3 + Cl2 -> AsCl5
Arsentrichlorid reagiert mit Chlor zu Arsenpentachlorid.
Analoge Reaktionsgleichungen gelten für die entsprechenden Reaktionen mit Fluor.
Stark oxidierende Säuren, wie konzentrierte Salpetersäure oder Königswasser, wandeln Arsen in Arsensäure um.
As + 5HNO3 -> 5NO2 + H2O + H3AsO4
Arsen reagiert mit Salpetersäure zu Stickstoffdioxid, Wasser und Arsensäure.
Ist die Oxidationsstärke weniger groß – etwa bei Verwendung von verdünnter Salpetersäure oder Schwefelsäure – entsteht Arsenige Säure.
2As + 3H2SO4 -> 3SO2 + 2H3AsO3
Arsen reagiert mit Schwefelsäure zu Schwefeldioxid und Arseniger Säure.
Unter sauren Bedingungen und bei Anwesenheit von nichtpassivierten unedlen Metallen, insbesondere Zink, reagiert Arsen mit dem gebildeten Wasserstoff zu Monoarsan.
Zn + 2H3O+ -> Zn^2+ + H2 + 2 H2O
Zink reagiert mit Wasserstoffionen zu Zinkionen und neutralem Wasserstoff.
2As + 3H2 -> 2AsH3
Arsen reagiert mit Wasserstoff zu Monoarsan.
Mit basischem Natriumhydroxid bildet sich das entsprechende Arsenitsalz.
2As + 6NaOH -> 2Na3AsO3 + 3H2
Arsen reagiert mit Natriumhydroxid zu Natriumarsenit und elementarem Wasserstoff.
Isotope
Vom Arsen sind künstlich hergestellte, radioaktive Isotope mit Massenzahlen zwischen 65 und 87 bekannt. Die Halbwertszeiten liegen zwischen 96 Millisekunden (66As) und 80,3 Tagen (73As). Natürlich vorkommendes Arsen besteht zu 100 Prozent aus dem Isotop 75As, es ist daher ein anisotopes Element. Der entsprechende Arsen-Kern besteht also aus genau 33 Protonen und 42 Neutronen. Physikalisch zählt man ihn daher zu den ug-Kernen (u steht hier für ungerade, g für gerade). Sein Kernspin beträgt 3/2. Generell sind Kerne mit einer ungeraden Anzahl Kernbausteinen tendenziell instabiler, wobei Kerne mit ungerader Protonen- und Neutronenzahl zumeist zu einem Element benachbarter Ordnungszahl und gerader Anzahl Protonen und Neutronen betazerfallen. Daraus und aus der Stabilität vieler Isotope der benachbarten Elemente Selen und Germanium ergibt sich die Tatsache, dass Arsen nur ein stabiles Isotop besitzt.
Verwendung
Arsen wird Bleilegierungen zugesetzt, um ihre Festigkeit zu verbessern und das Blei gießbarer zu machen. Vor allem die fein strukturierten Platten von Akkumulatoren könnten ohne Arsen nicht gegossen werden. Historisch war Arsen eine wichtige Zutat von Kupferlegierungen, die dadurch besser verarbeitbar wurden. Metallisches Arsen wurde früher gelegentlich zur Erzeugung mattgrauer Oberflächen auf Metallteilen verwendet, um eine Alterung vorzutäuschen.
In der Elektronik spielt es als mindestens 99,9999 Prozent reines Element für Gallium-Arsenid-Halbleiter, sogenannte III-V-Halbleiter (aufgrund der Kombination von Elementen aus der 3. und 5. Hauptgruppe des Periodensystems), sowie für Epitaxieschichten auf Wafern in Form von Indiumarsenidphosphid und Galliumarsenidphosphid eine wesentliche Rolle in der Herstellung von Hochfrequenzbauelementen wie Integrierten Schaltkreisen (ICs), Leuchtdioden (LEDs) beziehungsweise Laserdioden (LDs). Es gab Anfang 2004 weltweit nur drei Hersteller von hochreinem Arsen, zwei in Deutschland und einen in Japan.
Arsen wird in Form seiner Verbindungen in einigen Ländern als Schädlingsbekämpfungsmittel im Weinbau, als Fungizid (Antipilzmittel) in der Holzwirtschaft, als Holzschutzmittel, als Rattengift und als Entfärbungsmittel in der Glasherstellung verwendet. Der Einsatz ist umstritten, da die eingesetzten Arsenverbindungen (hauptsächlich Arsen(III)-oxid) giftig sind.
Arsen in Arzneimitteln
Die Verwendung arsenhaltiger Mineralien als Heilmittel ist bereits in der Antike durch Hippokrates und Plinius bezeugt. Sie wurden als Fiebermittel, als Stärkungsmittel und zur Therapie von Migräne, Rheumatismus, Malaria, Tuberkulose und Diabetes eingesetzt. Im 18. Jahrhundert wurde eine Mischung aus Kaliumarsenit und Lavendelwasser als Fowler’sche Lösung bekannt, die lange als medizinisches Wundermittel galt und als Fiebersenker, Heilwasser und sogar als Aphrodisiakum Anwendung fand. Kaliumarsenit war als Bestandteil der Fowler’schen Lösung bis in die 1960er Jahre in Deutschland als Mittel zur Behandlung der Psoriasis im Einsatz.
Constantinus Africanus (1017–1087) empfahl eine Arsenapplikation zur Bekämpfung von Zahnschmerzen. Bereits um 2700 vor Christus soll die Anwendung von Arsen zur Behandlung eines schmerzenden Zahnes in der chinesischen Heilkunst beschrieben worden sein. In dem Mitte des 10. Jahrhunderts erschienenen Werk „Liber Regius“ empfahl der arabische Arzt Haly Abbas (ʿAli ibn al-ʿAbbās; † 944) ebenfalls den Einsatz von Arsenik zur Devitalisation der Pulpa. Arsen(III)-oxid wurde bis in die Neuzeit zur Devitalisation der Zahnpulpa verwendet und verschwand in den 1970er Jahren wegen der krebserregenden Wirkung, Entzündungen des Zahnhalteapparates, des Verlustes eines oder mehrerer Zähne einschließlich Nekrosen des umliegenden Alveolarknochens, Allergien und Vergiftungserscheinungen aus dem Therapiespektrum.
Einen Aufschwung erlebten arsenhaltige bzw. Arsenverbindungen enthaltende Arzneimittel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Harold Wolferstan Thomas und Anton Breinl konnten 1905 beobachten, dass das arsenhaltige Präparat Atoxyl Trypanosomen, zu denen die Erreger der Schlafkrankheit gehören, abtötet. 1907 behandelte Paul Uhlenhuth die Hühnerspirochaetose und die Syphilis mit organischen Arsenverbindungen. 1920 wurde eine Weiterentwicklung, das Tryparsamid, in der Zeit von 1922 bis 1970 im tropischen Afrika zur Therapie der Schlafkrankheit eingesetzt. Es war bedeutsam für die Eingrenzung dieser Epidemie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, konnte jedoch zur Erblindung führen. Das in den 1950er Jahren entwickelte Melarsoprol war über mehrere Jahrzehnte das Mittel der Wahl zur Behandlung der Schlafkrankheit und wird heute noch eingesetzt, da keine effektiven Nachfolgepräparate zur Verfügung stehen.
Ebenfalls angeregt durch die Trypanosomen-toxische Wirkung von Atoxyl entwickelte Paul Ehrlich das arsenhaltige Arsphenamin (Salvarsan). Das 1910 in die Therapie der Syphilis eingeführte Mittel stellte das erste auf theoretischen Vorüberlegungen beruhende, systematisch entwickelte, spezifisch wirkende Chemotherapeutikum dar und war Vorbild für die Entwicklung der bis heute verwendeten Sulfonamide. Es wurde lange Zeit auch bei der Behandlung von Dysenterie eingesetzt.
Im Jahr 2000 wurde ein arsenikhaltiges Präparat unter dem Namen Trisenox in den USA zur Behandlung der akuten Promyelozytenleukämie (APL) zugelassen. Seit 2002 besteht für Trisenox in Europa eine Zulassung zur Behandlung der APL, (Vertrieb in EU und USA: Cephalon). Seine Wirksamkeit bei der Krebstherapie wird auch auf die antiangioneogenetische Wirkung zurückgeführt.
Die verschiedenen Arsensulfide sind Bestandteil von Arzneimitteln der Chinesischen Medizin.
Arsenik als Insektizid bei der Taxidermie
Aufgrund der toxischen Eigenschaften von Arsenverbindungen wurde früher überwiegend Arsenik zur Haltbarmachung von Wirbeltieren (Taxidermie) als Insektizid verwendet. Viele andere Stoffe, wie auch Lindan, wurden zum selben Zweck verwendet, wie es die Fachliteratur der Präparatoren aus der Zeit von 1868 bis 1996 beschreibt. Solche Stoffe sind jedoch auch für Menschen giftig und stellen heute an Präparatoren besondere Anforderungen, da diese auch in Kontakt mit derart kontaminierten Präparaten kommen.
Biologische Bedeutung
Die biologische Bedeutung des Arsens für den Menschen ist nicht vollständig geklärt. Es gilt als Spurenelement im Menschen, Mangelerscheinungen wurden bisher aber nur an Tieren nachgewiesen. Der notwendige Bedarf liegt, falls er bestehen sollte, zwischen 5 und 50 µg pro Tag. Eine tägliche Arsenaufnahme von – je nach Wahl der Nahrungsmittel – bis zu einem Milligramm gilt als harmlos. In einer neuen Studie konnte eine erhöhte Arsenbelastung durch hohe Arsengehalte im Grundwasser von Reisanbaugebieten mit der Entstehung von Krebserkrankungen in Verbindung gebracht werden. Die Förderung der Krebsentwicklung ist jedoch dosisabhängig und nur bei Verzehr von belastetem Reis als täglichem Grundnahrungsmittel gegeben. Es gibt bei regelmäßigem Verzehr von Arsenverbindungen, speziell Arsentrioxid eine Gewöhnung, die beim Absetzen der Dosis sogar von Entzugserscheinungen begleitet wird.
Menschen, die wegen der stimulierenden Allgemeinwirkung früher häufig Arsenik konsumierten (vor allem in der Steiermark), wobei häufig Gewöhnung und Sucht eintrat, werden Arsenikesser genannt.
Meerestiere wie Muscheln oder Garnelen enthalten besonders viel Arsen, letztere bis zu 175 ppm. Vermutlich agiert es durch die Bindung an freie Thiolgruppen in Enzymen als Inhibitor, verhindert also deren Wirkung.
Für viele Tiere ist Arsen ein essentielles Spurenelement. So zeigen Hühner oder Ratten bei arsenfreier Ernährung deutliche Wachstumsstörungen; dies hängt wahrscheinlich mit dem Einfluss des Elements auf die Verstoffwechslung der Aminosäure Arginin zusammen. Zahlreiche Algen und Krebstiere enthalten organische Arsen-Verbindungen wie das schon erwähnte Arsenobetain. Arsen führt zur verstärkten Bildung der sauerstofftransportierenden roten Blutkörperchen. Aus diesem Grund wurde es früher dem Futter von Geflügel und Schweinen zugesetzt, um eine schnellere Mästung zu ermöglichen. Trainer von Rennpferden benutzten es zum illegalen Doping ihrer Tiere – heute kann der Zusatz von Arsen zur Nahrung allerdings leicht im Urin nachgewiesen werden.
Lösliche Arsenverbindungen werden leicht über den Magen-Darm-Trakt aufgenommen und rasch innerhalb von 24 Stunden im Körper verteilt. Man findet den größten Teil des aufgenommenen Arsens in den Muskeln, Knochen, Nieren und Lungen. Im Menschen wurde es zusammen mit Thallium in fast jedem Organ nachgewiesen. Blut enthält bis zu 8 ppb Arsen, in den anderen Organen des Körpers wie etwa den Knochen hat es einen Anteil von zwischen 0,1 und 1,5 ppm, in Haaren liegt der Anteil bei etwa 1 ppm. Der Gesamtgehalt von Arsen im Körper eines Erwachsenen liegt im Durchschnitt bei etwa 7 Milligramm.
Organische Arsenverbindungen wie die aus Fischen und Meeresfrüchten stammende Dimethylarsinsäure, Trimethylarsenoxid, Trimethylarsin sowie Arsenobetain verlassen den menschlichen Körper fast unverändert innerhalb von zwei bis drei Tagen über die Nieren. Anorganische Arsenverbindungen werden in der Leber zu Monomethylarsonsäure (MMAA) und Dimethylarsinsäure (DMAA) umgewandelt und anschließend ebenso über die Nieren ausgeschieden.
Bei Pflanzen erhöht das Element den Kohlenhydrat-Umsatz. Der Gebänderte Saumfarn (Pteris vittata) nimmt das Halbmetall bevorzugt aus dem Boden auf und kann bis zu fünf Prozent seines Trockengewichts an Arsen aufnehmen. Aus diesem Grund wird die schnellwachsende Pflanze zur biologischen Säuberung arsenkontaminierter Böden eingesetzt.
Die stimulierende Wirkung des Arsens ist vermutlich auch Ursache des früher in einigen Alpengegenden verbreiteten Arsenikessens. Im 17. Jahrhundert verzehrten manche der dortigen Bewohner lebenslang zweimal wöchentlich bis zu 250 Milligramm Arsen – bei Männern, weil es bei der Arbeit in den Höhenlagen half, bei Frauen, da es angeblich zu einer kräftigen Gesichtsfarbe beitrug. In der Wissenschaft lange als Märchen abgetan, nahm ein Bauer aus den Steirischen Alpen 1875 vor der in Graz versammelten deutschen Fachwelt eine Dosis von 400 Milligramm Arsentrioxid zu sich, die sich später auch in seinem Urin nachweisen ließ. Die Dosis lag weit über dem Doppelten der für normale Menschen tödlichen Arsenmenge, zeigte aber keinerlei negative Auswirkungen auf den Bauern. Ähnliches wird von Bewohnern einer Siedlung in der hochgelegenen chilenischen Atacamawüste berichtet, deren Trinkwasser hochgradig mit Arsen belastet ist, die jedoch keinerlei Vergiftungssymptome zeigen. Heute geht man davon aus, dass eine langsame Gewöhnung an das Gift mit sukzessive steigenden Dosen physiologisch möglich ist.
Über den Bakterienstamm GFAJ-1 wurde 2010 berichtet, dass er unter bestimmten Bedingungen in arsenathaltigen Nährmedien in der Lage sei, Arsenat anstatt Phosphat in Biomoleküle wie die DNA einzubauen, ohne dabei abzusterben, was bisher eher als unmöglich galt. Der Befund scheint jedoch auf unsauberen Arbeitsmethoden zu basieren, die Befunde konnten nicht repliziert werden.
Sicherheitshinweise
Arsen-Stäube sind leicht entzündlich.
Toxizität
Dreiwertige lösliche Verbindungen des Arsens sind hoch toxisch, weil sie biochemische Prozesse wie die DNA-Reparatur, den zellulären Energiestoffwechsel, rezeptorvermittelte Transportvorgänge und die Signaltransduktion stören. Dabei kommt es mutmaßlich nicht zu einer direkten Einwirkung auf die DNA, sondern zu einer Verdrängung des Zink-Ions aus seiner Bindung zu Metallothioneinen und damit zur Inaktivierung von Tumorsupressorproteinen (siehe auch Zinkfingerprotein). Arsen(III)- und Zink(II)-Ionen haben vergleichbare Ionenradien und damit ähnliche Affinität zu diesen Zinkfingerproteinen, allerdings führt Arsen dann nicht zur Aktivierung der Tumorsupressorproteine.
Eine akute Arsenvergiftung führt zu Krämpfen, Übelkeit, Erbrechen, inneren Blutungen, Durchfall und Koliken, bis hin zu Nieren- und Kreislaufversagen. Bei schweren Vergiftungen fühlt sich die Haut feucht und kalt an und der Betroffene kann in ein Koma fallen. Die Einnahme von 60 bis 170 Milligramm Arsenik gilt für Menschen als tödliche Dosis (LD50 = 1,4 mg/kg Körpergewicht); meist tritt der Tod innerhalb von mehreren Stunden bis wenigen Tagen durch Nieren- und Herz-Kreislauf-Versagen ein. Eine chronische Arsenbelastung kann Krankheiten der Haut und Schäden an den Blutgefäßen hervorrufen, was zum Absterben der betroffenen Regionen (Black Foot Disease) sowie zu bösartigen Tumoren der Haut, Lunge, Leber und Harnblase führt. Diese Symptome wurden auch als Reichensteiner Krankheit bezeichnet, nach einem Ort in Schlesien, dessen Trinkwasser durch den Arsenik-Abbau bis zu 0,6 mg Arsen pro Liter enthielt.
Die chronische Arsen-Vergiftung führt über die Bindung an Sulfhydryl-Gruppen von Enzymen der Blutbildung (zum Beispiel Delta-Amino-Laevulin-Säure-Synthetase) zu einem initialen Abfall des Hämoglobins im Blut, was zu einer reaktiven Polyglobulie führt. Des Weiteren kommt es bei chronischer Einnahme von Arsen zur Substitution der Phosphor-Atome im Adenosin-Triphosphat (ATP) und damit zu einer Entkopplung der Atmungskette, was zu einer weiteren reaktiven Polyglobulie führt. Klinisch finden sich hier nach Jahren der As-Exposition Trommelschlägelfinger, Uhrglasnägel, Mees-Nagelbänder und Akrozyanose (Raynaud-Syndrom), mit Folge der Black Foot Disease.
Metallisches Arsen dagegen zeigt wegen seiner Unlöslichkeit nur eine geringe Giftigkeit, da es vom Körper kaum aufgenommen wird (LD50 = 763 mg/kg Ratte, oral). Es sollte aber, da es sich an der Luft leicht mit seinen sehr giftigen Oxiden wie dem Arsenik überzieht, stets mit größter Vorsicht behandelt werden. Anders verhält es sich mit Arsenik, das in früheren Zeiten als Stimulans von Arsenikessern benutzt wurde, um einer Arsenvergiftung vorzubeugen. Der Mechanismus dieser Immunisierung gegen Arsen ist nicht bekannt.
Grenzwerte
Anionisches Arsen tritt als Arsenit ([AsO3]3−) und Arsenat ([AsO4]3−) in vielen Ländern im Grundwasser in hohen Konzentrationen auf. Durch Auswaschungen aus arsenhaltigen Erzen in Form von drei- und fünfwertigen Ionen trinken weltweit über 100 Millionen Menschen belastetes Wasser. Besonders in Indien, Bangladesh und Thailand, wo im 20. Jahrhundert mit internationaler Unterstützung zahlreiche Brunnen gegraben wurden, um von mit Krankheitserregern kontaminiertem Oberflächenwasser auf Grundwasser ausweichen zu können, führte diese unerkannte Belastung des Trinkwassers zu chronischer Arsenvergiftung bei weiten Teilen der betroffenen Bevölkerung. Das Problem kann, wo es bekannt wird, chemisch durch Oxidation der Arsenverbindungen und nachfolgende Ausfällung mit Eisenionen behoben werden. Von der Rice University wurde eine kostengünstige Filtermöglichkeit mit Nano-Magnetit entwickelt.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt seit 1992 einen Grenzwert für Arsen im Trinkwasser von 10 Mikrogramm pro Liter. Der Wert wird in einigen Staaten Osteuropas und in den USA immer noch überschritten. In Deutschland wird er dagegen seit 1996 eingehalten. In der EU ist der Gehalt an Arsen im Trinkwasser seit 1998, aktuell durch die Richtlinie (EU) 2020/2184, auf einen Höchstwert von 10 Mikrogramm pro Liter begrenzt. Auch in Mineralwässern ist der Höchstwert an Arsen in der EU durch die Richtlinie 2003/40/EG auf 10 μg/l festgelegt. Die USA verpflichteten sich im Jahre 2001, diesen Grenzwert ab 2006 einzuhalten.
Anreicherung in Nahrungsmitteln
Das im Grundwasser vorkommende Arsen reichert sich in Reis zehnmal so stark an wie in anderen Getreidearten. Auf dem Weltmarkt angebotene Sorten enthalten zwischen 20 und 900 Mikrogramm Arsen pro Kilogramm. Im Jahr 2005 senkte die chinesische Regierung den zulässigen Gehalt anorganischer Arsenverbindungen von 700 auf 150 Mikrogramm pro Kilogramm Lebensmittel, im Juli 2014 beschloss die Codex-Alimentarius-Kommission erstmals einen Höchstwert von 200 Mikrogramm für polierten Reis. In der EU werden die Höchstmengen an Arsen in Lebensmitteln durch die Verordnung (EU) 2023/915 geregelt. Der Gehalt an anorganischem Arsen darf in Reis dabei folgende Grenzwerte nicht überschreiten: geschliffener Reis 0,20 mg/kg, geschälter oder Parboiled Reis 0,25 mg/kg, Reiskekse, Reiswaffeln, Reiskräcker und Reiskuchen 0,30 mg/kg und Reis für die Herstellung von Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder 0,10 mg/kg.
Für andere belastete Lebensmittel wie Bier oder Fruchtsäfte gibt es noch keine Grenzwerte, obwohl sie mehr Arsen enthalten können, als für Trinkwasser zulässig ist. Verbraucherorganisationen fordern für Apfelsaft einen Grenzwert von 3, höchstens aber 4,4 ppb (entspricht Mikrogramm pro kg).
Fische und Meeresfrüchte weisen zwar hohe Gehalte an Arsen auf, jedoch nahezu ausschließlich in der als unbedenklich geltenden organisch gebundenen Form. Grenzwerte wie für Quecksilber oder Cadmium gibt es nicht.
Das neue Chemikaliengesetz der EU, umgesetzt in der Gefahrstoffverordnung Deutschlands von 2005, verbietet im Anhang 4 die „gewerbliche“ (nicht private) Verarbeitung von arsenhaltigen Mitteln und Zubereitungen, die mehr als 0,3 Gewichtsprozent an Arsen aufweisen. Derartige Grenzwertregelungen sind gegeben, da Arsen in den Verzinkereien der Galvanikindustrie weltweit der Zinkschmelze zugesetzt wird, um die Haftungseigenschaften des Zinks an der Eisenoberfläche des zu verzinkenden Metallstückes zu verbessern. Auf Grund der Temperatur im Zink-Schmelzbad von 460 °C bis 480 °C kommt es zum Verdampfen von Arsen, Cadmium und anderen leicht flüchtigen Metallen und deren Anreicherung in der Luft des Arbeitsplatzes. So können zulässige Grenzwerte kurzfristig um das Tausendfache überschritten werden, mit der Folge der aerogen-alveolaren Aufnahme in den Körper. Messungen ergaben, dass Arsen (und Cadmium) im hochreinen Zink (99,995 Reinheitsgrad, DIN-1179-Reinheitsgrad) mit weniger als 0,0004 Gewichts-% ausgewiesen waren und nach Zugabe von 450 Gramm dieses hochreinen Zinks in die Zinkschmelze zu einem Anstieg der Cd-/As-Konzentration von 3 bis 7 µg/m3 Luft auf über 3000 µg/m3 Luft führten. Für Arsen wurde diese Tatsache überraschend in einer Verzinkerei durch Messung der Arsen-Konzentration in Zinkschmelze, Blut und Urin festgestellt (unveröffentlicht). Bei Galvanik-Arbeitern wird die Urin-Arsen-Konzentration mit 25 bis 68 µg/l Urin gemessen, im Vergleich zu unbelasteter Bevölkerung mit 0,1 µg Arsen/l Urin.
Abreicherung
Für die Entfernung von ionischem Arsen aus dem Trinkwasser gibt es Verfahren, die auf Adsorption an Aktivkohle, aktiviertem Aluminiumoxid oder Eisenhydroxid-Granulat beruhen. Letzteres wird standardmäßig in Festbettreaktoren in der Trinkwasseraufbereitung in Deutschland und international eingesetzt. Daneben werden Ionenaustauscher verwendet. Es ist möglich, Arsen mittels gentechnisch veränderten Pflanzen aus dem Boden zu entfernen, die es in Blättern speichern. Zur Phytosanierung von Trinkwasser bietet sich die Dickstielige Wasserhyazinthe an, die Arsen insbesondere in ihr Wurzelgewebe einlagert und so eine Abreicherung des kontaminierten Wassers bewirkt. Organische Arsenverbindungen in belasteten Böden können enzymatisch mit Hilfe von Pilzen abgebaut werden.
In Bangladesh wird nach einem Verfahren der schweizerischen Forschungseinrichtung EAWAG versucht, Arsen mit Hilfe von transparenten PET-Flaschen und Zitronensaft abzureichern. Bei dieser SORAS (Solar Oxidation and Removal of Arsenic) genannten Methode oxidiert Sonnenlicht das Arsen; die Inhaltsstoffe des Zitronensafts helfen bei der Ausfällung. Mit dieser kostengünstigen Methode lässt sich der Arsengehalt um 75 bis 90 Prozent senken.
In Gewässern des Yellowstone-Nationalparks, die sich aus Geysiren und anderen Thermalquellen vulkanischen Ursprungs speisen, wurden eukaryontische Algen der Gattung Cyanidioschyzon gefunden, die die hohen Arsenkonzentrationen der Gewässer tolerieren und sie zu biologisch weniger verfügbaren organischen Verbindungen oxidieren können. An einer Nutzung zur Abreicherung in Trinkwasser wurde 2009 gearbeitet.
Antidote
Als Antidote bei akuten Arsenvergiftungen stehen die schwefelhaltigen Komplexbildner Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS), Dimercaptobernsteinsäure und das ältere, schlechter verträgliche Dimercaprol zur Verfügung. Sie sind noch bei starken Arsendosen effektiv, wenn die Vergiftung rechtzeitig diagnostiziert wird. Ihr Stellenwert bei der Behandlung chronischer Arsenvergiftungen ist hingegen umstritten. Aktivkohle ein bis mehrere Stunden nach der Einnahme kann das Metall ebenfalls binden und zur Ausscheidung bringen.
Prophylaxe
Indische Forscher haben im Tierversuch herausgefunden, dass die Einnahme von Knoblauch zur Senkung der Arsengehalte im Blut und der Erhöhung der Arsengehalte im Urin führen kann. Erklärt wird dies über eine Ausfällung des Arsens bei Reaktion mit schwefelhaltigen Substanzen wie etwa Allicin, das Bestandteil des Knoblauchs ist. Zur Prophylaxe werden zwei bis drei Knoblauchzehen täglich empfohlen.
Nachweis
Anorganische Nachweisreaktionen
Arsenverbindungen zeigen beim Verbrennen eine wenig charakteristische fahlblaue Flammenfärbung. Bei der Glühröhrchenprobe erhitzt man Arsenverbindungen, welche teilweise sublimieren und sich an kalten Oberflächen in Form von schwarzem Arsen, weißem Arsen(III)-oxid oder gelbem Arsentrisulfid wieder niederschlagen.
Die so genannte Marshsche Probe ist die klassische Nachweisreaktion in der Chemie und Gerichtsmedizin für Arsen: As2O3 + 6Zn + 12H3O+ -> 2AsH3 + 6Zn^2+ + 15H2O
Bei der Bettendorfschen Probe oxidiert Arsen in konzentrierter Salzsäure unabhängig von der Oxidationsstufe zweiwertige Zinn-Ionen. Dabei fällt elementares Arsen aus: 2As^3+ + 3Sn^2+ -> 3Sn^4+ + 2As
Gibt man zu einer ammoniakalischen, ammoniumchloridhaltigen Lösung von Arsenat Magnesium-Ionen, so erhält man einen kristallinen Niederschlag von Magnesiumammoniumarsenat-Hexahydrat: AsO4^3- + Mg^2+ + NH4+ + 6H2O -> MgNH4AsO4.6H2O Arsenat reagiert mit Magnesiumionen, Ammoniumionen und Wasser zu Magnesiumammoniumarsenat-Hexahydrat.
Eine weitere Nachweisreaktion von Arsen(at) in wässriger Lösung ist die Fällung mit Ammoniumheptamolybdat. Der gelbe Niederschlag ist schwerlöslich in Säuren, aber gut löslich in Basen: H2AsO4- + 22H3O+ + 3NH4+ + 12MoO4^2- -> (NH4)3[As(Mo3O{10})4.aq] + 34H2O Dihydrogenarsenat reagiert mit Wasserstoffionen, Ammoniumionen und Molybdationen zu Ammoniumarsenomolybdat und Wasser.
Instrumentelle Bestimmungsverfahren für Arsen
Atomabsorptionsspektrometrie (AAS)
Bei der Flammen-AAS werden die Arsenverbindungen in einer reduzierenden Luft-Acetylen-Flamme ionisiert. Anschließend wird eine Atomabsorptionsmessung bei 189,0 nm beziehungsweise 193,8 nm durchgeführt. Nachweisgrenzen bis zu 1 µg/ml wurden beschrieben. Häufig wird das Arsen auch mit Hilfe von NaBH4 in das gasförmige Arsin (AsH3) überführt (Hydridtechnik). In der Quarzrohrtechnik wird AsH3 zuerst bei rund 1000 °C in einem elektrisch beheizten Quarzröhrchen thermisch in seine atomaren Bestandteile zersetzt, um anschließend die Absorption bei o. g. Wellenlängen zu bestimmen. Die Nachweisgrenze bei dieser Technik liegt bei 0,01 µg/l. Eine weitere Methode ist die sog. Graphitrohrtechnik, bei der das Arsen einer festen Probe bei 1700 °C und höher verflüchtigt und anschließend die Extinktion bei 193,8 nm gemessen wird.
Atomemissionsspektrometrie
Die Kopplung von Hydridtechnik mit dem induktiv gekoppelten Plasma/ laserinduzierter Fluoreszenzmessung ist eine sehr nachweisstarke Methode zur Bestimmung von Arsen. Mittels Hydriderzeugung freigesetztes AsH3 wird dabei im Plasma atomisiert und mit einem Laser zur Emission angeregt. Mit dieser Methode wurden Nachweisgrenzen von 0,04 ng/mL erreicht.
Massenspektrometrie (MS)
Bei der Massenspektrometrie wird die Arsenspezies zunächst durch ein induktiv gekoppeltes Argonplasma (ICP-MS) thermisch ionisiert. Anschließend wird das Plasma in das Massenspektrometer geleitet. Eine Nachweisgrenze von 0,2 µg/l wurde für Arsenit beschrieben.
Photometrie
Weitverbreitet ist die photometrische Erfassung von As als Arsenomolybdänblau. As(V) reagiert zunächst mit (NH4)2MoO4. Danach folgt eine Reduktion mit SnCl2 oder Hydrazin zu einem blauen Komplex. Die Photometrie erfolgt bei 730 nm und ist somit nahezu störungsfrei. Die Nachweisgrenzen können durch Verwendung von basischen Farbstoffen als Komplexbildner verbessert werden.
Neutronenaktivierungsanalyse
Eine sehr empfindliche Arsenbestimmung im ppt-Bereich ist mittels Neutronenaktivierungsanalyse möglich. Sie kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn die Probe eine komplexe Zusammensetzung aufweist oder schwierig aufzuschließen ist. Allerdings gibt diese Methode keinen Hinweis auf die chemische Verbindung, in der das Arsen vorliegt. Bei der Wechselwirkung von Neutronen mit der Probe, die das natürliche Isotop Arsen-75 enthält, wird das schwerere Isotop Arsen-76 gebildet, das jedoch instabil ist und sich unter einem β-Zerfall in Selen-76 umwandelt. Gemessen werden dabei die β-Strahlen, über die ein Rückschluss auf die Menge des Arsens möglich ist.
^{75}_{33}As + ^{1}_{0}n -> ^{76}_{33}As -> ^{76}_{34}Se + e-
Biosensoren
Bei Biosensoren wird die Biolumineszenz bei Kontakt von in Wasser gelöstem Arsen mit genetisch modifizierten Bakterien (z. B. Escherichia coli K12) und eines Lichtmessgeräts (Luminometer) detektiert. Die vorhandene Arsenkonzentration korreliert dabei direkt mit der emittierten Lichtmenge.
Verbindungen
Arsenwasserstoffe
Chemische Verbindungen von Arsen und Wasserstoff (→ Arsane) sind im Vergleich zu den entsprechenden Verbindungen der Hauptgruppennachbarn Stickstoff und Phosphor nicht sehr zahlreich und sehr instabil. Es sind zurzeit drei Arsane bekannt.
Arsenwasserstoff (auch Monoarsan oder Arsin genannt) mit der Summenformel AsH3 ist eine wichtige Ausgangssubstanz zur Herstellung von Galliumarsenid in der Halbleiterindustrie.
Diarsan (As2H4)
Triarsan (As3H5)
Halogenverbindungen
Arsen bildet mit Halogenen binäre Verbindungen vom Typ AsX3, AsX5 und As2X4 (X bezeichnet das entsprechende Halogen).
Arsen(III)-fluorid (AsF3)
Arsen(V)-fluorid (AsF5)
Arsen(III)-chlorid (AsCl3)
Arsenpentachlorid (AsCl5)
Arsentribromid (AsBr3)
Arsentriiodid (AsI3)
Diarsentetraiodid (As2I4)
Sauerstoffverbindungen
Wichtige Sauerstoffsäuren sind:
Arsensäure (2 H3AsO4 · H2O), deren Salze als Arsenate oder Arsenate(V) bezeichnet werden und den Phosphaten ähneln. Beispiele sind Calciumarsenat (Ca3(AsO4)2·3H2O) und Bleihydrogenarsenat (PbHAsO4), die als Pflanzenschutzmittel verwendet wurden
Arsenige Säure (H3AsO3), deren Salze als Arsenite oder Arsenate(III) bezeichnet werden.
Das wichtigste Arsenoxid ist Arsen(III)-oxid (Arsentrioxid auch Arsenik oder Weißarsenik, As2O3, das Anhydrid der Arsenigen Säure), das in der Gasphase in Form von Doppelmolekülen mit der Formel As4O6 vorliegt. Es ist amphoter und weist damit auf den Halbmetallcharakter des Arsens hin. Neben As2O3 kennt man As2O5 (Arsenpentaoxid, das Anhydrid der Arsensäure) und das gemischte Anhydrid der Arsenigen Säure und Arsensäure As2O4 (Arsentetraoxid)
Ein historisch wichtiges Färbe- und Pflanzenschutzmittel ist ein Kupfer-Arsen-Oxid mit dem Trivialnamen Schweinfurter Grün (Cu(AsO2)2·Cu(CH3COO)2).
Schwefelverbindungen
Es bestehen zwei wichtige Arsensulfide, die beide als Minerale in der Natur vorkommen.
Arsenmonosulfid (Realgar, As4S4)
Arsen(III)-sulfid (Auripigment, As2S3)
Arsen-Metall-Verbindungen
Wichtige Verbindungen von Arsen mit Metallen sind
Galliumarsenid (GaAs), ein wichtiger Halbleiter
Indiumarsenid (InAs), ein wichtiger Halbleiter
Nickelarsenid (NiAs)
Aluminiumgalliumarsenid (AlGaAs)
Arsenbronze – (CuAs) in früher Bronzezeit
Organische Verbindungen
In Analogie zu den Aminen und Phosphinen findet man entsprechende Verbindungen mit Arsen anstelle von Stickstoff oder Phosphor. Sie werden als Arsine bezeichnet.
Dimethylarsin (AsH(CH3)2)
Trimethylarsin (As(CH3)3), eine übelriechende Flüssigkeit, die zur Behandlung bakterieller Infektionen und als Pilzschutzmittel Anwendung fand.
Zu den Arsoranen, Verbindungen vom Typ R5As, wobei R5 für fünf – möglicherweise unterschiedliche – organische Gruppen steht, zählt man etwa Pentaphenylarsen oder Pentamethylarsen. Fehlt eine der fünf Gruppen, bleibt ein einfach positiv geladenes Ion zurück (R steht wiederum für – möglicherweise verschiedene – organische Gruppen), das man als Arsoniumion (AsR4)+ bezeichnet.
Analog zu den Carbonsäuren lassen sich zwei Klassen arseno-organischer Säuren bilden:
Arsinsäuren (RR'AsOOH)
Arsonsäuren (RAsO(OH)2)
Zudem sind Heteroaromaten mit Arsen als Heteroatom bekannt, wie Arsabenzol, das aus einem Benzolring besteht, in dem ein Kohlenstoffatom durch Arsen ersetzt ist und das somit analog zu Pyridin aufgebaut ist.
Auch homocyclische Arsenverbindungen existieren. Beispiele sind
Pentamethylcyclopentaarsen (AsCH3)5
Hexamethylcyclohexaarsen (AsCH3)6
deren Moleküle einen Fünf- beziehungsweise Sechsring aus Arsenatomen als Rückgrat aufweisen, an den nach außen hin je eine Methylgruppe pro Arsenatom gebunden ist. Eine polycyclische Variante bildet das nebenstehende Molekül, dessen Rückgrat sich aus einem Sechs- und zwei angehefteten Fünfringen zusammensetzt (R steht für jeweils eine tert-Butylgruppe).
Schließlich lassen sich Arsenpolymere darstellen, lange Kettenmoleküle, die als Polyarsine bezeichnet werden. Sie bestehen aus einer zentralen „Strickleiter“ der Arsenatome, an die außen auf jeder Seite je „Sprosse“ eine Methylgruppe angeheftet ist, so dass sich die chemische Formel (AsCH3)2n ergibt, wobei die natürliche Zahl n weit über 100 liegen kann. Polyarsine zeigen deutliche Halbleitereigenschaften.
Bioorganische Verbindungen
In der Bioorganik spielen Arsenolipide, Arsenosaccharide und arsenhaltige Glycolipide eine bedeutende Rolle. Wichtige Vertreter dieser Stoffklassen sind zum Beispiel Arsenobetain, Arsenocholin und unterschiedlich substituierte Arsenoribosen. Sie treten vor allem kumuliert in maritimen Lebewesen auf und können auf diesem Weg in die menschliche Nahrungskette gelangen. Arsenhaltige Biomoleküle konnten in Algen, Meeresschwämmen und in Fischgewebe nach erfolgter Extraktion mittels HPLC-ICP-MS nachgewiesen werden. Die Analytik von Organo-Arsenverbindungen (einschließlich ihrer Speziation) ist sehr aufwändig.
Arsen in Kriminalgeschichte, Literatur und Film
Das Element Arsen erreichte zweifelhafte Berühmtheit als Mordgift, belegt durch geschichtliche Aufzeichnungen sowie die Instrumentalisierung in Literatur und Film. Es handelte sich bei dem Mordgift allerdings nie um elementares Arsen, sondern um dessen Verbindungen.
In Italien und Frankreich starben Herzöge, Könige und Päpste an vorsätzlich herbeigeführten Arsenvergiftungen. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts steht die Marquise de Brinvilliers, die ihren Vater und zwei Brüder mit einer Arsenikmischung vergiftete, im Mittelpunkt eines Giftskandals. In Deutschland brachte die Serienmörderin Gesche Gottfried aus Bremen 15 Menschen zu Tode. Aufsehen erregte auch der Fall der Serienmörderin Anna Margaretha Zwanziger zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Urheber der Morde blieben jedoch meist unerkannt, da Arsen bis 1836 in kleinen Mengen nicht nachgewiesen werden konnte. Erst die durch James Marsh entwickelte und nach ihm benannte Marshsche Probe machte es möglich, Spuren des Elementes zu identifizieren und somit eine unnatürliche Todesursache nachzuweisen. Im 19. und 20. Jahrhundert fanden weiter vorsätzliche Vergiftungen mit arsenhaltigen Mitteln statt – zum einen, weil sie leicht als Herbizide verfügbar waren, zum anderen ließ sich bei chronischer Gabe kleiner Dosen ein krankheitsbedingter Tod vortäuschen. Im September 1840 fiel im Prozess gegen Marie Lafarge das erste Urteil, das alleine auf den Ergebnissen der Marshschen Probe beruhte. Im Fall der Marie Besnard, die angeblich zwischen 1927 und 1949 für mehrere Todesfälle in ihrem Umfeld in Loudun verantwortlich sein sollte, konnte ein eindeutiger Beweis nicht erbracht werden, weil Untersuchungsergebnisse widersprüchlich waren, und sie musste 1954 letztendlich freigesprochen werden.
Jahrelang glaubte die Fachwelt, dass der Tod des ehemaligen französischen Kaisers Napoleon Bonaparte mit 51 Jahren auf der Insel St. Helena einem Giftanschlag mit Arsen zugeschrieben werden muss. Zumindest hatte man in seinen Haaren hochkonzentrierte Spuren des Giftes entdeckt. Heute existieren verschiedene andere Thesen zur Erklärung des Faktenbefunds. Eine Möglichkeit besteht darin, dass das Arsen nach seinem Tod den Haaren beigegeben wurde, um diese zu konservieren, eine damals durchaus übliche Methode. Möglich ist ein Übermaß der Benutzung der arsenhaltigen Fowlerschen Lösung, die zu seiner Zeit bei vielen seiner Zeitgenossen als medizinisches Wundermittel galt. Die dritte und heute als wahrscheinlichste angesehene Möglichkeit ist, dass sich Napoleon durch organische Arsenverbindungen vergiftete, die Schimmelpilze beständig aus seinen mit grünen Arsenpigmenten gefertigten Tapeten freisetzten. Deren hoher Arsengehalt ist durch eine 1980 in einem Notizbuch aufgefundene Materialprobe schlüssig belegt.
Der berühmte Philosoph René Descartes starb 1650 wenige Monate nach seiner Ankunft am Hofe der schwedischen Königin Christine. Der Verdacht, er sei von einem der Jesuiten, die sich am Hofe der protestantischen Königin aufhielten, aus religionspolitischen Gründen mit Arsen vergiftet worden, verstärkte sich, als Christine später tatsächlich zum Katholizismus konvertierte, konnte aber nicht erhärtet werden, so dass die offizielle Todesursache, Lungenentzündung, sich in den Biographien etablierte. Erst kürzlich wurde anhand von neu aufgefundenen und neu interpretierten Dokumenten der alte Verdacht erhärtet und behauptet, dass der „Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu sagen, fast sicher“ erscheint.
Im Jahre 1900 kam es im britischen Manchester zu einer Massenvergiftung, von der mehrere Tausend Menschen betroffen waren. Wie sich herausstellte, hatten alle Bier derselben Brauerei getrunken. In Vorstufen der Bierproduktion wurde anscheinend Schwefelsäure eingesetzt, die ihrerseits aus Schwefel hergestellt wurde, der aus mit Arsenopyrit kontaminierten Sulfidmineralen stammte. Etwa 70 Menschen erlagen ihren Vergiftungen.
In den Jahren 2010 und 2011 starben in Österreich zwei Männer an einer Arsenvergiftung. Am 11. April 2013 wurde am Landesgericht Krems eine 52-jährige Polin des Mordes an den beiden für schuldig befunden und von dem Geschworenengericht nicht rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt.
Noch in den 1950er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erkrankte die US-amerikanische Botschafterin, Clare Booth Luce, in Rom durch eine Vergiftung mit dem aus Tapeten freigesetzten Arsen. Die Tatsache, dass die Krankheit auf die schimmelpilzbefallenen Tapeten und nicht auf gegnerische Geheimagenten zurückgeführt werden konnte, trug in diesem Fall nicht nur zur Genesung der Botschafterin, sondern auch zum Erhalt des Friedens bei.
In Friedrich Schillers bürgerlichem Trauerspiel Kabale und Liebe vergiftet der junge Major Ferdinand von Walter erst seine Geliebte Luise Millerin und dann sich selbst. Allerdings tritt in Kabale und Liebe der Tod unrealistischerweise binnen Minuten ein.
Die Protagonistin des berühmten Romans Madame Bovary von Gustave Flaubert, die unglücklich verheiratete Landarztgattin Emma Bovary, stirbt am Ende des Romans durch Suizid mit Arsen in Form eines weißen Pulvers. Der Spross einer Arztfamilie Flaubert beschreibt die Vergiftungssymptome und den äußerst qualvollen Tod der Bovary sehr detailliert.
Im Roman Starkes Gift (Strong Poison) von Dorothy L. Sayers ist das Opfer mit Arsen vergiftet worden. Die Verdächtige, Krimi-Schriftstellerin Harriet Vane, hat sich zur fraglichen Zeit intensiv mit Arsenmorden beschäftigt und sich dazu sogar vom Apotheker beraten lassen.
Der berühmte Detektiv „Kalle Blomquist“ aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren wendete die Marshsche Probe an, um ein mit Arsen vergiftetes Stück Schokolade zu überprüfen.
In dem Theaterstück von Joseph Kesselring Arsen und Spitzenhäubchen (englisch: Arsenic and Old Lace) vergiften zwei alte Damen in gutmeinender Absicht ältere einsame Herren mit einer Arsen-, Strychnin- und Zyankali-Mischung. Bekannt wurde das Stück durch die gleichnamige Verfilmung von Frank Capra mit Cary Grant, Peter Lorre und Priscilla Lane in den Hauptrollen.
Literatur
Erwin Riedel: Anorganische Chemie. de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-11-017439-1.
Dietmar Ritter: Charakterisierung und Einsatz alternativer Arsen- und Phosphor-Quellen für die Metallorganische Molekularstrahlepitaxie von InP und GaInAs. Shaker, Aachen 1998, ISBN 3-8265-4489-7.
Nicholas C. Norman: Chemistry of Arsenic, Antimony and Bismuth. Blackie, London 1998, ISBN 0-7514-0389-X.
Andrew A Meharg: Venomous Earth: How arsenic caused the world’s worst mass poisoning. Macmillan Science.
Die bremische Gesina. In: Hans Heinrich: Frau-Geschichten. WM-Literatur-Verlag, Weilheim 2002, ISBN 3-9808439-0-4, S. 62–72.
Weblinks
Mineralienatlas:Arsen
Enzymatischer Abbau von Arsenkampfstoffen
wissenschaft.de – Arsen im Trinkwasser begünstigt Arteriosklerose
Arsenic and Human Health, Environmental Health & Toxicology, Specialized Information Services, National Library of Medicine (englisch)
(PDF; 295 KiB)
Arsen – Informationen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen
Einzelnachweise
Grandfathered Mineral
Trigonales Kristallsystem
Elemente (Mineralklasse)
Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 75 |
1599 | https://de.wikipedia.org/wiki/Freudenstadt | Freudenstadt | Freudenstadt ist eine Mittelstadt sowie Große Kreisstadt mit Einwohnern () im Regierungsbezirk Karlsruhe in Baden-Württemberg. Sie ist Sitz des Landratsamtes Freudenstadt als Verwaltungsbehörde des Landkreises Freudenstadt. Freudenstadt ist ein anerkannter heilklimatischer und Kneippkurort sowie ein traditionell beliebter Urlaubsort. Daneben ist Freudenstadt bekannt für seinen sehr großen, fast quadratischen Marktplatz. Für die umliegenden Gemeinden bildet es ein Mittelzentrum im Bereich des Oberzentrums Pforzheim. Mit den Gemeinden Bad Rippoldsau-Schapbach und Seewald besteht eine vereinbarte Verwaltungsgemeinschaft.
Die Stadt wurde 1599 von Herzog Friedrich I. von Württemberg gegründet. Scharfe Einschnitte in die Stadtentwicklung verursachten der Stadtbrand von 1632, die großen Bevölkerungsverluste im Dreißigjährigen Krieg und die weitgehende Zerstörung der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg.
Geographie
Lage
Freudenstadt liegt im nordöstlichen Schwarzwald. Es befindet sich 66 Kilometer (Luftlinie) südwestlich von Stuttgart und 61 Kilometer südlich von Karlsruhe auf einem Hochplateau am Ostrand des Nordschwarzwalds auf 591 bis in der Region Nordschwarzwald. Das Hochplateau liegt am Rande einer nach Osten flach abfallenden schiefen Ebene. Diese ist Einzugsgebiet der Glatt, die dann in den Neckar mündet. Gleich westlich des Stadtzentrums fällt das Gelände steil zum tief eingeschnittenen Tal des Forbachs ab, der zur Murg fließt. Sechs Kilometer in Richtung Süden, im Luftkurort Loßburg, entspringt die Kinzig, die bei Kehl in den Rhein mündet. Das größtenteils waldbedeckte westliche Stadtgebiet steigt zur Passhöhe am Kniebis an und von dort weiter bis auf bei der Alexanderschanze. Südlich des Ortsteils Kniebis entspringt der Fluss Wolf.
Nachbargemeinden
Die folgenden Städte und Gemeinden grenzen im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden, an die Stadt Freudenstadt: Baiersbronn, Seewald, Grömbach, Pfalzgrafenweiler, Dornstetten, Glatten, Loßburg und Bad Rippoldsau-Schapbach (alle Landkreis Freudenstadt).
Geologie
Die Stadt befindet sich in einem Deckgebirge der Trias, das auf einem älteren Grundgebirgssockel liegt. Die vorherrschenden Buntsandstein-Ablagerungen wurden im Verlauf des Tertiärs vom Freudenstädter Graben gestört, einem zwölf Kilometer langen und sieben Kilometer breiten Graben mit Verwerfungen von bis zu 140 Meter Sprunghöhe. Die Grabensohle besteht wie in dem östlich benachbarten Gäu aus Muschelkalk. Vor allem an den Grabenrändern, zum Beispiel im Christophstal unweit des heutigen Stadtzentrums, haben hydrothermale Lösungen Quarz-Schwerspat-Gänge gebildet.
Einen ersten, wenn auch schwachen Hinweis auf historischen Bergbau im Freudenstädter Revier enthält eine Urkunde von 1267. Weitere Hinweise aus dem Mittelalter fehlen, Hauptphase des Bergbaus war im Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert. Wie im württembergischen Schwarzwald die Regel, traf dieser auch hier auf große wirtschaftliche Schwierigkeiten und war häufig unterbrochen. Abgebaut wurden vor allem Silber- und Kupfer- sowie Eisenerze. Zur Eisengewinnung wurde der oberflächennah reichlich auftretende Limonit gefördert und zur Silber-, später auch Kupfergewinnung arsenreiches Fahlerz abgebaut. Die Fahlerze der Reviere im Deckgebirge weisen einen erhöhten Wismutgehalt auf. Der Abbau führte zur Erstbesiedlung des Christophstals rund 30 Jahre vor der Gründung von Freudenstadt.
Das Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau stellte 2008 bei Bohrungen ein im Vergleich zu anderen deutschen Gangrevieren „erhebliches“ Potential an Baryt fest. Ein Probeabbau erfolgt derzeit beim Dorothea-Untersuchungsstollen nahe der Talstraße im Forbachtal.
Stadtgliederung
Das Stadtgebiet von Freudenstadt gliedert sich in die Kernstadt Freudenstadt mit Christophstal und Zwieselberg (zusammen 16.159 Einwohner) und die Stadtteile Dietersweiler und Lauterbad (2256 Einwohner), Grüntal und Frutenhof (1027 Einwohner), Igelsberg (254 Einwohner), Kniebis (947 Einwohner), Musbach (761 Einwohner) und Wittlensweiler (2186 Einwohner). Die Stadtteile wiederum sind in Dörfer, Weiler, Höfe und Häuser untergliedert.
Die offizielle Benennung der Stadtteile erfolgt in der Form „Freudenstadt, Stadtteil …“ Bei den Stadtteilen handelt es sich mit Ausnahme von Kniebis um ehemals selbständige Gemeinden. In Freudenstadt ist die unechte Teilortswahl eingeführt, das heißt, das Stadtgebiet gliedert sich in sechs Wohnbezirke im Sinne der baden-württembergischen Gemeindeordnung. Die Kernstadt und der Stadtteil Igelsberg sind zu einem Wohnbezirk zusammengefasst, die restlichen Wohnbezirke sind identisch mit den Stadtteilen. In den Stadtteilen bestehen Ortschaften im Sinne der baden-württembergischen Gemeindeordnung mit eigenem Ortschaftsrat und einem Ortsvorsteher als dessen Vorsitzenden. In den Ortschaften gibt es Verwaltungsstellen des Bürgermeisteramts.
Abgegangene, heute nicht mehr bestehende Ortschaften und Burgen sind die Burg Hofstätten und die Siedlung Burgberg auf dem Schwarzwald im Stadtteil Dietersweiler, Schöllkopf, ein im Dreißigjährigen Krieg abgebranntes Gehöft, die Siedlungen und Einzelhöfe Wolfhaus im Stadtteil Grüntal, Slunwag im Stadtteil Igelsberg sowie Gallushütte und Hilpertshöfle im Stadtteil Musbach.
Raumplanung
Freudenstadt ist ein Mittelzentrum innerhalb der Region Nordschwarzwald, in der Pforzheim als Oberzentrum ausgewiesen ist. Zum Mittelzentrum Freudenstadt gehören die Städte und Gemeinden Alpirsbach, Bad Rippoldsau-Schapbach, Baiersbronn, Dornstetten, Glatten, Grömbach, Loßburg, Pfalzgrafenweiler, Schopfloch, Seewald, Waldachtal und Wörnersberg.
Klima
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gab es regelmäßige Messungen der Regenmenge, der Sonnenscheindauer und anderer Klimawerte. Im Jahr 1925 hieß es in einer Anzeige: .
Die Jahresdurchschnittstemperatur lag zwischen 1990 und 2007 bei 7,9 °C. Die höchste durchschnittliche Maximaltemperatur ergab sich mit 21,2 °C im August, die niedrigste durchschnittliche Minimaltemperatur im Januar bei −2,2 °C. Analog dazu sind die höchste und die niedrigste Tagesdurchschnittstemperatur verteilt. Die zwischen 1961 und 1990 gemessene Jahresniederschlagsmenge ist aufgrund der Gebirgsrandlage der Stadt mit 1681,4 Millimeter für Deutschland überdurchschnittlich hoch. Über das Jahr wurden dabei recht konstante Werte verzeichnet, wobei das Maximum mit 189,9 Millimetern im Dezember verzeichnet wurde. Für die Regentage ergibt sich ein ähnliches Bild mit einer recht homogenen Verteilung von 15,2 Tagen im Juni und Juli und 19,7 Tagen im Dezember. Im Jahr gab es im Mittel 205,6 Regentage. Bei den durchschnittlichen täglichen Sonnenscheinstunden zwischen 1990 und 2007 erreichte Freudenstadt mit 4,6 einen hohen Wert, der vermutlich auf die weitgehende Nebelfreiheit zurückzuführen ist. Die meisten Sonnenstunden wurden im Juni verzeichnet (7,1 Stunden), die geringsten im Dezember mit 1,8 Stunden. Wetterdaten für Freudenstadt werden von der Warte des Deutschen Wetterdienstes auf dem erhöht liegenden Kienberg gesammelt. Die Firma Meteomedia unterhält Wetterstationen auf dem Marktplatz und in Freudenstadt-Langenwald.
Ausführliche Klimatabelle
Geschichte
Spätere Stadtteile und Bergbau im St. Christophstal
Der heutige Stadtteil Grüntal-Frutenhof wurde erstmals 1100 als Grindelen urkundlich erwähnt. Das Gehöft Frutenhof fand dagegen erst 1470 schriftliche Erwähnung. 1583 bekam Grüntal eine eigene Pfarrei. Die Existenz von Igelsberg ist als Illigsberg um das Jahr 1230 gesichert, als es vom Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen zu Lehen an das Bistum Straßburg ging. Seit 1381 gehörte Igelsberg zum Benediktiner-Kloster Reichenbach und kam erst 1595 zu Württemberg.
Im heutigen Kniebis stand um 1250 eine Kapelle eines Herrenalber Mönchs, die 1278 zu einem Franziskanerkloster umgebaut wurde, das 1320 zu Württemberg kam. Um sich gegen mögliche Angriffe des habsburgischen Bischofs von Straßburg zu schützen, ließ der von den Habsburgern unter Friedrich dem Schönen zum Kaiser Ludwig dem Bayern übergelaufene Graf Eberhard Schanzen auf dem Kniebis errichten. Der Stadtteil Musbach, namentlich das gegenwärtige Untermusbach, fand 1274 als Muosbach Eingang in Schriftstücke und war von Beginn an württembergisch. Wohl 1291 kam das heutige Untermusbach vom Pfalzgrafen von Tübingen zum Kloster Reichenbach. Erst 1595 wurde es württembergisch. Dietersweiler fand 1347 erstmals als Dietrichsweiler urkundlich Erwähnung. Zusammen mit dem bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts als Witelineswilare bestehenden Stadtteil Wittlensweiler wurde es von den Herren von Lichtenfels an die Herren von Neuneck veräußert. Wittlensweiler ging 1473 an Württemberg, Dietersweiler folgte 1511.
1520 bis 1534 gab es unter österreichischer Herrschaft Erzförderung in der Nähe des ehemaligen Gehöfts Schöllkopf. 1544 wurde das Kloster auf dem Kniebis aufgelöst. Viele kleine Bergwerke, deren Stollen waagrecht in den Berg führten, entstanden, darunter um 1560 der nach Herzog Christoph bzw. seinem Namenspatron benannte „St.-Christoph-Erbstollen“, dessen Name auch auf den Talabschnitt und die Siedlung, die kurz darauf entstand, überging. Die steilen Talhänge des Christophstal begünstigten die Anlage von Stollen, senkrechte Schächte blieben in Zahl und Bedeutung deutlich zurück. Aber nicht nur im Christophstal wurden Gruben angelegt. In der Nähe von Lauterbad entstand die Charlottengrube, auf dem Kienberg der Georgsstollen sowie die Grube „Schweitzer Treu“. Auch in den späteren Ortsteilen wurde geschürft: In Wittlensweiler wurde zwischen 1812 und 1824 eine Grube in der Pfarrgasse („Friedrich- und Wilhelmina-Fundgrub in der Kirchgaß“) betrieben, die Schwerspat und Brauneisen förderte.
Bereits im Jahr 1536 wurden die Bergleute mit besonderen Privilegien ausgestattet. Im Jahr 1598 wurden 87 Tonnen Erz gefördert, das je Tonne bis zu 1.800 Gramm Silber und 140 Kilogramm Kupfer enthielt. Die Silberschmelze wurde mit Holzkohle aus den Wäldern der Umgebung beheizt. 1603 betrug die Förderung 94 Kilogramm Silber. Daraus entstanden die sogenannten Christophstaler. Später konzentrierte sich der Abbau auf Kupfer und Eisen.
Am 23. Januar 1572 wurde unter Herzog Ludwig der Bau eines Hüttenwerkes angeordnet. Sein Nachfolger Friedrich I. sorgte im Hinblick auf eine weitgehende Rohstoff-Autarkie des Herzogtums für die Gründung weiterer Verarbeitungsbetriebe. 1595 plante Baumeister Heinrich Schickhardt eine Eisenschmiede, aus der der spätere obere Großhammer entstand. 1606–1610 kam eine Messingfaktorei mit Brennöfen und Schmiede hinzu. 1616 wurde der obere Drahtzug eingerichtet, 1621 der untere. Es entstanden ein Kupferhammer, ein Pfannenhammer, ein weiterer Großhammer, der spätere Wilhelmshammer. Zwischen Kupferhammer und (unterem) Pfannenhammer wurde eine zweite Schmelze errichtet. An einem heute unbekannten Ort stand auch eine Glockengießerei. Zwischen 1622 und 1628 wurde im Christophstal eine der vier verschiedenen württembergischen Münzprägeanstalten betrieben, in der erst Münzen aus der Kipper- und Wipperzeit, so der Hirschgulden mit dem Münzzeichen „CT“ oder „C“ und später dann reguläre Münzen geprägt wurden.
Stadtplanung
Herzog Friedrich I. betrieb als Vertreter des Frühabsolutismus eine aktive Macht- und Wirtschaftspolitik. Die Förderung des Bergbaus in Christophstal und die Ansiedlung von Exulanten sollten im merkantilistischen Sinne die Einnahmen des Landesherren sichern. Die bestehenden Landesfestungen wurden ausgebaut. An der Westflanke, nahe dem strategisch wichtigen Kniebis-Pass, sollte mit Freudenstadt eine neue befestigte Residenz weitere geplante Territorialerwerbungen im Westen als Brückenschluss zu den westrheinischen Besitzungen sichern. 1595 hatte der Herzog Besigheim und Mundelsheim von Baden erworben. Im selben Jahr setzte er mit Gewalt seine Ansprüche auf Reichenbach durch. Sein weiteres Ziel war der Erwerb des Hochstifts Straßburg. 1604 erlangte er zumindest auf dreißig Jahre befristet die Pfandschaft Oberkirch von diesem Hochstift. Friedrich beauftragte seinen Baumeister Heinrich Schickhardt um das Jahr 1598, das Gebiet um das heutige Freudenstadt zu untersuchen. Rückblickend berichtet Schickhardt 1632 in der Zusammenfassung seines Lebenswerkes („Inventar“):
Dennoch bestand der Herzog auf den Bau der Stadt. Schickhardts quadratischer Grundriss für Freudenstadt geht wahrscheinlich auf Zeichnungen Albrecht Dürers in seiner Festungslehre zurück. Schickhardt entwarf Freudenstadt auf Geheiß Friedrichs I. am Reißbrett. Zunächst legte er dem Herzog den als Baublockplan bekannten Entwurf vor, bei dem jeweils mehrere Häuser in Zeilen oder rechteckig, teils mit Innenhof, angelegt sind. Die massive Festung mit dem Schloss war in diesem ersten Plan in einer Ecke der Anlage vorgesehen, der Marktplatz im Zentrum der Stadt war verhältnismäßig klein geplant. Schickhardts zweiter Entwurf ist eine Fortentwicklung des Baublockplans. Es sind bereits deutliche Ansätze der später realisierten Häuserzeilen zu erkennen. Das Schloss in der damals üblichen Bauweise war abermals in einer Ecke der Anlage in die Festungsmauern eingebettet. Tatsächlich wurde Freudenstadt dann nach dem Dreizeilenplan erbaut, wobei das nun in der Mitte der Stadt geplante Schloss und die Festung erst später entstehen sollten. Diese Entscheidung ließ zu, die Stadt flexibel zu vergrößern, bis eine konstante Einwohnerzahl erreicht war. Das Schloss war im Dreizeilenplan mittig und um 45° zur geometrischen Stadt gedreht auf dem Marktplatz vorgesehen. Die geplante massive Konstruktion der Festung wurde zurückgenommen und gleicht mehr einer Stadtmauer, was darauf hindeutet, dass dem Herzog bereits zu diesem Zeitpunkt doch nicht mehr so viel an der militärischen Funktion seiner Stadt gelegen war. Gleichwohl ist ein Plan Schickhardts bekannt, der den Dreizeilenplan um eine mächtige Festung erweiterte. Ob es sich dabei mehr um eine „Spielerei“ oder um eine echte Planung handelte, ist allerdings nicht bekannt. Umgeben wird das Zentrum auf dem Plan von drei Häuserzeilen, die an ein Mühlebrett erinnern. Selbst die Namen der ersten Bewohner, vornehmlich Handwerker, die vom Bau der neuen Stadt profitieren wollten, sind eingetragen. Diese Anmerkungen dürften von Elias Gunzenhäuser, dem örtlichen Bauleiter, stammen.
Stadtgründung
Der 22. März 1599, als die ersten Häuser und Straßen von Schickhardt in Anwesenheit des Herzogs abgesteckt wurden, gilt als Gründungsdatum der Stadt. Die Häuser am Marktplatz hatten zum Platz hin ausgerichtete Dachgiebel und wurden daher Giebelhäuser genannt. Es handelte sich um typische Fachwerkhäuser. Ein vom Zimmermann aufgestelltes Gerüst aus Balken wurde mit Mauerwerk ausgefüllt und hell verputzt, während die Balken, die zum Teil sichtbar blieben, dunkel angestrichen wurden. Heute sind im Stadtkern keine solchen Häuser mehr erhalten. Im wenig entfernten Dornstetten ist diese Bauweise im historischen Ortskern noch sichtbar.
Am 1. Mai 1601 erfolgte die Grundsteinlegung für die wohl von Elias Gunzenhäuser entworfene Stadtkirche, die am Marktplatz als Winkelkirche gebaut wurde. Ab 1602 wurden in der Nordwestecke – ebenfalls durch Gunzenhäuser – das Kaufhaus, in den 1660er-Jahren in der Nordostecke das Rathaus erbaut, beide ebenfalls als Winkelbauten. Am 6. Mai 1601 wurde die „Stadt ob Christophstal“ erstmals urkundlich als „Freudenstadt“ erwähnt. Wie es zu dieser Namensgebung kam, ist nicht geklärt. Am 3. November erfolgte dann eine Ausschreibung, mit der gezielt Ansiedlungswillige angesprochen wurden, denen Bauplatz, Holz und Felder versprochen wurden. Auf diese Art wurden vor allem von der habsburgischen Gegenreformation betroffene protestantische Glaubensflüchtlinge aus den österreichischen Kronländern Steiermark, Kärnten und Krain in die junge Stadt gelenkt. Da viele Flüchtlinge aus Krain nur slowenisch sprachen, predigte bald auch ein slowenischer Pfarrer. 1603 erhielt die junge Stadt ein Wappen und den ersten Bürgermeister, zwei Jahre später ihre Gemarkung. Hierzu wurden Teile des Dornstetter Waldgedings und der Nachbargemeinde Baiersbronn abgetrennt. Freudenstadt wurde Sitz eines kleinen Amtes.
Da sich die Einwohnerzahl gut entwickelte, ordnete Herzog Friedrich I. die Vergrößerung der Stadtanlage an. Schickhardt erstellte daraufhin den Fünfzeilenplan. Zwei zusätzliche Häuserreihen sollten zusammen mit den drei bestehenden etwa 2.500 Einwohnern Wohnplatz bieten. 1608 starb Herzog Friedrich I. von Württemberg. Da die bisherigen Parzellen der nunmehr vierzeiligen Stadt zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig bebaut waren, baten die Bürger seinen Sohn und Nachfolger, Johann Friedrich von Württemberg, zumindest die Erweiterung um eine fünfte Häuserzeile aufzugeben; dem Gesuch wurde stattgegeben. Nach dem Tod von Herzog Friedrich wurden auch die Pläne für das Schloss in „Friedrichs Stadt“ nicht mehr berücksichtigt. Die freie Fläche im Zentrum blieb somit ein riesiger Platz, der heute als ‚größter bebauter Marktplatz‘ Deutschlands gilt (siehe dazu weiter unten: Städtebeziehung u. a. zu Heide mit dem ‚größten unbebauten Marktplatz‘ Deutschlands). Außerdem besaß die Stadt lange Zeit keine Stadtmauer. Zwar gab es hierfür immer wieder Pläne (beispielsweise Schickhardts Plan von 1612, siehe oben); teils wurden auch Arbeiten begonnen, tatsächlich fertiggestellt wurden sie aber nicht.
Der Freudenstädter Bürgermeister bat Herzog Johann Friedrich im Jahr 1619 vergeblich um eine Stadtmauer. Die Stadt war zu arm, um eine Befestigung selbst zu finanzieren, deshalb wurde in den folgenden Jahren ein Bretterzaun rund um die Stadt gebaut. Auf dem Merianstich von 1643 ist dieser Zaun gut erkennbar. 1616 erfolgte mit dem Weiler St. Christophstal die erste Eingemeindung in die junge Stadt.
Elendsjahre und Wiederaufblühen
Nur wenige Jahre nach der Gründung, als Freudenstadt schon fast 3.000 Einwohner gezählt haben soll, brach 1610/11 die Pest aus; sie soll 800 Menschen hinweggerafft haben, weitere 900 seien daraufhin abgewandert. Viehkrankheiten und Missernten verschlimmerten die Situation. 1632 brach im Gasthaus Zum Güldenen Barben am unteren Marktplatz ein Brand aus, der sich wegen der Anordnung der Fachwerkhäuser in Häuserzeilen schnell ausbreitete. Heinrich Schickhardt vermerkt zu dem Ausmaß des Schadens:
Nach der verlorenen Schlacht bei Nördlingen im Dreißigjährigen Krieg wurden durch kaiserlich-habsburgische Truppen erneut Gebäude in Brand gesetzt und die wenigen verbliebenen Einwohner beinahe gänzlich ermordet und geplündert. Die Einwohnerzahl in jenen Tagen dürfte im unteren zweistelligen Bereich gelegen haben. Die Pest brach 1635 zudem erneut aus und vernichtete wiederum nahezu jegliches Leben. Freudenstadt blieb über Jahre weitgehend verödet. Selbst 1652, fast zwanzig Jahre nach den tragischen Ereignissen, ist in Aufzeichnungen von nur etwa 300 Bürgern die Rede.
Festungsanlage
Der Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs veranlasste Herzog Eberhard III., sich erneut mit der Stadtentwicklung und den Festungsplänen zu befassen. Eberhard III. galt als den Freudenstädtern sehr zugeneigt, er half der Bevölkerung in mancherlei Weise. Damit die Einwohner in der Stadt blieben, wurde ihnen sechs Jahre Steuerfreiheit zugesagt. Neue Bürger brauchten zwölf Jahre lang keine Steuern zahlen. Es gab verbilligte Bauplätze, das Bauholz wurde verschenkt. Erstmals nach der langen Kriegszeit wurden die Ämter wieder besetzt. Auch die Lateinschule, ein Eckbau hinter der Stadtkirche, wurde wieder eröffnet. In Freudenstadt fing das Leben wieder an zu gedeihen.
Im Jahr 1667 ließ Herzog Eberhard III. endlich nach den Ideen des Ingenieurs d’Avila mit dem Bau einer gewaltigen Festungsanlage beginnen. Die Bauleitung hatte Matthias Weiß (1636–1707), unterstützt von dem später als Kartograf bekannt gewordenen Georg Ludwig Stäbenhaber. Bis 1674 wurde gebaut. Die Festung bedeckte inzwischen eine gut doppelt so große Fläche, wie die bewohnte Stadt. Sie bestand aus acht Bastionen mit den Kurtinen (Verbindungswällen) und vier Stadttoren. Bedingt durch den steilen Geländeabfall zum Christophstal waren die drei westlichen Bastionen wesentlich kleiner als die anderen fünf Bastionen.
Stadttore
Das Königliche Statistisch-Topographische Bureau beschreibt die damals erbauten vier „massiven, sehr festen, gewölbeartigen“ Stadttore 1858 genauer. Das Stuttgarter Thor im Osten war mit „aus Stein gehauenen Kanonen- und Mörserläufen verziert“ und trug die herzogliche Inschrift (für Eberhard Herzog zu Württemberg) sowie das württembergische und dettingische Wappen. Es beherbergte außerdem oberamtsgerichtliche Gefängnisse. Das Straßburger Tor im Süden war „weniger reich verziert“ und erhielt dieselben Wappen und die Inschrift . Über dem Torbogen befand sich eine vermietete Wohnung und jeweils ein Gefängnis des Oberamts und des Oberamtsgerichts. Das Murgthal-Thor im Westen umfasste die Wohnung des Oberamtsdieners und zwei Gefängnisse des Oberamts Freudenstadt. Die Inschriften lauteten auf der Außenseite und auf der Innenseite. Dies entspricht den Initialen von Friedrich Carl, dem Vormund von Herzog Eberhard Ludwig. Das Hirschkopf-Thor im Norden, mit der Jahreszahl 1622 beschriftet, war das älteste Stadttor. Dort waren die Wohnung des Oberamtsgerichtsdieners sowie drei Gefängnisse des Oberamtsgerichts untergebracht.
Festungsplan
Bis auf die links dargestellte Zitadelle auf dem Kienberg – sie wurde nicht gebaut – entspricht der Plan dem Stand der Festung bei Beendigung der Bauarbeiten 1674.
Verfall der Festung
Im Jahr 1674 – die Festung war noch nicht ganz fertiggestellt – starb Herzog Eberhard III.; der Bau wurde sofort eingestellt. Sein Nachfolger, Herzog Wilhelm Ludwig, ließ durch Oberstleutnant Andreas Kieser ein Gutachten über die Festung erstellen. Dieses Gutachten enthält ausschließlich Argumente, die gegen die Festung sprachen; damit fiel es Herzog Wilhelm Ludwig leicht, das ungeliebte, teure Projekt zu beenden.
Die Bevölkerung nutzte das Desinteresse der Obrigkeit an der Festungsanlage und versorgte sich über Jahrzehnte mit Baumaterial aus den Festungsmauern. Die behauenen Steine fanden sich in privaten Gebäuden wieder, aus Gräben und Wällen wurden Gärten und Weiden für das Kleinvieh. Die Stadt trug dem Rechnung und verpachtete einzelne Teile der Festung an die Bürger. Die landwirtschaftliche Nutzung und später die Überbauung veränderte das Bild der Festung.
1820 wurde geplant, die Reste der Festung Freudenstadt zur Bundesfestung auszubauen. Die Bundesversammlung entschied hingegen, in Ulm und Rastatt Bundesfestungen zu errichten. Ab 1870 wurden die Stadttore zum Abriss verkauft und die Festung endgültig dem Verfall preisgegeben. Im Jahr 1880 waren nur noch die Festungsanlagen im Bereich des heutigen Stadtbahnhofs und östlich davon gut erhalten.
Heute sind nur noch sehr wenige Reste der Festung vorhanden, so z. B.:
Zwischen Blaicherstraße und Musbacher Straße, hinter der Friedenskirche liegt ein kurzer, recht gut erhaltener Teil des „östlichen Bollwerks“, er ist heute noch etwa fünf Meter hoch.
In der Nähe des Stadtbahnhofs, an der Ecke Dammstraße/Wallstraße sind noch Wallreste erkennbar.
Ein Wappenstein mit Fratze als einzigem Rest des früheren Loßburger Tors (abgerissen 1865) ist in die Wand des Kurhauses eingesetzt. Es zeigt links das Wappen von Herzog Eberhardt (württembergische Hirschstangen, Rauten von Teck, Reichssturmfahne und die Barben von Mömpelgard), rechts das Wappen seiner Frau, Maria Dorothea Sofie, geb. Gräfin von Öttingen.
In der Stuttgarter Straße, an der Toreinfahrt zum ehemaligen Finanzamt, stehen zwei Pfeiler mit Ziersteinen und Gucklöchern, die vom Loßburger Tor stammen.
Auf dem Kniebis entstanden 1674 bis 1675 Befestigungswälle für den Reichskrieg gegen Ludwig XIV., den Sonnenkönig. Herzog Karl Alexander ließ diese zum Fort Alexander ausbauen, heute gemeinhin bekannt als Alexanderschanze. Sie war von 1799 bis 1801 in den Koalitionskriegen Schauplatz von Feindseligkeiten zwischen Österreichern und Franzosen. Diesen fiel auch das Klostergebäude Kniebis durch einen Brand zum Opfer.
Von der Garnisonsstadt zum Oberamt und Kurort
1721 entstand mit dem von Christoph Wilhelm Dietrich gegründeten und namensgebenden Gut Lauterbad eines der ersten Gebäude in dem heute zum Stadtteil Dietersweiler gehörenden Weiler Lauterbad.
1737 wurde Freudenstadt Standort einer kleinen Garnison. 1759 wurde das Amt Freudenstadt zum Oberamt erhoben. 1784 wurde der Bergbau mit der Schließung des Stollens Dorothea im Christophstal gänzlich eingestellt. Das Oberamt Freudenstadt war eines der kleinsten Ämter Altwürttembergs. 1807, ein Jahr nach der Gründung des Königreichs Württemberg und den damit einhergehenden Umwälzungen in der Verwaltungsgliederung, gewann der Freudenstädter Amtsbezirk jedoch deutlich an Umfang.
1833 wurde das Stadtgebiet um etwa 2.300 Hektar Wald des ehemaligen Waldgedings vergrößert. 1837 eröffnete eine „Siechstation“ mit vier Betten. Freudenstadt wurde zusehends zu einer Stadt des Handwerks, was durch den Anschluss an das Streckennetz der Württembergischen Eisenbahn mit der Gäubahn 1879 begünstigt wurde. 1864 wurden die Freudenstädter Stadttore abgerissen. 1876 gab der damalige Stadtschultheiß Hartranft die Absicht bekannt, Freudenstadt mit seiner reinen Luft zum Kurort zu machen. Das Vorhaben gelang, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein stetig wachsender Kurbetrieb ein. Zu den bekanntesten Hotels jener Zeit gehörten das Hotel Rappen, das Hotel Waldlust der Hotelier-Familie Luz und das Kurhaus Palmenwald des Stuttgarter Unternehmers Paul Lechler. Insgesamt gab es um 1930 rund 20 Hotels in der kleinen Stadt, davon fünf der höchsten Kategorie. Freudenstadt war als Kurort weltweit bekannt und zog Gäste wie den englischen König Georg V., die schwedische Königin, John D. Rockefeller, Mark Twain oder den Sultan von Selangor an.
1888 wurde das Bezirkskrankenhaus in der Herrenfelderstraße eröffnet. Zwei Stadtärzte und zwei Diakonissen nahmen ihren Dienst auf. Die Stadt wurde zum beliebten Urlaubsort für Großstadtbewohner. 1899 wurde anlässlich des 300-jährigen Stadtjubiläums ein Aussichtsturm auf dem Freudenstädter Hausberg, dem Kienberg, eröffnet und auf den Namen Herzog-Friedrich-Thurm (nach Herzog Friedrich I.) getauft.
„Drittes Reich“ und Zweiter Weltkrieg
1933 stand die Bevölkerung von Freudenstadt relativ geschlossen hinter der NSDAP. Die Wahlergebnisse waren wie folgt:
„Namhafte Söhne der Stadt“ aus dieser Zeit waren:
Theodor Bauder (1888–1945), Bauingenieur und SA-Führer (u. a. bis 1945 Generalbevollmächtigter für Bauwesen im Generalgouvernement Polen und Verbindungsmann zu Generalgouverneur Hans Frank)
Theo-Helmut „Theobald“ Lieb (1889–1981), Generalleutnant im Zweiten Weltkrieg (u. a. Träger des Eichenlaubs zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes 1944)
Gerhard Pfahler (1897–1976), Psychologe und Erziehungswissenschaftler, beteiligt an der Rassenpsychologie des Nationalsozialismus (u. a. Antisemitischer Herausgeber; Professor Uni Göttingen und Tübingen)
Albert Schmierer (1899–1974), Reichsapothekenführer (u. a. Gründer des Reichsapotheker-Registers und des Institut für Arzneimittelprüfung und einer Akademie für pharmazeutische Fortbildung)
Helmut Kunz (1910–1976), Zahnarzt, NSDAP-Mitglied und Mitglied der Waffen-SS (u. a. als SS-Untersturmführer dem Pionierbataillon der dritten SS-Totenkopf-Division im Konzentrationslager Dachau zugeordnet und beteiligt an der Ermordung der sechs Goebbels-Kinder).
Lieb, Pfahler, Schmierer und Kunz wurden entweder nach kurzer Gefangenschaft oder Haftzeit entnazifiziert oder vor Gericht freigesprochen und arbeiteten weiterhin unbehelligt bis zu ihrem Tod.
1938 wurde aus dem Oberamt der Landkreis Freudenstadt. Im Zweiten Weltkrieg entstand auf dem bis zu hoch gelegenen Kniebis, unweit der Alexanderschanze, eine Befehlszentrale der Wehrmacht zur Verteidigung der Westfront: das Führerhauptquartier Tannenberg (nahe der Gemarkungsgrenze auf dem Gebiet der Gemeinde Baiersbronn). In der Umgebung, vor allem auf dem Schliffkopf und der Hornisgrinde, wurden als Teil der LVZ West (Luftverteidigungszone West) schwere Flak-Stellungen mit den dazugehörigen Versorgungs- und Unterkunftsgebäuden gebaut. Im Freudenstädter Lazarett wurden viele Verwundete behandelt. Hitlers einwöchiger Besuch in Tannenberg und Freudenstadt 1940 (nach dem Frankreichfeldzug) anlässlich der Einweihung des Hauptquartiers wurde in Wochenschauberichten propagandistisch dargestellt. Damit wurde Freudenstadt samt Umland in Frankreich zu einem Symbol des Naziregimes und der französischen Niederlage, was 1945 noch eine gewichtige Rolle spielen sollte.
Zur Situation der Juden in Freudenstadt im „Dritten Reich“ liegt wenig vor. Namentlich bekannt sind:
Paul Pick, 1894 in Freudenstadt geboren, Inhaber eines kleinen Kaufhauses, im Juni 1944 im Konzentrationslager Riga ermordet, Emma Pick geb. Baum, 1896 in Stuttgart geboren, im Dezember 1944 im Konzentrationslager Stutthof ermordet. Richard L. Pick, Sohn der Beiden konnte im Juli 1941 emigrieren.
Carl Beer (* 19. Februar 1885, verheiratet mit Fanny geb. Reichert aus Freudenstadt). Die beiden lebten in Freudenstadt in der Lauterbadstraße 73. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde er in das KZ Dachau eingewiesen, wo er bis Mitte Dezember 1938 festgehalten wurde. 1944/45 war Beer als „Krankenbehandler“ für die noch in Nürnberg und Fürth ansässigen jüdischen Einwohner. Ein schwerer Luftangriff auf Nürnberg verhinderte im Februar 1945, dass Carl Beer und die anderen in „Mischehe lebenden Nürnberger Juden“ noch nach Theresienstadt deportiert wurden. Nach dem Einmarsch der US-Armee in Nürnberg war Beer in Nürnberg der erste Internist für Nürnberg und Fürth. Er kehrte dann nach Freudenstadt zurück und konnte noch einige Jahre als Arzt tätig sein. Die Bevölkerung wählte ihn 1946 mit der zweithöchsten Stimmenzahl auf der Liste der SPD in den Gemeinderat. Fanny Beer starb 1964, Carl Beer 1969. Nach ihm ist in Freudenstadt eine Straße benannt. Aussagen aus der Bevölkerung:
Stolpersteine sind nicht verlegt.
Kriegsende
Am 16. April 1945, nur wenige Wochen vor Kriegsende, wurde die Stadt unerwartet von Truppen der französischen 1. Armee unter General de Lattre angegriffen, wobei es durch Bombenabwurf und Artilleriebeschuss zu großflächigen Zerstörungen kam. Freudenstadt war Knotenpunkt des französischen Vordringens in Richtung Stuttgart wie zum Hochrhein, während die Amerikaner im Rhein-Main-Gebiet nach Osten vorgingen. Die Wehrmacht hatte vier Stunden vor dem Einmarsch der Franzosen in Freudenstadt eines der drei Fachwerkviadukte der Bahnstrecke Eutingen im Gäu–Freudenstadt gesprengt, da die Bahnlinie nicht dem Feind in die Hände fallen sollte. Der französische Heeresbericht nennt eine Abteilung der SS (nach deutschen Quellen ein Dutzend sogenannter Werwölfe), die vor der Stadt eine Sperre errichtet hatten. Freudenstadt geriet, mit Unterbrechungen, etwa 16 Stunden lang unter Artilleriefeuer. Kein Einwohner wagte es, den französischen Truppen zur Übergabe der Stadt entgegenzugehen; umgekehrt rechneten diese mit erheblichem militärischen Widerstand. Da die Hauptwasserleitung durch US-amerikanische Luftangriffe und die wichtigsten Feuerwehrwagen durch Artilleriebeschuss zerstört worden waren, konnten sich Feuer nahezu ungehindert ausbreiten. Teilweise wurde Gülle zum Löschen verwendet. Eine Übergabe fand erst statt, als die französischen Truppen bis zum Rathaus vorgerückt waren. Es gab einige Dutzend zivile Opfer; etwa 600 Gebäude, 95 Prozent der gesamten Innenstadt, wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. April direkt oder indirekt zerstört und 1400 Familien obdachlos. Beim Einmarsch der französischen Truppen und in den folgenden drei Tagen kam es zu vielzähligen, heftigen Übergriffen durch marokkanische Einheiten. Nach Angaben der Ärztin Renate Lutz seien allein bei ihr über 600 vergewaltigte Frauen in Behandlung gewesen. Auf Vorhaltungen habe die Zivilbevölkerung laut Berichten von Zeitzeugen auch die Antwort erhalten es sei Krieg, Freudenstadt müsse drei Tage brennen.
Viele der verschont gebliebenen Bauten wurden dann von der französischen Besatzung beansprucht. Zahlreiche Familien hausten in notdürftig überdachten Kellerräumen. Insgesamt reduzierte sich der durchschnittliche Wohnraum je Einwohner auf unter acht Quadratmeter. Die Not war groß und das Aufräumen der Trümmer erfolgte zunächst nur schleppend.
Das „Wunder von Freudenstadt“
Es setzte eine lange Diskussion über den Wiederaufbau der Stadt ein (Luftbild siehe Artikelanfang). Dazu wurden Modelle einheimischer Architekten sowie renommierter Stadtplaner jener Zeit begutachtet. Es galt, eine ausgewogene Mischung zwischen Tradition und Moderne zu finden. Der Wohnraum sollte beim Wiederaufbau den veränderten Lebensgewohnheiten angepasst werden. Bereits 1945 wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Pläne von Paul Heim, Hermann Gabler, Adolf Abel, Paul Schmitthenner und anderen vorgelegt.
In manchen Konzepten war die Verkleinerung des als übergroß empfundenen Marktplatzes vorgesehen. Fraglich war auch der trauf- oder giebelständige Wiederaufbau am Marktplatz. Die „Abgebrannten“ forderten einen Wiederaufbau ihrer Häuser auf den alten Parzellengrenzen. Andererseits waren der zunehmende Verkehr und eine moderne Stadtplanung zu berücksichtigen. Bei den Konflikten setzte sich unter anderem Carlo Schmid vermittelnd ein. Am Ende konnte sich die traditionelle Minderheit um Ludwig Schweizer und dessen Lehrer Schmitthenner gegen die sonst vorherrschende modernistische Fachmeinung durchsetzen. Beide waren Vertreter der Formensprache der Stuttgarter Schule mit ihrer Heimatschutzarchitektur. Schweizer wurde zum Stadtbaumeister ernannt. Zusammen mit der Stadtverwaltung unter Bürgermeister Hermann Saam entstand ein detailliertes und einheitlich durchgeplantes Konzept zum Wiederaufbau. Freudenstadt entstand so innerhalb von nur fünf Jahren abermals als Planstadt.
Begünstigt wurde der schnelle Wiederaufbau dadurch, dass Freudenstadt neben Friedrichshafen in Württemberg-Hohenzollern die einzige Stadt mit derart starken Zerstörungen war und deshalb großzügige Unterstützung erhielt. Art und Ausmaß des ganzheitlichen Freudenstädter Wiederaufbaus sowie das damit verbundene enorme bürgerliche Engagement brachte der Stadt viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Insbesondere Stimmen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) lobten das Zurückgreifen auf „nationale Traditionen“ als vorbildlich, wohingegen die lokale Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1949 als einzige Partei im Stadtrat gegen den traditionellen Wiederaufbau mit Giebelhäusern gestimmt hatte. In Zusammenhang mit dem schließlich gelungenen Wiederaufbau wird auch vom „Wunder von Freudenstadt“ gesprochen. Er gilt heute noch als Gesamtkunstwerk, das (wie in nur wenigen anderen Städten) den Zeitgeist der 1950er-Jahre ausdrückt. Zur Wahrung des einheitlichen Erscheinungsbildes gilt bis zum heutigen Tage eine sehr strenge Gestaltungssatzung für die Innenstadt.
Neuere Geschichte
Württemberg-Hohenzollern ging 1952 im Bundesland Baden-Württemberg auf. Der . Internationale Bürgermeisterkongress der Internationalen Bürgermeisterunion 1958 in Freudenstadt leitete eine Wende in den deutsch-französischen Beziehungen auf kommunaler Ebene ein und führte zu einer Vielzahl von Städtepartnerschaften. Freudenstadt ging 1961 eine Partnerschaft mit der Stadt Courbevoie im Großraum Paris ein. Bei der Kreisreform zum 1. Januar 1973 erhielt der Landkreis Freudenstadt seine heutige Ausdehnung, Freudenstadt blieb Amtssitz des vergrößerten Kreises. Dieser wurde gleichzeitig Teil der neu gegründeten Region Nordschwarzwald, die damals dem neu umschriebenen Regierungsbezirk Karlsruhe zugeordnet wurde. Damit wurde das ehemals württembergische Freudenstadt nunmehr von der ehemaligen badischen Hauptstadt Karlsruhe aus verwaltet.
1965 beschloss der Kreistag den Neubau des Freudenstädter Krankenhauses auf dem Gebiet Zehnmorgen in der Nordstadt. Der Bau wurde 1976 fertiggestellt. Seit 1977 ist das renovierte Gebäude des alten Krankenhauses Sitz des Landratsamts. In den 1980er-Jahren widersetzten sich viele Freudenstädter den Plänen von Bund und Land, den ausufernden Verkehr der Ost-West-Achse Straßburg–Freudenstadt–Tübingen mithilfe eines Tunnels aus der Innenstadt zu verbannen und damit der Stadtentwicklung neue Wege zu ebnen. Insbesondere Einzelhändler fürchteten Umsatzeinbußen durch den verminderten Durchgangsverkehr. Der Bürgerprotest war erfolgreich, gilt jedoch heute als die größte Fehlentscheidung der Nachkriegszeit. 1983 wurde das städtische Hallenbad Panoramabad eröffnet. Ebenfalls in den 1980er-Jahren wurde das bestehende Kurhaus um ein Kongresszentrum erweitert (siehe Kurhaus und Kongresszentrum Freudenstadt, es wurde 1989 eingeweiht). 1986 überschritt die Einwohnerzahl die Grenze von 20.000. Auf Antrag der Stadt beschied die Landesregierung von Baden-Württemberg Freudenstadt mit Wirkung vom 1. Januar 1988 die Bezeichnung Große Kreisstadt. 1989 entstand unter dem oberen Marktplatz eine großräumige Tiefgarage, so dass der Marktplatz weitgehend autofrei und zur Fußgängerzone erklärt wurde.
Anlässlich der 400-Jahr-Feier der Stadt im Jahr 1999 fand ein Festumzug statt. Der Umbau des unteren Marktplatzes zum Stadtpark wurde mit fünfzig beleuchteten Fontänen vollendet und ein neu entdecktes früheres Bergwerk in unmittelbarer Nähe des heutigen Facharztzentrums als Besucherbergwerk für den Publikumsverkehr freigegeben. 2003 erhielt Freudenstadt mit den Linien S31 und S41 Anschluss an das Karlsruher Stadtbahnnetz. Die gelben Fahrzeuge gaben dem Tagestourismus einen kräftigen Impuls und prägen seitdem das Stadtbild. Im Oktober 2008 wurde mit dem vierspurigen Ausbau der Stuttgarter Straße (die Bundesstraße 28 innerorts) als Hauptschlagader der Stadt begonnen.
Stadtentwicklung
Eingemeindungen
Bereits kurz nach der Stadtgründung wurde Christophstal, das ursprünglich zu Dornstetten gehörte, eingemeindet. Erst 1926 folgte mit Zwieselberg (zuvor Gemeinde Reinerzau) die nächste Eingemeindung. Die einschneidendste Änderung brachte die Gebietsreform des Landes Baden-Württemberg in den 1970er-Jahren, der zufolge am 1. Juli 1971 Igelsberg und am 1. Januar 1972 Grüntal (mit Frutenhof) eingegliedert wurden. Am 1. Januar 1975 folgten Dietersweiler (mit Lauterbad), Untermusbach (mit Obermusbach) und Wittlensweiler sowie die zuvor zu Baiersbronn und Bad Rippoldsau gehörenden Teile des Weilers Kniebis, der bereits überwiegend zu Freudenstadt gehörte.
Einwohnerentwicklung
Nach der Gründung im Jahr 1599 wuchs die Einwohnerzahl der Stadt bis Anfang 1610 auf 2.000 bis 3.000 an und gehörte damit zum Kreis der schwäbischen Städte. Nach der Pest, einem Stadtbrand, Hungersnöten und dem Dreißigjährigen Krieg lebten 1652 kaum noch Menschen im Ort. Es dauerte über 200 Jahre, bis sich die Stadt hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl erholt hatte. 1849 wurden bei einer Volkszählung 5.154 Einwohner ermittelt, um 1930 war die Zehntausendermarke überschritten, die seitdem nur in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 unterschritten wurde. 1970 waren 14.375 Bürger mit Hauptwohnsitz in Freudenstadt gemeldet. Durch die baden-württembergische Gebietsreform in den frühen 1970er-Jahren wuchs die Einwohnerzahl durch Eingemeindungen auf 19.454 an. 1986 wurde die 20.000-Einwohner-Schwelle überschritten. Seit 1995 hält sich die Einwohnerzahl recht konstant bei knapp unter 24.000.
Politik
Gemeinderat
Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte zu folgendem Ergebnis:
Bürgermeister
Die Stadt Freudenstadt wurde nach ihrer Gründung nach württembergischem Muster verwaltet, das heißt, es gab einen Magistrat mit mehreren Bürgermeistern, die anfangs die Bezeichnung Stadtschultheiß trugen (die Bezeichnung Bürgermeister wurde in Württemberg 1930 eingeführt). Seit der Erhebung zur Großen Kreisstadt 1988 trägt das Stadtoberhaupt die Amtsbezeichnung Oberbürgermeister.
Am 13. April 2008 wurde der Erolzheimer Julian Osswald (CDU), ehemaliger Direktor des Regionalverbands Donau-Iller, mit 82,48 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Er hatte zwei Gegenkandidaten. Seine Vereidigung erfolgte am 2. Juli 2008. Am 24. April 2016 wurde er ohne Gegenkandidaten mit 92,7 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt.
Ehemalige Bürgermeister von Freudenstadt sind:
Hoheitszeichen
Als Hoheitszeichen führt die Stadt Freudenstadt ein Dienstsiegel, ein Wappen und eine Flagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo.
Die Stadtflagge hat die Farben Rot und Weiß und wurde 1950 vom Staatsministerium Württemberg-Hohenzollern verliehen.
Städtebeziehungen
Die Partnerschaft mit der französischen Stadt Courbevoie stand am Anfang der Ausweitung der deutsch-französischen Städtepartnerschaften Anfang der 1960er-Jahre und wird seit 1961 intensiv betrieben. Es finden regelmäßig Schüleraustausche sowie kulturelle und kommunalpolitische Besuche statt.
Zusätzlich unterhält Freudenstadt drei Städtefreundschaften.
Die Freundschaft mit Männedorf in der Schweiz besteht seit 1959.
Die Freundschaft mit Heide in Schleswig-Holstein gibt es seit 1989. Sie beruht darauf, dass Heide ebenfalls den Anspruch erhebt, den größten Marktplatz Deutschlands zu besitzen. Die Städte einigten sich mittlerweile darauf, dass beide Marktplätze gleich groß sind, wobei Heide den größten unbebauten und Freudenstadt den größten bebauten Marktplatz Deutschlands hat.
Eine weitere Städtefreundschaft besteht seit 1990 mit Schöneck im sächsischen Vogtland.
Einige Freudenstädter Schulen und Vereine pflegen einen regen Austausch mit dem polnischen Partner-Landkreis Tomaszów Lubelski. Mit dem Fremdsprachengymnasium in Lowetsch/Bulgarien findet ebenfalls ein regelmäßiger Schüleraustausch statt.
Kultur und gesellschaftliches Leben
Soziales
Unter anderem sind folgende vernetzte soziale Einrichtungen in der Stadt präsent: Die Kinder- und Jugendwerkstatt Eigen-Sinn soll in sozialen Gruppenarbeiten die persönlichen, sozialen und schulischen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen fördern und entwickeln, damit diese selbst neue und eigene Handlungs- und Konfliktlösungsstrategien und letztlich eine eigene zukunftsfähige Lebensstrategie entwickeln können. Die Erlacher Höhe, die auch in sechs weiteren Landkreisen in Baden-Württemberg vertreten ist, setzt sich dafür ein, dass Menschen in sozialen Notlagen respektiert und geachtet werden und soziale Ausgrenzung abgebaut wird. Die Diakonie setzt sich für Arme, Ausgegrenzte und sozial Benachteiligte ein. Das Mehrgenerationenhaus Familien-Zentrum-Freudenstadt e. V. stellt „sozialen Raum“ bereit, in dem Menschen, v. a. Mütter und ältere Menschen, sich (wieder) als Teil einer Gemeinschaft begreifen können. Im Kinder- und Jugendzentrum Freudenstadt (KiJuz) wird für Grundschulkinder und Jugendliche offene Kinder- und Jugendarbeit angeboten. Des Weiteren bietet die Katholische Junge Gemeinde (KjG) Freudenstadt Aktionen im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit an. Die FrauenHilfe Freudenstadt betreibt eine Beratungsstelle für Frauen, die von Gewalt betroffen sind oder Gewalt befürchten und dringend Hilfe suchen.
Dialekt
Freudenstadt liegt an der Sprachgrenze zwischen den schwäbischen und alemannischen Dialekten. Innerhalb der Raumgliederung der schwäbischen Mundart befindet sich die Stadt im Freudenstädter Raum, der sich von Alpirsbach über Freudenstadt bis in die Altensteiger Gegend erstreckt. Im Westen grenzt das Baiersbronner Gebiet, im Norden das Obere Enzgebiet und im Osten der Obere Neckarraum an. Im Süden schließt sich das Oberrheinalemannische an. Der Gebrauch des Dialekts ist, wie im gesamten schwäbischen Raum, immer noch sehr lebendig. Die Mundart wird für gewöhnlich sowohl in der Freizeit als auch im Betrieb, in öffentlichen Ämtern wie auch in den Schulen gesprochen und akzeptiert. Allerdings geht der Trend, besonders in der Kernstadt und bei jüngeren Menschen, zu einer Art Regiolekt, einer dialektal geprägten Hochsprache.
Religionen
Evangelische Kirche
Das Kloster Kniebis hatte eine seit 1535 ungenutzte Klosterkirche, die 1799 von den Franzosen niedergebrannt wurde. Infolge der württembergischen Gründung war Freudenstadt lange Zeit eine fast gänzlich protestantische Stadt mit einer dem Neubau-Stadtgrundriss angepassten sogenannten Winkelhakenkirche (siehe Abschnitt Sehenswürdigkeiten). Zunächst gehörte die junge Gemeinde zum Dekanat beziehungsweise Kirchenbezirk Herrenberg innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. 1672 wurde Freudenstadt Sitz eines eigenen Dekanats (→ Kirchenbezirk Freudenstadt), das das gesamte Freudenstädter Umland umfasst. Zunächst gab es nur die evangelische Stadtkirchengemeinde, 1960 entstand dazu die Martinskirche. Beide Kirchen bilden mit der Gemeinde Kniebis die Gesamtkirchengemeinde Freudenstadt. Auch in den anderen Stadtteilen gibt es evangelische Kirchen beziehungsweise Kirchengemeinden. In Dietersweiler, das zunächst eine Filialgemeinde von Glatten war, wurde 1901 eine eigene Pfarrei eingerichtet. Die dortige Kirche ist gotischen Ursprungs und wurde 1745 umgebaut. Grüntal war zunächst eine Filialgemeinde von Dornstetten, wurde aber bereits 1583 eigene Pfarrei. Die Pfarrkirche mit romanischem Turm wurde 1592 von Heinrich Schickhardt errichtet und 1871 erneuert. In Igelsberg gibt es eine evangelische Kirche im ummauerten Friedhof. Die Gemeinde Untermusbach ist eine Filialgemeinde von Grüntal. Wittlensweiler ist seit 1899 Pfarrei. Die alte Kirche wurde 1968 erneuert.
Im 19. Jahrhundert entstand in Freudenstadt eine christliche Gemeinschaft, die sich später als Altpietistische Gemeinschaft bezeichnete. Ihre Mitglieder nennen sich Apis und gehören zur Evangelischen Kirche von Württemberg.
Katholische Kirche
Im 19. Jahrhundert zogen vermehrt Katholiken nach Freudenstadt. Bereits 1859 gründeten sie eine eigene Pfarrei. Ihre Kirche Christi Verklärung (Taborkirche genannt) ist jedoch ein Neubau von 1931. Die Pfarrgemeinde Christi Verklärung Freudenstadt ist zusätzlich für die Katholiken des Umlands zuständig und bildet zusammen mit der katholischen Pfarrgemeinde Alpirsbach eine Seelsorgeeinheit innerhalb des Dekanats Freudenstadt der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Freikirchen
Freikirchen sind außerdem zwei Gemeinden und Teile des Sozialwerks Süd (unter anderem die Klinik Hohenfreudenstadt) der evangelisch-methodistischen Kirche, die Volksmission entschiedener Christen, die Heilsarmee, die Siebenten-Tags-Adventisten, die dem Mülheimer Verband angehörende Christus-Gemeinde, die Vineyard-Gemeinde und die Crossroads International Church, die zur Gemeinde Gottes Deutschland gehört. Eine freie christliche Gemeinde hat sich den Namen GOTOP gegeben.
Weitere Religionen
Die neuapostolische Kirche, die zum Apostelbereich Tübingen gehört, ist ebenfalls mit drei Gemeinden vertreten. Diese befinden sich in Freudenstadt sowie in den Stadtteilen Dietersweiler und Wittlensweiler.
Eine jüdische Gemeinde konnte sich nie wirklich etablieren. Um 1870 lebten nur zwei jüdische Personen in der Stadt, 1910 waren es 13. Eher kamen noch Kurgäste jüdischen Glaubens in koschere Hotels, wie die 1907 eröffnete Villa Germania oder das 1911 eröffnete Hotel Teuchelwald. Die wenigen ortsansässigen Juden schlossen sich der nächstgelegenen jüdischen Gemeinde in Horb an.
Der Türkisch-Islamische Kulturverein e. V. unterhält die Fatih-Moschee. Ferner gibt es ein Gebäude für religiöse Zeremonien der Aleviten.
Sehenswürdigkeiten
Marktplatz
Bekannt ist Freudenstadt vor allem durch den größten bebauten Marktplatz Deutschlands, auf dem eigentlich ein Schloss stehen sollte (siehe Abschnitt zur Geschichte). Er gilt als das Wahrzeichen der Stadt und ist circa 4,5 Hektar groß und mit den Maßen 219 × 216 Meter fast quadratisch. Charakteristisch sind die umlaufenden Laubengänge, Arkaden genannt. Drei Zierbrunnen auf dem Marktplatz überstanden den Zweiten Weltkrieg unversehrt. Der Markt wurde nach Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg 1950 im Heimatschutzstil wiederaufgebaut.
Stadtkirche
An der südwestlichenlichen Ecke des Platzes steht die evangelische Stadtkirche Freudenstadt von 1608. Sie ist eine der seltenen Winkelkirchen, ihr Grundriss ist L-förmig. 1945 schwer beschädigt wurde sie äußerlich wieder aufgebaut und im Innern vereinfacht wieder hergestellt. Sie besitzt eine Reihe wertvoller Ausstattungsstücke.
Rathaus
An der gegenüberliegenden nördlichen Ecke des Marktplatzes steht das Rathaus, das Teile der Stadtverwaltung beherbergt sowie zwei Aussichtsplattformen bietet. Im Zentrum des Platzes befindet sich das Stadthaus, in dem das Heimatmuseum mit den Abteilungen Volkskunde, Stadtgeschichte, Handwerk und Fremdenverkehr sowie die Stadtbücherei untergebracht sind. Eine Gedenksäule daneben erinnert an den Wiederaufbau der Stadt nach ihrer Zerstörung im Weltkrieg. Unter Anspielung auf die Finanzierung des Wiederaufbaus wird das Denkmal im Volksmund Hypothekenvenus genannt.
Friedrichsturm
Der Friedrichsturm ist ein im Jahr 1899 anlässlich des 300-jährigen Stadtjubiläums auf dem Kienberg erbauter 25 m hoher Aussichtsturm. Er wurde vom Schwarzwaldverein und dem Verschönerungsverein geplant und bei seiner Einweihung zu Ehren des Stadtgründers Herzog-Friedrich-Turm genannt.
Weiteres
Eine kulturhistorische Sehenswürdigkeit ist das Besucherbergwerk Freudenstadt.
Die Schwarzwaldhochstraße, Teil der Bundesstraße 500, ist die älteste Ferienstraße Deutschlands und verbindet Freudenstadt mit Wander- und Skigebieten des Nordschwarzwalds und der Stadt Baden-Baden. Freudenstadt liegt an der Deutschen Alleenstraße, die von Rügen nach Konstanz führt.
Die Schwarzwald-Fernwanderstrecken Mittelweg und Ostweg verlaufen durch die Stadt.
Freizeit
Seit 1929 besteht ein Golfclub. Die Anlage gilt als eine der ältesten in Deutschland.
Über den Landkreis hinaus bekannt ist das Panoramabad in der Nordstadt mit einem Wellness-Bereich und einer „Saunalandschaft“. Erreichbar ist das Bad auch mit der Stadtbahn (Haltestelle Schulzentrum/Panoramabad). Für den Mannschaftssport stehen in der Kernstadt drei Turnhallen, ein Stadion und mehrere Ballsportplätze zur Verfügung. Am Schierenberg gibt es mehrere Tennisplätze. Ebenfalls in der Nordstadt gelegen ist ein Reitverein. Eine Fußballschule hat ihren Sitz bei den Stadionanlagen. Größter Sportverein ist der TSV Freudenstadt. Für Wanderungen und Nordic Walking stehen zahlreiche gut ausgebaute und beschilderte Wanderwege zur Verfügung. Bei ausreichender Schneelage bieten sich Loipen oder der Skilift am Stokinger-Hang im Stadtteil Lauterbad an. Noch besser sind die Wintersportmöglichkeiten im höher gelegenen Ortsteil Kniebis.
Die Stadt verfügt über zwei Kinos. Das Subiaco im Kurhaus ist nicht-kommerziell und auf alternative Filme ausgerichtet. Das Central beim Amtsgericht deckt aktuelle Kinofilme ab. Zahlreiche Kneipen in der Loßburger und der Straßburger Straße, am Marktplatz und am Stadtbahnhof sorgen abends für Kurzweil. Beliebt ist die Freudenstädter Kneipennacht. Eine Diskothek befindet sich außerhalb des Zentrums in der Nähe des Hauptbahnhofs.
Regelmäßige Veranstaltungen
Die Umzüge der Narrenzunft Freudenstadt, vor allem der Große Fasnetsumzug, der am Tag nach dem Fackelumzug stattfindet, lockt tausende Hästräger und Zuschauer in die Stadt. Im März und Oktober veranstaltet der Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin (ZAEN) den ZAEN-Kongress im Kongresszentrum. Die Veranstaltung ist mit ihren Seminaren ein Forum zur Weiterbildung und zum Erfahrungsaustausch. In der Stadtkirche findet traditionell Ende April bis Anfang Mai das Eröffnungskonzert des Schwarzwald-Musikfestivals statt. Die Veranstaltungsserie dauert bis in den August und ist darüber hinaus in Stadtteilen zu Gast.
Anfang Juli verwandelt an einem Wochenende das Stadtfest den gesamten Marktplatz in den Schauplatz eines Volksfests, das am Samstagabend in einem großen Feuerwerk gipfelt. Seit 2002 unterhalten Mitte Juli örtliche Vereine beim Fontänenzauber am Unteren Marktplatz das Publikum musikalisch und artistisch vor der Kulisse der Freudenstädter Fontänen. Das üblicherweise mehrtägige Afrikafest findet gewöhnlich in der letzten Juliwoche auf dem Oberen Marktplatz statt. Die Darbietungen reichen von Tanz- und Musikvorführungen über Artistik, Kino, Ballspiele, Workshops, Ausstellungen und Basare bis zu Gottesdiensten.
Größter Beliebtheit erfreut sich im Juli und August das Freudenstädter Sommertheater, eine jährlich wechselnde Open-Air-Aufführung durch ortsansässige Amateurschauspieler. Das Publikum folgt den Akteuren dabei zu verschiedenen natürlichen Bühnen im Stadtgebiet. Für Tennisfans waren die Black Forest Open eine feste Größe im ATP-Kalender, die jährlich von 1999 bis 2009 parallel zu den US Open ausgetragen wurden. Spieler wie Magnus Norman, Gustavo Kuerten und Marat Safin kämpften bereits am Schierenberg um Weltranglistenpunkte.
Von Frühjahr bis Herbst finden auf dem Marktplatz wechselnde Veranstaltungen statt. Am ersten Oktoberwochenende findet auf dem Oberen Marktplatz der Kunsthandwerkermarkt des Handels- und Gewerbevereins Freudenstadt (HGV) parallel zu einem verkaufsoffenen Sonntag statt. Den Jahresausklang besiegelt der Ende November beginnende zehntägige Freudenstädter Weihnachtsmarkt des HGV. Zahlreiche Handwerkslädchen und Einzelhändler bieten in einem Dorf aus rund 100 Hütten ihre Waren an. Der Auftritt der Turmbläser auf dem Rathausturm zählt zu den Höhepunkten des Marktes.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Auf den Dienstleistungssektor entfielen im Jahr 2006 54,2 Prozent der Wertschöpfung, auf das produzierende Gewerbe 45,0 Prozent. Die Landwirtschaft spielte mit 0,8 Prozent eine kleine Rolle. Die Stadt bindet in der Region Nordschwarzwald überdurchschnittlich viel Kaufkraft. 2005 betrugen die Gesamteinnahmen je Einwohner 25.785 Euro, die ungebundenen Einnahmen beliefen sich auf 16.730 Euro, 4 Prozent über dem Landesschnitt. Die Stadt wies im Jahr 2007 einen Einpendlerüberschuss von 1.653 Arbeitnehmern auf. In Freudenstadt gab es im Jahr 1993 205 Ladengeschäfte. 2007 standen im Stadtgebiet 2.832 Gästebetten zur Verfügung. Die Anzahl der Übernachtungen betrug 339.292.
Das verarbeitende Gewerbe ist zum größten Teil in den Industriegebieten angesiedelt. Erwähnenswert sind insbesondere die Gebr. Schmid GmbH + Co. (Photovoltaik, Leiterplatten, Flachbildschirme), die Robert Bürkle GmbH (Maschinen zur Oberflächenveredlung), die Firma Georg Oest Mineralölwerk GmbH & Co. KG (Mineralölwerk, Tankstellen, Maschinenbau) sowie die Hermann Wein GmbH & Co. KG (Schwarzwälder Schinken). Auch die Kreissparkasse Freudenstadt zählt zu den größten Arbeitgebern. Der ehemals größte Arbeitgeber der Stadt, die Schlott Gruppe AG (Druckerzeugnisse), hatte 2011 Insolvenz angemeldet. Der Freudenstädter Betrieb wurde stillgelegt und fast alle Mitarbeiter entlassen.
Straßenverkehr
Es führen vier Bundesstraßen durch Freudenstadt.
Am Marktplatz treffen sich die Bundesstraßen B 28 (Kehl–Ulm) und B 462 (Rastatt–Rottweil); zusätzlich endet hier die gegen Ende deckungsgleich mit der B 28 verlaufende B 500 (Baden-Baden–Freudenstadt). Diese Straßen führen danach in West-Ost-Richtung auf einer gemeinsamen Trasse durch das Stadtgebiet.
Seit 1985 führt die in Nord-Süd-Richtung verlaufende B 294 (Bretten–Gundelfingen) als Ortsumgehung östlich an Freudenstadt vorbei.
Nach dem endgültigen Scheitern der Pläne für die „Schwarzwaldautobahn“ A 84 Anfang der 1980er-Jahre wurden andere Lösungen projektiert, um dem hohen Verkehrsaufkommen entgegenzuwirken, die gegenwärtig in die Umsetzungsphase gelangen. Dazu gehört der vierspurige Ausbau der B 28 in der Kernstadt mit dem Baubeginn Ende 2008 sowie eine Unterfahrung der Innenstadt in einem V-förmigen Tunnel (vordringlicher Bedarf im Bundesverkehrswegeplan).
Bus und Bahn
Im Jahr 1879 erhielt die Stadt durch den Bau der von Stuttgart über Herrenberg und Eutingen im Gäu nach Freudenstadt führenden Gäubahn Anschluss an den Eisenbahnverkehr. Da deren Weiterführung ins Tal der Kinzig damals bereits geplant war (und 1886 ausgeführt wurde), wurde der Hauptbahnhof im Südosten der Stadt, relativ weit vom Zentrum entfernt, errichtet. 1901 wurde der württembergische Teil der Murgtalbahn nach Klosterreichenbach gebaut. Dabei entstand der 60 Meter höher gelegene Stadtbahnhof nördlich des Zentrums, ein Einheitsbahnhof von Typ IIIb. Eine durchgehende Verbindung nach Rastatt (Baden) wurde 1928 eingerichtet. Somit ist Freudenstadt Ausgangspunkt dreier Bahnstrecken.
Die Murgtalbahn wird von der Stadtbahn Karlsruhe befahren. Die Linien S8 und S81 der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) verbinden Freudenstadt über Rastatt mit Karlsruhe. Dabei fährt die S8 stündlich bis in die Karlsruher Innenstadt, die Linie S81 hingegen nur in Tagesrandlagen, dafür direkt zum Karlsruher Hauptbahnhof. Die Stationen innerhalb Freudenstadts sind der Hauptbahnhof, der Stadtbahnhof sowie die Haltepunkte Schulzentrum-Panoramabad und Industriegebiet. Alle werden tagsüber im Halbstundentakt von Stadtbahnen bedient. Die S8 verkehrt hierbei bis in die frühen Morgenstunden.
Die Landeshauptstadt Stuttgart wird über die Bahnstrecke Eutingen im Gäu–Schiltach und weiter über die Bahnstrecke Stuttgart–Horb erreicht. Beide werden auch als Gäubahn bezeichnet. Es besteht ein Stundentakt mit Verdichtungen im Schülerverkehr. Die von Karlsruhe kommende S8 fährt alle zwei Stunden über die seit 2006 elektrifizierte Strecke bis Eutingen; dort ist Anschluss an den Regional-Express (RE) Stuttgart–Singen. Dazwischen gibt es mit dem RE ab Freudenstadt eine Direktverbindung zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Wie auf der Murgtalbahn fährt die S8 hier bis frühmorgens.
Richtung Kinzigtal verkehren Züge der Südwestdeutschen Landesverkehrs-AG (SWEG), die Freudenstadt stündlich über Alpirsbach, Schiltach und Hausach mit Offenburg verbinden.
Fernverkehr gibt es in Freudenstadt seit der Jahrtausendwende nicht mehr. In Hausach, Horb, Karlsruhe, Offenburg und Rastatt bestehen Umsteigemöglichkeiten auf Intercity (IC) oder Intercity-Express (ICE).
Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) mit über 40 Buslinien ist zusammen mit dem unmittelbar angrenzenden Stadtbahnhof mit den Stadtbahnlinien S81 und S8 einer der Hauptverkehrsknoten im Schwarzwald. Stadtbusse fahren Ziele in der Kernstadt an. Die meisten Gemeinden im Landkreis sind umsteigefrei oder über den Knoten Horb zu erreichen. Ebenso werden touristische Ziele, wie der Mummelsee und der Schliffkopf, angefahren, und es gibt jahreszeitabhängige Angebote wie Skibusse. Öffentliche Verkehrsverbindungen zu Städten in den Nachbarlandkreisen, wie Oberndorf, Wolfach, Altensteig oder Dornhan, bestehen; doch haben viele Buslinien, insbesondere in kleinere Gemeinden, keinen dichten Fahrplan. In den Nächten auf Samstage, Sonn- und Feiertage fährt das Nachtbusangebot Nachtexpress, in Ergänzung des nächtlichen Schienenverkehrs.
Im gesamten Landkreis gelten der Verbundtarif der Verkehrs-Gemeinschaft Landkreis Freudenstadt (VGF) und das Ticketangebot RegioX des Karlsruher Verkehrsverbundes (KVV).
Medien und Telekommunikation
Als regionale Tageszeitungen berichten sowohl der Schwarzwälder Bote als auch die Neckar Chronik der Südwest Presse über das Geschehen vor Ort. Kostenfreie Wochenzeitungen sind der WOM der Schwarzwälder-Bote-Mediengesellschaft sowie der Anzeiger. Ansässig ist zudem der Radiosender Freies Radio Freudenstadt (FRF).
Das Hotel Palmenwald sowie verschiedene Objekte wie das Rathaus sind Drehorte der ARD-Fernsehserie Der Schwarzwaldhof, die seit 2008 ausgestrahlt wird.
Gerichte, Behörden und Einrichtungen
Freudenstadt ist Sitz des Amtsgerichts, das zu den Bezirken des Landgerichts Rottweil und des Oberlandesgerichts Stuttgart gehört. Die Stadt ist Sitz des Landratsamts des gleichnamigen Landkreises und beherbergt den Großteil seiner Verwaltungsbehörden. Ferner gibt es ein Finanzamt.
Die Stadt ist Sitz des Kirchenbezirks Freudenstadt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Der evangelische Schuldekan für die Kirchenbezirke Freudenstadt und Sulz am Neckar hat seinen Dienstsitz in Freudenstadt, das römisch-katholische Dekanat Freudenstadt jedoch in Horb am Neckar. Die Industrie- und Handelskammer Nordschwarzwald unterhält eine Geschäftsstelle im Industriegebiet Freudenstadt-Wittlensweiler.
Bildung
Die Schulen in Trägerschaft der Stadt sind zum einen das Kepler-Gymnasium und die Kepler-Hauptschule, die beide in einem Gebäudekomplex nördlich des Zentrums und unweit der Sportanlagen untergebracht sind. Südöstlich in Richtung des Hauptbahnhofs liegt die Falken-Realschule, unweit davon entfernt die Hartranft-Grundschule, eine offene Ganztagsschule mit einer Außenstelle im Stadtteil Kniebis. Die Theodor-Gerhard-Grundschule mit integrierter Werkrealschule als zweite Grundschule der Kernstadt befindet sich gegenüber den oben genannten Keplerschulen. Die Stadtteile Dietersweiler und Wittlensweiler haben jeweils eine eigene Grundschule.
Zu den Schulen in Trägerschaft des Landkreises zählen die Eduard-Spranger-Schule, eine kaufmännische Schule mit wirtschaftswissenschaftlichem Gymnasium, die Heinrich-Schickhardt-Schule als gewerblich-technische Schule mit technischem Gymnasium sowie die Luise-Büchner-Schule als hauswirtschaftliche Schule mit ernährungswissenschaftlichem Gymnasium. Alle drei Schulen sind in einem Gebäudekomplex im Nordosten des Zentrums nahe dem Hauptfriedhof untergebracht und verfügen über eine eigene S-Bahn-Haltestelle. Die Christophorus-Schule, eine Förderschule, findet sich nördlich in der Nähe des Schwarzwald Centers.
Die untere Schulaufsichtsbehörde für die Grund-, Haupt-, (Werk-)Real- und Sonderschulen in Freudenstadt ist seit dem 1. Januar 2009 das Staatliche Schulamt Rastatt. Die Gymnasien unterstehen zunächst dem Regierungspräsidium Karlsruhe.
In Freudenstadt sind mit der nordwestlich gelegenen evangelischen Berufsfachschule für Kinderpflege Oberlinhaus und der freien Waldorfschule unweit des Hauptbahnhofes zwei Privatschulen ansässig.
Nachdem die Stadt ihre Jugendmusikschule im Jahr 2005 aus finanziellen Gründen nicht weiter betreiben konnte, bildete sich ein Trägerverein aus Musiklehrern des Kepler-Gymnasiums, den Kirchenmusikern der beiden großen Kirchen und anderen engagierten Bürgern, die im Jahr 2006 die Musik- und Kunstschule Region Freudenstadt e. V. ins Leben riefen. Ihre Arbeit wurde inzwischen mit zahlreichen Preisen bei Jugend musiziert und anderen Wettbewerben ausgezeichnet.
In der Stadt gibt es zudem ein Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Grund-, Werkreal- und Hauptschulen). Das Eduard-von-Hallberger-Institut bietet angehenden ausländischen Studenten deutschsprachiger Hochschulen Sprach- und Studienvorbereitungskurse. Außerdem ist Freudenstadt Sitz des Hochschulinstituts für Psychologie und Seelsorge (IPS) der Gustav-Siewerth-Akademie. Das Europäische Theologische Seminar im Stadtteil Kniebis bietet Studienmöglichkeiten in Theologie.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Stadt
Johannes Ettwein (1721–1802), Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine in Pennsylvania
Johann Gottfried Küstner (1803–1864), Lithograph
Julius Schmidlin (1811–1881), württembergischer Oberamtmann
Ferdinand Thrän (1811–1870), Dombaumeister am Ulmer Münster
Heinrich Stahl (1834–1906), württembergischer Oberamtmann
Heinrich Georgii (1842–1926), Klassischer Philologe und Gymnasiallehrer
Emil Noellner (1847–?), Architekt und Dekorationsmaler in Breslau
Max Bauder (1877–nach 1935), Architekt
Wilhelm Baessler (1878–1975), Hotelier und Politiker (CDU)
Theodor Bauder (1888–1945), Bauingenieur und SA-Führer
Theo-Helmut „Theobald“ Lieb (1889–1981), Generalleutnant im Zweiten Weltkrieg
Otto Steurer (1893–1959), Arzt, Hochschullehrer und Rektor der Universität Rostock
Friedrich Eberhardt (1895–1971), Maler, Grafiker und Kunsthandwerker
David Fahrner (1895–1962), Bildhauer und Zeichner
Gerhard Pfahler (1897–1976), Psychologe und Erziehungswissenschaftler, beteiligt an der „Rassenpsychologie“ des Nationalsozialismus
Albert Schmierer (1899–1974), Reichsapothekenführer
Paul Kollsman (1900–1982), Erfinder
Kurt Walter Merz (1900–1967), Chemiker und Pharmakologe
Helmut Kunz (1910–1976), Zahnarzt, NSDAP-Mitglied und Mitglied der Waffen-SS
Gustav Memminger (1913–1991) nationalsozialistischer Funktionär, Unternehmer
Friedrich Stock (1913–1978), MdL und Fraktionsvorsitzender der baden-württembergischen FDP/DVP
Rolf E. Straub (1920–2011), Professor für Technologie der Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Franz Lazi (1922–1998), Industrie- und Werbefotograf sowie Dokumentarfilmer
Gerhard Hertel (1924–2007), Finanzbeamter, Kommunalpolitiker und Heimatforscher
Eugen Mahler (1927–2019), Internist, Künstler und emeritierter Professor an der Universität Kassel für Psychoanalyse und Gruppendynamik
Arno Votteler (1929–2020), Industriedesigner
Hermann Braun (* 1932), Philosoph und Hochschullehrer
Hans-Martin Gauger (* 1935), Romanist, Sprachwissenschaftler und Autor
Karl-August Schaal (1935–2017), Politiker (Die Republikaner)
Hermann Wagner (* 1941), Mediziner
Waltraud Monika Fischer (1944–1991), Malerin und Grafikerin
Günter Mahler (1945–2016), Physiker
Gerhard Walter (* 1949), Rechtswissenschaftler
Klaus Fischer (* 1950), Unternehmer
Ludwig Duncker (* 1951) Erziehungswissenschaftler und Hochschullehrer
Michael Schultz (1951–2021), Galerist und Kunsthändler
Hartmut Volle (* 1953), Schauspieler
Johannes Schweikle (* 1960), Journalist und Autor
Michael Volle (* 1960), Opernsänger (Bariton)
Christine Walde (* 1960), Altphilologin
Hardy Hermann (* 1961), Profitänzer, Tanztrainer und Tanzsportfunktionär
Jörg Frey (* 1962), evangelischer Neutestamentler
Birgit Bergmann (* 1963), Politikerin (FDP), Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft
Klaus N. Frick (* 1963), Chefredakteur der Science-Fiction-Serie Perry Rhodan
Carl Finkbeiner (* 1964), Kameramann
Harald Schmid (* 1964), Politikwissenschaftler und Zeithistoriker
Manfred Bischoff (* 1968), Bauingenieur
Detlef Roth (* 1970), Opern- und Konzertsänger
Rainer Rothfuß (* 1971), Geograph und Politiker (CSU, AfD)
Roland Braun (* 1972), Nordischer Kombinierer
Henriette Gärtner (* 1975), Pianistin
Dunja Dogmani (* 1977), Schauspielerin, Synchron- und Hörspielsprecherin und Regisseurin
Mario Glaser (* 1978), parteiloser Politiker
Benjamin Stoll (* 1979), Schauspieler, Regisseur und Autor
Robert Marijanović (* 1980), Dartspieler
Jens Kaufmann (* 1984), Nordischer Kombinierer
Petra Lammert (* 1984), Leichtathletin in der Disziplin Kugelstoßen
Simone Hirth (* 1985), Schriftstellerin
Benjamin Huber (* 1985), Fußballtorhüter
Marcel Schuon (* 1985), Fußballspieler
Sebastian Schwarz (* 1985), Volleyballspieler
Selene Kapsaski (* 1986), deutsch-englische Schriftstellerin, Filmregisseurin und -produzentin, Schauspielerin und Kamerafrau
Katrin Schindele (* 1987), Politikerin (CDU)
Andreas Günter (* 1988), Nordischer Kombinierer
Andrea Rothfuß (* 1989), Skirennläuferin
Rahel Kapsaski (* 1991), deutsch-englische Schauspielerin, Filmproduzentin und Model
Sinan Tekerci (* 1993), Fußballspieler
Weitere Persönlichkeiten
Friedrich I. (1557–1608), Gründer von Freudenstadt
Heinrich Schickhardt (1558–1635), Baumeister von Freudenstadt
Eberhard Gmelin (1751–1809), Begründer der Heilbronner Hypnose
Karl Burger (1883–1959), Fußball-Nationalspieler
Georg Lindemann (1884–1963), Generaloberst im Zweiten Weltkrieg
Wolfgang Kohlrausch (1888–1980), Begründer der deutschen Krankengymnastik und Leiter des Sanatoriums Hohenfreudenstadt
Hans Rommel (1890–1979), Oberstudienrat, Stadtarchivar und Gründer der „Freudenstädter Heimatblätter“
Martin Haug (1895–1983), Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
Hanns Vogts (1900–1976), Schriftsteller
Klaus Mehnert (1906–1984), politischer Journalist, Publizist und Autor
Ludwig Schweizer (1910–1989), Architekt, Stadtbaurat
Margret Hofheinz-Döring (1910–1994), Malerin, Wohnung in Freudenstadt 1953 bis 1974
Friedrich Schlott (* 10. Juni 1914 in Kirchbach; † 21. Dezember 1997 in Freudenstadt), Unternehmer, Mäzen und Wohltäter der Stadt
Joseph Abileah (ursprünglich Wilhelm Niswiszki) (1915–1994), israelischer Violinist und Friedensaktivist, 1948 erster verurteilter israelischer Kriegsdienstverweigerer, starb in Freudenstadt
Wolfgang Altendorf (1921–2007), Schriftsteller, Verleger und Maler
Werner J. Egli (* 1943), Schweizer Schriftsteller
Wolfgang Tzschupke (* 1945), Forstwissenschaftler, Gemeinderat
Costa Cordalis (1944–2019), deutschsprachiger Schlagersänger; wohnte im Stadtteil Kniebis
Jürgen Klopp (* 1967), Fußballspieler und -trainer, absolvierte in Freudenstadt sein Abitur an der Eduard-Spranger-Schule
Kevin Kurányi (* 1982), Fußballspieler; absolvierte ab 1997 seine Schulausbildung an der Kepler-Hauptschule
Literatur (alphabetisch sortiert)
Jan Ilas Bartusch: Der Freudenstädter Taufstein und das Bietenhausener Tympanon – Zwei frühe Steinmetzarbeiten der Alpirsbacher Klosterhütte, in: (Hrsg.) Hohenzollerischer Geschichtsverein e. V.: Zeitschrift für Hohenzollerische Landesgeschichte, 51./52. Band, Sigmaringen 2015/2016.
Gerhard Hertel: Freudenstadt in alten Ansichtskarten. Frankfurt am Main 1979
Gerhard Hertel: FREUDENSTADT (Schwarzwald) – Bilder aus den Jahren 1850–1950. Horb am Neckar 1987
Nils Krüger: Ludwig Schweizer, Architekt zwischen Tradition und Moderne – Der Wiederaufbau von Freudenstadt. Das Wunder im Quadrat. Freudenstadt 2019
Weblinks
Internetpräsenz der Stadt Freudenstadt
Einzelnachweise
Anmerkungen
Ort im Landkreis Freudenstadt
Idealstadt
Kurort in Baden-Württemberg
Planstadt
Kreisstadt in Baden-Württemberg
Große Kreisstadt in Baden-Württemberg
Exulantenstadt
Katastrophe 1945 |
1943 | https://de.wikipedia.org/wiki/Go%20%28Spiel%29 | Go (Spiel) | Go (; japanisch ; koreanisch ; wörtlich „Umzingelungsspiel“) ist ein Brettspiel für zwei Spieler und gilt als das komplexeste aller weltweit bekannten Strategiespiele. Das Spiel stammt ursprünglich aus dem antiken China und hat sich im Laufe seiner Geschichte auch in Japan und Korea entfaltet. In diesen Ländern genießt das Go ein dem westlichen Schach vergleichbares Ansehen.
Erst seit dem späten 19. Jahrhundert findet Go außerhalb Ostasiens Verbreitung. Unter den westlichen Ländern zählt Deutschland die meisten aktiven Spieler. Die International Go Federation (IGF) bezifferte im Jahr 2011 die Zahl der Go-Spieler weltweit auf rund 40 Millionen. Die British Go Association (BGA) gab 2013 die Zahl der weltweiten Spieler mit 60 Millionen an.
Charakterisierung
Zwei Spieler setzen abwechselnd linsenförmige Spielsteine auf die Schnittpunkte der Spielfeldlinien. Dabei versuchen sie, „Gebiet“ abzugrenzen, dieses zu sichern und dabei nach Möglichkeit Spielsteine des Gegners „gefangen“ zu nehmen. Durch das Setzen von geeigneten Formationen können nach und nach gesicherte Stellungen geschaffen werden. Nach Spielende wird die Größe der Gebiete verglichen und die Anzahl der gefangenen Spielsteine hinzugezählt. Das Ziel ist also nicht, den Gegner vollständig zu vernichten, sondern mehr Punkte als dieser zu erzielen. Go ist dank der Anzahl möglicher Spielzüge so komplex, dass ein Spieler sein Leben lang an der Verfeinerung seines Stils und seiner Spielstärke arbeiten kann. Dabei sind die vier Grundregeln so einfach, dass man nach einer kurzen Einführung sofort spielen kann. Der Reiz des Spiels liegt darin, dass die Spieler jederzeit sowohl die lokalen Situationen als auch das Gesamtbild beachten sollten. Eine lokal verlorene Situation kann später noch mit anderen Stellungen auf dem Brett wechselwirken und so eine nützliche Rolle haben. Jeder gesetzte Stein hat häufig mehrere Funktionen, von der Stärkung einer eigenen Gruppe von Steinen über die Schaffung einer Verbindungsmöglichkeit mit einer zweiten Gruppe bis hin zu einem Angriff auf gegnerisches Territorium. Deshalb können Spieler je nach Veranlagung versuchen, möglichst große Territorien anzulegen oder genau dies beim Gegner zu verhindern. Schwächere Spieler streben oft frühzeitig sichere Territorien an, während starke Spieler vielfach erst in einer späten Partiephase ihre Gebietsanlagen zu sicherem Territorium machen.
Unterschiedliche Spielstärken können durch bis zu neun Vorgabesteine ausgeglichen werden. Dadurch hat auch ein schwächerer Spieler eine Chance auf den Sieg, während für den stärkeren Spieler die Herausforderung darin besteht, trotz der Vorgabe zu gewinnen.
Die technische Beherrschung des Spiels ist zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt des Go: Das Spiel kann zur Meditation anregen und grundsätzliche Einsichten über Konfliktsituationen vermitteln. In den unterschiedlichen Arten, mit den Herausforderungen des Go umzugehen, spiegeln sich Aspekte der jeweiligen Spieler-Persönlichkeit. Eine von beiden Spielern gut geführte Partie kann als Kunstwerk empfunden werden.
Etymologie – Die Bezeichnung Go
Die moderne chinesische Bezeichnung für Go ist „Weiqi“ (). Daneben gibt es die seltenere Bezeichnung „Yiqi“ () oder kurz „Yi“ (). Diese Namen sind Zusammensetzungen mit dem Wort „Qi“ (), das in klassischen chinesischen Texten oft allein für das Spiel verwendet wird.
In Japan ist (jap. ) zwar ebenfalls gebräuchlich, in erster Linie wird aber das Schriftzeichen (jap. ) bzw. dessen Kompositum verwendet. Die in der westlichen Welt etablierte Bezeichnung „Go“ ist der klassische japanische Name des Spiels.
Letztlich haben alle drei Schriftzeichen „, bzw. “ denselben historischen Ursprung und sind grafische Varianten voneinander. Gebrauch, Bedeutung und Lesung der drei Zeichen unterscheiden sich heute jedoch in China und Japan bzw. Korea.
Geschichte
China
Die genauen Ursprünge des Spiels sind ungeklärt. Nach Auffassung einiger Autoren beziehen sich bereits Stellen in den Zuozhuan-Annalen (4. Jahrh. v. Chr.) auf das in China als Weiqi bezeichnete Spiel. Sicher zugeordnete Bezüge und archäologische Funde stammen aus der Zeit kurz nach der Zeitenwende. Daher kann man Go gemeinsam mit Backgammon und Mühle zu den ältesten bekannten Strategiespielen der Welt zählen. In der Han-Zeit verbreitete sich Weiqi in der Bevölkerung und wurde auch in der Beamtenelite ein Zeitvertreib. Während der Tang-Dynastie erlebte Weiqi eine erste Blüte, sodass es auch am Kaiserhof ausgiebig gespielt wurde. Die Tang-Zeit war eine bedeutende Epoche der chinesischen Geschichte, in der die Kultur einen Höhepunkt erlebte. Die kaiserliche Bürokratie benötigte unzählige Beamte, wodurch eine gut ausgebildete Klasse zur Verfügung stand, die sich für das Weiqi-Spiel interessierte. Zu jener Zeit gehörte das Spiel zu den vier klassischen Künsten Lautenspiel, Brettspiel, Kalligrafie und Malerei (Qin Qi Shu Hua ), die eine gebildete Person beherrschen sollte.
Unter späteren Dynastien behielt das Brettspiel seine Anziehungskraft. So soll auch der Song-Kaiser Huizong ein begeisterter Weiqi-Spieler gewesen sein, ebenso wie der erste Ming-Kaiser Hongwu, der eine berühmte Partie gegen seinen General Xu Da verlor und diesem daraufhin seine Gartenvilla in Nanjing schenken musste. Noch am kaiserlichen Hof der Qing-Dynastie war das Spiel beliebt. Mit dem Untergang des Kaiserreichs 1911 versank Weiqi mit der verlorenen kultivierten Oberschicht Chinas weitestgehend. Erst in den 1980er Jahren nach der Kulturrevolution kam es zum Wiederaufleben des Weiqi.
Korea
In Korea wird Go als Baduk bezeichnet. Die Etymologie des Begriffs ist unklar und lässt sich nicht aus den chinesischen Schriftzeichen ableiten. Das Spiel war wahrscheinlich schon in der Drei-Reiche-Zeit (1.–7. Jh.) bekannt und dürfte in den obersten Schichten ähnlich beliebt wie in China gewesen sein. Ab der mittleren Joseon-Zeit (16. –20. Jh.) verbreitete sich das Sunjang Baduk, eine Variante des Spiels, in der die ersten 16 Züge fix positioniert wurden. Dies führte zu einer kampfbetonten Spielweise, in der übergeordnete Strategien der Eröffnung (fuseki) keine Rolle spielten. Erst unter japanischer Okkupation (1910–1945) wurden die alten Regeln erneut in Korea eingeführt. In die Szene der internationalen Spitzenprofis fanden zunächst nur japanische Exil-Koreaner wie Chō Chikun (kor. Jo Chi-hun) Eingang, bevor in den 1980er Jahren ein Baduk-Boom einsetzte, der internationale Meister wie Lee Sedol hervorbrachte und die japanische Profi-Szene von der Spitze verdrängte.
Japan
Die Legende besagt, dass Kibi no Makibi (695–775) das Spiel 735 nach Japan brachte. Er wurde als Gesandter in die chinesische Hauptstadt Chang’an beordert, das politische und kulturelle Zentrum der damaligen Welt. Dort sollte er am Hof des Tang-Kaisers Xuanzong Wissenschaften und Künste studieren. Von 717 bis 735 blieb er in Chinas Hauptstadt. Auf seiner Rückreise soll er dann ein Weiqi-Spiel mitgenommen haben, das er dann unter dem Namen Go in seiner Heimat bekannt machte. Womöglich ist es tatsächlich Kibi no Makibi zu verdanken, dass dieses Spiel in die japanische Aristokratie eingeführt wurde, galt doch die verfeinerte Kultur der Tang-Herrscher als vorbildlich für die Japaner. Dennoch findet sich das japanische Schriftzeichen für Go () bereits im Kojiki aus dem Jahr 712, was dafür spricht, dass das Spiel schon vor Kibi in Japan bekannt war.
Mit Beginn der Edo-Periode im frühen 17. Jahrhundert änderten sich die politischen Verhältnisse in Japan grundlegend. Der neue Shōgun aus dem Hause der Tokugawa war dem Go sehr zugetan und förderte es stark: Es entstand der Posten des godokoro („Go-Minister“) und ein jährlicher Wettkampf o-shiro-go (wtl. „Go in der Burg“) in Anwesenheit des Shōgun, bei der der stärkste Go-Spieler ermittelt wurde. Zu diesem Zweck erhielten die stärksten Spieler Stipendien, sodass sie sich ausschließlich dem Go widmen konnten. Um diese Zeit entstanden so vier Schulen, die bis ins 19. Jh. bestanden: die Honinbo-Schule, die Inoue-Schule, die Yasui-Schule und die Hayashi-Schule.
Unter diesen vier Schulen herrschte große Rivalität, was dem Go-Spiel zu einem bis dato nicht erreichten Niveau verhalf. Unter anderem wurde in dieser Zeit ein Rangsystem eingeführt, welches an das der Kampfkünste angelehnt war. Der beste Spieler der Edo-Periode, Shūsaku Kuwahara, entwickelte unter anderem eine neue Eröffnung, die nach ihm benannte Shūsaku-Eröffnung, die noch bis ins 20. Jahrhundert gespielt wurde. Shūsaku blieb während der jährlichen o-shiro-go-Wettkämpfe 19 Mal in Folge ungeschlagen, bevor er im Alter von 33 Jahren der Cholera-Epidemie von 1862 bis 1863 erlag.
Mit dem Fall des Tokugawa-Shogunats 1868 endete auch die staatliche Subvention der Go-Schulen. Mit der Zeit übernahmen aber Tageszeitungen die Rolle von Go-Sponsoren, sodass das hohe Niveau des japanischen Go erhalten blieb. Zu Ehren der Honinbo-Schule, der die meisten Top-Spieler des vormodernen Japan entstammten, trägt eine der japanischen Meisterschaften den Namen Honinbo.
Die Blüte, die das japanische Go durch seine frühe Förderung erfuhr, führte dazu, dass die weltweit stärksten Spieler bis ins späte 20. Jahrhundert zumeist aus Japan kamen. Dies mag zugleich ein Grund dafür sein, warum das Spiel in westlichen Sprachen unter seiner japanischen Bezeichnung besser bekannt ist als unter seinem ursprünglichen chinesischen Namen. Seit den späten 1980er Jahren ist es jedoch in China und vor allem in Korea zu einem regelrechten Go-Boom gekommen, der dazu geführt hat, dass Japan seine ehemalige Vormachtstellung bei internationalen Turnieren verloren hat.
Go war lange Zeit eine Männerdomäne, ähnlich dem Schach. Jedoch haben die Öffnung von Turnieren und der Aufstieg starker weiblicher Spieler, vornehmlich Rui Naiwei, zunehmend die Kompetenz und Spielstärke von Spielerinnen unter Beweis gestellt.
In Japan gibt es schätzungsweise zehn Millionen Go-Spieler. Seit 1998 hat die japanische Manga- und Anime-Serie Hikaru no Go, deren Geschichte sich mit Go-Spielern befasst, die Popularität von Go unter Kindern und Jugendlichen stark erhöht. Auf der ganzen Welt ist seitdem die Anzahl von Go-Clubs, Go-AGs und jugendlichen Go-Spielern deutlich gestiegen.
Andere Länder
In Europa wurde Go in den 1880er Jahren durch eine Artikelserie von Oskar Korschelt erstmals detailliert beschrieben: Das japanisch-chinesische Spiel „Go“. Ein Concurrent des Schach. Kurz danach wurden unter anderem in Leipzig und Wien erste Spielsets zum Verkauf angeboten. Bereits 1909 erschien eine deutsche Go-Zeitung in Graz, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland von Bruno Rüger fortgeführt wurde. Dank dieser publizistischen Tätigkeiten kommt dem deutschsprachigen Raum eine Pionierrolle in der Verbreitung des europäischen Go-Spiels zu. Emigranten aus Deutschland sorgten außerdem für die Verbreitung des Go in den USA, in den meisten nicht-asiatischen Industrienationen etablierte sich das Spiel aber erst ab den 1950er Jahren. In vielen größeren Städten entstanden Clubs und die ersten regelmäßigen Turniere fanden statt.
Mit etwas Verzögerung verbreitete sich Go in Osteuropa. In den 1980er Jahren war es begabten Spielern möglich, zu Turnieren ins westliche Ausland zu fahren, was für einen Motivationsschub sorgte. Seit den 1990er Jahren wird das europäische Spitzen-Go von Spielern aus den ehemals kommunistischen Ländern dominiert.
Deutschland verfügt sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen über die größte Go-Gemeinde außerhalb Ostasiens. Der Deutsche Go-Bund hat mit Stand Mitte 2021 über 2000 Mitglieder.
Philosophie
Es gibt verschiedene Legenden zur Entstehung des Spieles, die die philosophischen Ideen und kulturellen Werte hinter dem Go veranschaulichen. Einer Überlieferung nach wurde das Spiel vom mythischen Urkaiser Yao als Unterrichtswerkzeug für seinen Sohn Danzhu entworfen, um ihn Disziplin, Konzentration und geistige Balance zu lehren. Dieser Legende verdankt das Spiel auch sein oft kolportiertes (aber historisch nicht belegtes) Alter von 4000 Jahren. Eine andere vermutete Genese des Spiels gibt an, dass in alten Zeiten chinesische Kriegsherren und Generäle Stücke eines Steins benutzten, um die Positionen auf dem Schlachtfeld abzubilden. Diese Legenden spiegeln die beiden grundlegenden Ideen des Go wider: die Entwicklung des eigenen Charakters und die Veranschaulichung des Wettstreits zweier Elemente. Oft bezieht man sich auf die im Daoismus verwurzelten Elemente Yin und Yang, die als treibende Kräfte auch auf dem Go-Brett agieren.
Regeln
Zusammengefasst: Die Spieler setzen abwechselnd jeweils einen eigenen Stein auf die Schnittpunkte der Linien des Brettes. Man kann gegnerische Steine und Steingruppen schlagen, indem man sie rundum einschließt. Am Ende gewinnt der Spieler, der den größeren Teil des Brettes kontrolliert.
Die Grundregeln sind seit Entstehen des Spiels unverändert geblieben. Hier wird eine japanische Version der Regeln dargestellt, die in Deutschland populär ist. Andere Regeln (die chinesischen Regeln oder die Ing-Regeln) unterscheiden sich in Details. So erfolgt beispielsweise das Auszählen am Ende des Spieles anders, was aber fast immer zum selben Gewinner führt.
Das Spielmaterial besteht traditionell aus 181 schwarzen und 180 weißen Steinen, und die Parteien werden dementsprechend „Schwarz“ und „Weiß“ genannt. Dem Prinzip des Spiels nach ist die Anzahl der Züge nicht begrenzt. Die traditionelle Anzahl der Spielsteine reicht aber praktisch immer aus.
Auf dem Spielbrett sind 19 horizontale und 19 vertikale Linien, die ein Gitter von 19×19 = 361 Schnittpunkten bilden. Auf diese Punkte werden die Steine gesetzt. Für kürzere Partien und besonders für Anfänger eignen sich kleinere Spielbretter, meistens in der Größe 13×13 oder 9×9. Die Spielregeln sind für alle Brettgrößen gleich.
Regel 1: Ziehen
Das Brett ist zu Beginn leer, es sei denn, der schwächere Spieler erhält eine Vorgabe. Schwarz beginnt, die Spieler ziehen dann abwechselnd. Der Spieler, der am Zug ist, darf einen Stein aus seinem Vorrat auf einen beliebigen leeren Punkt setzen. Anders als beim Schach gibt es jedoch keine Zugpflicht, das heißt, ein Spieler darf auch auf seinen Zug verzichten (passen). Wenn beide Spieler nacheinander passen, ist das Spiel zu Ende. Dies tritt dann ein, wenn beide Spieler erkennen, dass weiteres Setzen keinen Punktgewinn oder sogar einen Punktverlust bedeuten würde. Es wird allgemein also nie ein Spieler zu einem für ihn ungünstigen Zug gezwungen; das zeigt sich auch beim Thema „Seki“, siehe im Abschnitt #Leben und Tod.
Gesetzte Steine werden im weiteren Spiel nicht mehr bewegt (daher sprechen manche Spieler, besonders nach einer Tradition der DDR, nicht von „Zügen“, sondern von „Sätzen“). Steine können aber unter bestimmten Bedingungen geschlagen, d. h. vom Brett entfernt werden (siehe unten).
Regel 2: Freiheiten von Steinen und Gruppen
Unbesetzte Punkte, die einem Stein benachbart sind, werden Freiheiten dieses Steins genannt. Benachbart sind Punkte, wenn sie direkt nebeneinander liegen und durch eine Linie des Spielbretts verbunden sind. Benachbart sind also horizontal und vertikal angrenzende, aber nicht diagonal gegenüberliegende Punkte. Ein Punkt in der Mitte des Spielbretts besitzt vier Nachbarpunkte, somit maximal vier Freiheiten, einer am Rand drei und einer in der Ecke nur zwei.
Wenn ein Nachbarpunkt eines Steins mit einem gegnerischen Stein besetzt ist, hat der Stein hierdurch eine Freiheit weniger. Eigene Steine auf einem Nachbarpunkt nehmen jedoch keine Freiheiten weg, vielmehr bilden alle durch eine Linie verbundenen Steine derselben Farbe eine Gruppe, meist Kette genannt. Freiheiten werden dann immer nur für eine Kette als ganze betrachtet. Die Freiheiten einer Kette sind alle die unbesetzten Punkte, die zu irgendeinem ihrer Steine benachbart sind. Damit keine Fallunterscheidung zwischen Kette und Einzelstein nötig ist, wird ein einzeln liegender Stein ebenfalls als Kette (der Länge 1) aufgefasst.
Die Regel besagt nun, dass jede Kette auf dem Brett (nach Abschluss des jeweiligen Zuges, siehe nächster Abschnitt) mindestens eine Freiheit besitzen muss.
Das Bild unten links zeigt fünf einzelne schwarze Steine, von denen vier nur noch eine Freiheit haben (durch ein Quadrat gekennzeichnet). Am rechten Rand befindet sich eine Kette von drei schwarzen Steinen, darüber eine Kette von zwei weißen Steinen. Die schwarze Kette im Bild hat genau eine Freiheit (Quadrat), die weiße Zweierkette darüber hat vier. Die diagonal neben der Zweierkette liegenden weißen Steine gehören, wie oben erklärt, nicht zu dieser Kette.
Regel 3: Schlagen
Durch einen Zug, mit dem die letzte Freiheit einer gegnerischen Kette besetzt wird (welche auch ein Einzelstein sein kann, s. o.), wird diese Kette „geschlagen“ (auch: „gefangen“ oder „getötet“). Sie wird dann vom Brett genommen; der schlagende Spieler bewahrt diese Steine für die Punkteabrechnung bei sich auf (als „Gefangene“). Man kann eine Kette nur als Ganzes schlagen, nicht Teile davon. Ein Zug kann aber auch mehreren Ketten gleichzeitig die letzte Freiheit nehmen. Es werden in jedem Fall alle gegnerischen Ketten geschlagen, die keine Freiheit mehr haben. Im Vergleich der beiden obigen Bilder sieht man die Folgen einiger Schlag-Züge.
Für die Regel, dass jede Kette mindestens eine Freiheit haben muss, zählt der Zustand nach Abschluss des Zuges. Das Herausnehmen von Gefangenen erzeugt Freiheiten für den Ziehenden, so dass diese Regel nach einem Schlagzug in jedem Fall erfüllt ist. Einen solchen Fall sieht man in der Abbildung des nächsten Abschnitts unten (#Regel 4: Kō): Schwarz kann den weißen Stein schlagen, den er schon mit drei eigenen Steinen umzingelt hat. Auf dem Punkt, auf dem geschlagen wird, besteht zuvor keine Freiheit, durch das Herausnehmen des weißen Steins entsteht aber eine Freiheit für den schlagenden Stein.
Es gibt auch Regelvarianten, die „Selbstmord“ erlauben. Dann gilt: Wenn ein Zug keine gegnerischen Steine schlägt und die Kette mit dem gesetzten Stein keine Freiheit hat, dann wird diese Kette selbst geschlagen, und ihre Steine werden zu gegnerischen Gefangenen. Im praktischen Spiel ergibt sich dadurch aber kaum ein Unterschied, denn es ist nur selten sinnvoll, eigene Steine zu schlagen.
Wenn eine Kette nur noch eine einzige Freiheit besitzt, so dass der Gegner sie im nächsten Zug schlagen kann, so sagt man, dass sie im Atari steht. Um das Schlagen zu verhindern, kann es sinnvoll sein, der Kette durch Hinzufügen eines Steins zusätzliche Freiheiten zu verschaffen. Schwarz könnte also im Bild oben links auf eine der Freiheiten eines Steins setzen, um diesen (zumindest vorläufig) zu retten. Bei der Dreierkette würde dies hier jedoch nichts nützen, denn sie hätte danach wieder nur eine Freiheit (unterhalb des Quadrats) und könnte sofort geschlagen werden.
Regel 4: Kō
Es gibt Stellungen, die in einer Weise symmetrisch sind, dass nach einem Schlag ein Gegenschlag möglich wäre, sodass sich wieder die ursprüngliche Situation einstellt und sich ein endloser Kreislauf ergeben könnte (siehe die Abbildung rechts). Eine solche Stellung nennt man Kō (abgeleitet von japanisch kō , sprich koh, zu Deutsch „Ewigkeit“). Zur Vermeidung eines endlosen Kreislaufs von Schlag und Gegenschlag gibt es die Kō-Regel: Sie verbietet das sofortige Zurückschlagen eines einzelnen Steines, der gerade einen einzelnen Stein geschlagen hat. Die Kō-Regel greift nicht, wenn bei Schlag und Gegenschlag unterschiedliche Anzahlen von Steinen betroffen sind. Gleichbedeutend kann man die Regel formulieren: Man darf keinen Zug machen, durch den wieder die gleiche Anordnung der Steine wie vor dem unmittelbar vorhergehenden Zug entstehen würde.
Da die Kō-Regel das symmetrische Zurückschlagen zwar im Prinzip erlaubt, aber nur mit Verzögerung, bringt sie ein taktisches Element ins Spiel. Es ergibt sich der sogenannte Kō-Kampf: Wenn Spieler A im Kō geschlagen hat, kann Spieler B als Zwischenzug eine Drohung (Kō-Drohung) an anderer Stelle des Bretts spielen. Falls A diese Drohung abwehrt, statt das Kō für sich zu entscheiden (also z. B. den strittigen Punkt im Kō auszufüllen), kann B wieder im Kō schlagen. Das kann sich beliebig oft wiederholen. Der Kō-Kampf endet, wenn ein Spieler keine Kō-Drohung mehr hat oder eine Drohung so klein ist, dass der Gegner sie nicht beantwortet. Die Spieler müssen also den Wert der Drohung gegen den Wert des Kō-Gewinns abwägen. Zudem muss jeder Spieler vor Beginn eines Kō-Kampfes die Gesamtheit aller Drohungen abschätzen, die ihm zur Verfügung stehen, um zu entscheiden, ob er sich auf den Kampf einlassen soll. Der Wert eines Kō-Gewinns kann sehr hoch sein, wenn das Schlagen im Kō für den Angreifer direkt eine neue Schlagmöglichkeit hervorbringt; der Verteidiger muss im Kō also manchmal eine Kettenreaktion abwenden, die den Zusammenbruch einer größeren Stellung bedeuten würde (anders als im idealisierten Beispielbild).
Diese einfache Kō-Regel verhindert aber nicht alle möglichen Stellungswiederholungen. Wenn etwa drei verschiedene Kō-Situationen auf dem Brett sind, kann man immer in mindestens einer davon zurückschlagen. Wenn in einer solchen Situation kein Spieler von der Wiederholung abweichen will, endet das Spiel nach den japanischen Regeln ohne Ergebnis und wird wiederholt. Ein solcher Fall kommt aber nur äußerst selten vor.
Als Alternative verwenden manche Regelsysteme eine globale Kō-Regel, auch Superkō-Regel genannt. Dabei gibt es leicht unterschiedliche Varianten. Beispielsweise verbietet eine Superkō-Regel, einen Stein so zu setzen, dass die resultierende Anordnung der Steine auf dem Brett mit irgendeiner früheren Anordnung übereinstimmt und der gleiche Spieler am Zug ist und die Differenz der geschlagenen Steine gleich ist (das heißt, mit den dazwischen erfolgten Zügen haben beide Spieler gleich viele Steine geschlagen). Ein endloser Zyklus, von dem kein Spieler im Eigeninteresse abweichen sollte, kann damit nicht mehr vorkommen.
Regel 5: Spielende und Punktezählung
Das Spiel ist zu Ende, wenn beide Spieler nacheinander passen. Passen liegt bei Spielende im Interesse des jeweiligen Spielers. Er würde sonst sein eigenes Gebiet verkleinern oder dem Gegner unnötig Gefangenensteine geben. Die Punktzahl eines Spielers ist die Summe der durch Steine der eigenen Farbe umschlossenen freien Punkte (Gebiet) und der gefangenen Steine (gegnerischer Farbe). Der Spieler mit der höheren Punktzahl gewinnt das Spiel. Ist die Punktzahl beider Spieler gleich, ist das Spiel unentschieden, was „Jigo“ genannt wird (aber selten vorkommt).
Für beide Spieler ist es auch eine anerkannte Möglichkeit, die Partie aufzugeben, sobald die Situation auf dem Brett ausweglos erscheint. Der Gegner hat dann „durch Aufgabe gewonnen“.
Bewertung von Stellungen am Spielende
Wenn am Ende noch Steine auf dem Brett sind, die auf jeden Fall geschlagen werden können, also „tot“ sind (siehe unten: #Leben und Tod), dann muss diese Stellung nicht ausgespielt werden, sondern die Steine gelten direkt als Gefangene. Sie werden vor der Gebietszählung vom Brett genommen und zusammen mit den geschlagenen Steinen gezählt. Über den Status dieser Steine einigt man sich mit seinem Gegner nach dem Spielstopp.
Diese Einigung ist unter erfahrenen Spielern unproblematisch, denn meistens ist es offensichtlich, welche Steine tot und somit gefangen sind. Wenn es doch einmal Uneinigkeit gibt, dann muss die Situation ausgespielt werden: Das Spiel wird in diesem Fall fortgesetzt, und wer behauptet hat, dass gegnerische Steine tot seien, muss es beweisen, indem er sie schlägt. Wenn dies bei der Gelegenheit nicht gelingt, gelten sie als lebend. Die beim Ausspielen gesetzten Steine dürfen dann aber die Zählung nicht beeinflussen. Man muss entweder die Situation vor dem Ausspielen wiederherstellen oder die beim Ausspielen in das eigene oder gegnerische Gebiet gesetzten Steine auf geeignete Weise ausgleichen.
Für Anfänger ist es manchmal schwierig zu erkennen, wann das Spiel zu Ende ist. In dem Beispiel rechts sind die Grenzen, wo sich schwarze und weiße Steine berühren, vollständig ausgespielt, sodass keine freien Schnittpunkte mehr zwischen Steinen mit unterschiedlicher Farbe liegen. Das ist ein gutes Indiz dafür, dass das Spiel zu Ende ist. Es ist von den Regeln her möglich, dass das Spiel sich „einseitig“ fortsetzt, nämlich dass ein Spieler noch setzt, weil er glaubt, lohnende Züge machen zu können, während der andere Spieler diese Einschätzung nicht teilt und deswegen auf Antwortzüge verzichtet. Da man durch aussichtslose Angriffszüge letztlich dem Gegner gefangene Steine schenkt, wäre es für diesen nicht günstig, in jedem Fall zu reagieren. Er würde durch Gegenzüge auf bereits sicheres eigenes Gebiet diesen Punktgewinn wieder preisgeben.
Komi
Bei Spielbeginn besteht ein leichter Nachteil für Weiß, da Schwarz den Vorteil des ersten Zuges hat. Dieser Nachteil wird meist durch eine „Entschädigung“ in Form von Zusatzpunkten an den weißen Spieler ausgeglichen. Diese Punkte werden Komi () genannt und schwanken je nach Regeln oder Vereinbarung zwischen den Spielern. Um ein Unentschieden zu vermeiden, wird meist ein Komi mit einem halben Punkt gewählt; übliche Werte sind 5½ oder 6½. Manchmal wird auch nur ½ Punkt gegeben, wenn es einem vor allem darauf ankommt, ein Jigo zu vermeiden. Der angemessene Wert ist immer noch Gegenstand von Diskussionen, und so wird der Nachteil, Weiß zu spielen, auf manchen Turnieren mit bis zu 8½ Punkten entschädigt. Man kann das Problem durch eine Art Komi-Auktion oder durch eine Tauschregel lösen, etwa indem ein Spieler die Komi festlegt und der andere dann eine Farbe wählt. Das hat sich aber noch kaum durchgesetzt. Das Komi kann auch dazu benutzt werden, Vorgabesteine zu ersetzen oder zu ergänzen (so genanntes Rückkomi, wenn Schwarz Komi bekommt).
Begriffe der Strategie und Taktik
Leben und Tod
Siegpunkte für ein umschlossenes Gebiet werden erst vergeben, wenn das Spiel zu Ende ist; solange ein Spieler im Laufe des Spiels freie Punkte mit seinen Steinen umschließt, wird dieses Gebiet von ihm zunächst nur beansprucht. Zwei Möglichkeiten sind denkbar, wie der Gegner es ihm noch streitig machen kann: erstens, wenn es dem Gegner gelingt, sich mit seinen Steinen im Inneren des beanspruchten Gebiets dauerhaft anzusiedeln, ohne geschlagen zu werden (dies ist umso leichter, je größer das beanspruchte Gebiet ist); zweitens, wenn die Gruppen, die Gebiet beanspruchen, ihrerseits durch den Gegner umzingelt und geschlagen werden können. Beide Szenarien führen zu der Erkenntnis, dass das Überdauern von beanspruchtem Gebiet davon abhängt, ob die dafür entscheidenden Gruppen von Steinen noch geschlagen werden können. Von einer Gruppe, die unter keinen Umständen mehr geschlagen werden kann, sagt man, dass sie lebt. Entsprechend ist eine Gruppe tot, wenn sie auf keinen Fall vor dem Geschlagenwerden gerettet werden kann.
Leben durch „Zwei Augen“
Der Grund, weshalb eine Gruppe unschlagbar sein (leben) kann, ist folgender: Wenn eine Gruppe einen einzigen freien Schnittpunkt einschließt (was innere Freiheit genannt wird) und vollkommen von gegnerischen Steinen umgeben ist (also keine äußeren Freiheiten besitzt), so kann der Gegner einen Stein auf diese letzte Freiheit der Gruppe setzen und sie damit schlagen, was man Sprengen nennt. Umschließt die Gruppe aber noch einen zweiten freien Schnittpunkt, der dem ersten Schnittpunkt nicht benachbart ist, so kann der Gegner auf keinen der beiden Schnittpunkte setzen, da immer noch eine Freiheit verbleibt und nicht gleichzeitig zwei Steine gesetzt werden können. Deshalb gilt der folgende Satz: Eine Gruppe lebt dann, wenn das Gebiet, das sie umschließt, in zwei voneinander getrennte Teilgebiete unterteilt ist oder bedingungslos so unterteilt werden kann.
Diese Teilgebiete nennt man Augen. Augen können einen einzelnen Schnittpunkt, aber auch mehrere benachbarte Schnittpunkte beinhalten. Zudem dürfen sich in einem Auge auch Gefangene befinden. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass es auch „unechte Augen“ gibt. Zwar sind diese von Steinen einer Farbe umschlossen, aber nicht von einer durchgehenden Kette. Damit kann eventuell ein Teil der umschließenden Steine durch eine Folge von Zügen des Gegners separat in „Atari“ gesetzt werden. Danach könnte der andere Spieler das vermeintliche Auge zusetzen, um das Schlagen der Teilkette zu verhindern, oder das Schlagen in Kauf nehmen. In beiden Fällen ist das Auge zerstört. Allgemein gilt also: Nur eine Gruppe mit zwei „echten“ Augen lebt bedingungslos.
Seki
Eine weitere Möglichkeit zu leben, die seltener vorkommt, ist das Seki: Dies ist eine Art lokale Pattsituation, bei der keiner der beiden Spieler die Freiheiten der jeweils gegnerischen Gruppe besetzen kann, ohne seiner eigenen Gruppe dadurch lebenswichtige Freiheiten zu nehmen. In einer Stellung, in der jeweils der Spieler, der den ersten Zug hineinsetzt, seine Gruppe verliert, werden beide Spieler nicht setzen. Für die Endabrechnung werden diese Gruppen also auf dem Brett bleiben. Sie können dabei einen Gebietspunkt umschließen oder auch nicht. Es können so auch dauerhaft neutrale Punkte auf dem Spielbrett entstehen, also freie Punkte, die kein Gebiet darstellen, aber die auch kein Spieler schadlos besetzen kann. Die Abbildung rechts zeigt ein vereinfachtes Beispiel (damit dies wirklich ein Seki ist, ist es erforderlich, dass die äußeren, umschließenden weißen und schwarzen Ketten aus unabhängigen Gründen leben).
Konsequenzen für die Strategie
Bei Leben und Tod handelt es sich um das grundlegendste und wichtigste Element der Strategie beim Go-Spiel, das entscheidend für den Verlauf und den Ausgang einer Partie ist. Ist eine Gruppe tot, ist sie auch gefangen und zählt am Ende Punkte für den Gegner, auch ohne dass die Situation bis zum endgültigen Schlagen ausgespielt werden muss. Oft ist Leben und Tod einer Gruppe davon abhängig, wer den nächsten Zug macht (siehe auch weiter unten: #Vorhand und Nachhand), weil sie oftmals, je nachdem wer dran ist, mit einem Zug getötet oder zum Leben erweckt werden kann. Aufgrund der großen Bedeutung von Leben und Tod für das Go-Spiel sollten sich die Spieler zu jedem Zeitpunkt der Partie über Leben und Tod aller Gruppen im Klaren sein. Denn das Hinzufügen von Steinen zu einer ohnehin toten Gruppe ist ebenso sinnlos wie das Absichern bereits lebendiger Gruppen. Andererseits sind Züge, die eine lebende Gruppe bedrohen, oder Züge, die eine tote Gruppe zum Leben erwecken könnten, klassische Ko-Drohungen (s. o.) (für die Einstufung als lebendig oder tot hätte man hierbei zugrunde gelegt, dass jeder einzelne Angriffs- bzw. Verteidigungszug beantwortet werden kann). Daher ist das Üben von Leben-und-Tod-Problemen unverzichtbar für alle, die ihr Können verbessern möchten.
Eröffnung
Als Eröffnung einer Go-Partie bezeichnet man in etwa die ersten 30 bis 40 Züge. Da das Brett zu Beginn leer ist, gibt es theoretisch unermesslich viele spielbare Varianten für die ersten Züge. Dennoch haben sich bestimmte Züge als besonders gut erwiesen. So wird fast jede Partie mit einem Zug in der Nähe einer Ecke begonnen. Erst nachdem alle vier Ecken mit je einem oder auch zwei Steinen besetzt worden sind, werden die Seiten besetzt. Danach beginnt die Ausweitung der Positionen ins Zentrum.
Mit den ersten Steinen, die aufs Brett gesetzt werden, versucht man eine möglichst perfekte Balance herzustellen. Damit ist gemeint, dass die Steine weder zu eng beieinander noch zu weit auseinander und weder zu hoch noch zu niedrig stehen sollten, und auch, dass man mit den gesetzten Steinen flexibel auf Aktionen des Gegners reagieren kann. Dies zeigt wieder, dass Go in vielerlei Hinsicht ein Spiel der Balance ist (siehe Abschnitt Philosophie).
Das Eröffnungsspiel ist bei fortgeschrittenen Spielern durch die Anwendung von Ganzbrettmustern (Fuseki) und festgelegten Eckspielabfolgen (Jōseki) geprägt. Fuseki und Jōseki sind die variabelsten Elemente des Go-Spiels und werden ständig weiterentwickelt. Die Anzahl der verschiedenen Eröffnungen beim Go übersteigt die der Eröffnungen beim Schach um ein Vielfaches. Auch sehr experimentelle Eröffnungen werden gelegentlich gespielt.
Gebiet und Einfluss
Gebiet und Einfluss sind strategische Konzepte des Go. Eine gebietsorientierte Spielweise legt besonderes Augenmerk auf feste, sichere Positionen in den Ecken und am Rand des Brettes (dort ist es am einfachsten, Gebiet zu machen, weil man es am Brettrand nicht mehr extra umzingeln muss). Das hat den Vorteil, dass man bereits in einer relativ frühen Phase der Partie sicheres Gebiet absteckt und damit sichere Punkte sammelt. Später ist es dann umso wichtiger, die Gebietsanlagen des Gegners möglichst zu verkleinern. Ein geeignetes Mittel dazu bietet die Invasion (Aufbauen einer lebenden Gruppe im Einflussbereich des Gegners). Gebietsorientiertes Spiel verlangt daher mitunter auch riskante taktische Manöver.
Andererseits ist es möglich, einflussorientiert zu spielen. Dies stellt in gewisser Weise das Gegenstück zum gebietsorientierten Spiel dar. Man versucht hierbei vor allem, starke Positionen aufzubauen, die oft wie „Wände“ aussehen und ins Zentrum gerichtet sind. Dadurch wird zunächst kein Gebiet gemacht, sondern vielmehr Einfluss auf die umgebenden Teile des Brettes ausgeübt. Einflussorientierte Spieler antizipieren Kämpfe in ihrem Einflussgebiet, also in für sie vorteilhaften Situationen. Festes Gebiet entsteht erst als Ergebnis dieser Kämpfe.
Angriff und Verteidigung
Im Mittelspiel, das nach den letzten Eröffnungszügen beginnt, entstehen oft Kämpfe. Unter anderem kommen folgende taktische und strategische Mittel zum Einsatz:
Oft ist es günstig, gegnerische Steine voneinander zu trennen. Der Grund ist, dass voneinander abgetrennte Gruppen auf sich allein gestellt sind und dann unabhängig voneinander eine lebende Stellung etablieren müssen. Statt Gebiet zu machen, muss der betroffene Spieler viele Züge auf engem Raum machen, um die zwei Augen seiner Gruppen zu sichern. Wären seine Gruppen aber verbunden, fiele es ihnen viel leichter, den nötigen Platz für Augen zu behalten. Umgekehrt ist es natürlich ebenso wichtig, seine Gruppen möglichst miteinander zu verbinden.
Das Fangen bzw. Töten einer Gruppe bedeutet, dass die angegriffene Gruppe von den gegnerischen Steinen eingeschlossen ist und nicht genug innere Freiheiten besitzt, um zwei Augen zu machen (s. o.).
Eine Gruppe, die keine Augen hat und gefangen zu werden droht, kann versuchen zu entkommen, das heißt, sich so lange in beliebige Richtungen auszubreiten, bis eine Verbindung zu einer anderen Gruppe oder zwei Augen gebildet werden können. Sehr wichtig ist hierbei eine gewisse Opferbereitschaft. Anstatt jeden einzelnen Stein retten zu wollen, sollte man Züge spielen, die die Position schnell entwickeln und flexibel sind. Unter Umständen muss der Verlust eines Teils der Gruppe in Kauf genommen werden, um wenigstens den anderen Teil zu sichern. Dies bezeichnet man als „leichte“ Spielweise.
So genannte gute Form ist notwendig für erfolgreiches Kämpfen. Viele Steinmuster haben sich als „gut“ erwiesen, weil sie im Kampf positive Eigenschaften haben wie größtmögliche Anzahl von Freiheiten, kleinstmögliche Anzahl überflüssiger Steine oder gute Entwickelbarkeit. Als „schlechte Form“ bezeichnet man auf engem Raum zusammengeklumpte Ketten, die aufgrund weniger Freiheiten leicht zu schlagen sind. „Gute Formen“ sind bewährte Standardmuster, stellen aber nicht notwendigerweise in jeder Spielsituation den besten Zug dar.
Ungewöhnliche Züge von besonderer Effizienz für bestimmte taktische Manöver (das Retten oder Fangen von Steinen, das Erringen der Vorhand, den Ausbruch aus einer Umzingelung), oder ganz einfach den besten Zug in einer taktischen Standardsituation nennt man Tesuji. Tesujis können z. B. aus dem Opfer von einzelnen Steinen bestehen, um im Austausch gegnerische Steine zu schlagen oder einen anderen Vorteil zu erringen.
Vorhand und Nachhand
Das Mittelspiel geht in das Endspiel über, in dem es hauptsächlich darum geht, die Grenzen zwischen den Gebieten genau festzulegen. In aller Regel herrscht in dieser Phase des Spiels bereits Klarheit darüber, welche Gruppen leben und welche tot sind. Ziel ist es dann, die Gebiete des Gegners so weit es geht zu verkleinern und die eigenen zu vergrößern.
Hier spielt ein weiterer strategischer Gesichtspunkt eine übergeordnete Rolle, und zwar der Gebrauch von Vorhand (sente, ) und Nachhand (gote, ). Vorhand bedeutet, dass jeder Zug, den man spielt, eine Reaktion des Gegners erfordert. Eine Vorhandsequenz kann aus beliebig vielen Zügen bestehen, solange sie nur mit einem Sicherungszug des Gegners endet. Nach jeder Sentesequenz behält der erste Spieler die Initiative und kann an einer anderen Stelle weiterspielen. Gote (Nachhand) bedeutet genau das Gegenteil, nämlich am Ende einer Zugfolge den letzten Zug machen zu müssen. Danach ergreift der Gegner die Initiative. Das Aufrechterhalten des Sente (Vorhand) bringt oft spielentscheidende Punkte im Endspiel. Auch im Mittelspiel und in der Eröffnung können bestimmte Züge als Sente bezeichnet werden, wenn sie lokal beantwortet werden müssen, um einen größeren Punktverlust zu verhindern. Aus Rücksicht auf potentielle Ko-Drohungen (s. o.) sollten solche Vorhandsequenzen jedoch nicht zu früh ausgespielt werden.
Tradition des Go-Spiels
Traditionelles Spielmaterial
Obwohl man natürlich auch auf einem Stück Karton und mit einem Sack Plastiksteinen Go spielen kann, legt vor allem die japanische Go-Kultur besonderen Wert auf qualitativ hochwertige Spielsets.
In China spielt man traditionellerweise auf flachen Brettern aus Holz, die bis zu etwa 5 cm dick sind. Dabei sitzt man zumeist auf Stühlen an einem Tisch. In Japan wird Go dagegen idealerweise auf dem Boden gespielt, wobei die Spieler auf flachen Kissen ( ) sitzen. Das traditionelle Go-Brett ( ), das sich vor den Spielern am Boden befindet, ist ebenfalls aus massivem Holz, aber ungefähr 15 cm bis 20 cm dick und steht auf kurzen Beinen. Die wertvollsten Bretter werden aus dem seltenen, goldgelben Holz des Kayabaums (Torreya nucifera) gefertigt, manche aus dem Holz von über 700 Jahre alten Bäumen. Die Gitterlinien, die das Spielfeld darstellen, werden auf derartigen Brettern bisweilen noch von eigenen Professionisten mit einem Schwert (katana) in die Oberfläche des Holzes geritzt und mit Lack nachgezogen.
Das japanische Go-Brett ist nicht perfekt quadratisch. Das Spielfeld misst traditionell 1 Shaku und 5 Sun in der Länge und 1 Shaku und 4 Sun in der Breite (455 mm × 424 mm), wobei an den Rändern noch etwas Raum frei bleiben muss, damit das Spielen an den Randlinien und Eckpunkten möglich wird. Diese Maße beschreiben ein Verhältnis von 15:14. Die erweiterte Länge dient dazu, die optische Verzerrung (perspektivische Verkürzung) auszugleichen, die dadurch entsteht, dass die Spieler nicht senkrecht, sondern von schräg oben auf das Brett schauen. Als weiterer Grund wird die japanische Ästhetik genannt, die perfekt symmetrische Strukturen und damit auch ein perfektes Quadrat vermeidet.
Die Spielsteine ( ) sind vorzugsweise aus weißen Muscheln bzw. schwarzem Schiefer gefertigt, ellipsoid geschliffen und werden in Holzdosen ( ) aufbewahrt. Da die entsprechenden Ressourcen beschränkt sind (Muscheln und Kayabäume benötigen geraume Zeit, bis sie die erforderliche Größe erlangt haben, und sind mittlerweile sehr selten), kann traditionell gefertigtes Spielmaterial oft nur zu exorbitanten Preisen erstanden werden.
Die Behältnisse für die Steine sind einfach geformt, wie ein Ellipsoid mit einem abgeflachten Boden. Der locker sitzende Deckel wird beim Spiel umgedreht und dient als Behälter für gefangene gegnerische Steine. Die Behälter sind normalerweise aus gedrechseltem Holz, in China sind auch kleine, geflochtene Bambuskörbe verbreitet.
In Go-Clubs und auf Meisterschaften, wo eine große Menge an Sets instand gehalten (und auch gekauft) wird, sind diese traditionellen japanischen Sets normalerweise nicht in Gebrauch. Auch wird zumeist auf westlichen Tischen und Sesseln gespielt. Für solche Situationen werden 2 cm bis 5 cm dicke Tischbretter ohne Beine verwendet. Die Steine sind zumeist aus Glas, die Dosen aus Plastik. Tischbretter und Glassteine sind auch in Europa am weitesten verbreitet. Obwohl billige Plastiksteine ebenfalls im Umlauf sind, werden diese von vielen Spielern aufgrund ihres geringen Gewichts und des dementsprechend unbefriedigenden haptischen und akustischen Erlebnisses beim Setzen des Spielsteins abgelehnt.
Erfahrene Spieler zeichnen sich in der gesamten Go-Welt durch eine besondere Art aus, Go-Steine auf dem Brett zu platzieren: Der Stein wird zwischen Mittelfinger und Zeigefinger gehalten, um dann fest auf das Brett zu treffen, wobei ein sattes „Klack“ ertönt. Im Idealfall wackelt der Stein nach dem Loslassen nicht. Die Qualität des Spielmaterials kann die Akustik des Spielzugs natürlich beeinflussen. Die pyramidenförmige Aushöhlung an der Unterseite eines traditionellen japanischen Go-Bretts wird manchmal mit der Verbesserung des Klangs erklärt. Ein Spielbrett wird darüber hinaus für edler gehalten, wenn leichte Spuren von Steinen sichtbar sind, die im Laufe der Jahrzehnte – oder Jahrhunderte – darüber geglitten sind.
Verhalten am Go-Brett
Die Etikette des Go wird von vielen Spielern als wichtig erachtet und befolgt. Demnach soll man dem Gegner immer den nötigen Respekt zollen, damit er die gespielte Partie nicht als unangenehm empfindet. Es ist zunächst grundlegend, welche Einstellung man zu dem Spiel hat. Man kann spielen, um sich zu entspannen, um sich zu vergnügen, um zu lernen, und vieles mehr. Die Einstellung seines Gegners soll man in jedem Fall respektieren. Eine einseitige Fixierung allein auf das Gewinnen der Partie widerspricht der in der ostasiatischen Kultur verankerten Philosophie des Spiels. Somit verstoßen das Prahlen über einen Sieg, das Spotten über eine Niederlage und Ähnliches deutlich gegen die guten Sitten des Go-Spiels.
Weitere Umgangsformen
Üblicherweise begrüßen sich Spieler vor dem Beginn einer Partie.
Bei Spielen am Tisch gilt es als höflich, wenn der erste Zug vom Spieler aus in der rechten oberen Ecke stattfindet. Die Gründe dafür sind erstens, dass der andere bequem seinen ersten Stein setzen kann (und die Dose steht im Normalfall rechts vom Brett, also wird die Ecke vorn rechts für Weiß attraktiv gemacht), zweitens, dass es eine Einheitlichkeit in der Notation gibt, und drittens, dass man Respekt vor dem Gegner zeigt, indem man sich vor ihm „verbeugt“, um den Stein zu setzen.
Es wird als sehr störend empfunden, den Gegner durch Geräusche abzulenken (mit der Hand in der Dose rühren). Die Konzentration auf das Spiel soll möglichst nicht beeinträchtigt werden.
Sich gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen (auf andere Bretter schauen, Musik hören), vermittelt dem Gegenüber eine Langeweile, die durchaus als abwertend empfunden werden kann.
Auf Go-Servern im Internet (siehe Weblinks) wird die gewöhnliche Spielsituation, bei der man sich am Tisch gegenübersitzt, auf einen Chatraum verlagert. Selbstverständlich treten hier einige der oben genannten Regeln außer Kraft. Doch auch hier gibt es Normen, zum Beispiel, dass man sich bei Spielbeginn kurz begrüßt und dass man sich nicht ohne Nachricht aus dem Spiel entfernt. Spieler, die regelmäßig auf diese Weise Partien abbrechen, wenn sie zu verlieren drohen, werden Escaper genannt. Auf den meisten Go-Servern gibt es Mechanismen, die sicherstellen, dass Escaper keinen Vorteil aus ihrem Abbruch ziehen. Das öffentliche Denunzieren von Escapern („xxx is an escaper!“) ist zwar immer wieder zu beobachten, gehört aber auch nicht zum guten Benehmen auf dem Go-Server.
Einstufung und Rangsysteme
Go-Spieler, die in Klubs und auf Turnieren spielen, tragen üblicherweise einen Rang, der u. a. zur Orientierung bei der Wahl eines Spielpartners dient.
Meisterränge, die als Dan bezeichnet werden, reichen theoretisch vom 1. bis zum 9. Dan. Der 1. Dan ist der niedrigste Meisterrang, ein 7. Dan für Amateure (in Japan selten auch der 8. Dan) der höchste.
Schülerränge, Kyū genannt, werden vom 30. bis zum 1. Kyū gestaffelt, wobei der 1. Kyū der höchste Rang ist. Anfänger werden in der Regel als 20. bis 30. Kyū eingestuft.
In den drei führenden Go-Nationen Korea, China und Japan gibt es jeweils eigene Rangsysteme für professionelle Spieler, die ebenfalls vom 1. Dan bis zum 9. Dan reichen. Profi-Ränge werden von den Verbänden auf der Grundlage von Turnierergebnissen oder ausnahmsweise ehrenhalber verliehen. Im Amateurbereich handelt es sich mit wenigen Ausnahmen um ein System der Selbsteinstufung. Beispielsweise wurden in der DDR hohe Schülerränge und alle Meisterränge auf der Grundlage von Turnierergebnissen nach festen Regeln verliehen. In Japan sind die Gebühren für die Ausstellung von Spielstärke-Urkunden für Amateure eine wichtige Einnahmequelle für den Nihon Kiin, die größte Organisation von professionellen Go-Spielern.
Die Rangsysteme in Amerika, Europa und Asien sind gegeneinander zwar leicht verschoben, der Spielstärkeunterschied zwischen den jeweiligen Rängen ist aber bei den Amateuren stets der gleiche. Er bemisst sich nach einem festgesetzten System von Vorgabesteinen zur Ausgleichung des Spielstärkeunterschieds. Ein 1. Profi-Dan in Japan entspricht in etwa einem 7. Dan bei den Amateuren.
Wenn zwei Go-Spieler unterschiedlichen Ranges aufeinandertreffen, wird aus dem Rangunterschied eine Vorgabe bestimmt: Ein 1. Dan erhält gegen einen 5. Dan eine Vorgabe von 4 Steinen. Das bedeutet, dass der schwächere Spieler mit den schwarzen Steinen spielt und 4 Steine auf dem Brett platzieren darf, bevor sein Gegner den ersten Zug macht. In Japan und auch in Europa werden die Vorgabesteine auf die Schnittpunkte gelegt, die auf dem Go-Brett etwas dicker gezeichnet sind. Diese neun Punkte, die achsen- und punktsymmetrisch angeordnet sind, heißen ( „Stern“). In China hingegen ist es üblich, dass der schwächere Spieler sich aussuchen darf, wo er seine Vorgabesteine platzieren möchte.
Bei einem Unterschied von nur einem Rang beginnt der schwächere Spieler, ohne Vorgabesteine zu setzen. Bei gleich starken Spielern (Gleichaufpartie) erhält der Nachziehende (Weiß) im Voraus einige Punkte (Komi genannt), die den Vorteil, den Schwarz durch den ersten Zug hat, ausgleichen. Als Standard-Komi haben sich in Japan und Europa 6 oder 6,5 Punkte und in China 7 oder 7,5 Punkte etabliert. Nicht ganzzahliges Komi wird verwendet, wenn man ein Unentschieden (Jigo, ) ausschließen will. Die Höhe des Komi ist allgemein (von Turnierveranstaltern) frei wählbar.
Bei den Profis entsprechen ungefähr drei Ränge einem Stein Vorgabe und damit dem Unterschied von einem Amateurrang.
Zeitsysteme
Auf Turnieren wird in der Regel mit einem bestimmten Zeitlimit gespielt. Die Grundspielzeit wird mittels einer Schachuhr während der Bedenkzeit eines jeden Spielers gemessen. Sie kann von zehn Minuten (Blitzturnier) über eine Stunde (durchschnittliches nationales Turnier) bis zu acht Stunden (japanische Titelkämpfe) reichen. Oft steht den Spielern nach Ablauf der Grundspielzeit noch zusätzliche Zeit zur Verfügung, die Byōyomi () genannt wird. Es gibt zwei Arten von Byōyomi:
Beim klassischen Byōyomi hat jeder Spieler eine bestimmte Anzahl von Byōyomi-Perioden mit einer jeweils bestimmten Zeit (oft 30 Sekunden). Wenn er es schafft, innerhalb dieser Zeit seinen Zug auszuführen, gilt die Periode als nicht angetastet und beginnt beim nächsten Zug wieder von vorn. Sollte er jedoch länger für den Zug brauchen, ist eine Periode verbraucht, und er hat somit für den Rest der Partie eine Periode weniger. Sind alle Perioden verbraucht, verliert er die Partie.
Beim kanadischen Byōyomi muss der Spieler in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl von Steinen setzen (15 Steine in 5 Minuten). Wenn er es schafft, beginnt die Periode von neuem und er muss erneut die vorgegebene Anzahl von Steinen in der vorgegebenen Zeit setzen. Schafft er dies nicht, verliert er die Partie.
Beim progressiven Byōyomi muss der Spieler in jeder Periode mehr Steine setzen (typisch 15 Steine in den ersten 5 Minuten, dann 20 Steine in 5 Minuten, dann 25 Steine in 5 Minuten, …).
Da durch diese Zeitsysteme klassische Schachuhren überfordert sind, weil die Restzeit zu oft neu eingestellt werden muss, gibt es auch spezielle (elektronische) Go-Uhren, die mit den vergleichsweise komplizierten Zeitregeln des Go klarkommen.
Bevor es solche Uhren gab, musste die Zeitmessung manuell, das heißt durch einen Menschen, erfolgen. Beim klassischen Byōyomi hatte dazu ein Zeitnehmer eine Uhr und informierte die Spieler durch Ansage, wie viele Sekunden sie noch für den Zug haben. Gerade auf Turnieren führte das zu einem erhöhten Lärmpegel.
Professionelles Go
Professionelles Go hat sich hauptsächlich in Japan, Korea, Taiwan und in China entwickelt. In Japan wurde das Spiel bereits seit dem 17. Jh. staatlich gefördert. Diese Förderung beschränkte sich zwar nur auf einige wenige Familien, legte aber den Grundstein für das moderne Profi-System, das sich in der Folge auch in den anderen ostasiatischen Ländern etablierte. Go-Profis genießen einen hohen Status und können allein durch Unterricht des Spiels ihr Auskommen finden. Spitzenprofis nehmen überdies an Turnieren teil, die zumeist von Tageszeitungen oder anderen Firmen gesponsert werden und mit Preisgeldern bis 300.000 Euro dotiert sind. Die koreanischen und taiwanischen Turniere werden allerdings immer noch etwas schwächer bezahlt.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte Japan die meisten und stärksten professionellen Spieler hervor. Jedoch hat das chinesische Profi-Go in den achtziger Jahren ein mindestens ebenso hohes Niveau erreicht, während in Korea seit den neunziger Jahren eine neue Generation von Go-(Baduk-)Spielern an die Weltspitze drängt. Die Topspieler aus diesen drei Ländern haben vergleichbare Stärke.
Es gibt keine Weltmeisterschaft für professionelle Go-Spieler. Stattdessen gibt es eine Reihe hoch angesehener Titel. Zu den wichtigsten japanischen Titeln gehören (, „Spiel-Heiliger“, genauer: Go-Großmeister / Go-Koryphäe), (, „Meister“), (, Name einer früheren Go-Schule), (, „Königsthron“), (, „10. Dan“), (, „Mitte des Himmels“) und (, „Go-Heiliger“, genauer: herausragender Go-Meister).
Anwärter auf den Profi-Status müssen ihre Spielstärke in der Regel auf einem Qualifikationsturnier beweisen. Die Profi-Organisationen in den jeweils genannten Ländern halten, in der Regel einmal pro Jahr, ein entsprechendes Turnier ab. Die bestplatzierten Spieler erhalten dann die Ernennung zum Profi. Es werden pro Jahr und Organisation nur eine Handvoll Profis ernannt.
Die Go-Profis fangen in der Regel schon in ihrer Kindheit zu spielen an. Jeder Schüler hat einen erfahrenen Spieler als Lehrer (sensei, ). Ein Anwärter zum Profi wird in Japan insei () genannt. Nur jeder dritte Insei schafft es zum Profi. In Japan gibt es zurzeit etwa 470 Profis.
Als erste Profispielerinnen, Lehrerinnen und Expertinnen für das Go-Spielen mit Kindern kamen Shigeno Yuki (Generalsekretärin der Internationalen Go Föderation IGF 2006–2014, lebte lange in Italien) und Guo Juan (lebt in Amsterdam) von Asien nach Europa.
Bekannte Profi-Spieler (Auswahl)
China
Go Seigen (1914–2014, chin. ), geb. als Wú Qīngyuán, wurde in Japan zum Profi ausgebildet und ist einer der Kandidaten für das Prädikat „bester Go-Spieler aller Zeiten“.
Rui Naiwei (geb. 1963, chin. ) ist die erste Frau mit dem 9. Dan und zugleich die erste Frau, die ein männliches Profiturnier gewinnen konnte (2000 in Kuksu, Korea).
Gu Li (geb. 1982, chin. ) gehört zu den Top 20 der Weltrangliste. Neben zahlreichen chinesischen Titeln, wie Mingren und Tianyuan, gewann er 2006 auch den 10. LG-Cup.
Fan Tingyu (geb. 1996, chin. ), seit 2013 jüngster 9. Dan der Geschichte.
Ke Jie (geb. 1997, chin. ), derzeit (Mai 2017) auf Platz 1 der Weltrangliste mit 3620 BayesElo.
Yu Zhiying (geb. 1997, chin. ) 5. Dan, seit 2012 stärkste Gospielerin der Welt.
Japan
Hon’inbō Shūsaku (1829–1862, ) war der wohl stärkste Spieler in der Edo-Periode. Mit den schwarzen Steinen galt er als unbesiegbar.
Kitani Minoru (1909–1975, ) hat zusammen mit Go Seigen eine neue Eröffnungstheorie aufgestellt und war Lehrer sehr vieler Profispieler.
Sakata Eio (1920–2010, ) und
Fujisawa Shukō (1925–2009) dominierten die goldene Zeit des japanischen Go in den 1960er und 1970er Jahren.
Iyama Yūta (geb. 1989, ): jüngster japanischer 9. Dan und derzeit stärkster Spieler Japans (Stand: 2015). In den Top 5 der Weltrangliste vertreten. Mit der Erringung des Jūdan am 30. Juni 2016 gelang es ihm als erstem Profispieler, alle sieben japanischen Go-Titel gleichzeitig zu halten.
Südkorea
Chō Chikun (auch Cho Chi-hun, geb. 1956, kor. , Hanj. ) in Japan von Kitani Minoru zum Profi ausgebildet, dominierte die japanische Szene in den 1980ern und 1990ern. Er konnte alle wichtigen Titel (Kisei, Honinbo, Meijin) mehrere Jahre gegen seine Herausforderer verteidigen.
Lee Chang-ho (geb. 1975, kor. , Hanj. ) galt von 1991 bis 2006 als der stärkste Spieler der Welt.
Sein Lehrer Cho Hun-hyeon (geb. 1953, kor. , Hanj. ) war in den 1980er und 1990er Jahren einer der stärksten Spieler der Welt.
Lee Sedol (geb. 1983, kor. , Hanj. ) galt von 2007 bis 2011 als stärkster Spieler der Welt.
Park Junghwan (geb. 1993, kor. , Hanj. ) jüngster koreanischer 9. Dan, welcher seit 2012 als einer der stärksten Spieler der Welt gilt. Derzeit (November 2020) auf Platz 3 der Weltrangliste.
Shin Jin-seo (geb. 2000, kor. 신진서) ist der erste Spieler, der die Elo-Wertung 2800 erreichte und steht seit Ende 2018 auf Platz 1 der Weltrangliste.
Spieler von außerhalb Asiens
Manfred Wimmer (1944–1995, Österreich). Erhielt 1978 als erster westlicher Spieler ein japanisches Profi-Diplom.
Michael Redmond (geb. 1963, USA). Erster westlicher Spieler, der den 9. Profi-Dan erreichte. In Japan aktiv.
Hans Pietsch (1968–2003, Deutschland). Bislang einziger deutscher professioneller Go-Spieler, in Japan ausgebildet. Er wurde am 16. Januar 2003 während einer Go-Promotion-Tour in Guatemala bei einem bewaffneten Raubüberfall ermordet. Ihm wurde postum der 6. Dan verliehen.
Catalin Taranu (geb. 1973, Rumänien), 5. Profi-Dan, in Japan ausgebildet
Alexandre Dinerchtein (geb. 1980, Russland), 3. Profi-Dan, in Korea ausgebildet, mehrfacher Europameister.
Svetlana Shikshina (geb. 1980, Russland), 3. Profi-Dan, in Korea ausgebildet, erste professionelle Go-Spielerin Europas.
Go im deutschsprachigen Raum
Geschichte
Bis ins späte 19. Jahrhundert war Go in Europa nur dem Namen nach bekannt.
1877 veröffentlichte der berühmte englische Sinologe Herbert Giles eine Spielbeschreibung unter dem Titel Weichi or the Chinese Game of War.
Der deutsche Chemiker Oskar Korschelt war von 1875 bis 1886 in Japan tätig.
1880 veröffentlichte er die Artikelreihe Das Japanisch-chinesische Spiel „Go“. Ein Concurrent des Schach. Durch diese Veröffentlichungen erlangten nun auch deutsch-sprachige Interessenten die Möglichkeit, dieses Spiel zu erlernen.
Offenbar wurde Korschelts Werk jedoch eine größere Öffentlichkeit zuteil als der Veröffentlichung von Giles. In seiner englischen Übersetzung The Theory and Practice of Go ist Korschelts Werk noch erhältlich. Nach seinem Japanaufenthalt zog Korschelt nach Leipzig; seitdem wird dort Go gespielt.
Im Jahr 1905 bildete sich in Berlin ein kleiner Kreis von Schachspielern, die Go unter Anleitung eines japanischen Studenten praktizierten. Zu diesem Kreis stieß 1907 auch Emanuel Lasker, der von 1894 bis 1921 amtierender Schach-Weltmeister war. Ein weiteres Mitglied dieses Go-Zirkels war Eduard (Edward) Lasker (mit dem Schachweltmeister nur indirekt verwandt), der bald in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort die American Go Association mitbegründete. Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, entstand in Berlin der erste deutsche Go-Klub.
Im Jahr 1909 gab der österreichische Physiker Leopold Pfaundler in Graz die erste deutschsprachige Go-Publikation heraus. Während des Ersten Weltkrieges entstand im österreichischen Marinestützpunkt Pula, in Istrien, der größte Go-Zirkel Europas.
Ab 1920 wurde die Deutsche Go-Zeitung vom Dresdner Bruno Rüger erneut herausgegeben und entwickelte sich rasch zu einem wichtigen Kommunikationsmedium der Go-Spieler im deutschsprachigen Raum. Zu dieser Zeit galt Felix Dueball, dessen Spielstärke damals in etwa einem 1. Dan-Grad entsprach, als bester Spieler Deutschlands. Von einem Turnier in Berlin 1930 hat sich die Notation einer Partie gegen den erwähnten Emanuel Lasker erhalten. Lasker gewann die Partie gegen Dueball. 1930 wurde Dueball zusammen mit seiner Frau vom japanischen Multimillionär Baron Okura für 12 Monate nach Japan eingeladen, wo er das Go-Spiel intensiv studierte und sich an einigen Turnieren beteiligte. In die Go-Geschichte ist eine Partie Dueballs gegen den damals prominentesten Spieler Japans Honinbō Shūsai eingegangen. 1936 spielte Dueball – zu Werbezwecken – eine Fernpartie Go gegen den ehemaligen japanischen Minister für Kultur, Ichiro Hatoyama. Die laufende Partie wurde Zug für Zug sowohl im Völkischen Beobachter als auch in der japanischen Zeitung Nichi-Nichi abgedruckt. Hatoyama, der mit dem 2. Dan eingestuft wurde, gewann die Partie. Felix Dueball wird im Übrigen auch namentlich im Roman Meijin, einem Schlüsselroman aus der damaligen Go-Szene, des japanischen Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata erwähnt.
1978 erhielt der Österreicher Manfred Wimmer als erster Nicht-Asiate einen japanischen Profi-Rang, nur wenige Monate danach wurde die gleiche Ehre auch dem US-Amerikaner James Kervin zuteil. Die führenden nicht-asiatischen Spieler kommen außer den USA vor allem aus Osteuropa, insbesondere aus Russland und Rumänien, wo sich das Spiel seit der politischen Öffnung (1989) stark verbreitet hat.
Gegenwart
In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind inzwischen rund 2500 Go-Spieler in Vereinen und Verbänden organisiert, der mit Abstand größte davon ist der Deutsche Go-Bund (DGoB). In den letzten Jahren hat die Anzahl von Seminaren, Schulungen und Simultanspielen mit starken Amateuren (7. Dan) und Profispielern aus China, Japan und Korea, den Go-Zentren der Welt, stark zugenommen. Die aus Südkorea stammende Yoon Young-Sun ist die erste Profi-Spielerin, die ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegt hat. Sie unterrichtet Go in Hamburg. In Wien haben in den letzten Jahren Profi-Spieler aus Japan ein zeitweiliges Domizil gefunden. Der amtierende deutsche Meister ist Lukas Krämer (6. Dan Amateur).
Die Arbeit der wachsenden Anzahl von Schul-Go-AGs wird durch die seit 2003 stattfindende deutsche Schul-Go-Meisterschaft (Hans Pietsch Memorial) stark gefördert. Damit ist es gelungen, den typischen Go-Einstieg aus der Universität in die Schule zu verlagern. In Deutschland entstanden seit 2002 einige Go-Verlage, etwa der Hebsacker Verlag und der Verlag Brett und Stein, über die man Go-Material auch im Internet bestellen kann.
In jeder größeren europäischen Stadt gibt es Go-Treffs und Spielabende. In Metropolen wie Hamburg, Berlin oder Wien kann man an jedem Abend in einem Spieltreff Go spielen. Regelmäßige Turniere finden in vielen Städten statt. Für über 5000 aktive europäische Turnierspieler wird eine gesamteuropäische Ratingliste (European Go Database) geführt.
In Japan finden jährlich die Amateurweltmeisterschaften statt. 2008 wurden zum ersten Mal die Weltdenksportspiele (World Mind Sports Games) in der Olympiastadt Peking ausgetragen. Zu diesen internationalen Veranstaltungen entsenden viele Länder ihre Vertreter.
Kennzahlen und Spieltheorie
In der Spieltheorie wird Go den endlichen Nullsummenspielen mit perfekter Information zugeordnet. Theoretisch könnte man also je nach Komi ermitteln, ob bei beiderseits perfektem Spiel Schwarz oder Weiß gewinnt oder die Partie unentschieden ausgehen muss. Nach heutigem Wissensstand erscheint es jedoch ausgeschlossen, dass diese Frage durch vollständige Berechnung des Suchbaums geklärt werden kann, da die Komplexität des Spiels andere ungelöste Spiele wie Schach sogar noch bei Weitem übersteigt.
Die Zahl der gültigen 19×19-Positionen wurde 2016 von Tromp et al. exakt berechnet (etwa 2×10170), diese Zahl hat (im üblichen Dezimalsystem) 171 Ziffern, hier in neun Zeilen zu jeweils 19 Ziffern dargestellt:
2081681993819799846
9947863334486277028
6522453884530548425
6394568209274196127
3801537852564845169
8519643907259916015
6281285460898883144
2712971531931755773
6620397247064840935
Computer-Go
5×5 gelöst
2002 hat ein von Erik van der Werf von der „Computer Games Group“ der Universität Maastricht geschriebenes Computer-Programm namens MIGOS (MIni GO Solver) alle Spielmöglichkeiten für Go auf einem 5×5-Brett durchgerechnet und das Spiel vollständig gelöst: Bei optimalem Spiel gewinnt der anfangende Spieler, Schwarz, das gesamte Spielfeld, unabhängig davon, was Weiß macht.
19×19
Die Entwicklung gospielender Computerprogramme erwies sich als erheblich schwieriger als im Fall des Schachspiels: Bis 2015 gab es keines, das mit einem starken Amateur auf dem 19×19-Brett konkurrieren konnte. Dabei wurde schon relativ früh damit begonnen, solche Programme zu schreiben (zum Beispiel Gobang für den Commodore VC20 1982, GO für den Commodore 64 1983 oder den Atari um 1987). Erst im August 2008 gewann ein Spezialprogramm auf dem Supercomputer Huygens gegen einen Go-Profi, allerdings nur mit einer Vorgabe von neun Steinen. Im Oktober 2015 gewann das von Google DeepMind entwickelte Programm AlphaGo ohne Vorgabe gegen den mehrfachen Europameister Fan Hui (2P) und im März 2016 vier von fünf Mal gegen Lee Sedol, der als einer der weltbesten Spieler gilt.
Starke Go-Programme sind/waren: The Many Faces of Go, MoGo, MyGoFriend, Leela, Crazy Stone und Zen. Mit Hikarunix gab es auch eine Live-CD, die verschiedene freie Go-Programme und Clients enthielt.
Vier Versionen von AlphaGo zählt DeepMind mittlerweile. Sie alle beruhen auf einer Kombination von neuronalen Netzen und der Baumsuchtechnik. Während die neuronalen Netze der ersten drei Versionen mit Millionen von Stellungen aus Partien zwischen starken menschlichen Spielern trainiert wurden, hat die 2017 veröffentlichte Version AlphaGo Zero das Spiel innerhalb von 36 Stunden von Grund auf selbst gelernt, nur aufgrund der Spielregeln und des Spielens gegen sich selbst. In internen Tests hat Alpha Go Zero die „Master“-Version von AlphaGo nochmals bei weitem übertroffen. Alpha Go Zero hat das menschliche Go Wissen von 1000 Jahren in nur 36 Stunden übertroffen. Dabei sind während des Lernprozesses viele noch unbekannte Spieltaktiken entdeckt worden. Gegen Menschen braucht sie somit gar nicht mehr anzutreten.
In der Goprogrammierung werden andere Techniken eingesetzt als in den meisten anderen Zweispielerspielen ohne Zufall und mit vollständiger Information. Im Schach kann eine mittlere Spielstärke durch Kombination einer fehlerfreien Implementation der Schachregeln, des Alpha-Beta-Algorithmus mit Ruhesuche, und einer relativ einfachen Bewertungsfunktion erreicht werden. Im Go scheint dies auf den ersten Blick an der größeren Variantenvielfalt zu scheitern (die unvorstellbar hohe Anzahl verschiedener Stellungen, die auf einem 19×19-Brett möglich sind, ist etwa 2,08 × 10170, im Schach „nur“ etwa 1043 mögliche Stellungen). Im Vergleich: Die Anzahl aller Atome im gesamten Universum beträgt ungefähr 1080. Es gibt mithin mehr Go-Stellungen als Atome in einer Anzahl von Universen, die dieser Atomanzahl gleicht. Der wirkliche Grund der Vielfalt liegt darin, dass es schwieriger als im Schach ist, eine Bewertungsfunktion für Verwendung mit einer Alpha-Beta-ähnlichen Suche zu schreiben.
Es gibt Programme, wie GoTools, die sich auf das Lösen idealisierter Teilstellungen beschränken. Bei bestimmten Stellungstypen kann dieses Programm menschliche Analyseleistungen bei weitem übertreffen. Für das Ziel des spielstarken Go-Programms ist damit jedoch fast nichts gewonnen, da diese idealisierten und in sich abgeschlossenen Stellungen in der Praxis eine relativ kleine Rolle spielen. Ähnliches gilt für die Ergebnisse, die sich für einige späte Endspiel-Positionen mit Hilfe der kombinatorischen Spieltheorie erzielen lassen.
Monte-Carlo Tree Search
Im Go wird daher ein anderer Ansatz verwendet, der als Monte-Carlo Tree Search bekannt ist. Die Zugauswahl beruht bei diesen Programmen auf der statistischen Auswertung der Ergebnisse einer großen Anzahl ausgehend von der Wurzelstellung komplett ausgespielter Partien. Da sich bei einem solchen Vorgehen die Bewertung der Endstellungen der Zufallspartien direkt aus den Goregeln ableiten lässt, benötigen diese Programme Gowissen nur für die Suche. Auf dem 9×9-Brett wurden seit Ende 2006 durch Einsatz von Monte-Carlo-Methoden für Suche und Stellungsbewertung erhebliche Fortschritte erzielt. Die Leistungen der besten 9×9-Programme waren Mitte 2007 wahrscheinlich äquivalent der Spielstärke eines europäischen 3-Dans mit durchschnittlicher Erfahrung mit den Besonderheiten des kleinen Brettes.
Feng-hsiung Hsu, der als Programmierer von Deep Blue bekannt wurde, hielt es 2007 für möglich, bis zum Jahr 2017 ein Go-Programm zu entwickeln, das die besten menschlichen Spieler besiegte. Bis dahin werde seiner Ansicht nach Hardware zur Verfügung stehen, die mehr als 100 Billionen Positionen pro Sekunde berechnen könnte.
Im August 2008 gelang es dem Supercomputer Huygens auf dem in Portland in Oregon stattfindenden 24. Jahreskongress des Go-Spiels erstmals, in einem offiziellen Wettkampf gegen einen Menschen mit einer Vorgabe von neun Steinen zu gewinnen. Dabei unterlag der koreanische 8-Dan-Profi Kim Myungwan nach 255 Zügen mit 1,5 Punkten. Die gemeinsame Presseerklärung der Universität von Maastricht, NCF, NWO Physical Sciences und SARA sagt, dass dies der erste Sieg von einem Computer gegen einen Go-Profi ist. Die zusammen mit INRIA Frankreich entwickelte Anwendung MoGo Titan läuft auf Huygens, der sich bei SARA in Amsterdam befindet.
Es ist schwierig, Computerprogrammen Ränge zuzuordnen, da einerseits die Spielstärke moderner Goprogramme stark abhängig ist von der Leistungsfähigkeit der zugrundeliegenden Hardware und von der verwendeten Bedenkzeit, und andererseits menschliche Spieler meistens schnell typische Fehler der Programme finden und diese ausnutzen. Oftmals wertet man deswegen nur die erste Partie eines Menschen gegen ein Computerprogramm zur Einstufung. Wertet man noch weitere Partien, so sinkt die gefühlte Spielstärke dieser Programme nach Meinung vieler Gospieler erheblich. Die stärksten Programme haben etwa auf dem KGS Go Server stabile Ränge in der Gegend von 6 Dan erreicht (Zen, Crazystone – Stand: 2015). Ein neuerer Ansatz zur Bewertung ist das Bayesian Elo-Rating.
Entwicklung seit 2015
Im März 2015 gewann das Programm Crazy Stone den 8. UEC Cup der japanischen University of Electro-Communications in Chōfu, in dem verschiedene Go-Programme gegeneinander antraten.
Im Oktober 2015 besiegte das Computerprogramm AlphaGo des Unternehmens Google DeepMind den Europameister Fan Hui (Spielstärke Oktober 2015: 2. Profi-Dan, BayesElo: 2908) in fünf aufeinanderfolgenden Spielen. Es war der erste Gleichaufsieg eines Computers über einen Menschen mit Profistärke.
Das Programm spielt in einem Netzwerk zunächst die mögliche Entwicklung des Spiels durch. Mit der Hilfe von Millionen archivierten Spielen sowie der Analyse von Partien gegen sich selbst, erreichte es in diesem Match eine korrekte Vorhersage für den nächsten menschlichen Zug, die mit 57 % deutlich über den bisherigen 44,4 % liegt. Auf diesem Vorhersagemodell baut das Programm in einem zweiten Netzwerk eine Entscheidung über den besten Zug auf, indem es den Sieger auf Grundlage jeder Position vorhersagt. Als Hardware wurden mehrere Systeme getestet: Die AlphaGo-Konfiguration besaß 48 CPUs mit 8 GPUs und erreichte mit max. 5 Sekunden Bedenkzeit eine BayesElo-Spielstärke von 2890. Die Distributed AlphaGo-Konfiguration erreichte mit 1202 CPUs und 176 GPUs 3140 BayesElo. Mit 1920 CPUs und 280 GPUs wurden 3168 BayesElo erreicht. Um die während der Lernphase benötigte massive Rechenleistung bereitzustellen, wurden die Google Cloud Platform und TensorFlow Processing Units (kurz TPUs, ASICs für die Software-Sammlung TensorFlow) eingesetzt.
Im März 2016 spielte AlphaGo gegen Lee Seedol, einen der damals weltweit stärksten Go-Spieler (Spielstärke Januar 2016: 9. Profi-Dan, BayesElo: 3515) ein Match über fünf Partien. Hier gewann AlphaGo vier Durchgänge durch Aufgabe, nur eine – die vierte – Partie gewann Lee.
AlphaZero, eine verallgemeinerte (d. h. auch für andere Brettspiele wie Schach und Shōgi nutzbare) Version der Weiterentwicklung AlphaGo Zero, ist inzwischen in der Lage, nur aufgrund der Spielregeln und durch häufiges Spielen gegen sich selbst eine noch größere Spielstärke als vorherige Versionen zu entwickeln.
Eine Analyse von Spielverhaltens gegen selbstlernende Go-Programme kommt zu dem Schluss, dass sich die Fähigkeiten der spielenden Menschen in Folge signifikant verbessert haben. Die Autoren der Studie sehen dies als Indiz für die generelle Plausibilität maschineller Entscheidungsunterstützung im Sinne Erweiterter Intelligenz (EI/XI).
Varianten und Abarten
Abweichende, aber gängige Brettgrößen sind 13 × 13 und 9 × 9. Darüber hinaus gibt es Varianten, die Änderungen oder Ergänzungen in der Strategie oder in den Regeln des Spiels nach sich ziehen.
Beim Go auf einem kreisförmigen Spielbrett mit Kreissegmenten als Linien (Rund-Go) gibt es bei gleichen Spielregeln keine Ecken und somit keine Eck-Jōseki mehr. Überlegungen zum Go auf einem Zylindermantel führen zum gleichen Effekt. Beim Go auf einem Torus fallen zusätzlich die Ränder weg. Jeder Punkt ist somit am Anfang des Spiels gleichberechtigt.
Beim Keima-Go wird das normale Spielmaterial verwendet. Allerdings setzt jeder Spieler in seinem Zug zwei Steine im Rösselsprung-Abstand.
Poker-Go verwendet zusätzlich zum normalen Spielmaterial einen gemeinsamen oder zwei spielereigene inhaltsgleiche Stapel mit Karten, von welchen die Spieler abwechselnd Karten mit auszuführenden Anweisungen ziehen. Diese können im Setzen bestimmter Steinformationen, im Bewegen oder auch im Entfernen eigener oder gegnerischer Steine bestehen.
Atari-Go wird als Vorstufe zum eigentlichen Go-Spiel eher von Anfängern gespielt. Die Regeln bleiben dieselben. Gewonnen hat jedoch derjenige, der zuerst einen Stein gefangen hat.
Siehe auch: Govarianten, Gobang, Ninuki Renju und Fünf in eine Reihe
Literatur
Sachbücher (Auswahl zum Einstieg)
Gunnar Dickfeld: Go für Einsteiger. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2016, ISBN 978-3-940563-40-8
Gunnar Dickfeld: Leben und Tod. Lehrbücher des Go. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-42-2
Gunnar Dickfeld: Schwarz am Zug. Das Go-Übungsbuch. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-31-6
Jörg Digulla u. a.: Das Go-Spiel. Eine Einführung in das asiatische Brettspiel. Hebsacker Verlag, 3., korr. Aufl., Hamburg 2008, ISBN 978-3-937499-04-8
Michael Koulen: Go. Die Mitte des Himmels. Geschichte, Spielregeln, Meisterpartien. Hebsacker Verlag, 5. Aufl., Hamburg 2006, ISBN 978-3-937499-02-4
William S. Cobb: Das leere Brett. Betrachtungen über das Go-Spiel. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2012, ISBN 978-3-940563-01-9
Richard Bozulich: Taktiken und Strategien des Go-Spiels. Was man Wissen muss, nachdem man die Regeln gelernt hat. Hebsacker Verlag, Hamburg 2009. ISBN 978-3-937499-05-5
Isamu Haruyama: Basic techniques of Go. Ishi Press, Tokio 1984.
Thomas Hillebrand: Lehrbücher des Go. Elementare Techniken. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-41-5
Toshirō Kageyama: Lehrstunden in den Grundlagen des Go. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2009, ISBN 978-3-940563-05-7
Karl-Friedrich Lenz: Elementare Grundlagen des Go-Spiels. Tokio 2004. (pdf; 857 kB)
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Go-Geschichte, Legenden und Hintergründe
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Belletristik
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Hajin Lee: Jenseits des Bretts. Der ungewöhnliche Weg einer professionellen Go-Spielerin. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2017, ISBN 978-3-940563-24-8.
Sung-Hwa Hong: Erster Kyu. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2023, ISBN 978-3-9879410-0-9.
Takeshi Obata, Yumi Hotta: Hikaru no Go. 23 Bände, Carlsen, Hamburg 2004–2010.
Günter Karau: Go oder Doppelspiel im Untergrund. Roman. Militärverlag der DDR, Berlin 1983, ISBN 3-327-00589-3.
Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels. Roman. dtv, München 2008, ISBN 978-3-423-24658-3.
Trevanian: Shibumi oder der leise Tod. Heyne, München 2011, ISBN 978-3-453-40809-8.
Manga (Popkultur)
Hikaru no Go, ein Manga/Anime mit Go-Spiel als Thema
Weblinks
Spielregeln für Anfänger
Der interaktive Weg zu Go – ausführlicher Go-Kurs für Anfänger
Einführung des Deutschen Go Bundes
(16 Seiten)
Spielregeln eines Verlages zum Herunterladen (2) (PDF; 265 kB, 2 Doppelseiten Querformat)
Go für Kinder und Jugendliche
Euro Go Kids – Informationen und Links für Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrer zum Thema Go
Go-Server
KGS Go Server (KGS) – gut besuchter Go-Server mit Spielmöglichkeit auch ohne Programm-Download
IGS Pandanet – der allererste Go-Server im Internet (englisch); spielbar über den GoPanda2-Client für Windows, Linux & OSX mit deutscher Sprachoption und der PANDANET(Go)-App für Android & iOS.
Dragon Go Server – rundenbasierter Go-Server
Online Go Server (OGS) – Browser-basierender Go-Server mit deutscher Sprachoption, bietet viele Features wie Tsumegos (Übungsaufgaben), unterschiedliche Brettgrößen etc.
Tygem Go Server – koreanischer Go-Server mit hauptsächlich asiatischem Publikum, spielbar über den Tygem-Client (englisch, verfügbar als Windows oder iOS App)
Go-Unterricht auf YouTube
– Go-Unterricht für Anfänger (Live-Go, Reviews, mitgefilmte Unterrichtsstunden des Seattle Go Centers) von Nick Sibicky, US-amerikanischer 4D-Spieler (englisch)
Haylee’s World of Go/Baduk auf YouTube – Go-Unterricht für Fortgeschrittene (meist Live-Go) von Lee Hajin, koreanische 4P-Spielerin (englisch)
Dwyrin – Go-Unterricht (englisch) für fortgeschrittene Anfänger und bessere Spieler. Der Channel verfügt über mehrere hundert Videos zu den verschiedensten Go-Themen (Reviews, Taktik, Übungen etc.)
Sunday Go Lessons – Channel von Jonathan Hop (4D-Spieler aus den USA). Es finden sich zahlreiche Lehrvideos, die sich an Neulinge richten, ebenso wie Reviews von Profispielen und originale Go-Wettkämpfe aus Japan mit englischen Untertiteln. (englisch)
Turniere, Partien, Probleme und Sonstiges
Sensei’s Library – Wiki, das sich ausschließlich mit Go befasst (englisch)
gobase.org – umfangreiche Go-Datenbank (englisch)
goproblems.com – Seite mit vielen Go-Problemen (größtenteils deutsch, englisch)
EidoGo – Joseki-Datenbank (englisch)
Waltheri's go pattern search – Datenbank für Joseki und Fuseki (englisch)
Goama – Freie Go-Zeitschrift (englisch)
MacMahon – Computerprogramm für die Durchführung von Go-Turnieren (englisch)
Nationale Go-Verbände
Deutscher Go-Bund – Nachrichten, Forum und vieles mehr
Go-Verband Österreich
Schweizer Go-Verband
Internationale Go-Verbände
Korea Baduk Association (koreanisch)
The Nihon Ki-in – Japan Go Association (englisch, japanisch)
European Go Federation – EGF (englisch)
American Go Association – AGA (englisch)
International Go Federation – IGF (englisch)
Go-Geschichte
Go History – Sammlung von Essays zur asiat. Go-Geschichte auf gobase.org (englisch)
Pok’s Go Space – Essays zur Geschichte des Go in Österreich, Europa und Asien (deutsch, englisch)
Siehe auch
Internationales Schach
Janggi – Koreanisches Schach
Shatar – Mongolisches Schach
Shogi – Japanisches Schach
Xiangqi – Chinesisches Schach
Einzelnachweise
Brettspiel
Strategiespiel
Denksport
Immaterielles Kulturerbe (Volksrepublik China)
Wikipedia:Artikel mit Video |
3360 | https://de.wikipedia.org/wiki/Michael%20Faraday | Michael Faraday | Michael Faraday [] (* 22. September 1791 in Newington, Surrey; † 25. August 1867 in Hampton Court Green, Middlesex) war ein englischer Naturforscher, der als einer der bedeutendsten Experimentalphysiker gilt. Faradays Entdeckungen der „elektromagnetischen Rotation“ und der elektromagnetischen Induktion legten den Grundstein zur Herausbildung der Elektroindustrie. Seine anschaulichen Deutungen des magnetooptischen Effekts und des Diamagnetismus mittels Kraftlinien und Feldern führten zur Entwicklung der Theorie des Elektromagnetismus. Bereits um 1820 galt Faraday als führender chemischer Analytiker Großbritanniens. Er entdeckte eine Reihe von neuen Kohlenwasserstoffen, darunter Benzol und Buten, und formulierte die Grundgesetze der Elektrolyse.
Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen und ausgebildet als Buchbinder, fand der von der Naturforschung begeisterte Faraday eine Anstellung als Laborgehilfe von Humphry Davy an der Royal Institution, die zu seiner wichtigsten Wirkungsstätte wurde. Im Labor der Royal Institution führte er seine wegbereitenden elektromagnetischen Experimente durch, in ihrem Hörsaal trug er mit seinen Weihnachtsvorlesungen dazu bei, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten. 1833 wurde Faraday zum ersten Fuller-Professor für Chemie ernannt. Faraday führte etwa 30.000 Experimente durch und veröffentlichte 450 wissenschaftliche Artikel. Die wichtigsten seiner Publikationen zum Elektromagnetismus fasste er in seinen Experimental Researches in Electricity (Experimental-Untersuchungen über Elektrizität) zusammen. Sein populärstes Werk Chemical History of a Candle (Naturgeschichte einer Kerze) war die Mitschrift einer seiner Weihnachtsvorlesungen.
Im Auftrag des britischen Staates bildete Faraday mehr als zwanzig Jahre lang die Kadetten der Royal Military Academy in Woolwich in Chemie aus. Er arbeitete für eine Vielzahl von Behörden und öffentlichen Einrichtungen, beispielsweise für die Schifffahrtsbehörde Trinity House, das British Museum, das Home Office und das Board of Trade.
Faraday gehörte zu den Anhängern einer kleinen christlichen Minderheit, den Sandemanianern, an deren religiösem Leben er aktiv teilnahm.
Leben und Wirken
Herkunft und Ausbildung
Michael Faraday wurde am 22. September 1791 in Newington in der Grafschaft Surrey, das heute zum London Borough of Southwark gehört, geboren. Er war das dritte von vier Kindern des Schmieds James Faraday (1761–1810) und dessen Frau Margaret (geborene Hastwell, 1764–1838), einer Bauerntochter. Bis Anfang 1791 lebten seine Eltern mit seinen beiden älteren Geschwistern Elizabeth (1787–1847) und Robert (1788–1846) im kleinen Dorf Outhgill in der damaligen Grafschaft Westmorland im Nordwesten Englands (heute Cumbria). Als die Auswirkungen der Französischen Revolution zu einem Rückgang des Handels führten und die Familie von Armut bedroht war, beschloss sie, in die unmittelbare Nähe von London zu ziehen. Faradays Vater fand Arbeit beim Eisenwarenhändler James Boyd im Londoner Stadtteil West End. Die Familie zog kurz darauf in die Gilbert Street und etwa fünf Jahre später in die Jacob’s Well Mews. Dort wurde Faradays jüngere Schwester Margaret (1802–1862) geboren.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr besuchte Faraday eine einfache Tagesschule, wo ihm die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens beigebracht wurden. 1804 fand er eine Anstellung als Laufbursche beim hugenottischen Auswanderer George Riebau, der in der Blanford Street einen Buchladen betrieb. Eine von Faradays Aufgaben bestand darin, am Morgen die Zeitung zu Riebaus Kunden zu bringen, sie im Laufe des Tages wieder abzuholen und zu weiteren Kunden zu tragen. Nach etwa einem Jahr als Laufbursche unterzeichnete Faraday am 7. Oktober 1805 einen siebenjährigen Lehrvertrag für eine Buchbinderlehre bei Riebau. Entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Zeit zog er zu seinem Lehrmeister und wohnte während seiner Ausbildung bei ihm.
Faraday erwies sich als ein geschickter, aufgeschlossener und wissbegieriger Lehrling. Er erlernte das Buchbinderhandwerk schnell und las aufmerksam viele der zum Binden gebrachten Bücher. Darunter befanden sich Jane Marcets 1806 erschienene Conversations on Chemistry, eine populäre Einführung in die Chemie, und der von James Tytler für die dritte Auflage der Encyclopædia Britannica verfasste Beitrag über Elektrizität, aber auch die Geschichte von Ali Baba sowie Nachschlagewerke und Zeitschriften über Kunst. Riebau gestattete ihm die Durchführung kleinerer chemischer und elektrischer Experimente.
Unter den Werken, die Faraday studierte, befand sich auch Isaac Watts’ Buch The Improvement of the Mind (1741), das sich an Leser richtete, die ihr Wissen und ihre geistigen Fähigkeiten selbständig erweitern wollten. Der Autor legte in seinen Ausführungen Wert darauf, Wissen nicht nur passiv zu vermitteln, sondern seine Leser dazu anzuregen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Watts empfahl unter anderem, sich Notizen zu Artikeln zu machen, bei Vorträgen Mitschriften anzufertigen und den Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten zu suchen.
Unter diesem Eindruck begann Faraday 1809 eine von ihm The Philosophical Miscellany betitelte Sammlung von Notizen über Artikel zu den Themen Kunst und Wissenschaft, die er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gelesen hatte. 1810 ermutigte Riebau den 19-jährigen Faraday, die jeden Montag vom Goldschmied John Tatum in seinem Haus abgehaltenen wissenschaftlichen Vorträge zu besuchen. Tatum war der Gründer der 1808 ins Leben gerufenen City Philosophical Society, deren Ziel es war, Handwerkern und Lehrlingen den Zugang zu wissenschaftlichen Kenntnissen zu ermöglichen. Für die Vorträge war jeweils eine Gebühr von einem Schilling zu entrichten, den Faraday von seinem Bruder Robert erhielt. Mit dieser Unterstützung konnte er vom 19. Februar 1810 an bis zum 26. September 1811 etwa ein Dutzend Vorträge besuchen. Während Tatums Vorträgen fertigte Faraday Notizen an, die er in seiner freien Zeit überarbeitete, zusammenfasste und in ein Notizbuch übertrug. Bei Tatum freundete er sich mit den Quäkern Benjamin Abbott (1793–1870) und Edward Magrath (1791?–1861) sowie Richard Phillips (1778–1851) an. Mit Abbott begann er am 12. Juli 1812 einen schriftlichen Gedankenaustausch, der viele Jahre fortdauerte.
Faraday, dessen Lehrzeit bei Riebau dem Ende entgegenging, verspürte wenig Neigung, sein Leben als Buchbinder zu verbringen. Er schrieb einen Brief an Joseph Banks, den Präsidenten der Royal Society, in dem er um eine niedrige Anstellung in den Laboratorien der Royal Society bat. Banks hielt es jedoch nicht für erforderlich, sein Ersuchen zu beantworten. Am 8. Oktober 1812, einen Tag nach Ende seiner Lehrzeit, trat Faraday seine Tätigkeit als Buchbindergeselle bei Henri De La Roche an.
Anstellung als Laborgehilfe
Anfang 1812 zeigte Riebau dem Sohn von William Dance (1755–1840), einem seiner Kunden, Faradays Notizbuch mit den Mitschriften von Tatums Vorträgen. Dance berichtete seinem Vater davon, der daraufhin Faraday zu Humphry Davys letzten vier Vorlesungen mit dem Titel The Elements of Chemical Philosophy als Professor der Chemie im März und April 1812 mitnahm. Davy galt als herausragender Dozent und hatte sich in der Fachwelt durch die Entdeckung der Elemente Kalium, Natrium und Chlor ein hohes Ansehen erworben. Während Davys Vorträge machte sich Faraday zahlreiche Notizen, die er, überarbeitet und mit Zeichnungen versehen, zu einem Buch band und an Davy schickte.
Ende Oktober 1812 befand sich Davy jedoch nicht in London, sondern wiederholte gemeinsam mit John George Children in Tunbridge Wells einen Versuch von Pierre Louis Dulong, der kurz zuvor eine neue Verbindung aus Chlor und Stickstoff entdeckt hatte. Während der Experimente explodierte ein Glasröhrchen mit dem entstandenen Stickstofftrichlorid und verletzte Davys linkes Auge schwer. Davy wurde umgehend zur Behandlung nach London gebracht und fand dort Faradays Sendung vor. Da er aufgrund seiner Augenverletzung zur Ordnung seiner Notizen Hilfe benötigte, lud er Faraday Ende des Jahres 1812 zu sich nach Hause ein.
Am 19. Februar 1813 kam es an der Royal Institution zwischen dem Laborgehilfen William Payne und dem Instrumentenbauer John Newmann zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Drei Tage später wurde Payne von den Managern der Royal Institution entlassen. Davy, der einen neuen Assistenten benötigte, schlug Faraday für den vakanten Posten vor. Am 1. März 1813 begann dieser seine Tätigkeit als Laborgehilfe an der Royal Institution. Seine Pflichten umfassten die Betreuung und Unterstützung der Vortragenden und Professoren bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Vorlesungen, das wöchentliche Reinigen der Modelle im Lager sowie das monatliche Entstauben der Instrumente in den Glaskästen. Er bezog die zwei Räume seines Vorgängers und erhielt die Erlaubnis, das Labor für eigene Experimente zu benutzen.
Reise durch Kontinentaleuropa
Napoleon Bonaparte hatte Davy eine Goldmedaille für dessen Beiträge zur Elektrochemie verliehen, die dieser in Paris entgegennehmen wollte. Trotz der andauernden Napoleonischen Kriege erhielt er von der französischen Regierung die Erlaubnis, Kontinentaleuropa zu bereisen. Davy und seine Frau Jane Apreece (1780–1855) planten daher 1813 eine Reise durch Kontinentaleuropa, die auf zwei oder drei Jahre ausgelegt war und bis nach Konstantinopel führen sollte. Er bat Faraday, ihn als sein Amanuensis (Sekretär und wissenschaftlicher Gehilfe) zu begleiten. Das bot diesem, der sich noch nie „weiter als zwölf Meilen“ von London entfernt hatte, die Möglichkeit, von Davy zu lernen und mit einigen der bedeutendsten ausländischen Naturforscher in Kontakt zu kommen.
Am 13. Oktober 1813 verließ die fünfköpfige Reisegesellschaft London. In Plymouth schiffte sie sich nach Morlaix ein, wo sie durchsucht und für etwa eine Woche festgesetzt wurde. Am Abend des 27. Oktober erreichte sie schließlich Paris. Faraday erkundete die Stadt, die ihn sehr beeindruckte, und besuchte gemeinsam mit Davy und dem Geologen Thomas Richard Underwood (1772–1835) das Musée Napoleon. Im Labor des Chemikers Louis-Nicolas Vauquelin beobachteten Davy und Faraday die Herstellung von Kaliumchlorid, die sich von der in England angewandten Methode unterschied. Am Morgen des 23. November suchten André-Marie Ampère, Nicolas Clément und Charles-Bernard Desormes Davy in seinem Hotel auf, präsentierten ihm eine zwei Jahre zuvor durch Bernard Courtois entdeckte Substanz und führten ihm einige Experimente vor, bei denen violette Dämpfe entstanden. Mit Faradays Hilfe führte Davy eigene Experimente durch, unter anderem im Labor von Eugène Chevreul im Jardin des Plantes. Am 11. Dezember wurde ihm klar, dass es sich bei der Substanz um ein neues Element handelte, das er nach dem griechischen Wort iodes für ‚violett‘ Iod nannte. Davys Experimente verzögerten die geplante Weiterreise nach Italien.
Am 29. Dezember 1813 verließen sie Paris in Richtung Mittelmeerküste, wo Davy hoffte, iodhaltige Pflanzen für seine Untersuchungen zu finden. Faraday wurde Anfang Februar in Montpellier Zeuge des Durchzugs von Papst Pius VII., der nach seiner Befreiung durch die Alliierten nach Italien zurückkehrte. Nach einem einmonatigen Aufenthalt setzten sie in Begleitung von Frédéric-Joseph Bérard (1789–1828) ihren Weg nach Italien fort. Über Nîmes und Nizza überquerten sie die Alpen über den Tenda-Pass. Während des beschwerlichen Weges von Stadt zu Stadt erklärte Davy Faraday die geologische Beschaffenheit der Landschaft und machte ihn mit den antiken Kulturstätten vertraut.
In Genua verhinderte schlechtes Wetter die Weiterreise. Davy nutzte die Verzögerung, um bei Domenico Viviani (1772–1840), der einige „Elektrische Fische“ in Gefangenschaft hielt, Experimente durchzuführen, mit denen er überprüfen wollte, ob die Entladung dieser Fische ausreichte, um Wasser zu zersetzen. Die Ergebnisse seiner Experimente waren negativ. Am 13. März überquerten sie mit dem Schiff den Golf von Genua. Einen Tag vor der Landung der britischen Armee in Livorno passierten sie Lucca und gelangten am 16. März nach Florenz, wo sie das Museum der Accademia del Cimento besuchten, in dem sich unter anderem Galileo Galileis Beobachtungsinstrumente befanden. Davy und Faraday setzten ihre Versuche mit Iod fort und bereiteten ein Experiment vor, das beweisen sollte, dass Diamanten aus reinem Kohlenstoff bestanden. Dazu verwendeten sie große Brenngläser aus dem Besitz von Großherzog Ferdinand III. Am 27. März 1814 gelang dieser Nachweis zum ersten Mal. In den folgenden Tagen wiederholten die beiden das Experiment noch mehrere Male.
Die Ankunft in Rom erfolgte inmitten der Karwoche. Wie schon an anderen Orten erkundete Faraday die Stadt auf eigene Faust. Er war besonders vom Petersdom und dem Kolosseum beeindruckt. An der Accademia dei Lincei experimentierten Davy und Faraday mit Kohle, um einigen offenen Fragen aus dem Diamanten-Experiment nachzugehen. Am 5. Mai waren sie im Haus von Domenico Morichini (1773–1836) zu Gast. Dort wiederholte Faraday erfolglos unter der Anleitung des Hausherrn dessen Experiment zur vermeintlichen Magnetisierung einer Nadel durch den violetten Spektralanteil des Sonnenlichts. Zwei Tage später brachen sie zu einem zweiwöchigen Abstecher nach Neapel auf. Dort bestiegen sie mehrmals den Vesuv. Caroline Bonaparte, die Königin von Neapel, machte Davy ein Gefäß mit antiken Farbpigmenten zum Geschenk, die Davy und Faraday später analysierten.
Um der Sommerhitze zu entfliehen, brach die Reisegesellschaft am 2. Juni von Rom aus in Richtung Schweiz auf. Über Terni, Bologna, Mantua und Verona gelangten sie nach Mailand. Hier begegnete Faraday am 17. Juni Alessandro Volta. Sie kamen am 25. Juni 1814 in Genf an und verbrachten den Sommer bei Charles-Gaspard de la Rive in dessen Haus am Genfersee, jagten, fischten, experimentierten weiter mit Iod und arbeiteten mit Marc-Auguste Pictet und Nicolas-Théodore de Saussure zusammen. Am 18. September 1814 reisten sie über Lausanne, Vevey, Payerne, Bern, Zürich und den Rheinfall bei Schaffhausen schließlich nach München, wo sie drei Tage blieben.
Über den Brennerpass kehrten sie nach Italien zurück und besuchten dabei Padua und Venedig. In Florenz untersuchten sie ein brennbares Gas, das in Pietramala dem Erdboden entwich und das sie als Methan identifizierten. In Rom, wo sie am 2. November 1814 ankamen und bis zum März 1815 blieben, erlebte Faraday das Weihnachtsfest und besuchte während des Karnevals mehrere Maskenbälle. Davy und Faraday führten weitere Experimente mit Chlor und Iod durch. Ihre ursprünglichen Pläne, nach Konstantinopel weiterzureisen, zerschlugen sich. Nachdem sie Tirol und Deutschland durchquert hatten, erreichten sie am 23. April 1815 schließlich London.
Entwicklung zum chemischen Analytiker
Nach der Rückkehr war Faraday in London zunächst ohne Anstellung. Auf Wunsch von William Thomas Brande, der 1812 von Davy die Position des Professors für Chemie übernommen hatte, und mit voller Unterstützung durch Davy, der eine Woche zuvor zum Vizepräsidenten der Royal Institution gewählt worden war, erhielt Faraday am 15. Mai seinen alten Posten als Laborgehilfe wieder und war zusätzlich für die mineralogische Sammlung verantwortlich.
Faraday besuchte erneut die Vorträge der City Philosophical Society und wurde Mitglied der Gesellschaft. Am 17. Januar 1816 hielt er dort seinen ersten Vortrag über Chemie, dem in den nächsten zweieinhalb Jahren 16 weitere folgten. Um seine Fähigkeiten als Vortragender zu vervollkommnen, besuchte er 1818 die am Donnerstagabend an der Royal Institution abgehaltenen Rhetorikkurse von Benjamin Humphrey Smart (1786–1872). Gemeinsam mit vier Freunden gründete er im Sommer desselben Jahres einen Schreibzirkel. Die Mitglieder der nach den Richtlinien der City Philosophical Society organisierten Gruppe verfassten Aufsätze zu frei wählbaren oder festgelegten Themen, die anonym eingereicht und in der Gruppe gemeinsam bewertet wurden.
Im Labor der Royal Institution führte Faraday häufig in Davys Auftrag Experimente durch und war 1816 maßgeblich an dessen Untersuchungen beteiligt, die zur Entwicklung der im Bergbau eingesetzten „Davy-Lampe“ führten. Für Brande, den Herausgeber des Quarterly Journal of Science, stellte Faraday ab 1816 die Miscellanea betitelten Seiten zusammen und übernahm im August 1816 während Brandes Abwesenheit die volle Verantwortung für das Journal. 1816 erschien im Quarterly Journal of Science auch Faradays erste wissenschaftliche Veröffentlichung über aus der Toskana stammende Kalksteinproben. Bis Ende 1819 hatte er 37 Mitteilungen und Artikel im Quarterly Journal of Science veröffentlicht, darunter eine Untersuchung über das Entweichen von Gasen aus Kapillarrohren und Bemerkungen über „singende Flammen“.
In seinem Labor führte Faraday für William Savage (1770–1843), den Drucker der Royal Institution, Papieranalysen durch, untersuchte Tonerdeproben für den Keramikproduzenten Josiah Wedgwood II (1769–1843) und nahm in gerichtlichem Auftrag kriminaltechnische Untersuchungen vor. Anfang 1819 begann Faraday gemeinsam mit James Stodart (1760–1823), der chirurgische Instrumente herstellte, eine umfangreiche Reihe von Experimenten, die sich mit der Verbesserung von Stahllegierungen beschäftigten. Er untersuchte zunächst Wootz, ein weit verbreitetes Ausgangsprodukt für Stahl, auf dessen chemische Zusammensetzung. Es folgten zahlreiche Versuche zur Veredelung von Stahl, bei denen unter anderem Platin und Rhodium zum Einsatz kamen. Die Stahluntersuchungen erstreckten sich über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren und wurden nach Stodarts Tod von Faraday alleine fortgeführt.
Am 21. Dezember 1820 wurde Faradays erste für den Abdruck in den Philosophical Transactions bestimmte Abhandlung vor den Mitgliedern der Royal Society verlesen. Darin wurden die beiden neuen von ihm entdeckten Chlorkohlenstoffverbindungen Tetrachlorethen und Hexachlorethan beschrieben. Zu dieser Zeit galt Faraday bereits als Großbritanniens führender chemischer Analytiker. 1821 wurde er zum „Superintendent of the House“ der Royal Institution ernannt. Am 12. Juni 1821 heiratete er Sarah Barnard (1800–1879), die Schwester seines Freundes Eduard Barnard (1796–1867), die er im Herbst 1819 kennengelernt hatte. Ihre Ehe blieb kinderlos.
Anerkennung als Naturforscher
„Elektromagnetische Rotation“
1821 bat Richard Phillips, mittlerweile Herausgeber der Annals of Philosophy, Faraday um einen Abriss aller bekannten Erkenntnisse über Elektrizität und Magnetismus. Kurz zuvor hatte Hans Christian Ørsted seine Beobachtungen über die Ablenkung einer Kompassnadel durch elektrischen Strom veröffentlicht. Faraday wiederholte in seinem Labor Experimente von Ørsted, André-Marie Ampère und François Arago. Sein zweiteiliger Historical Sketch of Electro-Magnetism erschien, auf seinen Wunsch anonym, im September und Oktober 1821 in den Annals of Philosophy. Am 3. September gelang Faraday zum ersten Mal ein Experiment, bei dem sich ein stromdurchflossener Leiter unter dem Einfluss eines Dauermagneten um seine eigene Achse drehte. Noch im gleichen Monat veröffentlichte er seine Entdeckung im Quarterly Journal of Science. Die sogenannte „elektromagnetische Rotation“ war eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Elektromotors.
Bereits wenige Tage nach Veröffentlichung seiner Entdeckung bezweifelten Freunde von William Hyde Wollaston, darunter Davy, die Eigenständigkeit der Arbeit Faradays. Sie bezichtigten ihn, die Idee „elektromagnetische Rotation“ von Wollaston gestohlen und dessen Autorschaft nicht gewürdigt zu haben. Faradays experimenteller Nachweis unterschied sich jedoch völlig von der von Wollaston vorgeschlagenen Lösung, was dieser auch anerkannte. Da die Gerüchte in der Öffentlichkeit darüber nicht abebbten, war Faraday gezwungen, die Autorschaft seines Historical Sketch of Electro-Magnetism offenzulegen.
Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie
Im Jahr 1818 hatte Michael Faraday die einschläfernde Wirkung des „Schwefeläthers“ beschrieben. 1823 begann Faraday die Eigenschaften des von Davy entdeckten Chlorhydrats zu untersuchen. Als er es unter Druck erhitzte, gelang ihm zum ersten Mal die Verflüssigung von Chlor. 1823 und nochmals 1844, als er sich erneut mit dem Thema beschäftigte, gelang es ihm, Ammoniak, Kohlenstoffdioxid, Schwefeldioxid, Distickstoffmonoxid, Chlorwasserstoff, Schwefelwasserstoff, Dicyan und Ethen zu verflüssigen. Faraday erkannte als Erster, dass eine kritische Temperatur existierte, oberhalb derer sich Gase unabhängig vom ausgeübten Druck nicht mehr verflüssigen ließen. Er wies nach, dass die Zustände „fest“, „flüssig“ und „gasförmig“ ineinander überführbar waren und keine festen Kategorien bildeten.
1825 fielen Faraday in Kannen mit Leuchtgas, die sein bei der London Gas Company arbeitender Bruder Robert der Royal Institution lieferte, flüssige Rückstände auf. Er analysierte die Flüssigkeit und entdeckte eine neue Kohlenwasserstoff-Verbindung, die er als „Bicarburet of Hydrogen“ bezeichnete. Von Eilhard Mitscherlich erhielt diese Substanz, ein aromatischer Kohlenwasserstoff, im selben Jahr die Bezeichnung Benzol. Kurz darauf entdeckte er mit Buten eine Verbindung, die die gleiche Verhältnisformel wie Ethen hatte, sich aber in den chemischen Eigenschaften völlig unterschied. 1826 ermittelte Faraday die Zusammensetzung von Naphthalin und stellte zwei verschiedene kristalline Proben von Naphthalinschwefelsäure her.
Im April 1827 erschien Chemical Manipulation. Diese Monografie Faradays war eine Einführung in die praktische Chemie und richtete sich an Anfänger auf dem Gebiet der chemischen Naturforschung. Sie umfasste alle Belange der praktischen Chemie, beginnend mit der zweckmäßigen Einrichtung eines Laboratoriums über die zweckmäßige Durchführung chemischer Experimente bis hin zur Fehleranalyse. Der Erstausgabe folgten 1830 und 1842 zwei weitere Auflagen.
Herstellung optischer Gläser
Am 1. April 1824 gründeten die Royal Society und das Board of Longitude eine gemeinsame Kommission (Committee for the Improvement of Glass for Optical Purposes). Sie hatte das Ziel, Rezepturen für die Herstellung hochwertiger optischer Gläser zu finden, die mit den von Joseph von Fraunhofer in Deutschland hergestellten Flintgläsern konkurrieren konnten. Die Untersuchungen fanden anfangs in den von Apsley Pellatt (1763–1826) und James Green betriebenen Falcon Glass Works statt. Um die Durchführung der Experimente direkter überwachen zu können, wurde am 5. Mai 1825 ein Unterkomitee berufen, das aus John Herschel, George Dollond und Faraday bestand. Nach der Errichtung eines neuen Schmelzofens an der Royal Institution wurden die Glasuntersuchungen ab September 1827 an der Royal Institution durchgeführt. Zur Entlastung Faradays wurde am 3. Dezember 1827 Charles Anderson, ein ehemaliger Sergeant der Royal Artillery, eingestellt. Die Glasuntersuchungen waren für über fünf Jahre Faradays Hauptaufgabe und Ende 1829 das Thema seiner ersten Baker-Vorlesung vor der Royal Society. 1830 wurden die Glasexperimente aus finanziellen Gründen gestoppt. Ein 1831 vorgelegter Bericht der Astronomen Henry Kater (1777–1835) und John Pond, die ein Teleskop mit einem Objektiv aus einem von Faraday hergestellten Glas testeten, bescheinigte dem Glas gute achromatische Eigenschaften. Faraday hielt die Ergebnisse seiner fünfjährigen Arbeit jedoch für unzulänglich.
Institutioneller Aufstieg
Auf Betreiben seines Freundes Richard Phillips, der kurz zuvor selbst in die Royal Society aufgenommen worden war, wurde am 1. Mai 1823 zum ersten Mal der Antrag zur Aufnahme von Faraday in die Gesellschaft verlesen. Der Antrag trug die Unterschrift von 29 Mitgliedern und musste an zehn aufeinanderfolgenden Sitzungen verlesen werden. Davy, seit 1820 Präsident der Royal Society, wollte die Wahl Faradays verhindern und versuchte, die Rücknahme des Antrages zu erwirken. Mit einer Gegenstimme wurde Faraday am 8. Januar 1824 in die Royal Society aufgenommen.
Von März bis Juni 1824 fungierte Faraday aushilfsweise als erster Sekretär des von Davy mitgegründeten Londoner Clubs The Athenaeum. Als ihm im Mai vorgeschlagen wurde, den Posten für ein Jahresgehalt von 100 Pfund dauerhaft zu übernehmen, schlug er das Angebot aus und empfahl seinen Freund Edward Magrath für diese Position.
Am 7. Februar 1825 wurde Faraday zum Labordirektor der Royal Institution ernannt und begann dort die ersten eigenen Vorträge abzuhalten. Im Februar 1826 wurde er von der Verpflichtung befreit, Brande bei dessen Vorlesungen zu assistieren. 1827 hielt Faraday Chemievorlesungen an der London Institution und gab die erste seiner zahlreichen Weihnachtsvorlesungen. Ein Angebot, erster Professor für Chemie an der neu gegründeten University of London zu werden, lehnte er mit einem Hinweis auf seine Verpflichtungen an der Royal Institution ab. 1828 wurde er mit der Fuller-Medaille geehrt. Bis 1831 half er Brande bei der Herausgabe des Quarterly Journal of Science und betreute anschließend die ersten fünf Ausgaben des neuen Journal of the Royal Institution.
Untersuchungen über Elektrizität (1831 bis 1838)
Elektromagnetische Induktion
Bereits 1822 merkte Faraday in seinem Notizbuch an: „Convert magnetism into electricity“ („Magnetismus in Elektrizität umwandeln“). In dem im September 1820 begonnenen Labortagebuch notierte er am 28. Dezember 1824 erstmals ein Experiment, mit dem er versuchte, mit Hilfe von Magnetismus Elektrizität zu erzeugen. Der erwartete elektrische Strom blieb jedoch aus. Am 28. und 29. November 1825 sowie am 22. April 1826 führte er weitere Versuche durch, ohne jedoch das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Nach einer durch die aufwändigen Glasuntersuchungen bedingten fünfjährigen Pause wandte sich Faraday am 29. August 1831 erstmals wieder elektromagnetischen Experimenten zu. Er hatte von seinem Assistenten Anderson einen Weicheisenring mit einem Innendurchmesser von sechs Zoll (etwa 15 Zentimeter) anfertigen lassen. Auf der einen Seite des Ringes brachte er drei Wicklungen aus Kupferdraht an, die durch Bindfaden und Kattun voneinander isoliert waren. Auf der anderen Seite des Ringes befanden sich zwei solcher Wicklungen. Er verlängerte auf der einen Seite die beiden Enden einer der Wicklungen mit einem langen Kupferdraht, der zu einer etwa drei Fuß (etwa ein Meter) entfernten Magnetnadel führte. Eine der Wicklungen auf der anderen Seite verband er mit den Polen einer Batterie. Jedes Mal, wenn er den Stromkreis schloss, bewegte sich die Magnetnadel aus ihrer Ruhelage. Beim Öffnen des Stromkreises bewegte sich die Nadel erneut, nur diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Faraday hatte die elektromagnetische Induktion entdeckt und dabei ein Prinzip angewandt, das den später entwickelten Transformatoren zugrunde liegt. Seine Experimente, die bis zum 4. November andauerten, unterbrach er für einen dreiwöchigen Ferienaufenthalt mit seiner Frau in Hastings und eine vierzehntägige Untersuchung für die Royal Mint. Während seiner an nur elf Tagen durchgeführten Experimente fand er heraus, dass ein zylindrischer Stabmagnet, der durch eine Drahtwendel bewegt wurde, eine elektrische Spannung in dieser induzierte. Nach diesem Grundprinzip arbeiten elektrische Generatoren.
Faradays Bericht über die Entdeckung der elektromagnetischen Induktion wurde von ihm Ende 1831 vor der Royal Society vorgetragen. Die in den Philosophical Transactions abgedruckte Form erschien erst im Mai 1832. Die lange Verzögerung ergab sich aus einer Änderung der Veröffentlichungsbedingungen für neue Artikel. Bis Ende 1831 reichte ein Mehrheitsbeschluss des Committee of Papers zur Veröffentlichung eines Artikels in den Philosophical Transactions. Die geänderten Regeln sahen eine individuelle Begutachtung der Artikel vor. Das Gutachten zu Faradays Artikel schrieben der Mathematiker Samuel Hunter Christie und der Mediziner John Bostock (1773–1846).
Im Dezember 1831 schrieb Faraday an seinen langjährigen französischen Briefpartner Jean Nicolas Pierre Hachette und teilte ihm darin seine jüngsten Entdeckungen mit. Hachette zeigte den Brief dem Sekretär des Institut de France, François Arago, der das Schreiben am 26. Dezember 1831 vor den Mitgliedern des Instituts verlas. In den französischen Zeitungen Le Temps und Le Lycée erschienen am 28. bzw. 29. Dezember 1831 Berichte über Faradays Entdeckung. Der Londoner Morning Advertiser druckte diese am 6. Januar 1832 nach. Die Presseberichte bedrohten die Priorität seiner Entdeckung, da die Italiener Leopoldo Nobili und Vincenzo Antinori (1792–1865) in Florenz einige Versuche Faradays wiederholt hatten und ihre in der Zeitschrift Antologia veröffentlichten Ergebnisse vor Faradays Aufsatz in den Philosophical Transactions erschienen.
Einheitlichkeit der Elektrizität
Nach seiner Entdeckung, dass Magnetismus Elektrizität zu erzeugen vermag, stellte sich Faraday die Aufgabe nachzuweisen, dass unabhängig davon, wie Elektrizität erzeugt wird, diese immer gleichartig wirkt. Am 25. August 1832 begann er mit den bekannten Elektrizitätsquellen zu arbeiten. Er verglich die Wirkungen von voltaischer Elektrizität, Reibungselektrizität, Thermoelektrizität, tierischer Elektrizität und magnetischer Elektrizität. In seinem am 10. und 17. Januar verlesenen Beitrag gelangte er aufgrund seiner Experimente zum Schluss, .
Grundgesetze der Elektrolyse
Ende Dezember 1832 stellte sich Faraday die Frage, ob ein elektrischer Strom in der Lage wäre, einen festen Körper – beispielsweise Eis – zu zersetzen. Bei seinen Experimenten stellte er fest, dass sich Eis im Gegensatz zu Wasser wie ein Nichtleiter verhielt. Er testete eine Reihe von Substanzen mit niedrigem Schmelzpunkt und beobachtete, dass ein nichtleitender fester Körper nach dem Übergang in die flüssige Phase den Strom leitete und sich unter dem Einfluss des Stromes chemisch zersetzte. Am 23. Mai 1833 sprach er vor der Royal Society Über ein neues Gesetz der Elektrizitätsleitung.
Diese Untersuchungen führten Faraday direkt zu seinen Experimenten über die „elektro-chemische Zersetzung“, die ihn ein Jahr lang beschäftigten. Er sichtete die vorhandenen Ansichten, insbesondere die von Theodor Grotthuß und Davy, und kam zu der Auffassung, dass die Zersetzung im Inneren der Flüssigkeit vor sich ging und die elektrischen Pole nur die Rolle einer Begrenzung der Flüssigkeit spielten.
Unzufrieden mit den ihm für die Beschreibung der chemischen Zersetzung unter dem Einfluss eines elektrischen Stromes zur Verfügung stehenden Begriffen, wandte sich Faraday Anfang 1834 an William Whewell und diskutierte darüber auch mit seinem Arzt Whitlock Nicholl. Letzterer schlug Faraday vor, zur Beschreibung des Vorgangs der elektrochemischen Zersetzung die Begriffe Elektrode für die Ein- und Austrittsflächen des Stromes, Elektrolyse für den Vorgang selbst und Elektrolyt für die betroffene Substanz zu verwenden. Whewell, der die polare Natur des Vorganges kenntlicher machen wollte, prägte für die beiden Elektroden die Termini Anode und Kathode sowie für die betroffenen Teilchen die Begriffe Anion, Kation und Ion. Zu Beginn der siebenten Folge seiner Experimental Researches in Electricity, die er am 9. Januar 1834 der Royal Society vorlegte, schlug Faraday die neuen Begriffe zur Beschreibung des Vorgangs der elektrochemischen Zersetzung (Elektrolyse) vor. In diesem Artikel formulierte er die beiden Grundgesetze der Elektrolyse:
Mit seinen Untersuchungen schloss Faraday den Einfluss von Faktoren, wie beispielsweise der Konzentration der elektrolytischen Lösung oder der Beschaffenheit und Größe der Elektroden, auf den Vorgang der Elektrolyse aus. Nur die Elektrizitätsmenge und die beteiligten chemischen Äquivalente waren von Bedeutung. Es war der Nachweis, dass chemische und elektrische Kräfte eng miteinander verbunden waren und quantitativ zusammenhingen. Diesen Zusammenhang nutzte Faraday bei seinen weiteren Experimenten zur genauen Messung der Elektrizitätsmenge.
Elektrostatische Abschirmung
Mitte Januar 1836 baute Faraday im Hörsaal der Royal Institution einen Würfel mit 12 Fuß (etwa 3,65 Meter) Seitenlänge auf, dessen Kanten aus einem leichten Holzrahmen gebildet wurden. Die Seitenflächen waren netzartig mit Kupferdraht bespannt und mit Papier verkleidet. Der Würfel stand auf vier 5,5 Zoll (etwa 14 Zentimeter) hohen Glasfüßen, um ihn vom Untergrund zu isolieren. In den am 15. und 16. Januar 1836 durchgeführten Untersuchungen verband er den Würfel mit einer Elektrisiermaschine, um ihn elektrisch zu laden. Anschließend begab er sich mit einem Goldblatt-Elektrometer in das Innere der Anordnung, um die möglicherweise in der Luft induzierte Elektrizität nachzuweisen. Jeder Punkt des Raumes erwies sich jedoch als frei von Elektrizität.
Die als faradayscher Käfig bekannte Anordnung, bei der das elektrische Feld im Inneren eines geschlossenen, leitfähigen Körpers verschwindet, dient heute in der Elektrotechnik zur Abschirmung von elektrostatischen Feldern.
Einfluss von Isolatoren
1837 dachte Faraday darüber nach, auf welche Weise sich die elektrische Kraftwirkung durch den Raum ausbreitete. Der Gedanke an eine Fernwirkung der elektrischen Kräfte, wie ihn das coulombsche Gesetz implizierte, bereitete ihm Unbehagen. Er vermutete hingegen, dass der Raum bei der Kraftübertragung eine Rolle spielen und eine Abhängigkeit vom Raum füllenden Medium existieren müsse. Faraday begann den Einfluss von Isolatoren systematisch zu untersuchen und entwarf eine Versuchsanordnung aus zwei identischen Kugelkondensatoren. Diese Kugelkondensatoren bestanden ihrerseits aus zwei mit einem Abstand von drei Zentimetern ineinandergestellten Messingkugeln. Die Kugeln waren durch einen mit isolierendem Schellack überzogenen Messinggriff miteinander verbunden und bildeten eine Leidener Flasche. Faraday lud zunächst einen der beiden Kondensatoren auf, brachte ihn anschließend mit dem anderen in elektrischen Kontakt und überzeugte sich mit einer selbstgebauten Coulombschen Drehwaage, dass nach dem Ladungsausgleich beide Kondensatoren die gleiche Ladung trugen. Anschließend füllte er den Luftraum des einen Kondensators mit einem Isolator und wiederholte den Versuch. Seine erneute Messung ergab, dass der Kondensator mit dem Isolator die größere Ladung trug. Er wiederholte das Experiment mit verschiedenen Stoffen. Faraday erhielt ein quantitatives Maß für den Einfluss der Isolatoren auf die Kapazität der Kugeln, das er „specific inductive capacity“ nannte, was heute der Dielektrizitätskonstanten entspricht. Für eine nichtleitende Substanz, die sich zwischen zwei Leitern befindet, hatte Whewell Ende 1836 den Begriff Dielektrikum vorgeschlagen, der von Faraday auch genutzt wurde. Faraday erklärte sein experimentelles Ergebnis mit einer Polarisation der Teilchen innerhalb der Isolatoren, bei der die Wirkung von Teilchen zu Teilchen weitergegeben wird, und dehnte diese Idee auch auf den Transport der Elektrizität innerhalb von Leitern aus.
Erschöpfung und Erholung
Anfang 1839 fasste Faraday seine zwischen November 1831 und Juni 1838 in den Philosophical Transactions erschienenen Artikel über seine Untersuchungen über Elektrizität unter dem Titel Experimental Researches in Electricity zusammen. Von August bis November 1839 führte Faraday Untersuchungen zur Funktionsweise der Voltaschen Säule durch, die er im Dezember 1839 unter dem Titel Über die Quelle der Kraft in der Volta’schen Säule veröffentlichte. Darin trat er mit zahlreichen experimentellen Belegen der voltaischen Kontakttheorie entgegen.
Ende 1839 erlitt Faraday einen schweren gesundheitlichen Zusammenbruch, den er auf Überarbeitung zurückführte, und dessen Symptome Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und zeitweiliger Gedächtnisverlust waren. Sein Arzt Peter Mere Latham (1789–1875) riet ihm, sich zeitweilig von seinen zahlreichen Verpflichtungen entbinden zu lassen und sich in Brighton zu erholen. Faraday arbeitete die nächsten Jahre nur noch sporadisch in seinem Labor. Im Januar und Februar 1840 führte er an fünf Tagen seine Untersuchungen an der Voltaschen Säule fort. Im August und September experimentierte er nochmals an fünf Tagen. Nach dem 14. September 1840 schrieb er für etwa zwanzig Monate bis zum 1. Juli 1842 keinen Eintrag in sein Labortagebuch. Ende 1840 erkannten die Manager der Royal Institution die Ernsthaftigkeit von Faradays Erkrankung und beurlaubten ihn bis zu seiner vollständigen Genesung. Fast ein Jahr lang hielt er keine Vorlesungen. Gemeinsam mit seiner Frau, deren Bruder George Barnard (1807–1890) und dessen Frau Emma begab er sich am 30. Juni 1841 auf eine dreimonatige Erholungsreise in die Schweiz, wo er in den Berner Alpen ausgedehnte Wanderungen unternahm.
1840 hatte William George Armstrong entdeckt, dass beim Ausströmen von Wasserdampf unter hohem Druck in die Luft Elektrizität erzeugt wird. Im Sommer 1842 begann Faraday nach der Ursache dieser Elektrizität zu forschen. Er konnte nachweisen, dass es sich um Reibungselektrizität handelte. Nach Abschluss dieser Arbeiten im Januar 1843 schloss sich eine weitere längere Phase an, in der er kaum experimentierte. Erst ab dem 23. Mai 1844 begann Faraday erneut mit Versuchen, Gase in den flüssigen und festen Zustand zu überführen, die über ein Jahr andauerten. Er knüpfte dabei an seine Experimente von 1823 an. Es gelang ihm, sechs Gase in Flüssigkeiten umzuwandeln und sieben, darunter Ammoniak, Distickstoffmonoxid und Schwefelwasserstoff, in den festen Zustand zu überführen.
In dieser Zeit schien Faraday Zweifel daran zu haben, ob er weiterhin wichtige Beiträge als Naturforscher leisten könne. Er stellte die 15. bis 18. Folge seiner Elektrizitätsuntersuchungen gemeinsam mit etwa 30 weiteren Arbeiten zum zweiten Band der Experimental Researches in Electricity zusammen, der Ende 1844 erschien.
Untersuchungen über Elektrizität (1845 bis 1855)
Magnetismus und Licht
Im Juni 1845 nahm Faraday am Jahrestreffen der British Association for the Advancement of Science in Cambridge teil. Dort begegnete er dem jungen William Thomson, dem späteren Lord Kelvin. Anfang August erhielt Faraday von Thomson einen Brief, in dem sich dieser nach dem Einfluss eines lichtdurchlässigen Nichtleiters auf polarisiertes Licht erkundigte. Faraday erwiderte, dass er 1833 ergebnislos derartige Versuche durchgeführt habe, und versprach, sich der Frage nochmals zuzuwenden. Mit einer leuchtstarken Argand-Lampe wiederholte er Ende August bis Anfang September mit verschiedenen Materialien seine Versuche, erzielte jedoch keinen Effekt. Der Effekt, nach dem Faraday gesucht hatte, der elektrooptische Kerr-Effekt, wurde erst dreißig Jahre später durch John Kerr nachgewiesen.
Am 13. September 1845 schickte Faraday polarisiertes Licht durch die zuvor benutzten Materialien, die er dem Einfluss eines starken Magneten aussetzte. Die ersten Versuche mit Luft und Flintglas erbrachten keine Ergebnisse. Als er ein im Rahmen seiner Glasexperimente in den 1820er Jahren hergestelltes Bleiborat-Glas benutzte, fand er beim Durchgang eine schwache, aber erkennbare Drehung der Polarisationsebene, wenn er den Lichtstrahl parallel zu den Magnetfeldlinien ausrichtete. Er setzte seine Experimente fort und wurde zunächst bei einer weiteren seiner alten Glasproben fündig, bevor er den Effekt an weiteren Materialien, darunter Flintglas, Kronglas, Terpentinöl, Halitkristall, Wasser und Ethanol, nachweisen konnte. Faraday hatte den Nachweis erbracht, dass Licht und Magnetismus zwei miteinander verbundene physikalische Phänomene waren. Seine Ergebnisse veröffentlichte er unter dem Titel Über die Magnetisierung des Lichts und die Belichtung der Magnetkraftlinien. Der von Faraday gefundene magnetooptische Effekt wird heute als Faraday-Effekt bezeichnet.
Faraday stellte sich sofort die Frage, ob auch der umgekehrte Effekt existiere und Licht etwas elektrisieren oder magnetisieren könne. Ein Versuch dazu, bei dem er eine Drahtspule dem Sonnenlicht aussetzte, scheiterte jedoch.
Während einer Freitagabendvorlesung Anfang April 1846 äußerte Faraday einige Spekulationen über „Schwingungsstrahlungen“, die er zwei Wochen später in einem Brief an das Philosophical Magazine schriftlich niederlegte. In ihr skizzierte er die Möglichkeit, dass Licht durch transversale Schwingungen von Kraftlinien entstehen könnte. Faradays Spekulation war eine Anregung für James Clerk Maxwell bei der Entwicklung seiner elektromagnetischen Theorie des Lichtes, die er 18 Jahre später formulierte.
Magnetische Stoffeigenschaften
Die Experimente mit polarisiertem Licht zeigten Faraday, dass ein nichtmagnetischer Stoff durch Magnetismus beeinflusst werden kann. Für seine weiteren Experimente lieh er sich einen starken Elektromagneten von der Royal Military Academy in Woolwich aus. Er befestigte eine Bleiboratglasprobe an zwei Seidenfäden und hängte sie zwischen die zugespitzten Polschuhe des Elektromagneten. Als er den elektrischen Stromkreis schloss, beobachtete er, dass sich die Glasprobe von den Polschuhen fortbewegte und sich senkrecht zur gedachten Verbindungslinie zwischen den Polschuhen ausrichtete. Sie verhielt sich damit anders als magnetische Materialien, die sich entlang der Verbindungslinie ausrichteten. Faraday fand schnell eine Vielzahl von Materialien, die sich wie seine Glasprobe verhielten, darunter Holz, Olivenöl, Apfel, Rindfleisch und Blut. Die deutlichsten Effekte erzielte er mit einem Bismutbarren. In Analogie zum Begriff „dielektrisch“ bezeichnete Faraday diese Stoffe am 18. September 1845 in seinem Labortagebuch als „dimagnetisch“. Erneut half Whewell Faraday bei der Begriffsbildung. Whewell korrigierte die von Faraday benutzte Vorsilbe in dia für ‚durch‘, da die Wirkung durch die Körper hindurch stattfand („diamagnetisch“), und schlug vor, alle Substanzen, die sich nicht so verhielten, als „paramagnetisch“ zu bezeichnen. In seinem Labortagebuch benutzte Faraday in diesem Zusammenhang am 7. November erstmals den Begriff „Magnetfeld“. Faradays Entdeckung des Diamagnetismus führte zur Herausbildung der Magnetochemie, die sich mit den magnetischen Eigenschaften von Materialien beschäftigt.
Kraftlinien und Felder
Nach seiner Entdeckung des Einflusses eines Magnetfeldes auf polarisiertes Licht kam Faraday immer mehr zu der Auffassung, dass Kraftlinien eine reale physikalische Bedeutung haben könnten. Das ungewöhnliche Verhalten diamagnetischer Körper ließ sich nur schwer mit den herkömmlichen Magnetpolen erklären und führte zu einem Disput zwischen Faraday und Wilhelm Eduard Weber, der glaubte, nachweisen zu können, dass der Magnetismus wie die Elektrizität polarer Natur sei. 1848 begann Faraday mit neuen Experimenten das Verhalten von diamagnetischen Körpern unter dem Einfluss eines Magneten zu untersuchen. Dabei entdeckte er, dass Kristalle sich entlang bestimmter Vorzugsachsen orientieren (Magnetische Anisotropie). Dieses Verhalten ließ sich nicht mit den bisher genutzten Begriffen von Anziehung oder Abstoßung deuten. In seinem Untersuchungsbericht sprach Faraday erstmals von einem magnetischen Feld, das zwischen zwei Magnetpolen besteht und dessen Wirkung ortsabhängig ist.
1852 fasste Faraday seine Ansichten über Kraftlinien und Felder im Artikel On the physical character of the lines of magnetic force (Über den physikalischen Charakter der magnetischen Kraftlinien) zusammen. Darin lehnte er eine Fernwirkung der Gravitationskräfte ab und vertrat die Auffassung eines mit der Masse eines Körpers verbundenen Gravitationsfeldes.
Elektrizität und Gravitation
Faradays Interesse für Gravitation reichte bis in die Mitte der 1830er Jahre zurück. Ende 1836 las er eine Arbeit des Italieners Ottaviano Fabrizio Mossotti, in der dieser die Gravitation auf elektrische Kräfte zurückführte. Faraday war anfangs von der Arbeit begeistert, ließ sie ins Englische übersetzen und sprach in einer Freitagabendvorlesung über sie. Später verwarf er jedoch Mossottis Erklärung, da er zu der Überzeugung gelangt war, die Unterschiede, wie die Schwerkraft gegenüber anderen Kräften wirkt, seien zu groß. In den nächsten Jahren spekulierte Faraday häufig darüber, auf welche Weise die Schwerkraft mit anderen Kräften in Beziehung stehen könnte. Im März 1849 begann er zu überlegen, wie ein Zusammenhang zwischen Gravitation und Elektrizität experimentell nachzuweisen sei. Er stellte sich die Gravitation als eine Kraft mit zwei komplementären Komponenten vor, bei der ein Körper positiv ist, wenn er sich zur Erde hin und negativ, wenn er sich von ihr wegbewegt. Er stellte die These auf, dass diese beiden Bewegungen mit entgegengesetzten elektrischen Zuständen verbunden seien. Für seine Versuche konstruierte Faraday eine Drahtspule, die er mit einem Galvanometer verband und aus großer Höhe fallen ließ. Er konnte jedoch bei keiner Messung einen Effekt nachweisen. Trotz des negativen Ausganges der Versuche beschrieb er seine Bemühungen in der Baker-Vorlesung vom 28. November 1850.
Im Februar 1859 begann Faraday erneut eine Reihe von Experimenten, mit denen er einen Zusammenhang zwischen Gravitation und Elektrizität nachzuweisen hoffte. Aufgrund des zu erwartenden geringen Effektes benutzte er einige hundert Kilogramm schwere Bleimassen, die er vom 50 Meter hohen Schrotturm in Lambeth fallen ließ. Mit anderen Experimenten hoffte er, eine Temperaturänderung beim Heben und Senken einer Masse nachweisen zu können. Am 9. Juli 1859 brach Faraday die Versuche erfolglos ab. Er verfasste darüber den Aufsatz Note on the Possible Relation of Gravity with Electricity or Heat, den er am 16. April 1860 fertigstellte und der wie gewohnt in den Philosophical Transactions erscheinen sollte. George Gabriel Stokes, der befand, dass die Arbeit nicht veröffentlichungswürdig sei, da er nur negative Ergebnisse vorzuweisen habe, empfahl Faraday, seinen Artikel zurückzuziehen, was dieser nach Erhalt von Stokes Brief umgehend tat.
Popularisierung von Naturforschung und Technik
Kurz nach seiner Ernennung zum Labordirektor der Royal Institution Anfang 1825 öffnete Faraday die Laboratorien des Instituts für die Treffen der Institutsmitglieder. An drei bis vier Freitagabenden wollte er vor interessierten Mitgliedern von Experimenten begleitete Chemievorträge abhalten. Aus diesen informellen Treffen entwickelte er das Konzept der regelmäßig stattfindenden Freitagabendvorlesungen, bei denen Themen aus Naturforschung und Technik für Laien verständlich dargestellt werden sollten. Bei der ersten Freitagabendvorlesung am 3. Februar 1826 sprach Faraday über Kautschuk. Von den 17 Vorlesungen des ersten Jahres hielt er sechs zu Themen wie Isambard Kingdom Brunels Gasverflüssiger, Lithografie und den Thames Tunnel. Nach Faradays Ansicht sollten die Vorlesungen Spaß machen, unterhalten, bilden und vor allem anregend sein. Seine Vorlesungen wurden aufgrund der schlichten Vortragsweise sehr populär und waren stets gut besucht. Bis 1862 gab Faraday insgesamt 126 dieser einstündigen Vorlesungen. Als Sekretär des Komitees für die „Weekly Evening Meetings“ sorgte Faraday dafür, dass die Vorträge in der Literary Gazette und im Philosophical Magazin veröffentlicht wurden und auf diese Weise einem noch breiteren Publikum zugänglich waren.
Neben den Freitagabendvorlesungen wurde zum Jahreswechsel 1825/26 erstmals eine Weihnachtsvorlesung abgehalten, die sich speziell an jugendliche Hörer richtete. Bis Anfang der 1860er Jahre prägte Faraday die Ausgestaltung der Weihnachtsvorlesungen wesentlich. Von 1827 an war er für insgesamt 19 Folgen verantwortlich, die meist aus sechs Einzelvorlesungen bestanden. 1860/61 nutzte er seine Notizen der bereits 1848/49 abgehaltenen Vorlesung mit dem Titel Chemical History of a Candle (Naturgeschichte einer Kerze). Auf Betreiben von William Crookes wurde Faradays Weihnachtsvorlesung mitgeschrieben und erschien als sechsteilige Artikelfolge in Crookes Chemical News. Die kurze Zeit später erschienene Buchfassung gilt als eines der erfolgreichsten populärwissenschaftlichen Bücher und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Im öffentlichen Dienst
Neben seiner Forschungs- und Vorlesungstätigkeit war Faraday in vielfältiger Weise für den britischen Staat tätig. Im Sommer 1829 wandte sich Percy Drummond († 1843), Lieutenant Governor der Royal Military Academy in Woolwich, an Faraday und fragte ihn, ob er bereit sei, als Nachfolger des Geologen John MacCulloch den Posten des Professors für Chemie an der Akademie zu übernehmen. Nach längeren Verhandlungen, bei denen es vorwiegend um seine Pflichten und die Bezahlung ging, sagte Faraday zu. Bis 1852 hielt er in Woolwich jährlich 25 Vorlesungen.
Ab dem 4. Februar 1836 war Faraday als wissenschaftlicher Berater für die Schifffahrtsbehörde Trinity House tätig, die unter anderem die englischen Leuchttürme betreibt. Er war verantwortlich für die chemische Analyse der beim Betrieb der Leuchttürme eingesetzten Materialien und begutachtete neue Beleuchtungssysteme, die Trinity House für den Einsatz vorgeschlagen worden waren. Faraday sorgte für die Modernisierung der englischen Leuchttürme. Vorbild waren ihm dabei die französischen Leuchttürme, bei denen zur Verbesserung der Lichtstärke Fresnel-Linsen eingesetzt wurden. Er begleitete auch die ersten Versuche zu ihrer Elektrifizierung. In Blackwall an der Themse gab es zwei speziell für seine Untersuchungen errichtete Leuchttürme.
Im Auftrag der Regierung war Faraday an der Untersuchung zweier heikler Unfälle beteiligt. Am 13. April 1843 zerstörte eine Explosion die vom Ordnance Office geführte Schießpulverfabrik in Waltham Abbey (Essex), woraufhin Faraday mit der Ursachenanalyse betraut wurde. In seinem Bericht an den Labordirektor der Militärakademie von Woolwich James Pattison Cockburn (1779?–1847) zählte er mehrere mögliche Ursachen auf und gab Ratschläge, wie diese Probleme zukünftig vermieden werden könnten. Gemeinsam mit Charles Lyell und Samuel Stutchbury (1798–1859) erhielt er im Oktober 1844 vom Home Office den Auftrag, die Explosion in der Haswell-Grube in Durham zu untersuchen, bei der am 28. September 95 Menschen ums Leben gekommen waren. Lyell und Faraday erkannten, dass der Kohlenstaub eine wesentliche Rolle bei der Explosion gespielt hatte, und empfahlen die Einführung eines besseren Bewetterungssystemes.
Ein erheblicher Teil Faradays beratender Tätigkeit befasste sich mit der Konservierung von Gegenständen und Gebäuden. Ab 1853 beriet er das Select Committee on the National Gallery bei der Konservierung von Gemälden. Beispielsweise untersuchte er den Einfluss der Gasbeleuchtung auf Gemälde. Anfang 1856 wurde Faraday in die Royal Commission berufen, die sich mit der Zukunft des Standortes der National Gallery befasste. Im Auftrag von Thomas Leverton Donaldson (1795–1885) untersuchte er für das British Museum, ob die Elgin Marbles ursprünglich bemalt waren. 1859 beriet er das Metropolitan Board of Works bei der Auswahl eines Mittels zur Behandlung der Kalksteine des kürzlich wiedererbauten Houses of Parliament, die sich unter dem Einfluss der schwefelhaltigen Londoner Luft zersetzten.
Religiöses Wirken
Faraday war ein zutiefst religiöser Mensch. Sein Vater gehörte der kleinen christlichen Sekte der Sandemanianer an, die sich Ende der 1720er Jahre von der Church of Scotland losgesagt hatten. Sie gründeten ihren Glauben und dessen Ausübung auf eine wörtliche Auslegung der Bibel. Im Großraum London gab es zur damaligen Zeit etwa einhundert und in ganz Großbritannien etwa eintausend Sandemanianer. Bereits als Kind begleitete Faraday seinen Vater zu den sonntäglichen Predigten. Kurz nach seiner Hochzeit mit Sarah Barnard, die ebenfalls Mitglied der Sandemanianer war und deren Vater der Gemeinde als Ältester („Elder“) diente, legte er am 15. Juli 1821 seinen Eid ab und wurde Mitglied.
Als Zeichen ihrer hohen Wertschätzung wählte die Londoner Gemeinde Faraday am 1. Juli 1832 zum Diakon und am 15. Oktober 1840 zu einem der drei Ältesten. In den folgenden dreieinhalb Jahren gehörte es zu seinen Verpflichtungen, an jedem zweiten Sonntag die Predigt zu halten, auf die er sich genauso sorgfältig wie auf seine Vorlesungen vorbereitete. Am 31. März 1844 wurde Faraday bis zum 5. Mai aus der Gemeinde ausgeschlossen. Die Gründe hierfür sind nicht ganz geklärt, sind aber nicht in einer persönlichen Verfehlung Faradays zu suchen, sondern auf eine Kontroverse innerhalb der Sandemanianer zurückzuführen, da neben Faraday zu dieser Zeit auch zahlreiche weitere Mitglieder ausgeschlossen wurden. In seine Position als Ältester wurde er erst wieder am 21. Oktober 1860 gewählt. Bis 1864 war Faraday wieder regelmäßig für die Predigten zuständig und erhielt den Kontakt zu anderen sandemanianischen Gemeinden, so beispielsweise in Chesterfield, Glasgow und Dundee, aufrecht. Seine Predigten bestanden aus einer Reihe von Zitaten aus dem Alten und Neuen Testament, die er kommentierte. Seine religiösen Ansichten waren für ihn eine sehr private Angelegenheit und er äußerte sich nur selten gegenüber seinen Briefpartnern oder in der Öffentlichkeit darüber.
Letzte Jahre
Der dritte und letzte Band der Experimental Researches in Electricity, den Faraday Anfang 1855 zusammenstellte, umfasste alle seine seit 1846 in den Philosophical Transactions veröffentlichten Arbeiten. Zusätzlich nahm er zwei im Philosophical Magazine publizierte Artikel auf, die an die 29. Folge der Experimental Researches in Electricity anschlossen und seine charakteristische Abschnittsnummerierung fortsetzten. Einige kürzere Artikel ergänzten den Band. Insgesamt publizierte Faraday 450 wissenschaftliche Artikel.
Durch Vermittlung von Prinz Albert bezogen die Faradays
im September 1858 ein Haus in Hampton Court Green, das Königin Victoria gehörte und sich in unmittelbarer Nähe des Hampton Court Palace befand. Im Oktober 1861 bat der siebzigjährige Faraday die Manager der Royal Institution um seine Entlassung aus dem Institutsdienst. Diese lehnten sein Ersuchen jedoch ab und erließen ihm nur die Verantwortung für die Weihnachtsvorlesungen.
Am 25. November 1861 begann Faraday eine letzte Versuchsreihe, bei der er mit einem von Carl August von Steinheil konstruierten Spektroskop die Auswirkungen eines Magnetfeldes auf das Lichtspektrum einer Flamme untersuchte. Seinen letzten Eintrag im Labortagebuch machte er am 12. März 1862. Die Versuche blieben wegen der nicht ausreichend empfindlichen Messanordnung erfolglos; der Zeeman-Effekt wurde erst 1896 entdeckt.
Am 20. Juni 1862 hielt Faraday vor über 800 Zuhörern seinen letzten Freitagabendvortrag On Gas Furnaces (Über Gasöfen) und beendete seine fast vier Jahrzehnte andauernde Vortragstätigkeit für die Royal Institution. Im Frühjahr 1865 wurde er auf einmütigen Beschluss der Manager der Royal Institution von allen seinen Verpflichtungen entbunden. Bis zum Mai 1865 stand er mit seinem Rat noch der Schifffahrtsbehörde zur Verfügung.
Faraday starb am 25. August 1867 in seinem Haus in Hampton Court und wurde fünf Tage später auf dem Highgate Cemetery begraben.
Rezeption und Nachwirkung
Herausbildung der Elektrodynamik
Faradays Konzepte und seine Ansicht von der Einheitlichkeit der Natur, die ohne eine einzige mathematische Formel auskamen, hinterließen beim jungen James Clerk Maxwell einen tiefen Eindruck. Maxwell stellte es sich zur Aufgabe, Faradays experimentelle Befunde und ihre Beschreibung mittels Kraftlinien und Felder in eine mathematische Darstellung zu überführen. Maxwells erster größerer Aufsatz über Elektrizität On Faraday’s Lines of Force (Über Faradays Kraftlinien) erschien 1856. Auf Grundlage einer Analogie zur Hydrodynamik stellte Maxwell darin eine erste Theorie des Elektromagnetismus auf, indem er die Vektorgrößen elektrische Feldstärke, magnetische Feldstärke, elektrische Stromdichte und magnetische Flussdichte einführte und mit Hilfe des Vektorpotentials zueinander in Beziehung setzte. Fünf Jahre später berücksichtigte Maxwell in On Physical Lines of Force (Über physikalische Kraftlinien) auch das Medium, in dem die elektromagnetischen Kräfte wirkten. Er modellierte das Medium durch elastische Eigenschaften. Daraus ergab sich, dass eine zeitliche Änderung eines elektrischen Feldes zu einem zusätzlichen Verschiebungsstrom führt. Außerdem ergab sich, dass Licht eine transversale Wellenbewegung des Mediums ist, womit Faradays Spekulation über die Natur des Lichtes bestätigt wurde. Die weitere Ausarbeitung der Theorie durch Maxwell führte 1864 schließlich zur Formulierung der Maxwellschen Gleichungen, welche die Grundlage der Elektrodynamik bilden und mit denen sich alle von Faraday gefundenen elektromagnetischen Entdeckungen erklären lassen. Eine der vier Maxwellschen Gleichungen ist eine mathematische Beschreibung der von Faraday entdeckten elektromagnetischen Induktion.
Öffentliche Wahrnehmung
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Faraday als Erfinder des Elektromotors, des Transformators und des Generators sowie als Entdecker von Benzol, des magnetooptischen Effektes, des Diamagnetismus und als Schöpfer der elektromagnetischen Feldtheorie wahrgenommen. 1868 erschien John Tyndalls Biografie Faraday as a Discoverer (Faraday und seine Entdeckungen). Tyndall, der Nachfolger von Brande an der Royal Institution war, beschrieb darin hauptsächlich Faradays wissenschaftliche Entdeckungen. Hermann Helmholtz, der Tyndalls Biografie ins Deutsche übersetzte, ergänzte diese durch zahlreiche biografische Anmerkungen. Kurz darauf publizierte Henry Bence Jones, Sekretär der Royal Institution und Arzt Faradays, eine typische viktorianische „Life-and-Letters“-Biografie, für die er auf Faradays Briefe, seine Labortagebücher und andere unveröffentlichte Manuskripte zurückgriff und Ausschnitte aus Tyndalls Biografie nutzte. Bence Jones zweibändige Biografie ist noch heute eine wichtige Quelle, da einige der darin zitierten Briefe und Tagebücher nicht mehr auffindbar sind. Diese und weitere Darstellungen von Faraday führten zu einem Bild eines Forschers, der allein und in der Abgeschiedenheit seines Labors an der Royal Institution den Naturgeheimnissen auf den Grund ging.
Instrumentalisierung
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges versuchten die etablierte Gasindustrie und die aufstrebende Elektroindustrie, deren Ziel die umfassende Elektrifizierung Großbritanniens war und die sich damit in unmittelbarer Konkurrenz zur Gasindustrie befand, in den 1920er Jahren die Bekanntheit Faradays für ihre jeweiligen Ziele zu nutzen. Anlässlich des einhundertsten Jahrestages der Entdeckung von Benzol konstituierte sich unter dem Vorsitz des Chemikers Henry Edward Armstrong ein Komitee aus Mitgliedern der Royal Institution, der Chemical Society, der Society of Chemical Industry und der Association of British Chemical Manufacturers. Während der Feierlichkeiten im Juni 1925 wurde hervorgehoben, welche Bedeutung Faraday für die moderne Chemieindustrie habe, und er wurde als „Vater der Chemieindustrie“ zelebriert.
Auf Initiative von Walter Adolph Vignoles (1874–1953), Direktor der Electrical Development Association, und mit Unterstützung von William Henry Bragg, Direktor des Davy-Faraday Research Laboratory an der Royal Institution, wurde im Februar 1928 ein neunköpfiges Komitee berufen, das die Feierlichkeiten aus Anlass des einhundertsten Jahrestages der Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 1931 organisieren sollte. Vom 23. September bis 3. Oktober 1931 fand in der Royal Albert Hall eine Ausstellung zu Ehren Faradays und seiner Entdeckung statt. Den Mittelpunkt der Ausstellung bildete eine Kopie der von John Henry Foley (1818–1874) und Thomas Brock (1847–1922) geschaffenen Skulptur, die sich seit 1876 in der Royal Institution befand und die Faraday in akademischer Kleidung mit seinem Induktionsring zeigte. In unmittelbarer Nähe der Skulptur befanden sich die einfachen Dinge, mit denen Faraday seine ersten Experimente durchführte: ein Draht, ein Magnet und ein Quecksilbertropfen. Die Skulptur bildete den Mittelpunkt für die darum kreisförmig angeordneten Ausstellungsstände. Auf den der Skulptur nächstgelegenen Ständen wurden die von Faraday für die einzelnen Experimente benutzten Apparaturen und seine damit verbundenen Aufzeichnungen gezeigt. Die äußeren Stände demonstrierten die daraus hervorgegangenen modernen Technologien der Elektroindustrie. Eine 12-seitige Broschüre, die die Ausstellung begleitete und von der etwa 100.000 Kopien verteilt wurden, trug den Titel Faraday: The Story of an Errand-Boy. Who Changed the World (Faraday: Die Geschichte eines Laufburschen, der die Welt veränderte). Die aufwändige Ausstellung von 1931 und die damit verbundenen Feierlichkeiten waren einerseits dem Bestreben der Elektroindustrie geschuldet, Elektrizität in vermarktbare Produkte zu verwandeln. Andererseits unterstützten sie auch das Bestreben der Naturwissenschaftler, zu zeigen, wie Grundlagenforschung zur Entwicklung neuer Technologien beitragen kann.
Auszeichnungen und Würdigung
Faradays Biograf Henry Bence Jones verzeichnet insgesamt 95 Ehrentitel und Auszeichnungen. Die erste Würdigung durch eine Gelehrtengesellschaft wurde Faraday 1823 durch die Cambridge Philosophical Society zuteil, die ihn als ihr Ehrenmitglied aufnahm. 1832 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences, 1835 in die Göttinger Akademie der Wissenschaften und die Royal Society of Edinburgh sowie 1840 in die American Philosophical Society gewählt. Auf Bestreben von Jean-Baptiste André Dumas wurde Faraday 1844 als eines der acht Auslandsmitglieder in die Académie des sciences gewählt. 1847 wurde er als auswärtiges Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften und 1851 in die Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Im Jahre 1857 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt. 1864 wurde er letztmals durch die Società Reale di Napoli geehrt, die ihn als assoziiertes Auslandsmitglied führte. Ebenfalls 1864 wurde er in die National Academy of Sciences gewählt.
Die Royal Society zeichnete ihn mit der Copley-Medaille (1832 und 1838), der Royal Medal (1835 und 1846) und der Rumford-Medaille (1846) aus. Das Angebot, Präsident der Royal Society zu werden, lehnte Faraday zweimal (1848 und 1858) ab. 1842 erhielt Faraday den preußischen Verdienstorden Pour le Mérite.
Ein speziell für die Verlegung von Seekabeln gebauter Kabelleger, die Faraday, wurde 1874 von seinem Konstrukteur Carl Wilhelm Siemens nach Faraday benannt. Der in Paris tagende Congrès international d’électriciens (Internationaler Elektrikerkongress) beschloss am 22. September 1881, die Einheit für die elektrische Kapazität zu seinen Ehren Farad zu nennen. Ebenso sind nach ihm der Mondkrater Faraday und der Asteroid Faraday benannt. William Whewell ehrte Faraday und Davy mit der Benennung einer seiner „Epochen der Chemie“.
Am 5. Juni 1991 emittierte die Bank of England eine neue 20-Pfund-Sterling-Banknote mit dem Bildnis von Faraday, die bis zum 28. Februar 2001 gültiges Zahlungsmittel war.
Mehrere Preise sind nach ihm benannt, unter anderem die Faraday-Medaille (IOP), Faraday-Medaille (IEE) und der Michael-Faraday-Preis der Royal Society.
Nach ihm benannt ist die Pflanzengattung Faradaya aus der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae).
Nachlass und Briefwechsel
Faradays schriftlicher Nachlass ist wahrscheinlich der umfangreichste, den ein Naturforscher in der Geschichte der Naturwissenschaften hinterlassen hat. Er umfasst seine Labortagebücher, Tagebücher, Commonplace-Books, Notizen, Manuskripte, Briefe, Bücher und anderes. Im Nachlass finden sich Aufzeichnungen zu etwa 30.000 von Faraday durchgeführten Experimenten.
Anfang 1855 gab Faraday erste Anweisungen zur Regelung seines Nachlasses. Er hinterließ der Royal Institution seine Labortagebücher, einige Sonderdrucke und andere persönliche Dinge. Nach Faradays Tod erhielt die Royal Institution weiteres Material von seiner Frau Sarah. Trinity House überließ sie die Akten mit seinen Arbeiten für die Behörde. Diese befinden sich heute in der Guildhall Library. Etliche Stücke gab sie zur Erinnerung an Faraday an Freunde und Verwandte. Ein Teil davon gelangte Ende 1915 in den Besitz der Institution of Electrical Engineers. Die Manuskripte von Faradays Artikeln für die Philosophical Transactions wurden, nachdem er sie zur Veröffentlichung eingereicht hatte, Eigentum der Royal Society. Die Hälfte von ihnen blieb bewahrt. Von Faradays Korrespondenz sind etwa 4800 Briefe erhalten, die sich in 230 Archiven auf der ganzen Welt befinden.
Schriften
Englische Erstausgaben
Chemical Manipulation: Being Instructions to Students in Chemistry on the Methods of Performing Experiments of Demonstration or of Research, with Accuracy and Success. 1. Auflage, W. Phillips, London 1827 (online).
Experimental Researches in Electricity. 3 Bände, R. Taylor & W. Francis, London 1839–1855 (Band 1, Band 2, Band 3).
Experimental Researches in Chemistry and Physics. R. Taylor & W. Francis, London 1859 ().
A Course of Six Lectures on the Various Forces of Matter, and Their Relations To Each Other. Richard Griffin & Co., London Glasgow 1860 ().
A Course of Six Lectures on the Chemical History of a Candle: To Which is Added a Lecture on Platinum. Harper & Brothers, New York 1861 ().
Deutsche Erstausgaben
Chemische Manipulation oder das eigentlich Practische der sichern Ausführung chemischer Arbeiten und Experimente. Verlag des Landes-Industrie-Comptoir, Weimar 1828, 1832.
Experimental-Untersuchungen über Elektricität. 3 Bände, übersetzt von Salomon Kalischer, Verlag von Julius Springer, Berlin 1889–1891.
Naturgeschichte einer Kerze. Sechs Vorlesungen für die Jugend, aus dem Englischen übertragen von Lüdicke, Robert Oppenheim, Berlin 1871.
Die verschiedenen Kräfte der Materie und ihre Beziehungen zu einander. Sechs Vorlesungen für die Jugend, übersetzt von H. Schröder, Robert Oppenheim, Berlin [1872].
Aktuelle deutsche Ausgaben
Nach der aus dem Englischen von Salomon Kalischer übersetzten Ausgabe von 1889 bis 1891 mit einer Einleitung von Friedrich Steinle:
Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 1, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3292-1.
Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 2, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3293-X.
Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 3, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3294-8.
Literatur
Biografien
Klassische
James Arnold Crowther: The Life and Discoveries of Michael Faraday. London 1920 ().
John Hall Gladstone: Michael Faraday: His Life and Work. Macmillan & Co., London 1872 ().
Henry Bence Jones: The Life and Letters of Michael Faraday. 2 Bände, Longmans, Green, London 1870 (, ).
Silvanus Phillips Thompson: Michael Faraday, His Life and Work. Cassel & Co., London 1898 ().
John Tyndall: Faraday as a Discoverer. Longmans, Green & Co., London 1868 () (deutsch: Faraday und seine Entdeckungen. Übersetzt von Hermann Helmholtz, Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1870).
Moderne
Geoffrey Cantor: Michael Faraday: Sandemanian and Scientist. A Study of Science and Religion in the Nineteenth Century. Macmillan, London 1991.
Geoffrey Cantor, David Gooding, Frank A. J. L. James: Michael Faraday. Kumarian Press Inc., 1996, ISBN 978-1-57392-556-3.
James Hamilton: A Life of Discovery: Michael Faraday, Giant of the Scientific Revolution. Random House, New York 2004, ISBN 1-4000-6016-8.
Alan Hirshfeld The Electric Life of Michael Faraday. Raincoast Books, 2006, ISBN 978-1-55192-945-3.
Frank A. J. L. James: Michael Faraday: A Very Short Introduction. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-957431-5.
Jost Lemmerich: Michael Faraday 1791–1867. Erforscher der Elektrizität. C. H. Beck, München 1991.
John Meurig Thomas: Michael Faraday and the Royal Institution: The Genius of Man and Place. Adam Hilger, Bristol 1991, ISBN 0-7503-0145-7.
Leslie Pearce Williams: Michael Faraday: A Biography. Chapman and Hall, London 1965.
Briefwechsel
Frank A. J. L. James (Hrsg.): The Correspondence of Michael Faraday, 6 Bände, Institution of Electrical Engineers, London 1991–2010.
Band 1: 1811–1831. Institution of Electrical Engineers, London 1991, ISBN 0-86341-248-3.
Band 2: 1832–1840. Institution of Electrical Engineers, London 1993, ISBN 0-86341-249-1.
Band 3: 1841–1848. Institution of Electrical Engineers, London 1996, ISBN 0-86341-250-5.
Band 4: 1849–1855. Institution of Electrical Engineers, London 1999, ISBN 0-86341-251-3.
Band 5: 1855–1860. Institution of Electrical Engineers, London 2008, ISBN 978-0-86341-823-5.
Band 6: 1860–1867. Institution of Electrical Engineers, London 2011, ISBN 978-0-86341-957-7.
Georg Wilhelm August Kahlbaum, Francis Vernon Darbishire (Hrsg.): The Letters of Faraday and Schoenbein, 1836–1862: With Notes, Comments and References to Contemporary Letters. B. Schwabe, Bâle; Williams & Norgate, London 1899, .
Leslie Pearce Williams (Hrsg.): The Selected Correspondence of Michael Faraday. Cambridge University Press, 1971.
Labortagebücher
Thomas Martin (Hrsg.) Faraday’s diary: being the various philosophical notes of experimental investigation made by Michael Faraday … during the years 1820–1862. 7 Bände, George Bell & Sons, London 1932–1936.
Band 1: Sept, 1820–June 11, 1832. G. Bell & Sons, London 1932.
Band 2: Aug 25, 1832–Feb 29, 1836. G. Bell & Sons, London 1932.
Band 3: May 26, 1836–Nov 9, 1839. G. Bell & Sons, London 1933.
Band 4: Nov 12, 1839–June 26, 1847. G. Bell & Sons, London 1933.
Band 5: Sept 6, 1847–Oct 17, 1851. G. Bell & Sons, London 1934.
Band 6: Nov 11, 1851–Nov 5, 1855. G. Bell & Sons, London 1935.
Band 7: Nov 24, 1855–Mar 12, 1862. G. Bell & Sons, London 1936.
Zur Rezeption seines Werkes (Auswahl)
Geoffrey Cantor: The scientist as a hero: public images of Michael Faraday. In: Michael Shortland, Richard R. Yeo (Hrsg.): Telling lives in science: essays on scientific biography. Cambridge University Press, 1996, ISBN 0-521-43323-1, S. 171–194.
Geoffrey Cantor: Michael Faraday’s religion and its relation to his science. In: Endeavour. Band 22, Nummer 3, 1998, S. 121–124, doi:10.1016/S0160-9327(98)01134-X.
Michael Faraday. In: Michael J. A. Howe: Genius Explained. Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-00849-2, S. 84–107.
Alan E. Jeffreys: Michael Faraday: A List of his Lectures and Published Writings. Chapman and Hall: London 1960.
Alice Jenkins: Michael Faraday’s mental exercises: An artisan essay-circle in Regency London. Liverpool University Press, Liverpool 2008, ISBN 978-1-84631-140-6.
David Keith Chalmers MacDonald: Faraday, Maxwell, and Kelvin. Science Study Series, Anchor Books, 1964.
James Frederic Riley: The Hammer and the Anvil: A Background to Michael Faraday. Dalesman Publishing Co., Clapham 1954.
J[ames] R[orie] (Hrsg.): Selected Exhortations Delivered to Various Churches of Christ by the Late Michael Faraday, Wm. Buchanan, John M. Baxter, and Alex Moir. John Leng and Co., Dundee 1910
Friedrich Steinle: Die „Experimental Researches in Electricity“: Eine Übersicht. In: Experimental-Untersuchungen über Elektricität. Band 1, Harri Deutsch Verlag, 2004, ISBN 3-8171-3292-1, S. III–XXXIII.
Einzelnachweise
Weblinks
Foto der Apparatur zur Bestimmung der Dielektrizitätskonstanten
20-Pfund-Note mit Faraday
Chemiker (19. Jahrhundert)
Physiker (19. Jahrhundert)
Physikochemiker
Persönlichkeit der Elektrotechnik
Träger der Copley-Medaille
Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse)
Mitglied der Royal Society
Mitglied der Royal Society of Edinburgh
Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Leopoldina (19. Jahrhundert)
Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Mitglied der National Academy of Sciences
Mitglied der American Philosophical Society
Mitglied der Académie des sciences
Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Mitglied der Accademia delle Scienze di Torino
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person als Namensgeber für einen Mondkrater
Brite
Geboren 1791
Gestorben 1867
Mann |
4819 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schilddr%C3%BCse | Schilddrüse | Die Schilddrüse ( oder Glandula thyroidea) ist eine Hormondrüse bei Wirbeltieren, die sich bei Säugetieren am Hals unterhalb des Kehlkopfes vor der Luftröhre befindet. Beim Menschen hat sie die Form eines Schmetterlings. Sie besteht aus zwei Lappen, die durch eine Isthmus genannte schmale Brücke miteinander verbunden sind.
Die Hauptfunktion der Schilddrüse besteht in der Speicherung von Iod und Bildung der iodhaltigen Schilddrüsenhormone Triiodthyronin und Thyroxin sowie des Peptidhormons Calcitonin. Die iodhaltigen Schilddrüsenhormone werden von den Follikelepithelzellen der Schilddrüse (Thyreozyten) gebildet und spielen eine wichtige Rolle für den Energiestoffwechsel, für das Wachstum einzelner Zellen und für den Gesamtorganismus. Calcitonin wird von den parafollikulären oder C-Zellen der Schilddrüse gebildet. Es hemmt den Knochenabbau durch Einbau von Calcium und Phosphat in den Knochen und durch Hemmung der Osteoklasten, die im aktivierten Zustand zu einer Verminderung der Knochensubstanz führen.
Die Schilddrüse ist Ausgangspunkt für zahlreiche Erkrankungen, die unter anderem zu Störungen des Hormonstoffwechsels führen und eine Unter- oder Überfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose bzw. Hyperthyreose) hervorrufen können. In Jodmangel-Gebieten kann kompensatorisch ein Kropf (Struma) oder Knoten entstehen. In Deutschland befasst sich die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) mit ihrer Sektion „Schilddrüse“ mit diesem Organ und seinen Erkrankungen.
Anatomie und Entwicklung
Menschliche Schilddrüse
Die menschliche Schilddrüse besteht aus zwei Lappen (Lobus dexter und Lobus sinister), die durch einen schmalen Streifen (Isthmus) verbunden sind. Dieser Isthmus befindet sich unmittelbar vor der Luftröhre (Trachea) unterhalb des Kehlkopfs (in Höhe der 2. bis 3. Knorpelspange). Die beiden Lappen der Schilddrüse lagern sich den Seitenflächen der Luftröhre auf, umgreifen diese und sind durch Bindegewebe an sie angeheftet. Die sehr variable Form der Schilddrüse ist am ehesten mit einem „H“ vergleichbar, wobei die unteren Anteile der Längsbalken – die Unterhörner – kurz und breit sind, die oberen Anteile – die Oberhörner – dagegen lang und schmal sind sowie leicht auseinanderdriften.
Die Schilddrüse ist die größte endokrine Drüse des Menschen. Durchschnittlich wiegt die Schilddrüse des Erwachsenen 18–60 g, beim Neugeborenen 2–3 g. Die Normalwerte für die Höhe und Dicke der Schilddrüsenlappen betragen 3–4 beziehungsweise 1–2 cm. Die Breite wird mit 7–11 cm angegeben. Hinsichtlich des Volumens gilt bei Frauen ein Gesamtvolumen der Schilddrüse von bis zu 18 ml und bei Männern von bis zu 25 ml noch als normal. Gewicht und Größe der Schilddrüse schwanken auch intraindividuell; so sind beispielsweise bei Frauen geringe zyklusabhängige Volumenveränderungen möglich.
Die Blutversorgung erfolgt durch die Arteria thyroidea superior aus der Arteria carotis externa und durch die Arteria thyroidea inferior aus dem Truncus thyrocervicalis der Arteria subclavia (bei Tieren als Arteria thyroidea cranialis und caudalis bezeichnet). Bei etwa fünf Prozent der Menschen existiert eine zusätzliche, unpaare Arteria thyroidea ima. Diese entspringt direkt dem Aortenbogen und erreicht die Schilddrüse am Isthmus oder an ihrem unteren Pol. Weiterhin versorgen auch kleine Arterienäste aus der Vorder- und Seitenfläche der Luftröhre das Schilddrüsengewebe mit Blut. Alle kleinen Äste der Arterien der Schilddrüse bilden innerhalb des Organs ein Geflecht. Nachdem das arterielle Blut die Schilddrüsenzellen passiert hat, sammelt es sich in kleinen Venen, die unterhalb der Schilddrüsenkapsel ein Geflecht bilden. Der venöse Abfluss erfolgt also hauptsächlich über einen Venenplexus (Plexus thyroideus impar), der über die Vena thyroidea inferior, in die Vena brachiocephalica mündet.
Die zwischen den Zellen der Schilddrüse befindliche Gewebsflüssigkeit (Lymphe) fließt über Lymphgefäße in Lymphknoten ab. Dieser lymphatische Abfluss der Schilddrüse wird über ein gut ausgebildetes System von Lymphgefäßen sichergestellt. Zwischen den einzelnen Lymphgefäßen und Lymphknoten bestehen viele Verzweigungen. Die Lymphgefäße münden im Wesentlichen in die regionären Lymphknoten, die vor allem entlang der großen Halsvenen (Jugularvenen) anzutreffen sind. Die Lymphe eines Seitenlappens kann über Lymphknoten, die sich vor der Luftröhre befinden, auch die nachgeschalteten Lymphknoten des anderen Schilddrüsenlappens erreichen. Dies ist für die Schilddrüsenchirurgie von Bedeutung, da auch Krebszellen sich über Lymphgefäße ausbreiten können.
Die Schilddrüse wird von Nervenfasern des vegetativen Nervensystems versorgt (innerviert). Die sympathischen Fasern stammen aus dem Ganglion cervicale superius (Ganglion cervicale craniale), die parasympathischen kommen aus den Nervi laryngei des Nervus vagus.
Phylogenetische Entwicklung
Die Entstehung und Entwicklung der Schilddrüse im Verlauf der Stammesgeschichte der Lebewesen wird als phylogenetische Entwicklung bezeichnet. In dieser lässt sich die Schilddrüse auf das bei den basalen Chordatieren vorhandene Endostyl zurückführen, bei anderen wirbellosen Tieren sind keine homologen Strukturen vorhanden. Das Endostyl bildet bei den Schädellosen, den Manteltieren sowie den Ammocoetes-Larven der Neunaugen eine am Boden des Kiemendarms gelegene Flimmerrinne, die Hypobranchialrinne, mit einem Drüsenepithel. Die Zellen des Endostyls reichern Iod aus der Umgebung an und bauen dieses in Moleküle des Hormons Thyroxin ein. Das Drüsenepithel produziert ein Schleimnetz, welches sich über die Kiemenspalten legt und mit dem im Kiemendarm gefilterte Nahrungspartikel eingefangen werden. Dieses wird in der Epibranchialrinne gesammelt und gibt die enthaltenen Nährstoffe an das darüberliegende Dorsalgefäß ab.
In der weiteren Entwicklung innerhalb der Wirbeltiere verliert der Kiemendarm seine Funktion bei der Nahrungsaufnahme und dient weitgehend zur Atmung, während die Nahrung über die nun kieferbewehrte Mundöffnung aufgenommen und im Darm verdaut wird. Das Schilddrüsengewebe befindet sich entsprechend bei den basalen Wirbeltieren (Knorpel- und Knochenfische) ventral im Bereich der Kiemen, während sie bei den Landwirbeltieren vor der Luftröhre im Bereich des Kehlkopfes lokalisiert ist. Embryonal wird sie bei allen Wirbeltieren im ventralen Kiemendarmepithel gebildet. Die Schilddrüsenanlage stellt bei allen Wirbeltieren eine Ansammlung von Drüsenzellen dar, die von Bindegewebe umgeben ist.
Bei den Knorpelfischen liegt die Schilddrüse als scheibenförmige Drüse im Bereich des Unterkiefers. Bei vielen Knochenfischen ist die kompakte Drüse aufgelöst und bildet mehrere Zellhaufen im Bereich der Verzweigung der Ventralaorta, wobei häufig mehrere kleine akzessorische Schilddrüsen weitab der Hauptschilddrüse liegen. Bei ihnen treten auch die zwei paarigen Nebenschilddrüsen (Glandulae parathyreoideae) erstmals auf, die sich gemeinsam mit dem Thymus und dem Ultimobranchialkörper im Epithel des Kiemendarms im Bereich der vierten und fünften Kiementaschen entwickeln. Letztere werden bei den Säugetieren als Calcitonin-produzierende Zellen (C-Zellen) in die Schilddrüse eingelagert.
Bei allen Landwirbeltieren bildet die Schilddrüse wieder kompakte Organe. Sie sind bei den Amphibien als unpaare Schilddrüsen seitlich am Kehlkopf ausgebildet, wobei die Nebenschilddrüsen bei neotänen Amphibien, die während ihres gesamten Lebens Kiemen besitzen, fehlen. Bei den Amphibien sind die Schilddrüsenhormone an der ontogenetischen Entwicklung beteiligt und kontrollieren die Metamorphose von der Larve bis zum adulten Tier.
Bei Reptilien ist die Schilddrüse unpaarig und liegt an der Aufspaltung der großen Halsgefäße. Bei Vögeln liegen beide Schilddrüsen als kleine Knötchen an der Luftröhre vor dem Brusteingang, etwa in Höhe des Schlüsselbeins und damit viel weiter hinten (kaudal) als bei den anderen Wirbeltieren.
Wie beim Menschen besteht die Schilddrüse der meisten Säugetiere aus zwei Seitenlappen, die über eine schmale Engstelle (Isthmus) miteinander verbunden sind. Dieser Isthmus kann aus Drüsengewebe (Isthmus glandularis, z. B. bei Raubtieren) oder nur aus Bindegewebe (Isthmus fibrosus, z. B. bei Pferden, Schafen und Ziegen) bestehen, bei einigen Arten auch ganz fehlen. Ein Rest des Ductus thyreoglossus tritt beim Menschen oft in Form eines Lobus pyramidalis auf. Seltener können mediane Halszysten oder -fisteln als Rest dieses Ganges bei Menschen persistieren. Die Schildform ist nur für den Menschen, Affen und Schweine typisch.
Ontogenetische Entwicklung
Als ontogenetische Entwicklung wird in der Biologie die Entstehung und Entwicklung eines einzelnen Individuums bezeichnet. In ihr werden alle Vorgänge beschrieben, die von der befruchteten Eizelle zum erwachsenen Individuum führen. Die Anlage der Schilddrüse lässt sich beim menschlichen Embryo erstmals um den 24. Entwicklungstag herum nachweisen. Sie entwickelt sich im Mundboden als eine Aussprossung des Verdauungsapparats („Kopfdarm“). Wie ein Schlauch, der von einer einschichtigen Zelllage gebildet wird, wächst die Aussprossung, die als Ductus thyreoglossus („Schilddrüsen-Zungen-Gang“) bezeichnet wird, nach unten. Im unteren Anteil des Ganges entstehen zwei weitere Aussackungen, aus denen später die beiden Schilddrüsenlappen hervorgehen. Der Gang selbst verschließt sich normalerweise, so dass die definitive Schilddrüse keine Verbindung zum Mundboden mehr hat. In der Regel bleibt lediglich eine dreieckige Vertiefung am Zungengrund zurück, die als Foramen caecum bezeichnet wird. Ihre endgültige Position vor der Luftröhre nimmt die Schilddrüse in der 7. Embryonalwoche ein.
Bei etwa 30 % der Menschen bleibt ein Rest des Ductus thyreoglossus als dritter, unpaarer Schilddrüsenlappen auch nach der Embryonalentwicklung als Lobus pyramidalis bestehen. Seltener können aus kleineren übriggebliebenen Teilen des Ganges Zysten entstehen (beispielsweise die Bochdalek-Zyste). Erhalten solche Zysten Anschluss an die äußere Körperoberfläche oder den Mundboden, spricht man von Fisteln. Versprengte und hormonell aktive Inseln von Schilddrüsengewebe können ebenfalls entlang des Entwicklungsweges der Schilddrüse erhalten bleiben.
In die Schilddrüsenanlage wandern zudem bei den Säugetieren noch Zellen aus der fünften Schlundtasche ein, aus denen sich die C-Zellen (siehe unten) entwickeln. Vorläuferzellen der C-Zellen stammen aus der Neuralleiste. Die C-Zellen bilden bei den übrigen Wirbeltierklassen noch ein eigenes Organ, den ultimobranchialen Körper. Bei vielen Säugetierarten ist auch das innere Epithelkörperchen (Glandula parathyroidea interna, eine der sogenannten Nebenschilddrüsen) in die Schilddrüse eingeschlossen, beim Menschen liegt es als Glandula parathyroidea inferior am unteren Pol der Schilddrüse.
Histologie
Auffälligstes Strukturmerkmal des Schilddrüsengewebes sind mikroskopisch kleine Bläschen, die als Schilddrüsenfollikel bezeichnet werden (v. lat. folliculus „Bläschen“). Gebildet werden die Follikel von den Zellen, die die Schilddrüsenhormone T3 und T4 herstellen (Follikelepithelzellen oder auch Thyreozyten genannt). Die Zellen sind dabei einschichtig angeordnet (Epithel) und umschließen den Innenraum (das Lumen) der Follikel. Im Querschnitt bieten die Follikel eine meist rundlich bis ovale Form. Auch innerhalb einer individuellen Drüse kann der Follikeldurchmesser stark variieren (zwischen 50 und 200 µm). Innerhalb des Follikellumens befindet sich eine Vorstufe der Schilddrüsenhormone, das Protein Thyreoglobulin. Es bildet hier eine trüb glasige, gelatinös bis zähe Masse, die als Kolloid bezeichnet wird. Schätzungen gehen davon aus, dass die innerhalb des Kolloids enthaltenen Hormone ausreichen, um den Organismus des gesunden Menschen für etwa drei Monate zu versorgen. Die Form der Follikel und die Menge des Kolloids sind von Alter und Funktionszustand des Gewebes abhängig. Eine aktivierte Schilddrüse zeichnet sich durch hohe Epithelzellen und kleinere Follikel aus, während viel Kolloid und flaches Epithel ein inaktives Stadium der Zellen anzeigen. Dieser inaktive Zustand wird auch als Ruhe- oder Stapelform der Drüse bezeichnet.
Die Schilddrüse wird von einer Bindegewebskapsel (Capsula fibrosa) umgeben, von der Bindegewebsscheiden (Septen) ausgehen und das Organ in einzelne Läppchen unterteilen. Jedes Läppchen besteht aus mehreren Follikeln. Zwischen den Epithelzellen der Follikel und ihrer Basalmembran liegen bei Säugetieren die parafollikulären C-Zellen. Diese reichen nicht bis an das Lumen der Follikel. Um die Follikel sind retikuläre Fasern und ein dichtes Kapillarnetz (Blut- und Lymphkapillaren) ausgebildet.
Die Größe der Follikel im histologischen Präparat hängt nicht nur vom Funktionszustand, sondern auch von der Schnittebene durch den Follikel ab. Die Anfärbung des Kolloids ist stark von dessen Wassergehalt abhängig. Durch Schrumpfung im Zuge der histologischen Aufarbeitung scheint das Kolloid den Follikel nicht vollständig auszufüllen, dies ist aber ein Artefakt. Die C-Zellen sind nur immunhistochemisch exakt auszumachen.
Hormone
Die von der Schilddrüse gebildeten Hormone Triiodthyronin (T3) und Thyroxin (Tetraiodthyronin, T4) sind von großer Bedeutung für eine regelgerechte Entwicklung des neugeborenen Organismus. Auch beim Erwachsenen beeinflussen die Schilddrüsenhormone den Stoffwechsel und Funktionszustand fast aller Organe. Das ebenfalls in der Schilddrüse gebildete Calcitonin spielt eine untergeordnete Rolle im Calciumstoffwechsel des Organismus.
Außerhalb der Säugetiere erfüllen die Schilddrüsenhormone T3 und T4 eine Reihe weiterer wichtiger Funktionen. So induzieren sie beispielsweise bei Fröschen die Metamorphose von der Kaulquappe zum Frosch und bei Vögeln die Mauser.
Die Schilddrüsenhormone sind Bestandteil des sogenannten thyreotropen Regelkreises. Die Funktion der Schilddrüse wird hierbei durch den Hypothalamus und die Hirnanhangsdrüse (Hypophysenvorderlappen) reguliert. In der Hirnanhangsdrüse wird das Hormon TSH (Thyreoidea stimulierendes Hormon) gebildet und in die Blutbahn abgegeben. An den Schilddrüsenzellen angelangt, fördert es deren Wachstum und die Ausschüttung von T3 und T4. T3 und T4 selbst hemmen wiederum die Ausschüttung von TSH. Dieser als negative Rückkopplung bezeichnete Mechanismus führt dazu, dass im gesunden Organismus die Stoffwechselparameter konstant gehalten werden.
Wirkungen der Schilddrüsenhormone
Schilddrüsenhormone wirken auf das Herz und den Kreislauf. Sie können zu einer Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdrucks sowie zu einer Erweiterung von Gefäßen führen. Sie wirken auf den Zucker-, Fett- und Bindegewebsstoffwechsel, indem sie deren Umsatz steigern. Sie steigern die Aktivität von Schweiß- und Talgdrüsen der Haut und die Aktivität der Darmmotorik. Im Nervensystem führen sie zu einer verstärkten Erregbarkeit der Zellen. Insgesamt wird durch die Wirkung der Schilddrüsenhormone der Energieverbrauch und der Grundumsatz des Organismus erhöht. Folge hiervon ist ein Anstieg der Körpertemperatur.
Schilddrüsenhormone regulieren das Wachstum des Neugeborenen und die Entwicklung von Zellen insbesondere des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark). Auf das Wachstum üben Schilddrüsenhormone ihre Wirkung über andere Hormone wie das Wachstumshormon Somatotropin und IGF-1 aus. Im Nervensystem fördern Schilddrüsenhormone die Umscheidung (Myelinisierung) von Nervenzellen. Besteht ein Mangel an Schilddrüsenhormonen in den ersten Lebensmonaten, lassen sich Veränderungen im Aufbau und in der Funktion der Gliazellen des Nervensystems nachweisen. Weiterhin beeinflussen Schilddrüsenhormone die Entwicklung (Differenzierung) von Nervenzellen und vielen anderen Zellen des Organismus, indem sie auf molekularer Ebene die Expression von Genen steuern. Wird ein Schilddrüsenhormonmangel des Neugeborenen nicht erkannt und behandelt, entwickeln sich schwere neurologische Störungen (Bewegungsstörungen und Störungen der kognitiven Entwicklung).
T3 und T4 vermitteln ihre Wirkungen über Rezeptoren in den Zielzellen. T3 ist hierbei um ein Vielfaches wirksamer als T4. Die Schilddrüsenzellen produzieren vorwiegend T4, welches in den Zielzellen zu T3 umgewandelt (deiodiert) wird. Die Rezeptoren für die Schilddrüsenhormone sind hauptsächlich in den Zellkernen und den Mitochondrien der Zellen lokalisiert. Es handelt sich um Proteine, die an die DNA der von ihnen regulierten Gene gebunden sind und damit die Genexpression hemmen. Durch Bindung der Schilddrüsenhormone werden die Rezeptoren aktiviert, so dass die Genexpression einer ganzen Reihe von Proteinen erleichtert oder erst ermöglicht wird.
Die parafollikulären C-Zellen bilden das Calcitonin. Es senkt den Calciumspiegel im Blut und dient so als Antagonist des Parathormons (PTH) als Regler der extrazellulären Calciumkonzentration.
Bildung der Schilddrüsenhormone
Die von der Schilddrüse gebildeten Hormone Triiodthyronin (T3) und Thyroxin/Tetraiodthyronin (T4) sind Iodverbindungen. Sie werden von den Follikelepithelzellen gebildet, welche dabei auf eine ausreichende Zufuhr von Iod über die Nahrung angewiesen sind. Die Follikelepithelzellen bilden zunächst das Protein Thyreoglobulin und geben es in die Follikelhöhle ab. Mit den Blutgefäßen erreicht Iod in Form seines Ions Iodid die Follikelepithelzellen (Thyreozyten). Mithilfe eines spezialisierten Proteins – des sogenannten Natrium-Iodid-Cotransporters (NIS) – nehmen die Zellen basolateral das Iodid auf. Das Iodid gelangt aus dem Blut durch einen Ionenkanal (Pendrin) apikal in das Follikellumen (Iodination).
Für die nächsten Schritte der Hormonsynthese sind die Enzyme Thyrooxidase (eine NADPH/H+-Oxidase zur Synthese des Wasserstoffperoxids; ein integrales Membranprotein) und Thyreoperoxidase notwendig. Dieses befindet sich in der an die Follikelhöhle angrenzenden Membran der Schilddrüsenzelle. Dieses Wasserstoffperoxid oxidiert dann Iodid von der Oxidationszahl −1 zu elementarem Iod mit der Oxidationszahl ±0 (Iodisation, Jodisation). Im nächsten Schritt werden die Iod-Atome an die Tyrosinanteile des Thyreoglobulins gebunden (Iodierung, Koppelung). Tyrosin ist eine Aminosäure und Bestandteil des Thyreoglobulins. Das iodierte Thyreoglobulin wird erneut von der Follikelepithelzelle aufgenommen (Speicherung) und durch Enzyme zersetzt. Dabei werden auch die iodierten Tyrosinverbindungen (jetzt Thyroxin und Triiodthyronin genannt) freigesetzt. Sie können die Membran der Zelle frei passieren und gelangen über das Blutgefäßsystem zu ihren Zielzellen (Hormoninkretion), in denen sie ihre biologischen Wirkungen entfalten.
Untersuchungsmethoden
Die Schilddrüse kann beim Menschen durch Abtasten (Palpation) des Halses untersucht werden. Bei Hunden gilt eine tastbare Schilddrüse bereits als vergrößert. Eine ausgeprägte Struma ist beim Menschen sichtbar. Eine orientierende Untersuchung der Schilddrüse sollte im Prinzip von jedem Arzt vorgenommen werden können, da Schilddrüsenerkrankungen beim Menschen sehr häufig sind und Berührungspunkte mit fast allen Teilgebieten der Medizin bestehen. Besondere Erfahrung auf diesem Gebiet haben in der Regel Endokrinologen und Nuklearmediziner.
In der bildgebenden Diagnostik werden hauptsächlich der Ultraschall und zur weiteren Abklärung bei Knoten und Funktionsstörungen die Szintigrafie eingesetzt, für spezielle Fragestellungen auch die Computertomografie und Kernspintomografie.
Eine Feinnadelpunktion der Schilddrüse dient zur Gewinnung von Proben für die Zytologie, eine Biopsie für Proben zur histologischen Untersuchung.
Im Labor können der freie T3- und T4-Spiegel sowie der TSH- und Thyreoglobulin-Spiegel bestimmt werden. Auch eine Bestimmung von Schilddrüsenautoantikörpern (TRAK, Tg-AK, TPO-AK) kann vorgenommen werden.
Krankheiten
Sowohl die Ursachen als auch die Erscheinungsfolgen von Erkrankungen der Schilddrüse, die auch als Thyreopathien bezeichnet werden, sind vielfältig. Es lassen sich nach Häufigkeit tumorartige Krankheiten (Struma (Kropf), Schilddrüsenautonomie), Entzündungen, gut- und bösartige Neubildungen (benigne und maligne Neoplasien) und Störungen der Organentwicklung unterscheiden. Alle Schilddrüsenkrankheiten können zu Störungen des Hormonstoffwechsels führen. Diese Funktionsstörungen werden – abhängig von der Wirkung der Schilddrüsenhormone auf den Organismus – als Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) oder Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) bezeichnet.
Struma
Als Struma (Kropf) wird jede Vergrößerung der Schilddrüse über ihr normales Volumen hinaus bezeichnet. Solche Vergrößerungen können objektiv mithilfe einer sonographischen Untersuchung der Schilddrüse festgestellt werden. Grundsätzlich kann jede der Schilddrüsenkrankheiten mit einer Volumenvergrößerung einhergehen. Die weitaus häufigste Ursache für eine Struma ist mit etwa 90 % der ernährungsbedingte Jodmangel (auch als blande Struma bezeichnet). Das Symptom der Struma war bereits in der Antike bekannt.
Jodmangelstruma
Da bei der Jodmangelstruma meist noch ausreichend Schilddrüsenhormone synthetisiert werden, kommt es nicht zu einer Funktionsstörung der Schilddrüse im Sinne einer Unter- oder Überfunktion. Daher wird die Jodmangelstruma auch als euthyreote Struma bezeichnet. Die Jodmangelstruma betrifft vorwiegend Frauen (Verhältnis betroffener Frauen zu Männern: 7:1). In Gebieten, in denen die Inzidenz der Struma 10 % übersteigt, wird sie auch als endemische Struma bezeichnet. Bezüglich des Krankheitsmechanismus ist bekannt, dass es aufgrund des Jodmangels zu einer vermehrten Ausschüttung von sogenannten Wachstumsfaktoren durch die Thyreozyten kommt. Diese Proteine führen zu einer erhöhten Teilungsrate der Thyreozyten, wodurch die Schilddrüse insgesamt an Volumen zunimmt. Betrifft diese Hyperplasie zu Beginn des Prozesses noch die gesamte Schilddrüse gleichmäßig (diffuse Struma), kann es später teilweise zu einem knotigen Umbau einzelner Bereiche der Schilddrüse kommen (Knotenstruma). Die wichtigste Maßnahme zur Prävention einer Jodmangelstruma besteht in der generellen Verwendung von iodiertem Speisesalz. Da in Jodmangelgebieten wie Österreich, Schweiz und Deutschland die Verwendung von iodiertem Speisesalz im Haushalt allein nicht ausreichend ist, müssen auch industriell hergestellte Fertignahrungsmittel iodiertes Speisesalz enthalten, um eine ausreichende Versorgung mit Iod über die Ernährung zu gewährleisten. Während in der Schweiz, in Österreich und in den USA die Iodprophylaxe der Bevölkerung gesetzlich geregelt ist, besteht in Deutschland nur eine Zulässigkeit der freiwilligen Iodprophylaxe.
Schilddrüsenautonomie
Eine Schilddrüsenautonomie liegt vor, wenn die Thyreozyten in ihrem Wachstum und ihrer Funktion nicht mehr abhängig von der Regulation durch die Hypophyse sind. Durch vermehrtes Wachstum kommt es zur Ausbildung einzelner oder mehrerer Knoten (unifokale oder multifokale Autonomie), selten auch zu einer disseminierten Autonomie, bei der ein diffuses Wachstum vorliegt. Die autonomen Knoten können vermehrt Schilddrüsenhormon produzieren, wodurch es häufig zu einer Überfunktion der Schilddrüse kommt. Die Schilddrüsenautonomie tritt in Jodmangelregionen häufiger auf als in Ländern mit ausreichender Iodversorgung. Ihre Häufigkeit nimmt mit dem Lebensalter zu: Sie ist vor allem bei Personen über dem 40. Lebensjahr anzutreffen.
Entzündungen
Entzündungen der Schilddrüse werden als Thyreoiditis bezeichnet. Innerhalb kurzer Zeit entstehende (akute), eitrige Entzündungen sind selten. Sie werden durch Bakterien oder Pilze verursacht, die die Schilddrüse über die Blutgefäße (hämatogen) erreichen. Begünstigend kann eine Schwächung des Immunsystems durch eine Chemotherapie bei Krebserkrankungen oder bei einer Infektion mit HIV sein.
Die chronisch verlaufende Hashimoto-Thyreoiditis ist häufig: Sie betrifft etwa 3 % der Bevölkerung und mehr Frauen als Männer (etwa in einem Verhältnis von 10:1). Hier kommt es zu einer durch das Immunsystem vermittelten Zerstörung des Schilddrüsengewebes. Weltweit ist sie in Nichtjodmangelgebieten die häufigste Ursache für eine Hypothyreose des Erwachsenen.
Der Morbus Basedow ist eine Autoimmunkrankheit der Schilddrüse, die mit der Bildung von stimulierenden Antikörpern gegen Thyreozyten einhergeht. Die Folge ist neben einer Überfunktion mit den entsprechenden Symptomen häufig auch eine Vergrößerung der Schilddrüse. Die Krankheit betrifft etwa 1–2 % der Bevölkerung, wobei Frauen fünfmal häufiger als Männer betroffen sind. Der Immunprozess, der dem Morbus Basedow zu Grunde liegt, kann auch in anderen Organen zu Symptomen führen (extrathyreoidale Manifestation des Morbus Basedow). Bei etwa 60 % der Patienten tritt eine sogenannte endokrine Orbitopathie auf, die durch eine Volumenzunahme des hinter dem Auge befindlichen Bindegewebes charakterisiert ist. Hierdurch können die Augäpfel vorgedrängt werden (Exophthalmus). Seltener (bei weniger als 3 % der Patienten) ist eine Manifestation in der Haut vor dem Schienbein (prätibiales Myxödem), bei der es zu einer nichteindrückbaren Schwellung der Haut kommt.
Bei der seltenen subakuten (innerhalb einiger Tage bis Wochen entstehenden) Thyreoiditis (Thyreoiditis de Quervain) kommt es meist im Anschluss an eine virale Infektion zu einer ebenfalls immunvermittelten Zerstörung von Schilddrüsengewebe. Häufig besteht eine schmerzhafte Schwellung der Schilddrüse. Meist klingt die Entzündung nach einigen Wochen bis Monaten spontan ab.
Sehr selten ist die Riedel-Thyreoiditis (auch „eisenharte Struma“ genannt), die mit einem ausgeprägten narbigen Umbau der Schilddrüse einhergeht. Die Entzündung greift dabei vom umliegenden Gewebe auf das Schilddrüsenorgan über.
Die Entzündungen der Schilddrüse, die auf autoimmune Prozesse zurückzuführen sind, werden unter dem Begriff der Autoimmunthyreopathie zusammengefasst.
Schilddrüsenzysten
Zysten sind flüssigkeitsgefüllte Hohlräume, die häufig asymptomatisch sind und Zufallsbefunde darstellen. Entwicklungsbedingt (s. oben) können Zysten aus Schilddrüsengewebe als mediane Halszysten auftreten.
Schilddrüsenzysten können im Rahmen der in Deutschland häufigen Jodmangelstruma, aber auch bei gut- und bösartigen Tumoren oder Systemerkrankungen sowie nach Verletzungen vorkommen.
Die Therapie richtet sich nach der Ursache der Zyste und den Beschwerden, die sie verursacht. Sie reicht von klinischer Beobachtung über medikamentöse Behandlung oder Verödung mit Alkohol bis zur chirurgischen Entfernung bei großen Zysten mit Beschwerden oder dem Verdacht auf eine Krebserkrankung.
In der Regel können Zysten sehr gut im Ultraschall dargestellt und beurteilt werden. Auch eine diagnostische Feinnadelpunktion kann ultraschallgesteuert erfolgen.
Schilddrüsenkrebs
Die meisten bösartigen Schilddrüsentumore sind Adenokarzinome. Die bösartigen Neubildungen der Schilddrüse (maligne Neoplasien) gehen meist von den Thyreozyten oder von den Calcitonin produzierenden C-Zellen aus. Sehr selten ist ein vom Bindegewebe ausgehender Schilddrüsenkrebs (Sarkom). Als einzige gesicherte Ursache für die Schilddrüsenkrebse gilt eine Strahlenexposition. Gemäß pathologischen Kriterien wird der Schilddrüsenkrebs in folgende Untergruppen eingeteilt:
Follikuläres Karzinom
Bei diesem Karzinom ähnelt der Gewebeaufbau weitgehend der Struktur einer ausgereiften oder sich entwickelnden Schilddrüse. Die Krebszellen gehen von den Thyreozyten aus und bilden vorwiegend über die Blutbahn Absiedlungen (hämatogene Metastasierung) in Lunge, Skelett und Gehirn. Auf das follikuläre Karzinom entfallen 20–50 % aller Schilddrüsenkarzinome. Es betrifft häufig Frauen im 4. und 5. Lebensjahrzehnt.
Papilläres Karzinom
Diese Karzinome gehen ebenfalls von den Thyreozyten aus und bilden fingerförmig verästelte (papilläre) Strukturen. Sie sind mit 50–80 % aller Schilddrüsenkarzinome die häufigsten bösartigen Neubildungen der Schilddrüse. Sie metastasieren vorwiegend über die Lymphgefäße (lymphogene Metastasierung) in die Lymphknoten des Halses. Diese können dadurch an Größe zunehmen und getastet werden. Die papillären Karzinome betreffen häufig Frauen im 3.–4. Lebensjahrzehnt. Als begünstigende Faktoren für ihre Entstehung gelten eine Strahlenbelastung (beispielsweise im Rahmen einer therapeutischen Bestrahlung der Kopf-Hals-Region oder der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl), eine Hashimoto-Thyreoiditis sowie verschiedene genetische Syndrome (FAP-Syndrom und Cowden-Syndrom).
Anaplastisches Karzinom
Dieses Karzinom zeigt in seiner Feinstruktur keine Ähnlichkeiten mehr mit dem ursprünglichen Schilddrüsengewebe und wird deshalb auch als undifferenziertes Karzinom bezeichnet. Es wächst sehr aggressiv in das umliegende Gewebe ein und metastasiert sowohl lymphogen als auch hämatogen. Etwa 5–10 % der Schilddrüsenkarzinome entfallen auf diesen Typ. Selten entsteht es vor dem 60. Lebensjahr; eine Geschlechtspräferenz zeigt es nicht.
Medulläres Karzinom
Das medulläre Karzinom geht von den Calcitonin produzierenden Zellen der Schilddrüse aus. Es handelt sich um ein neuroendokrines Karzinom, das neben dem Calcitonin auch weitere Hormone (wie Somatostatin, Serotonin und vasoaktives intestinales Peptid) produzieren kann. Es ist für etwa 5 % aller Schilddrüsenkarzinome verantwortlich. Die Krankheit kann sporadisch bei einzelnen Individuen oder im Rahmen genetischer Syndrome (MEN-Syndrom) auftreten. Dieses Karzinom metastasiert sowohl lymphogen als auch hämatogen und tritt insgesamt bei Frauen und Männern mit gleicher Häufigkeit auf.
Störungen der Organanlage
Das vollständige Fehlen der Schilddrüse (Aplasie der Schilddrüse oder Athyreose) ist bei Neugeborenen sehr selten. Die Ursache ist meist genetisch bedingt, wobei ein autosomal-rezessiver Erbgang vorliegt. Eine embryonale Entwicklungsstörung, bei der die Wanderung der Schilddrüsenanlage vom Mundboden zu ihrer definitiven Position vor der Luftröhre ausbleibt oder nicht vollständig erfolgt, wird als Dystopie bezeichnet. Hier kann die Schilddrüse im Zungengrund zu einer Zungengrundstruma heranwachsen. Aplasien und Dystopien sind die häufigsten Ursachen einer Schilddrüsenunterfunktion des Neugeborenen (angeborene Hypothyreose).
Funktionsstörungen
Als Über- und Unterfunktion der Schilddrüse wird eine gesteigerte oder verminderte Wirkung der Schilddrüsenhormone auf den Stoffwechsel und die Organe des Körpers bezeichnet. Da Rezeptoren für Schilddrüsenhormone überall im Organismus vorhanden sind, kann es infolge von Funktionsstörungen der Schilddrüse zu Symptomen in fast allen Organsystemen kommen. Häufig sind dabei Störungen, die das Herz-Kreislauf-System, das Nervensystem und die Psyche, den Magen-Darm-Trakt sowie den allgemeinen Stoffwechsel, die Haut, das Muskel- und Skelettsystem sowie die Sexualfunktionen betreffen. Beispielsweise kann eine Überfunktion eine Beschleunigung des Herzschlags (Tachykardie), einen unwillkürlichen Gewichtsverlust, Nervosität und Zittern verursachen. Symptome einer Unterfunktion können ein verlangsamter Herzschlag (Bradykardie), eine Gewichtszunahme, Verstopfung und ein Verlust der Libido sein. Eine Unterfunktion kann eine Depression auslösen. Bei Schwangeren kann beim Kind Kretinismus verursacht werden.
Die häufigsten Ursachen einer Hyperthyreose (Überfunktion) sind der Morbus Basedow, die Schilddrüsenautonomie sowie eine erhöhte Zufuhr von Schilddrüsenhormonen von außen in Form von Hormonpräparaten.
Die häufigsten Ursachen einer Hypothyreose (Unterfunktion) sind die Hashimoto-Thyreoiditis sowie Maßnahmen (Operation, Radiojodtherapie, Medikamente), die im Rahmen der Therapie einer Schilddrüsenerkrankung durchgeführt wurden.
Es wird zwischen einer subklinischen (latenten) und manifesten Hyper- und Hypothyreose unterschieden. Bei einer manifesten Funktionsstörung ist die Konzentration der freien Schilddrüsenhormone (fT3 und fT4) über den Normalbereich hinaus erhöht oder erniedrigt. Hingegen ist bei einer subklinischen Funktionsstörung die Konzentration der freien Hormone noch im Normbereich, während die Konzentration des die Schilddrüse stimulierenden Hormons TSH über den Normalbereich hinaus erniedrigt beziehungsweise erhöht ist.
Eine Hyperthyreose ist die häufigste hormonelle Störung bei über zehn Jahre alten Hauskatzen (Feline Hyperthyreose). Fast immer ist eine Schilddrüsenautonomie die Ursache.
Medizingeschichtliche Aspekte
Der Schweizer Arzt Paracelsus beschreibt um 1500 den Zusammenhang zwischen Struma und Kretinismus. Er unternimmt erste Therapieversuche mit dem „ungarischen Kropfsalz“, einem aus Halit bestehenden Steinsalz.
Thomas Wharton gibt der Schilddrüse 1656 den lateinischen Namen Glandula thyreoidea.
Das Verständnis für die Funktion der Schilddrüse entwickelte sich erst langsam. Der Mediziner Felix Platter unterschied jedoch bereits Anfang des 17. Jahrhunderts die zystische von der parenchymatösen Struma und beschrieb auch genau die Symptome von Schilddrüsenüber- und unterfunktion. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie als „Nebendrüse der Respirationsorgane“ betrachtet, deren Funktion unklar war.
Der Dubliner Arzt Robert Graves beschrieb 1835 in seiner Arbeit Palpitation of the heart with enlargement of the thyroid gland als erster die Symptomkonstellation der später im englischsprachigen Raum nach ihm benannten Krankheit (Graves’ disease): Palpitationen, Struma und Exophthalmus. Als Ursache dieser Symptomatik nahm Graves eine Herzerkrankung an. Unabhängig hiervon beschrieb Carl Adolf von Basedow 1840 in Merseburg in seiner Publikation „Exophthalmus durch Hypertrophie des Zellgewebes in der Augenhöhle“ ebenso die Symptomtrias von Struma, Exophthalmus, und Tachykardie (auch als Merseburger Trias bezeichnet). Zur Therapie empfahl er die Einnahme von iodidhaltigem Mineralwasser. Im deutschsprachigen Raum setzte sich die Bezeichnung Basedowsche Krankheit durch. Die Bestimmung der Basedowschen Krankheit als einer Krankheit der Schilddrüse erfolgte allerdings erst 1886 durch den Leipziger Neurologen Paul Julius Möbius.
Für Forschungsarbeiten zur Schilddrüse erhielt der Berner Chirurg und Ordinarius Theodor Kocher, der 1876 die erste Strumektomie im heutigen Sinne durchgeführt hatte, 1909 den Nobelpreis. Im Gegensatz zu Kocher, der die vollständige Entfernung der Schilddrüse bevorzugte, empfahl 1885 Johann von Mikulicz-Radecki die Belassung von etwas Schilddrüsengewebe sowie der hinteren Schilddrüsenkapsel.
George R. Murray führte 1891 die erste erfolgreiche Therapie des Myxödems mit Schilddrüsenextrakten durch. 1896 isolierte Eugen Baumann eine unlösliche, nicht aus Proteinen bestehende Substanz, in der sich fast das gesamte in der Schilddrüse vorhandene Iod wiederfand – das sogenannte Iodothyrin (oder auch Thyreoiodin) – und charakterisierte es als den wirksamen Bestandteil der Schilddrüse. 1899 fand Adolph Oswald das Thyreoglobulin.
Robert Hutchison stellte 1898 in seiner Arbeit über die Physiologie der Schilddrüse das Wissen seiner Zeit dar. Man wusste den Iodgehalt des Kolloids der Follikel abzuschätzen und stellte ausschließlich die iodhaltigen Bestandteile als aktiv dar. Damalige Versuche hatten gezeigt, dass die intravenöse Gabe des Kolloides keinerlei Wirkung auf Blutdruck oder Herztätigkeit ausübte. Man hatte jedoch nach Injektion von Schilddrüsenextrakten Blutdruckabfälle festgestellt. Tierversuche ergaben, dass das Blut nach Injektion des Kolloides in den Gefäßen nicht verklumpte, dass ein Warmhalten nach operativer Schilddrüsenentfernung keine Verzögerung des Auftretens oder Änderung des Verlaufes akuter Symptome erbrachte, obwohl man keine Giftstoffe in Galle oder ZNS ausmachen konnte, jedoch die orale Gabe von Schilddrüsengewebe die Mortalitätsrate senkte. Darüber hinaus stellte man bei den Versuchen fest, dass weder die operative Entfernung von Hoden bzw. Eierstöcken, noch die orale Gabe von Nebenschilddrüse einen kurativen Einfluss auf das Myxödem hatten. Iodothyrin diente Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu Versuchszwecken. Aus der gegensätzlichen Wirkung unterschiedlicher Schilddrüsenextrakte auf den Kreislauf entwickelte sich um die Jahrhundertwende ein damals als polemisch bezeichneter Disput. 1909 konnte John H. King feststellen, dass Iodothyrin einen eigenständigen, dem Extrakt der gesamten Schilddrüse überlegenen, verzögernden Effekt auf den Kohlenhydratstoffwechsel hat. 1911 beschrieb Harry E. Alderson die gegensätzlichen Auswirkungen von Hypo- und Hyperthyreose auf die Haut, sowie Möglichkeiten der Behandlung. Als wirksam im Sinne einer Schilddrüsenstimulation beschrieb er Extrakte der ganzen Schilddrüse, Iod und iodhaltige Substanzen, Arsen, Salicylate, Phosphor, Alkohol, Pilocarpin, Tee, Kaffee, Fleisch, sexuelle Betätigung, Gebärmutterleiden, Schwangerschaft und große emotionale Aufregungen. Als wirksam im Sinne einer Minderung der Schilddrüsenfunktion beschrieb er Opioide, Bromide, Hypnotika im Allgemeinen, Glycerophosphate aus der Linde, Calcium, Milch, getreidereiche Ernährung und sexuelle Enthaltung. Lewellys F. Barker bezeichnete Iodothyrin 1913 als das Hormon der Schilddrüse und rechnete es zu den sympathikotrophen Substanzen endokrinen Ursprungs. Als Wirkungen beschrieb er eine Beschleunigung der Herzfrequenz, eine Erweiterung der Lidspalte, den Exophthalmus sowie ein vermehrtes Ansprechen der Pupille auf Adrenalin.
Die Entdeckung des Schilddrüsenhormones Thyroxin wird Edward Calvin Kendall zugeschrieben. Er hatte aus Iodothyrin einen aktiven Anteil herauskristallisiert und ihn Thyroxin genannt. Zur Diagnose einer Schilddrüsenerkrankung im Blut wurden in dieser Zeit indirekte Parameter wie Blutgerinnung und Differentialblutbild verwendet. 1922 beschrieb Henry Stanley Plummer einen mittels der Lugolschen Lösung erreichten Rückgang von Hyperthyreosezeichen bei Patienten mit Morbus Basedow, das sogenannte „Plummern“. Diese Jodvorbereitung ermöglichte ein wesentlich risikoärmeres Resezieren eines Überfunktionskropfes als es erstmals 1884 durch Ludwig Rehn durchgeführt worden war. Emil Abderhalden und Ernst Wertheimer zeigten 1929, dass Muskelgewebe eine Thyroxinlösung in weit größerem Ausmaß aufnahm als Lebergewebe, konnten jedoch nicht feststellen, „was aus dem von den Geweben aufgenommenen Thyroxin wird.“ Noch 1930 wurde über die Entstehung des Thyroxins im Organismus vermutet, dass es sich aus zwei Molekülen Diiodtyrosin zusammensetzen könnte. 1933 beschrieben I. Abelin und A. Florin, dass Schilddrüsenhormone den Grundumsatz stark erhöhen, einen Glykogen- und Fettschwund veranlassen sowie Herz- und Atemfrequenz beschleunigen. Die künstliche Herstellung des Thyroxins wurde erstmals 1927 von Charles Robert Harington in London durchgeführt.
1912 Hakaru Hashimoto beschreibt als erster die Struma lymphomatosa und gilt seitdem als Entdecker der Hashimoto-Thyreoiditis.
1965 meldete Beverley E. P. Murphy sein Patent zur direkten Messung von Thyroxin in Körperflüssigkeiten an, das am 3. Dezember 1968 von der Patentbehörde angenommen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nur indirekte Schilddrüsenfunktionstestungen, wie etwa die Messung des absoluten Iodgehaltes oder des proteingebundenen Iodes im Blut, durchgeführt worden.
Literatur
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Christian Hessler: Schilddrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen: Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 200–203.
Rudolf Hörmann: Schilddrüsenkrankheiten. Leitfaden für Klinik und Praxis. 4. Auflage. Abw Wissenschaftsverlag, Berlin 2005, ISBN 3-936072-27-2.
Wieland Meng, mit Beiträgen von Chr. Reiners: Schilddrüsenerkrankungen. 4. Auflage. Urban und Fischer, München und Jena, 2002, ISBN 978-3-437-22950-3.
Ludwig Weissbecker: Krankheiten der Schilddrüse. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 1033–1051.
Weblinks
Einzelnachweise
Endokrines Organ |
5123 | https://de.wikipedia.org/wiki/Tiberius | Tiberius | Tiberius Iulius Caesar Augustus (vor der Adoption durch Augustus Tiberius Claudius Nero; * 16. November 42 v. Chr. in Rom; † 16. März 37 n. Chr. am Kap Misenum) war römischer Kaiser von 14 bis 37 n. Chr. Nach seinem Stiefvater Augustus war Tiberius der zweite Kaiser des Römischen Reiches und gehört wie dieser der julisch-claudischen Dynastie an. Seine Regierungszeit war eine der längsten Alleinherrschaften eines römischen Kaisers.
Tiberius konnte besonders vor seinem Herrschaftsantritt bedeutende militärische Erfolge erzielen. Seine militärischen Aktivitäten in den römischen Provinzen Pannonien, Illyrien, Raetien und Germanien legten die nördliche Grenze des römischen Imperiums fest. In der Verwaltung der Provinzen sowie der Finanzen war der Kaiser erfolgreich. Palastintrigen, die Verschwörung des ehrgeizigen Seianus, Hinrichtungen dissidenter römischer Aristokraten und Tiberius’ Rückzug aus der Hauptstadt verursachten das negative Werturteil der späteren antiken Historiographen. Gegen Ende seines Lebens wurde der Interessenkonflikt zwischen dem in seiner politischen Funktion reduzierten Senat und dem nun institutionalisierten Amt des Kaisers erstmals deutlich.
Leben bis zum Herrschaftsantritt
Herkunft und Jugend
Tiberius entstammte dem patrizischen Geschlecht der Claudier. Seine Eltern waren Tiberius Claudius Nero, Prätor 42 v. Chr., und Livia Drusilla, deren claudischer Familienzweig durch Adoption in das plebejische Geschlecht der Livier übergegangen war. Im Jahre 41 v. Chr. flohen seine Eltern mit ihm nach Sizilien und Griechenland, um den Proskriptionen zu entgehen, da sein Vater als überzeugter Republikaner und Anhänger der Caesarmörder den Lucius Antonius unterstützte und sich somit gegen Octavian gestellt hatte. Octavian, der spätere Kaiser Augustus, erzwang nach ihrer Rückkehr im Jahr 39 v. Chr. Livias Scheidung vom älteren Tiberius Claudius Nero, um sie selbst heiraten zu können. Drei Monate nach der Heirat am 17. Januar 38 v. Chr. brachte Livia Tiberius’ Bruder Drusus zur Welt, dessen leiblicher Vater allerdings Tiberius Claudius Nero war. Da Octavian den Neugeborenen dessen Vater überstellte, dürfte auch der junge Tiberius zu dieser Zeit bei seinem Vater gewesen sein und nicht bei seiner Mutter und dem Stiefvater Octavian. Sueton berichtet, dass Tiberius nach der Rückkehr nach Rom durch den Senator Marcus Gallius testamentarisch adoptiert wurde, dessen Namen aber nicht führte, weil Gallius als Gegner Octavians galt. Nach dem Tod seines Vaters, wohl im Jahr 33 v. Chr., hielt der neunjährige Tiberius ihm die Trauerrede, was ihn im öffentlichen Leben der römischen Aristokratie positionierte, und gelangte dann zusammen mit seinem Bruder in die Vormundschaft seines Stiefvaters. Drusus wurde von Octavian gegenüber seinem älteren Bruder bevorzugt.
Bereits in jungen Jahren wurde Tiberius in das politische Leben eingeführt. Vom 13. bis 15. August 29 v. Chr. wurde er in den Triumphzug Octavians für den Sieg bei Actium einbezogen. Bereits 23 v. Chr. wurde ihm als Quästor mit dem Zuständigkeitsbereich der Getreideversorgung das erste politische Amt und damit der Senatorenstatus übertragen, weit vor dem hierfür vorgeschriebenen Mindestalter von 25 Jahren.
Erste militärische Erfahrungen
Tiberius unternahm unter der Herrschaft des Augustus mehrere erfolgreiche Feldzüge. Bereits in den Jahren 26–24 v. Chr. nahm er als Militärtribun an Kämpfen des Augustus in Spanien teil. Im Jahre 20 v. Chr. führte er einen Feldzug gegen das armenische Königreich an, durch den er Tigranes III. auf den armenischen Thron brachte. Er gewann im selben Jahr durch Diplomatie die römischen Feldzeichen zurück, die Marcus Licinius Crassus, Lucius Decidius Saxa und Marcus Antonius in teils verheerenden Niederlagen an die Parther verloren hatten. Im Jahr 16 v. Chr. war er Prätor und bereitete gemeinsam mit Augustus in Gallien die Neuordnung der Provinz vor.
Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Drusus brachte Tiberius in den Jahren 15–13 v. Chr. Raetien und das im Norden befindliche Vindelicien unter römische Herrschaft. Von 12 bis 9 v. Chr. leitete er die Eroberung Pannoniens. Er überführte 9 v. Chr. den Leichnam seines Bruders Drusus, der infolge eines Reitunfalls verstorben war, von Germanien nach Rom und erhielt als dessen Nachfolger für die folgenden beiden Jahre den Oberbefehl in Germanien. Im Jahr darauf beendete er erfolgreich die von seinem Bruder begonnenen Drusus-Feldzüge. Um den germanischen Druck auf den Mittelrhein zu vermindern, wurden unter seiner Befehlsgewalt etwa 40.000 Sugambrer und Sueben in linksrheinisches Gebiet umgesiedelt.
Nachfolgeproblematik
Tiberius war von 16 bis 12 v. Chr. mit Vipsania Agrippina verheiratet, der Tochter von Octavians engem Vertrauten und Feldherrn Marcus Vipsanius Agrippa. Aus dieser Ehe stammte sein um 15 v. Chr. geborener Sohn Tiberius Drusus Iulius Caesar (auch „der jüngere Drusus“). Im Jahr 12 v. Chr. musste sich Tiberius auf Anordnung seines Stiefvaters von Vipsania Agrippina scheiden lassen und seine Stiefschwester Iulia heiraten, die Tochter des Augustus. Diese Verbindung sollte die Einheit des regierenden Hauses stärken. Iulia dürfte allerdings eher ihren Kindern die Nachfolge gewünscht haben. Auch fühlte sie sich nach drei ihr von Augustus aufgebürdeten Zwangsehen zu einem ausschweifenden Leben hingezogen, so dass die Ehe für den als menschenscheu geltenden Tiberius im Unterschied zu dessen erster Ehe nicht glücklich war. Nachdem Tiberius bereits im Jahr 13 v. Chr. Konsul geworden war, erhielt er 6 v. Chr. die tribunicia potestas auf fünf Jahre; somit konnte er als Nachfolger des Princeps gelten, da er außerdem der Schwiegersohn des Augustus war.
Die schnell zerrüttete Ehe und die auffällige Förderung der von Augustus adoptierten Söhne Iulias, Gaius und Lucius Caesar, brachten Tiberius jedoch dazu, seine Laufbahn zu unterbrechen und sich für sieben Jahre in ein zuerst freiwilliges Exil nach Rhodos zurückzuziehen. Dort hörte er bei dem Rhetoriker Theodoros von Gadara und lebte wie ein Privatmann (). Tiberius selbst soll später erklärt haben, er habe sich zurückgezogen, um den Caesares nicht im Wege zu stehen. Tiberius fühlte sich wohl wegen der Beliebtheit des Gaius Caesar und dessen Bevorzugung in seiner eigenen dignitas zurückgesetzt.
Da die Insel Rhodos auf der römischen Haupthandelslinie lag, dürfte Tiberius jedoch keineswegs vom politischen Leben ausgeschlossen gewesen sein. Während seines Aufenthaltes auf Rhodos schickte Augustus 2 v. Chr. seine Tochter Iulia wegen ihres Lebenswandels und politischer Intrigen in die Verbannung. Tiberius setzte sich zwar in mehreren Briefen vergeblich für seine Gattin ein, ließ sich jedoch auf Betreiben von Augustus schließlich von ihr scheiden. Im Jahr 2 n. Chr. bewilligte Augustus die Rückkehr des Tiberius nach Rom, gestand ihm aber zunächst keine politische Funktion zu.
Erst die kurz aufeinander folgenden Tode der designierten Nachfolger des Augustus, seiner Enkelkinder und Adoptivsöhne Gaius und Lucius Caesar (4 bzw. 2 n. Chr.), brachten Tiberius in die Position des präsumtiven Nachfolgers. Mit der Adoption durch Augustus am 26. Juni 4 n. Chr. wurde Tiberius (mit dem Namen Tiberius Iulius Caesar) in das Geschlecht der Julier aufgenommen. Die nachfolgenden Kaiser bis hin zu Nero gehörten in unterschiedlichen Graden beiden Familien an und waren so Mitglieder einer Doppeldynastie. Neben Tiberius adoptierte Augustus Agrippa Postumus, der allerdings später in die Verbannung geschickt wurde. Tiberius selbst musste Germanicus adoptieren, den Sohn seines Bruders Drusus. Außerdem erhielt er die beiden zur Nachfolge in der Herrschaft berechtigenden Amtsgewalten, das imperium proconsulare maius und die tribunicia potestas.
Heerführer in Germanien und auf dem Balkan
Tiberius übernahm 4 n. Chr. im Zuge des immensum bellum erneut den Oberbefehl in Germanien. In seinem Heer befand sich der praefectus equitum Velleius Paterculus, der die Ereignisse rund 25 Jahre später niederschrieb und damit den einzigen erhalten gebliebenen Augenzeugenbericht liefert. Tiberius überschritt die Weser (Visurgis), kehrte danach jedoch nicht wie üblich zum Rhein zurück, sondern errichtete nahe der Lippe-Quellen (Lupia) erstmals für ein großes Heer ein Winterlager. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Winterlager um das Römerlager Anreppen. Im darauffolgenden Jahr unterwarf er unter anderem den Küstenstamm der Chauken an der Nordseeküste zwischen Ems und Elbe. Anschließend besiegte er an der unteren Elbe die Langobarden, die sich auf ihre Stammesgebiete östlich des Stroms zurückzogen. Parallel dazu erkundete eine Flotte die jütländische Halbinsel und stieß möglicherweise bis zum Eingang der Ostsee vor. Die Legionen zogen, versorgt durch ein schwimmendes Proviantmagazin auf der Elbe (Albis), weiter stromaufwärts und gelangten vermutlich bis zu den Semnonen an der mittleren und den Hermunduren an der oberen Elbe. Nach dem Sommer 5 n. Chr. erreichte kein römischer Feldherr noch einmal diese Flusslinie. Auf dem Rückmarsch an den Rhein wurde ein germanischer Angriff abgewehrt. Die kombinierte Kampagne von Heer und Flotte gilt als der „Höhepunkt in der überlieferten militärischen Durchdringung Germaniens“. Velleius Paterculus schreibt: „Nichts blieb mehr in Germanien, das hätte besiegt werden können, außer dem Stamm der Markomannen“.
Im Jahr 6 n. Chr. rüstete Tiberius gegen Marbod, den König der Markomannen. Es wurden insgesamt zwölf Legionen mit Hilfstruppen aufgestellt, was die Hälfte des gesamten Militärpotentials der Römer zu diesem Zeitpunkt darstellte. Kurz nach Beginn des Feldzugs im Frühjahr des Jahres 6 n. Chr. brach Tiberius ihn wieder ab, als er die Nachricht vom Pannonischen Aufstand erhielt. Allerdings schloss Tiberius noch einen Freundschaftsvertrag mit Marbod, um sich vollkommen auf die schwere Aufgabe in Pannonien zu konzentrieren.
Von 6 bis 9 n. Chr. warf er mit größten Anstrengungen, unter Aufbietung einer Armee von 15 Legionen, den Aufstand in Pannonien und Illyrien nieder. Kurz nach dem Sieg erhielt Augustus die Nachricht, dass Varus in Germanien mit drei Legionen und ebenso vielen Reiterabteilungen sowie sechs Kohorten gefallen war. Dieser Verlust war eine der größten Niederlagen, die das Römische Reich je erlitt; ernsthafte Expansionsbestrebungen nach Germanien wurden in den kommenden Jahrhunderten nicht mehr unternommen. In Rom herrschte drei Tage Staatstrauer, und Tiberius, der eben erst siegreich heimgekehrt war, verzichtete auf einen Triumph.
Nach der schmachvollen Niederlage des Varus wurde Tiberius aufgrund seiner großen militärischen Erfahrung in Germanien wieder mit dem imperium proconsulare ausgestattet. Im ersten Jahr seines militärischen Kommandos 10 n. Chr. sah er davon ab, den Rhein zu überqueren. Laut Sueton handelte Tiberius mit äußerster Vorsicht und Zurückhaltung und nur in Absprache mit seinem Beraterkreis, wodurch angedeutet sein mag, dass Tiberius bereits anfänglich nicht eine Rückeroberung des Raumes zwischen Elbe und Rhein plante, sondern sich auf Strafexpeditionen beschränken wollte. Bezüglich anschließender militärischer Erfolge sind die Quellendarstellungen widersprüchlich. Velleius Paterculus, der allgemein die Leistungen des Tiberius verherrlicht, berichtet, dass Tiberius den Rhein überschritt und erfolgreich bis tief in das Landesinnere vordrang, um germanische Siedlungen zu brandschatzen und Felder zu verwüsten. Nach Cassius Dio, der sein Geschichtswerk Anfang des 3. Jahrhunderts abfasste, kam es zu keinen nennenswerten militärischen Auseinandersetzungen. Archäologische Untersuchungen haben bislang keine Spuren von Militärwegen oder Anzeichen von Holzkohleschichten nachweisen können, die man bei einem großflächigen Abbrennen von Siedlungen erwarten würde.
Anfang 13 n. Chr. kehrte Tiberius nach Rom zurück und hielt den verschobenen Triumph für die Niederschlagung des Pannonischen Aufstands ab. Seine Amtsgewalten, die tribunicia potestas und das imperium proconsulare maius, wurden auf weitere zehn Jahre verlängert. Als Augustus am 19. August 14 starb, hatte Tiberius somit alle Rechte inne, auf denen der Prinzipat beruhte.
Der Prinzipat des Tiberius
Regierungsantritt
Mit dem Tod des Augustus war der 55 Jahre alte Tiberius praktisch zum Nachfolger designiert. Auch seine militärischen Erfahrungen ließen ihn konkurrenzlos erscheinen. Am 18. September 14 n. Chr. ließ er den Senat einberufen, um die Leichenfeier und die Divinisierung für Augustus beschließen zu lassen. In dieser Senatssitzung wurde das private Testament des Augustus eröffnet. Tiberius und Livia waren als Haupterben eingesetzt, wobei Tiberius zwei Drittel und Livia ein Drittel der Erbschaft erhielten. Durch das Testament wurde Livia adoptiert und zur Iulia Augusta erhoben. Livia, die bereits unter Augustus öffentlich als Teilhaberin am Prinzipat aufgetreten war und in der offiziellen Propaganda – etwa auf Münzen – als solche dargestellt wurde, konnte somit in ihrer neuen Stellung als Kaisermutter höchsten Einfluss ausüben. Bis zu ihrem Tod im Jahr 29 gelang es ihr in dieser Rolle, die zunehmenden Anfeindungen innerhalb der Kaiserfamilie, besonders angesichts der Nachfolgefrage, zu kontrollieren. Allerdings bestand ein Konkurrenzverhältnis zwischen der herrschsüchtigen Mutter und dem Sohn.
Trotz des eindeutigen Testaments des Augustus wartete Tiberius demonstrativ das ausdrückliche Ersuchen des Senats ab, die Kaiserwürde anzunehmen. Diese zögernde Haltung (recusatio imperii) kann damit erklärt werden, dass Tiberius allgemein als zurückhaltender Mensch galt; wahrscheinlicher ist jedoch, dass er bewusst den Rückhalt und die verbindliche Festlegung des Senats auf seine Person suchte, um als ehemals umstrittener Nachfolgekandidat seine Position zu stärken. Eine solche eher taktisch motivierte Zurückhaltung spiegelt sich auch darin, dass Tiberius in späteren Jahren häufig Rücktrittsgedanken äußerte. Außerdem akzeptierte Tiberius zwar den Ehrenbeinamen Augustus, den an Augustus verliehenen Titel pater patriae lehnte er jedoch ab. Erst ab dem 10. März 15 bekleidete er das Amt des pontifex maximus. Da es sich um die historisch erste Übertragung der an Augustus persönlich verliehenen Amtsgewalten handelte, war es noch nicht endgültig entschieden, dass die Institution des Prinzipats eine dauerhafte werden sollte. Der Senat akzeptierte jedoch widerspruchslos die Amtsstellung des Kaisers und fügte sich zunehmend in dessen Autorität.
Unmittelbar zu Beginn der Kaiserherrschaft des Tiberius wurde Agrippa Postumus ermordet. Bereits in der Antike wurde spekuliert, ob Tiberius für die Ermordung verantwortlich war, ob Augustus angeordnet hatte, Agrippa Postumus nach seinem Tod beseitigen zu lassen, oder ob Livia die Herrschaft für ihren Sohn sichern wollte. Tacitus legt eine Mitschuld des Tiberius nahe. Tiberius bestritt jedoch die Verantwortung für den Mord. Noch 14 n. Chr. machte Tiberius dem kappadokischen König Archelaos, von dem er sich während der schwierigen Zeit in Rhodos nicht genug beachtet fühlte, den Prozess.
Meuterei der Legionen und Marserfeldzug
Unmittelbar nach Tiberius’ Herrschaftsantritt kam es zu einer Meuterei der in Pannonien und Germanien stationierten Legionen. Gründe für den Aufstand waren die Härte des Dienstes, die Länge der Dienstzeit und der geringe Sold. Diese Missstände gingen zurück auf die Politik des verstorbenen Augustus und dessen strenge Reaktionen auf den Pannonischen Aufstand und die Varusniederlage. Während Tiberius’ Sohn Drusus die Lage in Pannonien ohne größere Komplikationen beruhigen konnte, hatte Germanicus zunächst große Mühe, die ihm in Germanien unterstellten Legionen wieder unter Kontrolle zu bringen, die ihn statt Tiberius zum neuen Princeps ausrufen wollten. Die Legio XIV Gemina verweigerte den Treueeid, und in einem Sommerlager schlossen sich die zusammengezogenen vier Legionen des niedergermanischen Heeres dem Beispiel an. Germanicus blieb Tiberius gegenüber loyal und weigerte sich, den auf einen Staatsstreich gerichteten Forderungen nachzukommen. Schließlich beendete er die Meuterei mit zahlreichen Zugeständnissen im Namen des Princeps, ohne sich jedoch zuvor bei Tiberius rückversichert zu haben. So sagte er beschleunigte Dienstentlassungen und Geldgeschenke an die Soldaten zu. Um ein mögliches Wiederaufleben der Meuterei zu verhindern und zugleich eine Strafexpedition für die Varusniederlage durchzuführen, initiierte er im Herbst des Jahres 14 einen Feldzug gegen die Marser. In diesem Feldzug erlitten seine Legionen nur geringe Verluste.
Tiberius reagierte ambivalent. Einerseits betrachtete er den Sieg über die Marser als Erfolg, denn es war Germanicus gelungen, das Heer zu disziplinieren. Andererseits lehnte er das eigenmächtige Vorgehen des Germanicus ab, zumal dessen neu gewonnener Ruhm die Position des Tiberius im Heer schwächte.
Abbruch der Expansion an Rhein und Donau
Unter Augustus und zu Beginn der Herrschaft des Tiberius wollte Rom die clades Variana korrigieren, zumindest aber die aufrührerischen Germanenstämme formell unterwerfen und die Deserteure bestrafen, allein schon zur Abschreckung künftiger Aufrührer. Diese Ziele wurden jedoch nicht erreicht. Die Römer hatten Glück, dass die anderen Fronten während dieser Zeit ruhig blieben, denn das römische Heer war nicht groß genug, um auf Dauer acht Legionen an der Germanenfront bereitzuhalten. Die Katastrophe des Varus, der im Jahr 13 v. Chr. zusammen mit Tiberius das Konsulat innegehabt hatte, und das von Germanicus im Jahre 14 vorgefundene Problem der Militärrevolten ließen Tiberius von der Grenzverschiebung in Richtung Weser und Elbe endgültig Abstand nehmen. Der illusionslose Germanienkenner Tiberius ging im Gegensatz zu Germanicus zu einer defensiven Grenzpolitik über, die die Germanen ihrem inneren Streit überließ und sich auf die Behauptung eines der Grenze vorgelagerten Gebietes beschränkte. Tiberius erkannte, dass Rom die germanische Arminius-Koalition allein schon aufgrund der logistischen und topographischen Gegebenheiten nicht ohne beträchtliche Mittelaufstockung besiegen konnte. Die römischen Truppen konnten sich bei einem Vormarsch nicht aus dem Lande ernähren, und der Landkriegsführung standen durch die weiten Wege und Transporte bei den kurzen Feldzugszeiten nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten und Risiken entgegen.
Tiberius gebot den zum Teil verlustreichen Unternehmungen des Germanicus in den Jahren 15 und 16 Einhalt und rief ihn nach Rom zurück. Er berief sich dabei angeblich auf den Rat des Augustus, das Reich in seinen gegenwärtigen Grenzen zu belassen (consilium coercendi intra terminos imperii). Die Historizität des consilium coercendi wird allerdings in der modernen Forschung angezweifelt, unter anderem, weil die offizielle Darstellung des Augustus gegenüber dem Senat in den Res gestae divi Augusti einen derart weiten Entscheidungsspielraum des Kaisers auszuschließen scheint. Auch ist unsicher, ob mit intra terminos die West- oder die Ostgrenze des Reichs gemeint sei und ob es sich im ersteren Fall um die Elbgrenze oder die Rheingrenze handele.
Tiberius bewilligte dem Germanicus einen aufwendigen Triumph über die Germanen, den dieser am 26. Mai 17 in Rom abhielt. Tiberius wollte damit einerseits Germanicus eine feierliche Anerkennung seiner Gesamtleistungen zuteilwerden lassen, andererseits den faktischen Abbruch der Offensive als außenpolitischen Erfolg darstellen. Paradoxerweise erwies gerade die Katastrophe der Varusschlacht die Beständigkeit der römischen Grenze am Rhein, um derentwillen die Eroberung Germaniens begonnen worden war. Durch die Abberufung des Germanicus (16 n. Chr.) setzte sich die neue außenpolitische Linie des Tiberius durch, die in der Tabula Siarensis (19 n. Chr.) ihren Niederschlag finden sollte: Befriedung Galliens, Vergeltung für die Varusniederlage, Rückgewinnung der Feldzeichen, jedoch nicht mehr die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien. Diese Politik fand mit dem Tod des Tiberius (37 n. Chr.) ihr Ende, sein Nachfolger Caligula unternahm wieder (erfolglose) Expeditionen in das germanische Kerngebiet.
Orientreise und Tod des Germanicus
Nach seinem Triumph reiste Germanicus im Auftrag des Tiberius in den Osten des Reiches, um die politischen Verhältnisse aus römischer Sicht zu ordnen. Kappadokien wurde zur römischen Provinz. Germanicus erhielt ein spezielles imperium, das zwar über dem aller anderen Prokonsuln stand, aber unter dem des Tiberius. Über Griechenland und Kleinasien gelangte er nach Syrien, von dort nach Ägypten, zum großen Missfallen des Tiberius, da es keinem Senator erlaubt war, die für die Getreideversorgung Roms wichtige Provinz Aegyptus zu betreten, die als persönliches Eigentum des Kaisers betrachtet wurde. Nach der Rückkehr nach Syrien erkrankte Germanicus in Antiochia und starb dort im Jahr 19. Schnell kamen zahlreiche Gerüchte auf, wie es zum Tod des Germanicus gekommen sei.
Aufgrund eines Konkurrenzverhältnisses zu Germanicus wurde insbesondere der Statthalter der Provinz Syria, Gnaeus Calpurnius Piso, beschuldigt, Germanicus vergiftet zu haben. Giftmordanklagen waren im kaiserzeitlichen Rom häufig und wegen der eingeschränkten Untersuchungsmethoden letztlich nicht nachweisbar. Sentius Saturninus beschuldigte Martina, eine Freundin der Gattin des Piso, des Giftmordes an Germanicus. Aufgrund der Entsendung des Germanicus und der Ernennung Pisos vermutete man in Rom ein Komplott, da vor allem Tiberius und Livia daran interessiert gewesen seien, den populären Germanicus zu beseitigen, um Tiberius’ Sohn Drusus die Nachfolge zu sichern. Tiberius verhielt sich zuerst zurückhaltend, worauf seine Kritiker Gerüchte verbreiteten, er habe die Nachricht über den Tod des Germanicus innerlich mit Freude und Genugtuung aufgenommen. Deshalb ließ Tiberius eine Erklärung veröffentlichen, in der er erläuterte, dass viele erlauchte Römer für den Staat gestorben seien; diese seien sterblich, ewig sei nur das Gemeinwesen (principes mortales – rem publicam aeternam). Jedoch ließen die Gerüchte und Forderungen nach Bestrafung des Schuldigen nicht nach, vor allem, weil die als „Giftmischerin“ beschuldigte Martina auf ihrem Weg von Syrien nach Rom in Brundisium selbst an Gift gestorben war und in ihrem Haar verstecktes Gift gefunden wurde.
Angesichts dieser Indizien, auch mit Blick auf die Gerüchte um sein eigenes mutmaßliches Motiv (sein Sohn Drusus war mit Germanicus’ Tod unangefochtener Nachfolger geworden), sah sich Tiberius schließlich veranlasst, Anklage gegen Piso zu erheben. Tiberius forderte in diesem Prozess die Senatoren auf, unparteiisch zu sein. Piso fand jedoch weder vor dem Senat noch bei seinen engsten Freunden Rückhalt und wurde noch vor Prozessende tot aufgefunden. Die Umstände sind unklar. Die früher nur literarisch bekannten Einzelheiten des Prozesses sind durch einen Inschriftenfund um 1990 ergänzt worden. Die in Spanien gefundene Inschriftentafel enthält einen Senatsbeschluss im Anschluss an den Piso-Prozess. Der Giftmordvorwurf ist im Senatsbeschluss angedeutet; der offizielle Vorwurf gegen Piso war allerdings bewaffneter Aufruhr. Die Berufung des Tiberius auf sein Gerechtigkeitsempfinden (aequitas) ist deutlich hervorgehoben. Kopien des Senatsbeschlusses wurden in allen Legionslagern und Provinzhauptstädten des Reiches aufgestellt.
Rom und Italien
Tiberius bemühte sich zu Beginn seiner Regierung um Legitimation und ein gutes Verhältnis zu Senat und Ritterstand, dessen Privilegien (Tragen des Goldringes, bevorzugte Sitze bei Spielen) bewahrt blieben. Er übertrug dem Senat das Wahlrecht von Amtsträgern, das bis dahin nominell von der stadtrömischen Bürgerschaft ausgeübt worden, unter Augustus aber faktisch ein Privileg des Kaisers geworden war. Auch vermied es Tiberius, lediglich den Senatsausschuss zu befassen, mit dem Augustus vorher anstelle des gesamten Gremiums verhandelt hatte. Der Versuch, stattdessen dem Senatsplenum größere Entscheidungsmöglichkeiten einzuräumen, scheiterte jedoch am Ungleichgewicht der Macht und am Kampf der verschiedenen Gruppen um Einfluss, vor allem in der Frage der Nachfolge. Es bildeten sich Parteiungen gegenüber einzelnen Mitgliedern der Kaiserfamilie oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten, wie Seianus, heraus, die zu gegenseitigen Unterstellungen und Anfeindungen führten. Bereits im Jahr 16 wurde Libo Drusus, ein Urenkel des Pompeius, einer Verschwörung gegen die Kaiserfamilie verdächtigt und zum Selbstmord gezwungen. Im selben Jahr ließ Tiberius den Sklaven Clemens, der sich für Agrippa Postumus ausgegeben und in Italien eine beachtliche Schar Anhänger um sich gesammelt hatte, beseitigen.
Tiberius setzte den konservativen Kurs des Augustus in der Religionspolitik fort. Magier und Astrologen ließ er im Jahr 16 aus Italien ausweisen, obwohl er selbst Astrologie praktiziert haben soll und bei Entscheidungen häufig den Rat des Philosophen und Astrologen Thrasyllos einholte, mit dem er befreundet war. Des Weiteren ging Tiberius im Jahr 19 scharf gegen den Isiskult und das Judentum vor, nachdem es zu angeblich religionsbedingten Unruhen und Störungen der öffentlichen Ordnung gekommen war. 4.000 jüdische Freigelassene wurden nach Sardinien gebracht, um dort gegen sardische Räuber militärisch eingesetzt zu werden. Die restlichen Juden wurden gezwungen, ihrem Glauben abzuschwören oder Italien zu verlassen. Jedoch gelang es Tiberius nicht, den jüdischen Glauben in Rom und Italien langfristig zu unterbinden.
Provinzen und Klientelstaaten
Tiberius war in der Verwaltung des Reiches erfolgreich. Er setzte den von Augustus am Ende seiner Herrschaft eingeschlagenen konservativen, auf die Bewahrung des Bestehenden ausgerichteten Kurs fort. Tiberius berief sich ebenso wie Augustus auf die Herrschertugenden virtus, clementia, iustitia und pietas („Exzellenz“, „Milde“, „Gerechtigkeit“ und „Ehrerbietung“). Jedoch war die Propaganda in Inschriften und auf Münzen zusätzlich durch Schlagwörter wie salus und moderatio („Wohlergehen“ und „Zurückhaltung“) gekennzeichnet, die als Leitbilder seiner Regierung moderne Verwaltungsziele widerspiegeln, etwa eine ausgewogene, dezentrale Wirtschaftspolitik.
Statthalter wurden weit über die übliche einjährige Amtszeit hinaus auf ihren jeweiligen Posten belassen, wodurch eine größere Kontinuität in der Provinzverwaltung erreicht wurde. So war beispielsweise Lucius Aelius Lamia neun Jahre lang Statthalter von Syrien. Er verwaltete dabei die Provinz von Rom aus.
Neben dem im Jahr 17 annektierten Kappadokien wurde Kommagene vorübergehend zur römischen Provinz, bis sie unter Vespasian endgültig in das Imperium eingegliedert wurde. Außerdem sorgte seit demselben Jahr der Numider Tacfarinas, der aus einer römischen Hilfstruppe desertiert war, für Aufruhr im afrikanischen Teil des römischen Reichs. Er wurde zwar von römischen Truppen im offenen Kampf geschlagen, jedoch erholten sich die Aufständischen wieder und führten fortan verheerende Kleinkriege gegen die römische Besatzungsmacht. Forderungen und Verhandlungen unter der Führung des Tacfarinas nach Land für sich und sein Heer lehnte Tiberius ab. Stattdessen schickte er eine weitere Legion, die Legio IX Hispana, mit dem Befehl nach Afrika, Tacfarinas zu vernichten. Erst sieben Jahre nach ihrem Beginn konnten die von Tacfarinas angeführten Revolten unter Publius Cornelius Dolabella endgültig niedergeschlagen werden. Tacfarinas fiel im Kampf, sein Sohn geriet in Gefangenschaft.
Die Lebensmittelversorgung, die Steuerbelastungen sowie die Arroganz und Grausamkeit der römischen Statthalter sorgten in Gallien für Unruhen, die zum Aufstand des Häduers Iulius Sacrovir und des Treverers Iulius Florus im Jahre 21 führten. Dieser Aufstand wurde jedoch in kürzester Zeit niedergeschlagen. In den Jahren 22 bis 25 wurden rebellische thrakische Stämme mit Erfolg bekämpft. Bemerkenswert ist die militärstrategische Zurückhaltung des Tiberius, denn mit Ausnahme der Feldzüge gegen Aufständische gab es keinerlei große Militäraktionen während seiner Herrschaft.
In Armenien, wo sich römische und parthische Interessen kreuzten, wurde mit Artaxias III. um das Jahr 18 ein neuer König eingesetzt. Rom wollte die Parther in einer ständigen Bedrohungssituation belassen, um ihnen den Anreiz eines Einfalles in Kleinasien, Syrien oder Palästina zu nehmen, was bis zum Tod des Artaxias im Jahre 34 oder 35 gelang. Erst in der sich anschließenden Nachfolgefrage sollte der Partherkönig Artabanos II. seinen Sohn Arsaces auf den armenischen Thron setzen und Gebietsabtretungen der Römer in Kleinasien fordern. Durch das diplomatische Eingreifen des Lucius Vitellius, Statthalter von Syrien, konnte ein Gebietsverlust jedoch abgewendet werden. Lucius Vitellius griff in den Jahren 35/36 auch in die parthischen Thronwirren ein und konnte Tiridates III. vorübergehend als König der Parther einsetzen.
Haushalts- und Finanzpolitik
Die Haushaltspolitik des Tiberius war durch ein rigoroses Sparprogramm geprägt, in dem keine größeren Bauprojekte vorgesehen waren. Einige wenige Ausnahmen waren Tempel, die zur Demonstration der pietas dienten, sowie der Bau von Straßen für militärische Zwecke in Nordafrika, Spanien, Gallien, Dalmatien und Moesien.
Tiberius’ Sparsamkeit und seine Abkehr vom Luxus hatten sich bereits in dem gegen Kleidungsluxus gerichteten Senatsbeschluss des Jahres 16 gezeigt, der das Tragen von durchsichtigen Seidengewändern verbot, sowie in einem Gesetz aus dem Jahre 22, das sich gegen den Tafelluxus richtete. Tiberius sah davon ab, seine Popularität durch aufwändige Spiele zu erhöhen, und zeigte sich allgemein bei Spielen gegenüber der stadtrömischen Bürgerschaft desinteressiert.
Allerdings war er bei großen Notlagen so spendabel wie kaum ein Politiker vor ihm. Bei den Großbränden in der Stadt Rom in den Jahren 27 und 36 und bei einer Tiberüberschwemmung, die ebenfalls im Jahre 36 eintrat, sowie bei Getreideteuerungen spendete Tiberius Millionen von Sesterzen. Seine Großzügigkeit in Notsituationen bekamen auch die Provinzen zu spüren: Als ein Erdbeben 17 n. Chr. zwölf asiatische Städte vernichtete, darunter Sardes, spendete er zehn Millionen Sesterzen und gewährte einen fünfjährigen Steuererlass. Diese Fürsorge des Tiberius wurde in der Münzprägung civitatibus Asiae restitutis („für den Wiederaufbau der Städte Asiens“) proklamiert.
Von seinem Alterssitz auf Capri aus griff Tiberius im Jahr 33 in eine Finanzkrise in Rom ein, die vor dem Hintergrund seiner restriktiven Geldpolitik durch illegale Zinserhöhung der Geldverleiher ausgelöst worden war, die zugleich immer weniger Kredite gewährten. Da der Senat die Finanzkrise nicht mit eigenen Mitteln bewältigen konnte, stellte Tiberius Kreditvermittlern 100 Millionen Sesterzen zur Vergabe von zinslosen Krediten auf drei Jahre zur Verfügung, mit der Bedingung, dass ihre Schuldner dem römischen Staat Grundstücke von doppeltem Wert als Sicherheiten überschreiben mussten. Die Finanzkrise konnte so behoben werden.
Aufgrund des rigorosen Sparkurses von Tiberius fand sein Nachfolger Caligula 2,7 Milliarden Sesterzen in der Staatskasse vor, die dieser allerdings schnell verschwendete. Tiberius konnte auch daraus finanziellen Gewinn ziehen, dass wegen Majestätsverbrechen verurteilte Senatoren ihr Erbe an den Kaiser abtreten mussten.
Majestätsprozesse
Die unter Augustus noch seltenen Anklagen wegen Majestätsbeleidigung nahmen merklich zu. Auf Grundlage der noch von Augustus eingeführten lex Iulia de maiestate konnten nicht nur Lebensbedrohungen, sondern auch Schmähungen der Person des Princeps bestraft werden. In den Jahren 14–20 hatte Tiberius sich zunächst noch entschieden gegen die Verfolgung solcher Schmähungen gewandt.
Die ersten von Tiberius gebilligten Prozesse wurden vermutlich maßgeblich vom Senat initiiert, dem ein Teil des Gerichtswesens institutionell unterlag. Seit dem Jahr 24 wurden Majestätsprozesse häufiger eingeleitet, obwohl Tiberius das Majestätsgesetz nicht verschärfte. Insgesamt gab es unter seiner Herrschaft etwa 60 Majestätsprozesse. Ihre Anzahl hatte deshalb so sprunghaft zugenommen, weil der unbestimmte Rechtsbegriff der laesa maiestas so weit ausgelegt wurde, dass schon das Mitsichführen einer Kaisermünze auf dem sanitären Abtritt oder im Bordell Gegenstand einer Anklage werden konnte. Wahrscheinlich handelte es sich dabei eher um einen von vielen Anklagepunkten in einer Reihe von jeweils zur Last gelegten Vergehen. Besonders dissidente literarische Anspielungen konnten strengstens bestraft werden. So war der Historiker Cremutius Cordus gezwungen, sich durch Nahrungsverweigerung das Leben zu nehmen, da man ihm vorwarf, in seinem Geschichtswerk vorteilhaft auf die Caesarmörder Brutus und Cassius eingegangen zu sein. Brutus hatte er gelobt, Cassius soll er den „letzten Römer“ genannt haben. Die meisten Exemplare des Werks wurden auf Senatsbeschluss verbrannt, später wurde es aber wieder herausgegeben. Nachdem sich Gaius Asinius Gallus, der Ehemann von Tiberius’ erster Frau Vipsania Agrippina, nach dem Sturz von Agrippina der Älteren Seianus zugewandt hatte, wurde er im Jahr 30 inhaftiert und nach drei Jahren ebenfalls durch Nahrungsentzug getötet.
Tacitus beschreibt die Majestätsprozesse als willkürliches Handeln eines Tyrannen, und diese Deutung ist vor allem in der älteren Forschung weitgehend übernommen worden. Die neuere Forschung dagegen hat sie zunehmend relativiert, da die Darstellung des Tacitus einseitig die institutionelle Verantwortung des Princeps betone und mit Rücksicht auf sein senatorisches Publikum das interne Ränkespiel senatorischer Familien herunterspiele. Es bildete sich erstmals das Phänomen senatorischen Denunziantentums heraus, das die Beziehung von Kaiser und Senat bis zum Ende des 1. Jahrhunderts erheblich belasten sollte. Die kurz zuvor von Augustus geschaffene Stellung des Princeps war institutionell noch nicht so weit gefestigt, dass Tiberius eine repressive Politik gänzlich ohne Unterstützung zumindest eines Teils des Senates hätte durchsetzen können. Erst die spätere Unterwürfigkeit des Senats ermöglichte die autokratische Gewaltherrschaft eines Caligula, Nero oder Domitian.
Aufstieg und Fall des Seianus
Anlässlich des frühen Todes des Germanicus, des designierten Nachfolgers von Tiberius, im Jahr 19 stellte sich erneut die Nachfolgefrage. Das Verhältnis zwischen Tiberius und Germanicus’ Witwe Agrippina der Älteren war gespannt, da sie als Enkelin des Augustus ihre Söhne als potenzielle Nachfolger des Tiberius sah.
In dieser Zeit begann der Einfluss des Prätorianerpräfekten Lucius Aelius Seianus zu wachsen. Er baute die von ihm kommandierte Prätorianergarde zu einem persönlichen Machtfaktor aus, indem er sie in einem einzigen Lager, den Castra praetoria, auf dem Viminal vor der Stadtmauer stationierte. Tacitus zufolge vertraute Tiberius Seianus blind, seitdem dieser sich beim Einsturz einer Höhle schützend über Tiberius geworfen hatte. Das Seianus-Bild bei Tacitus ist allerdings, wie bei Sueton, äußerst negativ und steht damit im Gegensatz zu der positiven Charakterisierung des Seianus durch seinen Zeitgenossen Velleius Paterculus, der 30 n. Chr. schrieb.
Seianus plante vermutlich, durch systematische Ausschaltung der natürlichen Erben des Tiberius und Einheirat in dessen Familie selbst Nachfolger des Princeps Tiberius zu werden. Angeblich verleitete er Livilla, die Frau von Tiberius’ Sohn Drusus, zum Ehebruch. Im Jahr 23 starb der Thronfolger Drusus an einer Krankheit, wie man allgemein annahm. Im Jahr 31 sagte Apicata, die verstoßene Ehefrau des Seianus, aus, dass dieser Drusus habe vergiften lassen, indem er sich den Lieblingseunuchen des Drusus, Eudamus, hörig machte und mit der Verabreichung des Giftes beauftragte, wie auch einige zeitgenössische Autoren berichteten. Apicata wurde allerdings bei dieser Aussage stark unter Druck gesetzt, da sie nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihrer Kinder fürchten musste. In der Forschung wird die Beteiligung des Seianus am Tod des Drusus sowie gelegentlich auch das Verhältnis zu Livilla bezweifelt.
Seianus versuchte im Jahr 25, Livilla zu heiraten, wodurch er Mitglied der kaiserlichen Familie geworden wäre. Tiberius lehnte die Heirat jedoch mit Rücksicht auf Vorbehalte in der Kaiserfamilie ab, die eine Verschwägerung mit dem aus dem Ritterstand stammenden Seianus als unstandesgemäß empfand.
Nachdem seine Heiratspläne vereitelt worden waren, stellte Seianus Tiberius in öffentlichen Reden die Vorteile des ländlichen Lebens außerhalb der Hauptstadt vor Augen. Dem Princeps war die Anwesenheit in Rom mit ihren Intrigen und Streitereien zwischen seinen Familienangehörigen zuwider, vor allem die problematischen Beziehungen zu seiner Mutter Livia und zu Agrippina, der Witwe des Germanicus. Hinzu kamen Angst um seine persönliche Sicherheit und menschenscheues Verhalten. Bereits seit dem Jahr 22 hatte er sich wiederholt in Kampanien aufgehalten und Drusus die tribunicia potestas verliehen. Seianus hatte ein entschiedenes Interesse am Rückzug des Kaisers, da er dadurch – praktisch in Stellvertreterfunktion – die Übernahme der Macht vorbereiten konnte. Im Jahr 26 zog sich Tiberius tatsächlich auf die abgelegene Insel Capri zurück. Seianus kontrollierte von nun an den Zugang zu Tiberius, da seine Prätorianer verantwortlich für die Übermittlung der kaiserlichen Korrespondenz waren.
Seianus brachte schließlich seinen Anspruch auf die Thronfolge offen zum Ausdruck, indem er seinen Geburtstag zum römischen Feiertag erklären und sich öffentlich durch Aufstellen von Statuen mit seinem Konterfei ehren ließ. Dadurch stellte er den Kult um seine Person dem des Kaisers gleich.
Durchaus in Übereinstimmung mit den Interessen des Tiberius war Seianus wahrscheinlich an Intrigen gegen Agrippina und ihre Parteigänger entscheidend beteiligt. Angeblich ließ er ihren ältesten Sohn und Nachfolgekandidaten Nero Caesar bespitzeln und durch Mittelsmänner zu unbedachten Äußerungen gegen Tiberius verleiten. Als Folge wurden Nero und Agrippina im Jahre 29 auf die Insel Pandataria verbannt, wo beide in den Tod gedrängt wurden. Ihr zweiter Sohn Drusus Caesar verhungerte ein Jahr später im Kerker. Einige Forscher sehen jedoch die Beteiligung des Seianus an den nicht genau bekannten Vorwürfen gegen die Familie des Germanicus als allenfalls gering an.
Antonia die Jüngere, die Witwe von Tiberius’ Bruder Drusus, denunzierte schließlich Seianus bei Tiberius mit dem Vorwurf, dieser wolle Gaius, den späteren Kaiser Caligula, beseitigen lassen, um sich als einzigen Nachfolger zu positionieren. Als Reaktion ließ Tiberius im Jahr 31 von Capri aus einen Brief an den Senat schicken, wobei er Seianus, der unlängst zum Consul ernannt worden war, in den Glauben setzte, dass dieser Brief die Übertragung der Amtsgewalten an dessen Person enthielt. Der in Anwesenheit des Seianus verlesene Brief begann mit dessen Verdiensten, endete aber mit Vorwürfen und der Verurteilung des Seianus. Seianus wurde verhaftet und zusammen mit seinen Kindern durch Strangulierung hingerichtet. Sein Leichnam wurde auf die Gemonische Treppe geworfen, dort vom Mob zerstückelt und anschließend an einem Haken zum Tiber geschleift, da nach altrömischer Jenseitsvorstellung den im Meer treibenden Toten der Zugang zur Unterwelt verwehrt war. Es ist unklar, ob Seianus tatsächlich die Ermordung Caligulas plante oder einer Hofintrige bzw. seinen eigenen Machtansprüchen, die ihm Neid und Missgunst einbrachten, zum Opfer fiel. In den Jahren 31 bis 37 wurden zahlreiche Senatoren und Ritter unter dem Verdacht, die Pläne des Seianus unterstützt zu haben, hingerichtet oder zum Selbstmord gezwungen. Tacitus beschreibt im sechsten Buch der Annalen eine Atmosphäre voller Terror und Intrigen, bei der es unklar gewesen sei, „ob es bejammernswerter sei, der Freundschaft wegen angeklagt zu werden oder den Freund selbst anzuklagen“.
Nachfolger des Seianus als Prätorianerpräfekt wurde Quintus Naevius Sutorius Macro.
Die letzten Jahre
Alterssitz auf Capri
Die antiken Historiographen (Cassius Dio, Sueton und Tacitus) stellten den Kaiser in seinen letzten Lebensjahren als unansehnlichen, durch Hautgeschwüre entstellten Lustgreis dar, der sich auf Capri pädophilen und sadistischen Neigungen hingebe und die Öffentlichkeit scheue. Insbesondere der Kaiserbiograph Sueton charakterisierte Tiberius in dieser Hinsicht sehr ausführlich, bediente allerdings damit die Erwartung eines senatorischen Publikums im frühen 2. Jahrhundert. So soll Tiberius männliche Minderjährige in den kaiserlichen Thermalbecken zu homosexueller Unterwasser-Fellatio missbraucht und in diesem Zusammenhang seine „Fischlein“ genannt haben. Angeblich wurde auch der spätere Kaiser Vitellius von Tiberius hierzu sexuell missbraucht.
Die moderne Forschung löst sich von diesen tendenziell stereotypen Überlieferungsformen, die sich dadurch begründen lassen, dass zum Ende der Regierungszeit des Tiberius erstmals die politische Ohnmacht und der Autoritätsverlust des Senats vor Augen traten. Dies äußerte sich in den andauernden Majestätsprozessen und in der mangelnden Möglichkeit, auf Entscheidungen im fernen Capri Einfluss zu nehmen. Nach antikem Verständnis war es üblich, in biographischen Abhandlungen die allgemeine politische Richtung eines Kaisers mit dessen charakterlichen Anlagen und Privatinteressen in engen, teils fiktiven Zusammenhang zu bringen. Die Residenz des Tiberius auf Capri, die Villa Jovis, ist als Ruine erhalten. Sie war grundsätzlich darauf ausgelegt, Regierungsgeschäfte zu erledigen, wurde aber von keinem späteren Kaiser mehr bewohnt.
Tod in Misenum, Beisetzung in Rom
Als Tiberius am 16. März 37 in Misenum am Golf von Neapel im Alter von 77 Jahren starb, hatte er sich nicht nur beim Senat unbeliebt gemacht, sondern auch bei der stadtrömischen Bürgerschaft, die seinen Leichnam wie den eines Verbrechers in den Tiber werfen (Tiberium in Tiberim) oder im Theater von Atella anrösten wollte. Die Anfeindungen in der Bevölkerung resultierten aus den zahlreichen Hinrichtungen der letzten Regierungsjahre, denen jährlich mehrere hundert Bürger der Hauptstadt zum Opfer fielen. Ihre Leichname wurden zur Abschreckung auf den Gemonischen Treppen ausgestellt. In der öffentlichen Darstellung wurde diese Politik mit notwendiger Verbrechensbekämpfung und erforderlicher Eindämmung unsittlichen Verhaltens begründet.
Tiberius’ Leichnam wurde nach Rom eskortiert und öffentlich verbrannt. Seine Asche wurde im Augustusmausoleum beigesetzt. Eine Divinisierung erfolgte zunächst nicht. Allerdings wurde Tiberius in der Lex de imperio Vespasiani des Jahres 69 zu den Kaisern gezählt, deren Regierungsbeschlüsse noch gültig waren. Der vollständige Name des Tiberius zum Zeitpunkt seines Todes lautete gewöhnlich Tiberius Caesar Divi Augusti filius Augustus, Pontifex maximus, Tribunicia potestate XXXVIII, Imperator VIII, Consul V („Tiberius Caesar Augustus, Sohn des vergöttlichten Augustus, höchster Priester, im 38. Jahr Inhaber der tribunizischen Vollmacht, achtmal zum Imperator ausgerufen, fünfmaliger Konsul“).
Gerüchte um den Nachfolger
Nach dem Tod des Germanicus, den bereits Augustus als Nachfolger des Tiberius designiert hatte, soll Tiberius in der Nachfolgeregelung unschlüssig gewesen sein. Einen Nachfolger außerhalb seiner Familie zu suchen, wagte Tiberius nicht, um das mit der Autorität des Augustus verbundene dynastische Prinzip nicht zu verletzen. Der Bruder des Germanicus, Claudius, galt als aussichtsloser Kandidat, da er gemäß den Überlieferungen an diversen physischen Gebrechen litt. Es blieben daher nur Germanicus’ Sohn Gaius, der spätere Kaiser Caligula, oder Tiberius Gemellus, Enkel des Tiberius, als Kandidaten übrig. Im Jahr 31 ließ Tiberius Gaius zu sich nach Capri kommen. Dort gelang es Gaius offenbar, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen. Sueton gibt an, dass dieses Vertrauensverhältnis auf dem gemeinsamen Interesse an Folterungen und sexuellen Ausschweifungen beruht habe. Tiberius soll zu Gaius gesagt haben: „Du wirst diesen [Gemellus] ermorden, dich ein anderer.“ Tatsächlich ließ Caligula, kurz nachdem er Kaiser geworden war, Tiberius Gemellus Ende des Jahres 37 oder Anfang des Jahres 38 töten, weil dieser verdächtigt wurde, eine schwere Krankheit Caligulas ausgenutzt zu haben, um sich gegen ihn zu verschwören. Möglicherweise wurde Tiberius selbst auch von Gaius umgebracht, wobei die Quellenaussagen nicht eindeutig sind und ungeklärte Todesfälle von Herrschern oft unbestätigte Mordgerüchte nach sich zogen. Es wurde auch spekuliert, dass der Prätorianerpräfekt Macro den Tod des Tiberius herbeigeführt habe.
Wirkung
Kreuzigungsgeschehen
Zu Ehren des Kaisers erhielt die Stadt Tiberias an der Westküste des See Genezareth damals vom Tetrarchen Herodes Antipas ihren Namen. Während Tiberius’ Regierungszeit wirkte in der Region Jesus von Nazaret. In dessen Predigten und Gleichnissen gibt es mehrfach Bezüge zu Caesar (bzw. dem Kaiser in einigen Übersetzungen), ohne jedoch den Namen Tiberius zu erwähnen, wie wahrscheinlich im Falle der Steuermünze in den Evangelien nach Matthäus und nach Markus . Im Neuen Testament wird Tiberius nur einmal namentlich erwähnt, im Evangelium nach Lukas im Rahmen des sogenannten lukanischen Datums, das auf das Jahr 28 hinweist und als einziges eine sichere Datierung der neutestamentlichen Ereignisse erlaubt:
In der Ära des Tiberius löste die Kreuzigung Jesu (wahrscheinlich im Jahr 30), der von Pontius Pilatus als Aufrührer hingerichtet wurde, weder besondere Aufmerksamkeit in Rom noch irgendeinen größeren Aufstand aus. Judäa galt damals als relativ ruhige Region. Der christliche Historiker Eusebius von Caesarea behauptete dreihundert Jahre später, dass der Senat die Anerkennung des Christengottes seitens des römischen Staates formal abgelehnt, Tiberius selbst allerdings keine Verfolgungen gegen Christen in Erwägung gezogen habe, was die Verbreitung des Frühchristentums begünstigt habe. Diese Aussage ist jedoch zweifellos anachronistisch, da das Christentum zur Zeit von Tiberius noch eine Sekte innerhalb des Judentums war und der jüdische Gott von Rom damals bereits anerkannt wurde.
Auch Tacitus erwähnt in seiner Schilderung von Tiberius’ Herrschaft in den ersten sechs, zum großen Teil erhaltenen Büchern der Annalen Jesus mit keinem Wort. Die Kreuzigung wird bei ihm nur nebenbei erwähnt, als er sich zur Hinrichtung von Christen in Rom unter Kaiser Nero äußert:
Rezeption
Tiberius war – verglichen etwa mit den Herrschern Caesar oder Nero – nur relativ selten Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Gerhart Hauptmann schrieb 1884 in Rom das Drama Das Erbe des Tiberius, Julius Grosse verfasste 1876 ein Drama namens Tiberius. Zahlreiche historische Romane befassen sich seit Franz Horn mit dem zweiten Kaiser, wenn auch in vielen Fällen nur als Nebenfigur wie im Roman Ich, Claudius, Kaiser und Gott (1934) von Robert von Ranke-Graves, der auch als TV-Serie verfilmt wurde.
Da das Kreuzigungsgeschehen in seine Regierungszeit fällt, wird Tiberius vor allem in belletristischen Werken und Monumentalfilmen mit neutestamentlichen Bezügen wie etwa Das Gewand oder Ben Hur (Triumphszene, Begnadigung von Ben Hur) beiläufig dargestellt. In Tinto Brass’ berüchtigtem Caligula (1979) nach einem Drehbuch von Gore Vidal wurde Tiberius von Peter O’Toole als grausamer Lustgreis dargestellt. Ähnlich zeichnete Anthony Burgess den Kaiser in seinem Roman The Kingdom of the Wicked, der als TV-Mini-Serie unter dem Titel Anno Domini (1984) verfilmt wurde.
Unter den literarischen Bearbeitungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Romane von Josef Toman (1963) und Hubertus Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg aus dem Jahr 1977 zu nennen. Einen belletristischen Rehabilitierungsversuch unternahm Gerhard Prause (1966).
Der spanische Psychologe Gregorio Marañón beschäftigte sich 1939 mit der Erforschung der Persönlichkeit des Tiberius und analysierte eine mögliche Geisteskrankheit, das sogenannte Ressentiment-Syndrom, bei dem die Selbstwahrnehmung und der Eindruck, den die Personen tatsächlich in ihrer Umgebung hinterlassen, gestört seien. Eine solche gestörte Eigenwahrnehmung resultiere oft aus Misserfolgen.
Tiberius in der Forschung
Die antiken Historiographen Sueton, Cassius Dio und besonders Tacitus stellen Tiberius als lethargisch und tyrannisch dar. Die negative Charakterisierung des Tiberius war aber bereits in früheren, heute verlorenen Geschichtswerken erfolgt, auf die sich die genannten Autoren stützten. In der Forschung konnte durch Quellenanalysen bewiesen werden, dass Dio und Tacitus teils eine gemeinsame Quelle herangezogen haben, wenngleich keiner immer nur einer Quelle folgte. Jedoch findet Velleius Paterculus, der im Gegensatz zu den anderen Historiographen ein Zeitgenosse des Tiberius war, lobende Worte, die allerdings als panegyrische Verherrlichung des Tiberius ausgelegt werden müssen.
Radikale moderne Rehabilitierungsversuche bis hin zu der Vorstellung, in Tiberius eine starke Führungsperson zu sehen, sind den politischen Projektionen des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben. Die 1960 postum veröffentlichte Tiberius-Biographie von Ernst Kornemann gehört ebenfalls den energischen Rehabilitierungsversuchen an und stellt den Tod des Kaisers in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang zum Kreuzigungsgeschehen.
Die moderne Forschung bemüht sich um ein ausgewogeneres Urteil. Nach Zvi Yavetz sprechen gegen die Deutung des Tiberius als Tyrannen, dass er kein Usurpator war (denn die Legitimität seiner Herrschaft war durch die Adoption des Augustus unbestritten), keine göttliche Verehrung anstrebte und keine Eroberungskriege führte, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Yavetz nannte seine Tiberiusbiographie Der traurige Kaiser und deutete damit Tiberius auch psychologisch, indem er den Tiberius verliehenen inoffiziellen Beinamen tristissimus hominum („der Traurigste unter den Menschen“) sowie seine düstere und menschenscheue Persönlichkeit auf die problematischen Ereignisse in der Jugend des Tiberius zurückführte. Auch Michael Grant sah Tiberius für das Erbe des Prinzipats als charakterlich nicht hinreichend geeignet an.
Barbara Levick begründet das ungünstige Urteil der antiken Historiographie aus der Institutionalisierung des Prinzipats nach dem Tod des Augustus, den materiellen Interessen der Senatsaristokratie und der damit kontrastierenden Amtsmüdigkeit des Kaisers, der darin versagte, den Hofintrigen anders als durch Gewalt Einhalt zu gebieten, jedoch in der Provinzverwaltung eine glückliche Hand besaß. Robin Seager erklärt in ähnlicher Weise das Geschichtsbild aus einem gemeinsamen Versagen von Kaiser und Senat sowie aufgrund von Erzählmustern der antiken Historiographie, die eine in Phasen verlaufende Wandlung des Kaisers zum Scheusal beschreiben. David C. A. Shotter erkennt Schwächen in der Amtsführung des Tiberius, vor allem im Umgang mit dem Senat, weist ihm jedoch das Verdienst zu, nach Augustus das Reich dauerhaft in eine dynastische Monarchie umgeformt zu haben.
Quellen
Antike Quellen
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Band 3 (= Bücher 44–50) und 4 (= Bücher 51–60), Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3672-0 und ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung bei LacusCurtius; für Tiberius sind insbesondere die Bücher 57–58 relevant).
Velleius Paterculus: Römische Geschichte. Historia Romana. Übersetzt und lateinisch/deutsch herausgegeben von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-008566-0 (lateinischer Text mit englischer Übersetzung).
Sueton: Tiberius. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, (lateinischer Text, englische Übersetzung).
Tacitus: Annalen. Lateinisch/deutsch herausgegeben von Erich Heller, 5. Aufl., Artemis & Winkler, München/Zürich 2005, ISBN 3-7608-1645-2, (lateinischer Text; die Bücher 1–6 behandeln die Zeit des Tiberius).
Quellensammlungen
Hans-Werner Goetz, Karl-Wilhelm Welwei: Altes Germanien. Auszüge aus antiken Quellen über die Germanen und ihre Beziehungen zum Römischen Reich. 2 Teile, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-05958-1.
Joachim Herrmann (Hrsg.): Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. Teil 1: Von Homer bis Plutarch (8. Jahrhundert v. u. Z. bis 1. Jahrhundert u. Z.). Berlin 1988, ISBN 3-05-000348-0; Teil 3: Von Tacitus bis Ausonius (2. bis 4 Jh. u. Z.). Berlin 1991, ISBN 3-05-000571-8.
Literatur
Biographien
Michael Grant: Roms Caesaren. Von Julius Caesar bis Domitian. Beck, München 1978, ISBN 3-406-04501-4.
Raban von Haehling: Tiberius. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4. aktualisierte Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 50–63.
Barbara Levick: Tiberius the Politician. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-21753-9 (zuerst 1976).
Gregorio Marañón: Tiberius. Geschichte eines Ressentiments. München 1952. (englische Originalausgabe: Tiberius. A Study in Resentment, London 1956)
Robin Seager: Tiberius. 2. Auflage. Blackwell, Malden/Massachusetts 2005, ISBN 1-4051-1529-7.
David C. A. Shotter: Tiberius Caesar. 2. Auflage. Routledge, London 2004, ISBN 0-415-31946-3 (Lancaster pamphlets in ancient history).
Holger Sonnabend: Tiberius. Kaiser ohne Volk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2021, ISBN 3-8053-5258-1.
Zvi Yavetz: Tiberius. Der traurige Kaiser. dtv, München 2002, ISBN 3-423-30833-8.
Über die Herrschaft des Tiberius
Manfred Baar: Das Bild des Kaisers Tiberius bei Tacitus, Sueton und Cassius Dio (= Beiträge zur Altertumskunde. Bd. 7). Teubner, Stuttgart 1990, ISBN 3-519-07456-7.
Maria H. Dettenhofer: Herrschaft und Widerstand im augusteischen Principat. Die Konkurrenz zwischen Res publica und domus Augusta (= Historia. Einzelschriften. Bd. 140). Steiner, Stuttgart 2000, ISBN 3-515-07639-5.
Glanville Downey: Tiberiana. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 2. De Gruyter, Berlin/New York 1975, ISBN 3-11-004971-6, S. 95–130.
Claudia Kuntze: Zur Darstellung des Kaisers Tiberius und seiner Zeit bei Velleius Paterculus (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Bd. 247). Lang, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-8204-7489-7.
Mehran A. Nickbakht: Tiberius’ Adoption durch Augustus: rei publicae causa?. In: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 1, 1998, S. 112–116 (PDF, 46 KB).
Ulrich Schmitzer: Velleius Paterculus und das Interesse an der Geschichte im Zeitalter des Tiberius (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Reihe 2, Neue Folge, Bd. 107). Winter, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-1033-7.
Paul Schrömbges: Tiberius und die Res Publica Romana. Untersuchungen zur Institutionalisierung des frühen römischen Principats. Habelt, Bonn 1986, ISBN 3-7749-2207-1.
Ronald Syme: History or Biography. The Case of Tiberius Caesar. In: Historia 23, 1974, S. 481–496.
Weblinks
Marfa Heimbach: 16. März 37 – Todestag des römischen Kaisers Tiberius WDR ZeitZeichen vom 16. März 2022, mit Werner Eck. (Podcast)
Anmerkungen
Kaiser (Rom)
Militärperson (Römische Kaiserzeit)
Augur
Claudier
Julier
Olympiasieger (Antike)
Geboren 42 v. Chr.
Gestorben 37
Mann
Augustus
Statthalter (Germania inferior)
Herrscher (1. Jahrhundert) |
8162 | https://de.wikipedia.org/wiki/Komet | Komet | Ein Komet oder Schweifstern ist ein kleiner Himmelskörper von meist einigen Kilometern Durchmesser, der in den sonnennahen Teilen seiner Bahn eine durch Ausgasen erzeugte Koma und meist auch einen leuchtenden Schweif (Lichtspur) entwickelt. Der Name kommt von („Haarstern“), abgeleitet von („Haupthaar, Mähne“).
Kometen sind wie Asteroiden Überreste der Entstehung des Sonnensystems und bestehen aus Eis, Staub und lockerem Gestein. Sie bildeten sich in den äußeren, kalten Bereichen des Sonnensystems (überwiegend jenseits der Neptunbahn), wo die reichlichen Wasserstoff- und Kohlenstoff-Verbindungen zu Eis kondensierten.
In Sonnennähe ist der meist nur wenige Kilometer große Kometenkern von einer diffusen, nebeligen Hülle umgeben, die Koma genannt wird und eine Ausdehnung von 2 bis 3 Millionen Kilometern erreichen kann. Kern und Koma zusammen nennt man auch den Kopf des Kometen. Das auffälligste Kennzeichen der von der Erde aus sichtbaren Kometen ist jedoch der Schweif. Er bildet sich erst ab einer Sonnenentfernung unter 2 AE, kann aber bei großen und sonnennahen Objekten eine Länge von mehreren 100 Millionen Kilometern erreichen. Meistens sind es aber nur einige zehn Millionen Kilometer.
Die Zahl neu entdeckter Kometen lag bis in die 1990er Jahre bei etwa zehn pro Jahr und stieg seither durch automatische Suchprogramme und Weltraumteleskope merklich an. Die meisten der neuen Kometen und der schon bei früheren Umläufen beobachteten sind aber nur im Fernrohr sichtbar. Mit Annäherung an die Sonne beginnen sie stärker zu leuchten, doch lässt sich die Entwicklung von Helligkeit und Schweif nicht genau voraussagen. Wirklich eindrucksvolle Erscheinungen gibt es nur etwa zehn pro Jahrhundert.
Geschichte der Kometenforschung
Schon in der Frühzeit erregten Kometen großes Interesse, weil sie plötzlich auftauchen und sich völlig anders als andere Himmelskörper verhalten. Im Altertum und bis zum Mittelalter wurden sie deshalb häufig als Schicksalsboten oder Zeichen der Götter angesehen.
In der Antike kam es bei der Beobachtung einer Konjunktion mit bloßem Auge scheinbar zu einer Verschmelzung von einem Planeten mit einem Stern, die von Aristoteles in seiner Schrift „Meteorologica“ im Jahr 350 v. Chr. erwähnt wird und als mögliche Ursache für die Entstehung von Kometen angesehen wurde. Es handelt sich offenbar um ein zirka zehn Jahre vor der Niederschrift in Griechenland in den Morgenstunden am östlichen Horizont zu sehendes Ereignis, bei der der kleinste Winkelabstand zwischen dem ekliptiknahen Stern Wasat und dem Planeten Jupiter im Sternbild Zwillinge nur rund 20 Bogenminuten betrug. Aufgrund der Tatsache, dass bei diesem Ereignis kein Komet entstanden war, schloss Aristoteles solche Ereignisse als Ursache für das Erscheinen von Kometen aus. Aristoteles und Ptolemäus hielten Kometen daher für Ausdünstungen der Erdatmosphäre.
Nach Diodor von Sizilien (1. Jahrhundert v. Chr.) konnten schon die Babylonier oder Chaldäer Kometen beobachten und ihre Wiederkehr berechnen. Pythagoras von Samos, dessen Lehren von ägyptischem und persischem Wissen beeinflusst waren, lehrte nach einer Legende: Kometen seien Himmelskörper, die eine geschlossene Kreisbahn hätten, also in regelmäßigen Zeitintervallen wieder sichtbar würden. Dem römischen Autor Seneca zufolge war man in den antiken Großreichen enttäuscht, wenn Kometen nicht wiederkehrten, Vorhersagen darüber sich also als falsch erwiesen.
Erst Regiomontanus erkannte in den Kometen selbständige Himmelskörper und versuchte 1472, eine Bahn zu vermessen. Die älteste gedruckte Kometenschrift ist wahrscheinlich der 1472 in Beromünster und 1474 in Venedig erschienene Tractatus de Cometis des im unterfränkischen Goßmannsdorf bei Hofheim geborenen Zürcher Stadtarztes Eberhard Schleusinger, dessen Werk die Grundlage für Johannes Lichtenbergers Pronosticatio darstellt. Als Beginn der wissenschaftlichen Kometenforschung kann die Erkenntnis Tycho Brahes gelten, dass sie keine Erscheinungen der Erdatmosphäre sind. Denn er stellte beim Kometen von 1577 fest, dass er mindestens 230 Erdradien entfernt sein müsse. Es dauerte jedoch noch viele Jahrzehnte, bis sich diese Annahme durchsetzen konnte, und selbst Galilei widersprach ihr noch. Edmond Halley gelang es 1682, den in diesem Jahr auftauchenden Schweifstern als periodisch wiederkehrenden Himmelskörper nachzuweisen. Der auch 1607, 1531 und 1456 beobachtete Komet bewegt sich auf einer langgestreckten Ellipse in 76 Jahren um die Sonne. Heutzutage werden im Mittel 20–30 Kometen pro Jahr entdeckt.
Der Wissensstand über Kometen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist Scheffels humorvollem Lied Der Komet zu entnehmen: „Selbst Humboldt, der Greis von forschender Kraft, …: ‚Es füllt der Komet, viel dünner denn Schaum, Mit allerkleinster Masse den allergrößten Raum??‘“
Übersicht
Charakterisierung
Kometen werden auf Grund ihres Erscheinungsintervalls in aperiodische Kometen und periodische Kometen unterschieden. Letztere werden nach ihren Umlaufzeiten in langperiodische und kurzperiodische Kometen eingeteilt.
Aperiodische Kometen
Kometen, die – auf Grund ihrer parabolischen oder hyperbolischen Bahn – sicher nicht wiederkehren, oder Einzelbeobachtungen, über die mangels genauer Bahnbestimmung – noch – keine Aussage getroffen werden kann.
Periodische Kometen
Kometen, deren Wiederkehr anhand ihrer Bahnelemente gesichert ist, die also auf einer – zumindest für einen gewissen Zeitraum – stabilen Umlaufbahn die Sonne umkreisen.
Langperiodische Kometen mit einer Umlaufzeit von mehr als 200 Jahren kommen vermutlich aus der Oortschen Wolke, ihre Bahnneigungen sind statistisch verteilt und sie umlaufen die Sonne sowohl im gleichen Umlaufsinn wie die Planeten (prograd) als auch in Gegenrichtung zu den Planetenbahnen (retrograd). Die Exzentrizitäten ihrer Bahnen liegen nahe bei 1 – die Kometen sind in der Regel aber noch durch die Schwerkraft an die Sonne gebunden, obwohl sie für ihren Umlauf bis zu 100 Millionen Jahre benötigen. Exzentrizitäten größer als 1 (Hyperbelbahnen) sind selten und werden vor allem durch Bahnstörungen beim Passieren der großen Planeten hervorgerufen. Diese Kometen kehren dann theoretisch nicht mehr in Sonnennähe zurück, sondern verlassen das Sonnensystem. Im Außenbereich des Planetensystems reichen jedoch schon geringe Kräfte, um die Bahn wieder elliptisch zu machen.
Kurzperiodische Kometen mit Umlaufzeiten kleiner als 200 Jahre stammen vermutlich aus dem Kuipergürtel. Sie bewegen sich meist im üblichen Umlaufsinn und ihre Inklination liegt im Mittel bei etwa 20°, sie liegen also in der Nähe der Ekliptik. Bei mehr als der Hälfte der kurzperiodischen Kometen liegt der größte Sonnenabstand (Aphel) in der Nähe der Jupiterbahn bei 5 und 6 Astronomischen Einheiten (Jupiter-Familie). Es handelt sich dabei um ursprünglich längerperiodische Kometen, deren Bahn durch den Einfluss der Gravitation des Jupiter verändert wurde.
Benennung
Neu entdeckte Kometen erhalten von der Internationalen Astronomischen Union zuerst einen Namen, der sich aus dem Entdeckungsjahr und einem großen Buchstaben zusammensetzt, der beginnend mit A am 1. Januar und B am 16. Januar im Halbmonatsrhythmus (bis Y am 16. Dezember, der Buchstabe I wird übersprungen) nach dem Zeitpunkt der Entdeckung festgelegt ist. Zusätzlich kommt noch eine Zahl, damit man mehrere Kometen im halben Monat unterscheiden kann. Sobald die Bahnelemente des Kometen genauer bestimmt sind, wird dem Namen nach der folgenden Systematik ein weiterer Buchstabe vorangestellt:
Der Komet Hyakutake zum Beispiel wird auch unter der Bezeichnung C/1996 B2 geführt. Hyakutake war also der zweite Komet, der in der zweiten Hälfte des Januars 1996 entdeckt wurde. Seine Umlaufzeit ist größer als 200 Jahre.
Üblicherweise wird ein Komet zusätzlich nach seinen Entdeckern benannt, so wird zum Beispiel D/1993 F2 auch unter der Bezeichnung Shoemaker-Levy 9 geführt – es handelt sich hierbei um den neunten Kometen, den Eugene und Carolyn Shoemaker zusammen mit David H. Levy entdeckt haben.
Kometenbahnen
Da bei neu entdeckten Kometen nur kurze Bahnbögen beobachtet wurden, werden zuerst parabolische Bahnen berechnet. Da eine Parabel jedoch nur ein mathematischer Grenzfall ist und in der Natur nicht als solche vorkommen kann (jede noch so winzige Störung macht daraus eine Ellipse oder eine Hyperbel), laufen Kometen, deren Bahnexzentrizität mit e = 1,0 (Parabel) angegeben wird, in Wahrheit entweder auf Ellipsen (e < 1,0) oder auf Hyperbeln (e > 1,0). Bei längerer Beobachtung und der Gewinnung zusätzlicher astrometrischer Positionen kann dann entschieden werden, ob es sich um Ellipsen oder Hyperbeln handelt.
Von zirka 660 untersuchten Kometen zeigt sich folgende Verteilung: 43 % Parabeln, 25 % langperiodische Ellipsen (Umlaufszeit über 200 Jahre), 17 % kurzperiodische Ellipsen (Umlaufszeit bis zu 200 Jahre) und 15 % Hyperbeln. Der hohe Anteil an Parabeln ist jedoch auf den zu kurzen Beobachtungszeitraum vieler Kometenerscheinungen zurückzuführen, bei denen langgestreckte Ellipsen nicht von einer Parabel unterschieden werden können. Bei einer längeren Sichtbarkeit von 240 bis 500 Tagen beschreiben nur noch 3 % der Kometen vermutlich eine Parabelbahn. Somit dürften die Ellipsen vorherrschend sein.
Da viele Meteorschwärme vom Material früherer oder aktiver Kometen kommen, untersucht die Meteorastronomie mit Hilfe der Bahnbestimmung u. a. den Zusammenhang von Meteoren und Kometen.
Entdeckung und Beobachtung von Kometen
Während bis 1900 etwa 5 bis 10 neue Kometen pro Jahr entdeckt wurden, ist diese Zahl inzwischen auf über 20 angestiegen. Wesentlich sind daran automatische Himmels-Durchmusterungen und Beobachtungen von Raumsonden beteiligt. Doch gibt es auch Amateurastronomen, die sich auf Kometensuche spezialisiert haben, insbesondere in Japan und Australien.
Am erfolgreichsten war dabei der Neuseeländer William Bradfield mit 17 Entdeckungen zwischen 1972 und 1995, die alle nach ihm benannt wurden. Er suchte systematisch am Dämmerungshimmel bis zu 90° Sonnenabstand und wandte dafür jährlich etwa 100 Stunden auf.
Für visuelle Beobachtungen eignen sich lichtstarke Feldstecher oder ein spezieller Kometensucher. Wichtig ist eine schwache Vergrößerung bei hoher Lichtstärke, damit die relativ geringe Flächenhelligkeit des Kometen (ähnlich wie bei Nebelbeobachtungen) erhalten bleibt. Die Austrittspupille soll daher jener des dunkeladaptierten Auges (etwa 7 mm) entsprechen.
Fotografisch benutzt man heute meist Kameras mit hochempfindlichen CCD-Sensoren. Bei Detailfotografien (etwa von der Struktur des Kometenschweifs) wird die Kamera nicht den Sternen nachgeführt, sondern mittels genäherter Bahnberechnung dem Kometen selbst. Die meisten sind bei ihrer Entdeckung noch im äußeren Sonnensystem und erscheinen nur wie ein diffuses Sternchen von 15. bis 20. Magnitude.
Raumsonden zu Kometen
Die folgende Tabelle enthält einige Kometen, die von Raumsonden besucht wurden oder deren Besuch geplant ist:
Zum Vergleich:
Juni 2018 nähert sich die Sonde Hayabusa 2 dem Asteroiden Ryugu auf wenige Kilometer an.
Der etwa 3–10 m große Asteroid 2023 BU wurde am 21. Januar von Borisov von der Krim aus entdeckt und kam nach 6 Erdumdrehungen am 27. Januar 2023 der Erde im Bereich der Südspitze Südamerikas beim Vorbeiflug bis auf 3.600 km nahe, so nah wie bisher kein anderer Asteroid.
Aufbau
Kern
In großer Entfernung von der Sonne bestehen Kometen nur aus dem Kern, der im Wesentlichen aus zu Eis erstarrtem Wasser, Trockeneis (CO2), CO-Eis, Methan und Ammoniak mit Beimengungen aus meteoritenähnlichen kleinen Staub- und Mineralienteilchen (zum Beispiel Silikate, Nickeleisen) besteht. Man bezeichnet Kometen deshalb häufig als schmutzige Schneebälle (oder dirty snowballs). Die Beobachtungen der Deep-Impact-Mission haben gezeigt, dass (zumindest in den Außenbereichen des Kerns des untersuchten Kometen Tempel 1) die festen Bestandteile gegenüber den flüchtigen Elementen überwiegen, so dass die Bezeichnung snowy dirtball (eisiger Schmutzball) zutreffender erscheint. Aus Beobachtungen der Raumsonde Giotto am Kometen Halley weiß man, dass Kometen von einer schwarzen Kruste umgeben sind, die nur zirka 4 % des Lichts reflektiert (Albedo) – obwohl Kometen als spektakuläre Leuchterscheinungen beobachtet werden, sind ihre Kerne somit interessanterweise die schwärzesten Objekte des Sonnensystems, wesentlich dunkler als zum Beispiel Asphalt, der ca. 7 % des Lichts reflektiert.
Da nur kleine Regionen des Kerns ausgasen, wie im Abschnitt Koma näher erläutert wird, geht man nach neueren Vorstellungen davon aus, dass die Oberfläche von einer Art Gesteinsschutt gebildet wird, der aus Gesteinsbrocken besteht, die zu schwer sind, um die gravitative Anziehung des Kerns zu überwinden. Giotto entdeckte auch winzige Partikel, die reich an den Elementen Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O) und Stickstoff (N) sind und deswegen auch CHON-Partikel genannt werden. Diese könnten aus einer dünnen Rußschicht stammen, die die Oberfläche des Kerns überzieht, was die niedrige Albedo erklären würde. Nähere Informationen soll die aktuelle Rosettamission liefern.
Einen besonderen Anteil an der Erklärung des Aufbaus der Kometen hatte Fred Whipple, der 1950 erstmals Kometenkerne als Konglomerate aus Eis und festen Bestandteilen beschrieb.
Koma
Sobald ein Komet bei der Annäherung an die Sonne in einem Abstand von etwa 5 AE ungefähr die Jupiterbahn kreuzt, bildet die Wechselwirkung zwischen Sonnenwind und Komet eine schalenförmige Koma, die in Kernnähe auch strahlenartige Strukturen zeigt. Sie entsteht durch Sublimation leicht flüchtiger Substanzen auf der sonnenzugewandten Seite, die ins Eis eingebettete Staubteilchen mitreißen. Nach den Beobachtungen der Sonde Giotto findet diese Sublimation nur an etwa 10 bis 15 % der Kometenoberfläche statt, die flüchtigen Substanzen entweichen offenbar nur an brüchigen Stellen der schwarzen Kruste.
Die an diesen Stellen entweichenden Muttermoleküle bilden die innere Koma. Durch weitere Aufheizung, Ionisation und Dissoziation vergrößert sich die Koma weiter und bildet die schließlich sichtbare Koma aus Ionen und Radikalen. Sie wird noch von einem im Ultravioletten strahlenden atomaren Wasserstoffhalo umgeben, der auch UV-Koma genannt wird und beim Kometen Hale-Bopp 1997 einen Durchmesser von 150 Millionen Kilometern erreichte. Da die Ozonschicht für die UV-Strahlung undurchlässig ist, kann die UV-Koma nur von außerhalb der Erdatmosphäre untersucht werden.
Schweif
Die Bestandteile der Koma werden durch Strahlungsdruck und Sonnenwind „weggeblasen“, so dass sich etwa innerhalb der Marsbahn ein Schweif ausbildet, oder exakter zwei Schweife:
Ein schmaler, lang gestreckter Schweif (Typ-I-Schweif), der im Wesentlichen aus Molekülionen besteht und auch Plasmaschweif genannt wird. Für diese Teilchen reicht der Strahlungsdruck als Erklärung nicht aus, sodass Ludwig Biermann 1951 eine von der Sonne ausgehende Partikelstrahlung, die heute Sonnenwind genannt wird, als Erklärung hierfür postulierte. Heute geht man davon aus, dass die kometaren Ionen durch eine Wechselwirkung mit dem solaren Magnetfeld angetrieben werden, das von den geladenen Teilchen des Sonnenwinds mitgeführt wird.
Ein diffuser, gekrümmter Schweif (Typ-II-Schweif), der auch Staubschweif genannt wird. Die kleinen Staubteilchen, die diesen Schweif bilden, werden durch den Strahlungsdruck der Sonne beeinflusst, dessen Wirkung durch eine Aufspaltung in zwei Komponenten erklärt werden kann:
Eine radiale Komponente, die der Gravitationskraft entgegengerichtet ist und wie diese quadratisch mit der Entfernung zur Sonne abnimmt. Dies wirkt wie eine effektive Abnahme der solaren Gravitationskraft, die Staubteilchen bewegen sich deshalb auf „Pseudo-Keplerbahnen“, die sich für Staubteilchen verschiedener Größe unterscheiden, da die Kraft durch den Strahlungsdruck von der Teilchengröße abhängig ist. Dies führt zu einer relativ starken Auffächerung des Staubschweifs im Vergleich zum Plasmaschweif.
Die andere wirksame Komponente des Strahlungsdruckes ist der Bewegungsrichtung der Staubteilchen entgegengerichtet und führt zu einer Abbremsung der Teilchen, die größer als die Wellenlänge des Lichtes sind, das heißt, größer als etwa 0,5 µm. Diese Teilchen bewegen sich langfristig genauso wie der sonstige interplanetare Staub auf Spiralbahnen Richtung Sonne (Poynting-Robertson-Effekt).
Sehr selten, bei besonderen Bahnkonstellationen, ist ein Gegenschweif (Typ-III Schweif, Antischweif) sichtbar. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen eigenständigen Schweif, sondern nur um einen geometrischen Projektionseffekt: Wenn sich die Erde zwischen Sonne und Komet hindurchbewegt, ragt ein Teil des Staubschweifs, bedingt durch seine Krümmung, scheinbar über den Kometenkopf hinaus.
Der Materialverlust eines Kometen wurde bei „neuen“ Kometen, die das erste Mal in Sonnennähe kommen, auf etwa 10 bis 50 Tonnen pro Sekunde geschätzt, nach mehrfacher Sonnenannäherung sinkt der Masseverlust auf weniger als 0,1 t/s. Diese geringen Materiemengen von maximal 0,03 bis 0,2 Prozent der Kometenmasse pro Sonnendurchgang bedeuten, dass die Schweife nur eine sehr geringe Dichte aufweisen. Die enorme Helligkeit der Schweife erklärt sich im Falle des Staubschweifs durch die große Oberfläche der mikroskopisch kleinen Staubteilchen, im Plasmaschweif trägt sogar jedes Atom bzw. Molekül zur Leuchtkraft bei. Dies führt im Vergleich zur Größe des Kometenkerns zu einer Erhöhung der Leuchtkraft um viele Größenordnungen.
Entstehung und Auflösung
Kometen sind die Überreste aus der Entstehung des Sonnensystems (primordiale Objekte) – und nicht jüngere Fragmente, die aus späteren Kollisionen anderer, größerer Himmelskörper entstanden sind.
Der hohe Anteil an leicht flüchtigen Substanzen in den Kometenkernen, wie zum Beispiel Wasser und Kohlenmonoxid, und die Entdeckung von Clathraten bedeutet, dass sie in äußerst kalten Umgebungen (< 100 K) und damit im äußeren Bereich des Sonnensystems entstanden sein müssen. Die meisten Planetesimale im Bereich der äußeren Planeten wurden in der Frühzeit des Sonnensystems wohl von den vier Gasriesen aufgesammelt. Durch die auf die übrigen Teilchen wirkenden Bahnstörungen wurden viele von ihnen so stark gestreut, dass sie das Sonnensystem verließen. Man vermutet, dass etwa 10 Prozent dieser gestreuten Körper die weit entfernte Oortsche Wolke bildeten. Die näheren, aber jenseits der Neptunbahn kreisenden Objekte unterlagen diesem Streuprozess weniger und bildeten den Kuipergürtel.
Die Oortsche Wolke und teilweise der Kuipergürtel sind das Reservoir der meisten Kometen, deren Zahl im Milliardenbereich liegen könnte. Da langperiodische Kometen bei ihrer Durchquerung des inneren Bereichs des Sonnensystems von den großen Planeten, vor allem durch Jupiter, stark gestreut werden, sind sie nur für wenige Durchgänge als ehemalige Mitglieder der Oortschen Wolke identifizierbar. Es ist also ein Mechanismus notwendig, der die heute noch sichtbaren Kometen aus ihren sonnenfernen Bahnen in Sonnennähe bringt. Für die kurzperiodischen Kometen aus dem Kuipergürtel vermutet man hierfür Kollisionen originärer Kuipergürtelobjekte, wodurch Bruchstücke ins Innere des Sonnensystems gelangen. Der Streuprozess langperiodischer Kometen ist noch nicht bekannt. Schwache Gezeiteneffekte naher Sterne oder die Gravitation größerer transneptunischer Objekte können allmähliche Bahnänderungen bewirken und die fernen, kalten Kometenkerne in eine langgestreckte Bahn zur Sonne hin ablenken, was alljährlich zur Entdeckung neuer Kometen führt. Manche verschwinden später auf Nimmerwiedersehen, andere bleiben auf periodischen Umlaufbahnen. Es wird allerdings auch der Einfluss vorbeiziehender Sterne oder noch nicht entdeckter Planeten (Planet X) oder die inzwischen widerlegte Idee eines Begleitsterns der Sonne (Nemesis) als Ursache diskutiert.
Wenn die in das innere Sonnensystem eintretenden Kometen viel Eis enthalten und sie nahe zur Sonne geraten, können manche auch freiäugig sichtbar werden – wie es sehr ausgeprägt bei Ikeya-Seki (1965) oder Hale-Bopp (1997) der Fall war.
Doch verlieren Kometen mit jedem Umlauf um die Sonne einen kleinen Teil ihrer Masse, vor allem flüchtige Bestandteile der äußeren Schicht des Kerns. Je näher das Perihel der Bahn an der Sonne liegt, desto heftiger ist dieser Prozess, weil das Eis rascher sublimiert und durch das Ausgasen des Gesteins auch größere Teilchen mitgerissen werden. Daher ist der Kometenkern nach einigen tausend Sonnenumläufen kaum noch als solcher zu erkennen. Diese Zeitspanne ist deutlich kürzer als das Alter des Sonnensystems.
Durch das Verdampfen des Eises verliert das Gestein des Kerns seinen Zusammenhalt und der Komet löst sich allmählich auf. Dies kann durch Teilung (wie beim Kometen Biela 1833), durch Jupiters Einfluss (Shoemaker-Levy 9 1994) oder durch allmähliche Verteilung der Teilchen längs ihrer ursprünglichen Bahn erfolgen. Letztes ist die Ursache der meisten Sternschnuppenschwärme.
Verschiedenes
Abgrenzung zu anderen Himmelskörpern
Die Unterscheidung zwischen Asteroiden und Kometen ist nicht immer ganz eindeutig. Man vermutet, dass einige der als Asteroiden klassifizierten Objekte mit stark elliptischen Bahnen, zum Beispiel die Zentauren, „ausgebrannte“ Kometenkerne sind, die von einer dicken Schicht nichtflüchtiger Substanzen bedeckt sind. Andererseits wird das ursprünglich als Asteroid (2060) Chiron eingestufte Objekt seit der Entdeckung einer Koma als Komet klassifiziert und gemäß der Kometennomenklatur 95P/Chiron genannt.
Heute wird der Begriff Komet sowohl im populärwissenschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch entgegen seiner ursprünglichen Definition oft für alle vermutlich eisigen Kleinplaneten verwendet. Beispiele hierfür sind die Objekte des Kuipergürtels und der Oortschen Wolke, die zwar leichtflüchtige Substanzen enthalten, aber aufgrund ihrer Entfernung von der Sonne niemals stark genug erwärmt werden, um eine Koma zu bilden. Von solchen Objekten wird aber angenommen, dass ihr Aufbau eher den Kometenkernen gleicht als den Asteroiden aus dem Asteroidengürtel, aber erst bei Periheldistanzen innerhalb der Jupiterbahn die Sonnenstrahlung stark genug ist, durch einen Sublimationsprozess eine Koma zu bilden.
Meteorströme und Meteoriten
Die Teilchen des Staubschweifs verteilen sich entlang der Kometenbahn um die Sonne. Wie Giovanni Schiaparelli gezeigt hat, treten Meteorströme auf, wenn die Erde diese Bahn kreuzt. Die bekanntesten Meteorströme sind die Leoniden und die Perseiden. Diese Ströme sind als Sternschnuppen leicht beobachtbar. Meist verglüht das Kometenmaterial beim Durchflug durch die Erdatmosphäre, und so wurden bisher noch keine Meteoriten entdeckt, die zweifelsfrei von Kometen stammen. Für einige sehr seltene Meteoritentypen, wie zum Beispiel die CI-Chondriten, wurde zwar eine Verbindung zu Kometen vorgeschlagen, ein Beweis konnte allerdings bisher noch nicht erbracht werden. Auch Mikrometeoriten stammen überwiegend aus dem Asteroidengürtel, obwohl auch hier eine kometare Komponente diskutiert wird.
Die direkte Untersuchung von Kometenmaterial ist jedoch für das Verständnis der Entstehung unseres Sonnensystem von großer Bedeutung, so dass komplexe Raumfahrtmissionen mit Raumsonden wie Deep Impact oder Rosetta durchgeführt werden, die das Kometenmaterial vor Ort untersuchen. Durch die Stardust-Mission ist es erstmals gelungen, Proben in Form von kleinsten Teilchen aus der Koma eines Kometen zur Erde zurückzubringen und für Untersuchungen in irdischen Labors zur Verfügung zu stellen.
Besonders erwähnenswerte Kometen
Der Halleysche Komet war der erste Komet, der (1705 von Edmond Halley) als periodisch erkannt wurde und dessen Kern von Raumsonden fotografiert werden konnte (1986).
Der Große Komet von 1744 war der erste, dem eine eigene Monografie gewidmet wurde. Gottfried Heinsius berechnete darin seine monatelang sichtbare Bahn, die Formänderungen der Koma und die genaue Schweiflänge (52 Millionen km).
Der Enckesche Komet (entdeckt 1818) hat mit 3,31 Jahren die kürzeste Umlaufzeit aller bekannten Kometen, kann aber nicht mehr mit bloßem Auge beobachtet werden.
Komet Biela (1845/46) war der erste Schweifstern, dessen Zerfall beobachtet wurde.
Am Komet Donati (1858) wurde erstmals das Ausgasen in die Koma beobachtet. Er war nach Künstlermeinung das schönste Objekt des Jahrhunderts (siehe Bild).
Der Komet 1882 II („Großer Septemberkomet“) zog bei seinem Perihel vor und hinter der Sonnenscheibe vorbei, wobei sein Schweif auch am Taghimmel zu sehen war.
Der Johannesburger Komet machte – fast gleichzeitig mit Halley – 1910 zum einmaligen Jahr zweier Großer Kometen.
Der Komet Ikeya-Seki gilt als einer der hellsten Kometen des letzten Jahrtausends. Er erreichte im Oktober 1965 die rund 60-fache Helligkeit des Vollmondes und war tagsüber deutlich neben der Sonne sichtbar.
Für den Kometen Kohoutek (1973/74) wurde teilweise eine spektakuläre Helligkeitsentwicklung erwartet, die jedoch nicht eintrat. Der Komet wurde unter anderem von Skylab 4 aus untersucht.
Der Komet Shoemaker-Levy 9 zerbrach im Gravitationsbereich Jupiters. Seine 21 Bruchstücke schlugen zwischen dem 16. und 22. Juli 1994 auf dem Planeten auf, ihre Spuren waren mehrere Wochen zu sehen.
Der Komet Hale-Bopp war von 1996 bis 1997 mehr als 18 Monate mit bloßem Auge sichtbar und hält damit den Rekord unter allen bekannten Kometen.
Der Komet Tempel 1 war das Ziel der Deep-Impact-Mission der NASA, bei der am 4. Juli 2005 ein 372 kg schweres, hauptsächlich aus Kupfer bestehendes Projektil mit einer relativen Geschwindigkeit von 10 km/s auf dem Kometen einschlug. Mit der Sonde selbst und mit zahlreichen erdgestützten Teleskopen, aber auch mit dem Weltraumteleskop Hubble und der ESA-Raumsonde Rosetta wurde die entstandene Partikelstaubwolke beobachtet.
Der Komet Wild 2 ist der erste Komet, aus dessen Koma von einer Sonde Teilchen eingesammelt wurden. Die Proben wurden im Jahre 2006 zur Erde zurückgebracht.
Der Komet 17P/Holmes steigerte Ende Oktober 2007 seine scheinbare Helligkeit von 17 auf 2,5mag innerhalb von etwa 36 Stunden. Der Komet, der plötzlich 500.000-mal heller als gewöhnlich erschien, war als auffälliges Objekt mit bloßem Auge am Himmel sichtbar.
Tschurjumow-Gerassimenko ist der Komet, auf dem 2014 im Zuge der Rosetta-Mission erstmals eine Sonde sanft landete.
Sungrazer (Sonnenstreifer)
Sonnenstreifer sind eine Kometengruppe, die der Sonne extrem nahe kommen oder sich sogar durch die Sonnenkorona bewegen. Der Großteil der Sungrazer gehört der Kreutz-Gruppe an. Durch die Sonnensonde SOHO konnten über 1.000 derartige Kometen fotografiert werden. Schätzungen ihrer Gesamtzahl belaufen sich auf über 200.000 Objekte. Durch die starken Gezeitenkräfte der Sonne werden die Sungrazer oft auseinandergerissen. Die meisten Sonnenstreifer sind daher kleine Bruchstücke mit einem Durchmesser von 10 m und weniger. Der auffällige Komet Ikeya-Seki war bei Tageslicht zu sehen, so dass sein Durchmesser auf mehrere Kilometer geschätzt wurde.
Erdnahe Kometen
Da Kometenkerne typischerweise Durchmesser von 1 bis 100 Kilometern haben, wäre der Impakt eines Kometen mit der Erde nach aller Wahrscheinlichkeit eine globale Katastrophe, die auch Massenaussterben zur Folge haben kann.
Von den 32.539 zum Stand August 2023 katalogisierten erdnahen Objekten sind 121 Kometen und 32.418 Asteroiden. Damit sind etwas unter einem Prozent aller Erdbahnkreuzer, die eine potentielle Kollisionsgefahr mit der Erde bergen, Kometen. Von insgesamt 8.007 bekannten Kometen sind knapp 2 % Erdbahnkreuzer (Stand: Juni 2023). Diese Zahlen erlauben jedoch keine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Impakts mit der Erde. Das Risiko von Kometen-Impakts ist generell schwieriger einzuschätzen als das von Asteroiden, deren Bahnen vergleichsweise stabiler und besser bekannt sind. Es gibt bzw. gab Entdeckungs-, Überwachungs- und Risikoabschätzungssysteme, die sowohl Asteroiden als auch Kometen erfassen (wie Catalina Sky Survey oder LONEOS) und Systeme, die nur Asteroiden und keine Kometen erfassen, wie ATLAS, LINEAR, NEAT oder Sentry.
Bislang ist kein Kometenimpakt in der Erdgeschichte gesichert bestätigt. Im Jahr 1978 stellte der slowakische Astronom Ľubor Kresák die These auf, dass das Tunguska-Ereignis des Jahres 1908 durch ein Fragment des periodischen Kometen Encke ausgelöst worden sein könnte. Man nimmt an, dass kleinere Kometen, oder Kometenbruchstücke, geringe Spuren auf der Erde hinterlassen, da ihr Eis beim Eintritt in die Atmosphäre verdampft und ihre Gesteins-Bestandteile noch in der Atmosphäre verstreut werden könnten. Im Jahr 2013 schlugen Forscher vor, dass ein in der Libyschen Wüste gefundener ungewöhnlicher Stein aus Libyschem Wüstenglas durch den Einschlag eines Kometen entstanden sein könnte.
Im Jahr 1984 fanden die Paläontologen David M. Raup und J. John Sepkoski bei den Aussterbens-Ereignissen im Fossilbericht eine Periodizität von etwa 26 Millionen Jahren. Als mögliche Ursache schlugen zwei Teams von Astronomen, Daniel P. Whitmire und Albert A. Jackson IV, sowie Marc Davis, Piet Hut und Richard A. Muller, unabhängig voneinander einen noch unentdeckten Zwergstern-Begleiter der Sonne vor. Dieser, Nemesis getauft, solle durch seinen Störungseinfluss auf die Oortsche Wolke eine zyklische Vergrößerung der Kometenanzahlen verursachen, die ins Innere des Sonnensystems gelangen, wodurch es auch auf der Erde mit dieser Periodizität zu statistisch häufigeren Kometeneinschlägen käme. Nachfolgende Untersuchungen zu den Aussterbe- und Impakt-Ereignissen anhand neuerer Daten fielen unterschiedlich aus.
Fotografische Aufnahme
Eine fotografische Aufnahme von Kometen stellt wegen der geringen Leuchtdichte des Schweifes im Verhältnis zur Koma eine vergleichsweise anspruchsvolle Aufgabe dar. Je nach Helligkeit des Kometen und den Aufnahmebedingungen liegt der Belichtungswert selbst bei Kometen, die mit dem bloßen Auge noch gesehen werden können, deutlich unter 1 EV (EV steht für den englischsprachigen Begriff „exposure value“). Für solche Aufnahmen ist die Verwendung eines Stativs erforderlich.
Je größer der Höhenwinkel des Kometen bei der Aufnahme ist, desto geringer sind atmosphärische Störungen, die dazu führen, dass Konturen in den Bildern verwaschen werden. Gleichermaßen nimmt auch die Lichtabschwächung durch die Extinktion in der Erdatmosphäre mit zunehmendem Abstand vom Horizont ab.
Entfernungseinstellung
In der Praxis kann das Objektiv wegen der sehr großen Entfernung auf „unendlich“ eingestellt werden. Da Kometen sehr weit entfernt sind, kann das Objektiv für Aufnahmen, die von Menschen betrachtet nicht als unscharfes Bild empfunden werden sollen, im Zweifel auch auf die endliche hyperfokale Distanz eingestellt werden. In diesem Fall werden alle Objekte zwischen der halben hyperfokalen und unendlicher Distanz hinreichend scharf abgebildet. Bei Bildern, die technisch ausgewertet oder von denen Ausschnitte verwendet werden sollen, muss die Entfernung entsprechend den Anforderungen gegebenenfalls genauer eingestellt werden.
Blendenzahl
Da sehr wenig Licht zur Verfügung steht, empfiehlt es sich bei fotografischen Objektiven, möglichst kleine Blendenzahlen und somit große Öffnungsweiten zu wählen, damit für die Aufnahme möglichst viel Licht eingefangen werden kann. Teleskope werden in der Regel ohne die Beschränkung der Einfallshöhen eingesetzt, da sie gar nicht über eine Aperturblende verfügen.
Bei gegebener Öffnungsweite D ergibt sich bei einem optischen System die Blendenzahl k aus der Brennweite f wie folgt:
Da die Abbildungsqualität von optischen Systemen bei großer Öffnungsweite durch Abbildungsfehler begrenzt wird, ist es empfehlenswert, optische korrigierte Objektive oder Teleskope einzusetzen, wie zum Beispiel Asphären zur Reduktion der sphärischen Aberration oder Apochromaten zur Reduktion der chromatischen Aberration. Der Farbquerfehler kann bei modernen digitalen Kamerasystemen ebenso wie der sich aus der Geometrie der Abbildung zwangsläufig ergebende Randlichtabfall automatisch kompensiert werden.
Belichtungszeit
Wenn die Kamera mit der Erdoberfläche bewegt wird, verschiebt sich der Bildort des Kometen mit der Zeit, so dass sich im Bild eine entsprechende Bewegungsunschärfe ergibt. Dies kann kompensiert werden, indem die Kamera mit einer geeigneten Vorrichtung um die Erdachse mitgedreht wird (siehe auch Montierung). Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Rektaszension und die Deklination des Kometen während der Aufnahmen verändern, da der Komet sich gegenüber dem Fixsternhimmel bewegt.
Für lichtschwache Kometen fallen unter Umständen so lange Belichtungszeiten an, dass eine präzise Nachführung der Bewegung des Kometen gegenüber dem Fixsternhimmel erforderlich ist.
Bei digitalen Steh- und Bewegtbildaufnahmen mit längeren Belichtungszeiten ist zu beachten, dass sich der Bildsensor im Betrieb erwärmen kann und das Bildrauschen mit der steigenden Temperatur deutlich zunimmt. Ferner nimmt bei vielen Bildsensoren, wie zum Beispiel Active Pixel Sensoren, das Bildrauschen mit der Belichtungszeit zu. Für eine Bilderzeugung mit hohem Signal-Rausch-Verhältnis kann der Bildsensor passiv oder aktiv gekühlt werden. Ansonsten können mehrere Bilder mit begrenzter Belichtungszeit aufgenommen und später softwaretechnisch zusammengefügt werden („Stacking“, siehe unten). Zu kurze Belichtungszeiten erzeugen aufgrund der vielen Einzelaufnahmen allerdings vermehrtes Ausleserauschen, so dass ein geeigneter Kompromiss gefunden werden muss.
Farbtemperatur
Die Farbtemperatur kann bei Farbaufnahmen entsprechend dem nächtlichen weiß-neutralen Wert des vom Vollmond reflektierten Lichtes auf zirka 4100 Kelvin eingestellt werden. Höhere Werte, wie zum Beispiel der Wert für das direkte Sonnenlicht von 5500 Kelvin, ergeben Bilder mit stärkerem roten Anteil.
Stacking
Um die Lichtausbeute zu erhöhen, können mit Bildsensoren Serienbilder aufgenommen werden, die anschließend softwaremäßig deckungsgleich übereinandergelegt und zusammengesetzt werden (englisch: „stacking“). Dies hat den Vorteil, dass jedes einzelne Bild hinreichend frei von Bewegungsunschärfe sowie von mit der Belichtungszeit anwachsenden Signalstörungen ist, aber dennoch deutlich mehr Licht für die zusammengesetzte Aufnahme zur Verfügung steht. Dadurch ergibt sich ein deutlich besseres Signal-Rausch-Verhältnis und somit weniger Bildrauschen sowie ein größerer Dynamikumfang.
Offene Fragen
Seit Ende der 1990er Jahre sind in der Erforschung der Kometen sowie des Kuipergürtels große Fortschritte erzielt worden, es gibt jedoch noch immer viele offene Fragen:
Durch Spektralanalysen ist die Zusammensetzung der Koma mittlerweile sehr gut verstanden, über die molekulare Zusammensetzung des Kerns und der vom Kern entweichenden Muttermoleküle ist jedoch noch sehr wenig bekannt. Möglicherweise kommen in Kometen organische Moleküle vor, die ähnlich oder sogar noch komplexer als diejenigen sind, die in Meteoriten gefunden wurden. In simulierten Kometen wurden in Vorbereitung auf die Rosetta-Mission bereits 16 verschiedene Aminosäuren identifiziert. Viele Exobiologen setzen deswegen große Hoffnungen auf die weitere Erforschung der Kometen. Einige Theorien zur Entstehung des Lebens gehen davon aus, dass organische Moleküle aus Meteoriten oder Kometen die Entstehung des Lebens auf der Erde begünstigt oder gar erst ermöglicht haben. Die Anhänger der Panspermie vermuten sogar noch komplexere biologische Moleküle oder möglicherweise sogar einfache Lebensformen unter den CHON-Partikeln.
Nach den derzeitigen Theorien sind die Kometen aus der Oortschen Wolke in geringerer Entfernung zur Sonne entstanden als diejenigen aus dem Kuipergürtel. Um dies zu bestätigen, sollten Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung nachgewiesen werden.
Der Mechanismus, durch den die Objekte der Oortschen Wolke ins Innere des Sonnensystems gestreut werden, ist noch nicht bekannt.
Es gibt Anzeichen für eine leichte Häufung von langperiodischen Kometen in Richtung des Sonnenapex. Sollte sich dies bei genaueren Untersuchungen bestätigen, hätte dies Auswirkungen auf unser Verständnis nicht nur der Oortschen Wolke, sondern auch des interstellaren Mediums in der Umgebung des Sonnensystems.
Mindestens eines, vermutlich aber mehrere erdgeschichtliche Ereignisse wurden durch den Impakt großer außerirdischer Körper verursacht, für die neben Asteroiden auch Kometen in Betracht kommen, so etwa der erdgeschichtliche Übergang von der Kreide zum Tertiär als Folge des KT-Impakts.
Die Erde hat einen deutlich größeren Wasseranteil als andere Körper des inneren Sonnensystems, wofür einige Wissenschaftler große Kometeneinschläge verantwortlich machen (siehe Herkunft des irdischen Wassers). Allerdings stimmen bisherige Messungen der Wasserstoffisotopenverhältnisse in einigen Kometen nicht gut mit dem Wasserstoffisotopenverhältnis von irdischem ozeanischem Wasser überein, was aber auch daran liegen könnte, dass die gemessenen Kometen nicht repräsentativ waren.
Mystifizierung
Seit Jahrtausenden hat die Menschheit das plötzliche Auftauchen von Kometen als böses Omen kommenden Unglücks, von Kriegen und Katastrophen interpretiert, vereinzelt aber auch als Wunderzeichen. Selbst das wissenschaftlich bereits aufgeschlossene 17. Jahrhundert war noch immer in diese Magisierung verstrickt, und auch Astronomen vom Range Johannes Keplers interpretierten Kometen als „ominös“ (im Sinne der Wortherkunft).
Seit Beginn des 14. Jahrhunderts stellten Künstler den Stern von Betlehem als Kometen dar, als einer der ersten war es Giotto di Bondone aus Florenz im Jahr 1302. Mit Edmund Halleys Entdeckung der Periodizität im Jahr 1682 legte sich die Furcht vor Kometen etwas. Magische Zuschreibungen werden aber noch heute vorgenommen, wie an der Massenselbsttötung der Heaven’s-Gate-Mitglieder beim Erscheinen des Kometen Hale-Bopp im Jahr 1997 zu erkennen ist.
Komet Caesar
Antiken Berichten zufolge erschien im Jahr 44 v. Chr. während Feierlichkeiten zu Ehren Venus Genetrix kurz nach der Ermordung Julius Caesars für mehrere Tage ein sehr heller Haarstern am römischen Himmel. Die Erscheinung wurde von den Römern als Zeichen der Vergöttlichung Caesars und des Aufstiegs seiner Seele in den Himmel gedeutet. Von Kaiser Augustus gefördert wurde der Komet Caesar (in der Antike auch 'Sidus Iulium' genannt) Teil des Kultes um den Staatsgott Divus Iulius und damit fester Bestandteil der römischen Mythologie.
Siehe auch
Liste der Kometen
Astronomische Objekte
Exokomet
Kleinkörper (Astronomie)
Liste der besuchten Körper im Sonnensystem
Meteoroid
Literatur
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John C. Brandt, Robert D. Chapman: Introduction to Comets. University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-00466-7.
Gary W. Kronk: Cometography – A Catalog of Comets. Cambridge University Press, Cambridge 2000–2008, ISBN 0-521-58504-X.
Band 1. Ancient–1799
Band 2. 1800–1899
Band 3. 1900–1932
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Ernst Zinner: Die fränkische Sternkunde im 11. bis 16. Jahrhundert. ()
Rezeption
Kometenlied in Der böse Geist Lumpacivagabundus von Johann Nestroy, 1833
Weblinks
Kometen Einführung
Kometen: Boten vom Rand des Sonnensystems
Paul Wiegert’s PhD thesis:The Evolution of Long-Period Comets
ESA-Pressemitteilung zur Rosetta-Mission
Beobachtbare Kometen, Liste der Internationalen Astronomischen Union (IAU) (englisch)
Homepage der VdS-Fachgruppe Kometen
ISSI Publikation Spatium Nr. 4: Kometen (PDF, 658 kB)
Amateurfotos von Kometen
Einzelnachweise
Wikipedia:Artikel mit Video |
10130 | https://de.wikipedia.org/wiki/Komodowaran | Komodowaran | Der Komodowaran (Komodo-Waran) oder Komododrache (Varanus komodoensis) ist eine Echse aus der Gattung der Warane (Varanus), deren Verbreitungsgebiet auf einige der Kleinen Sundainseln von Indonesien beschränkt ist. Mit einer Körperlänge von maximal drei Metern und einem Gewicht von über 70 kg ist er einer der größten rezenten Vertreter der Schuppenkriechtiere. Das Beutespektrum der tagsüber aktiven Tiere verändert sich mit dem Alter und zunehmender Körpergröße und reicht von Insekten bis hin zu Säugetieren wie Mähnenhirschen und Wildschweinen. Er ist der einzige Waran, der regelmäßig Beutetiere dieser Größe schlägt. Die Jagd auf große Säugetiere wird durch ein in spezialisierten Drüsen im Unterkiefer produziertes Gift unterstützt, welches unter anderem die Blutgerinnung verringert und einen Schock verursacht. Entflohene Beute kann an diesem Gift auch noch nach Tagen zugrunde gehen. Auch Aas ist ein wichtiger Bestandteil des Nahrungsspektrums.
Die Komodowarane sind in ihrem Verbreitungsgebiet die wichtigste Attraktion für den Tourismus, doch teils unbeliebt bei der ansässigen Bevölkerung, da sie gelegentlich Nutztiere reißen. Der Bestand des Komodowarans wird meist mit etwa 4000 Exemplaren angegeben, könnte mittlerweile jedoch auf unter 3000 gesunken sein. Die IUCN gab die Zahl geschlechtsreifer Individuen 2021 mit 1400 an, die Zahl juveniler Exemplare mit etwa 2000. Die Rote Liste gefährdeter Arten der IUCN stuft den Komodowaran seit dem Jahr 2019 u. a. wegen des kleiner werdenden Lebensraums als endangered (stark gefährdet) ein.
Merkmale
Färbung
Adulte Komodowarane besitzen eine nahezu einheitlich erdbraune Körperoberseite, eine gräuliche Bauchpartie und hellgelbe Augenlider. Weibchen können an der Schnauze zusätzlich gelbgrün, grünbraun, rosa oder violett gepunktet sein. Jungtiere zeigen hingegen ein braunes Muster mit großen gelben oder orangen Flecken am Rücken und auf der Schnauze. Die Schläfenregion hat bei Jungtieren eine gräuliche, mit weißen Flecken durchsetzte Färbung. Die Vorderbeine sind braun mit weißen Flecken, der Bauch ist hellgelb mit einigen großen dunklen Flecken. Die Juvenilzeichnung verliert sich nach und nach mit dem Alter: Subadulte Exemplare haben immer noch eine hellere Färbung auf der Schnauze. Dies gilt besonders für die Weibchen, deren Körper jedoch im subadulten Alter bereits einheitlich braun sind. Die Iris ist bei Jungtieren hellbraun, später braun. Die Zunge hat, unabhängig vom Alter des Tieres, eine gelbe Färbung.
Aufgrund der Größe, des kräftigeren Körperbaus und der verschiedenen Färbung ist die Verwechslung mit einer sympatrisch vorkommenden Unterart des Bindenwarans (Varanus salvator) ausgeschlossen.
Anatomie
Ausgewachsene Komodowarane sind massig gebaute, große Echsen mit einer arttypisch breiten Schnauze. Jungtiere sind noch recht zierlich gebaut, werden im Verlaufe ihrer Entwicklung aber immer gedrungener, die Hinterbeine stämmiger und kürzer und der schlanke Schwanz proportional zunehmend kürzer und dicker, bis er nur noch etwa die Hälfte der Körperlänge ausmacht. Die Zehen sind mit relativ kurzen, sehr scharfen, nach hinten gekrümmten Krallen versehen. Weitere besondere anatomische Details sind Hautknochenplatten unter den Schuppen der Vorderseite der Beine, am Schwanzansatz, um den Hals und dorsal auf dem Schädel.
Das Gebiss zeigt innerhalb der Art eine recht konstante Anzahl leicht nach hinten gekrümmter, spitz zulaufender Zähne, die bei sehr großen Individuen bis zu 2 cm lang sein können. Der Oberkiefer trägt am vorne liegenden Zwischenkieferbein (Incisivum) sieben und der nach hinten anschließende paarige Oberkieferknochen (Maxillare) je 13 Zähne. Der Unterkiefer (Mandibula) besitzt beidseits zwölf Zähne. Charakteristischerweise weisen die Zähne des Maxillare an ihrem Hinterrand eine Linie mit 14 bis 55 feinen Widerhaken auf.
Die Art zeigt einen geringen Geschlechtsdimorphismus: Männchen werden in der Regel etwas größer und massiger als Weibchen und weisen oft in der zweiten und dritten Schuppenreihe vor der Kloake zwei Einsenkungen auf, die rosettenartig von kleinen Schuppen umgeben sind.
Länge und Gewicht
Wildlebende Komodowarane erreichen die Geschlechtsreife geschlechtsunabhängig bei einer Gesamtlänge von etwa 150 cm. Adulte Tiere weisen auf Komodo näherungsweise eine Durchschnitts-Kopf-Rumpf-Länge von 92 cm bei einer Gesamtlänge von zirka 196 cm und einem Durchschnittsgewicht von 23 kg auf, wie aus einer Studie an den größten 15 % von 226 Individuen hervorgeht. Auf beutereichen Inseln erreichen dominante Individuen, darunter insbesondere Männchen, auch regelmäßig Gesamtlängen zwischen 225 und 260 cm. Sporadisch werden von letzteren sogar Gesamtlängen von gegen 300 cm erzielt. Das größte bisher seriös vermessene Männchen stammt von Loh Liang auf Komodo und wies eine Kopf-Rumpf-Länge von 154 cm bei einer Gesamtlänge von 304 cm und einem Gewicht von 81,5 kg auf. Das größte Weibchen stammt aus dem Wae Wuul Reservat auf Flores und besaß eine Kopf-Rumpf-Länge von 135 cm bei einer Gesamtlänge von 267 cm und einem Gewicht von 42 kg. Das längste vermessene Exemplar des Bindenwarans (Varanus salvator) übertrifft mit 3,21 m die Länge des Komodowarans, jedoch wird der deutlich schwerere und kräftigere Komodowaran allgemein als größte rezente Echse bezeichnet.
Verbreitung und Lebensraum
Der Komodowaran lebt in Indonesien auf den Kleinen Sundainseln: Komodo, Rinca, Gili Dasami, Gili Motang und in küstennahen Bereichen im Norden und Westen des Westteils der Insel Flores. Laut ansässiger Bevölkerung leben Komodowarane auch im Nordwesten von West-Flores und auch auf Ost-Flores; diese Vorkommen sind jedoch nicht bestätigt.
Auf den gebirgigen Inseln Komodo und Rinca finden sich Komodowarane nahezu überall. Sie bewohnen dort bevorzugt Savannen und saisonal geprägte Monsunwälder, daneben auch Grasland, nahezu immergrüne Wälder und vegetationsreiche Strandabschnitte. Die Populationsdichte ist in den Niederungen am höchsten und wird gegen Meereshöhe deutlich geringer. Vereinzelte Individuen konnten auf Komodo sogar bis in Meereshöhe nachgewiesen werden. Auf Gili Dasami wird die Art vornehmlich in den dort vorherrschenden, saisonal grünen Monsunwäldern gefunden. Auf Gili Motang dominieren ebenfalls Monsunwälder die Landschaft, in den küstennahen Bereichen im Norden und Südwesten lebt der Komodowaran jedoch auch in Savannen. Auf Flores bewohnt die Art ebenfalls verschiedenste Vegetationsformen, darunter insbesondere Savannen, Grasland, verschiedene trockene bis feuchte Monsunwaldtypen und Mangrovenwälder. Generell sind für Komodowarane Übergangszonen zwischen dichteren und offeneren Landschaftsformen für eine optimale Anpassung an tägliche Klimaschwankungen und die durch die lange Trocken- und die kurze Regenperiode begründeten saisonalen Klimaschwankungen wichtig. Allzu offene oder dichte und feuchte Gebiete werden gemieden.
Lebensweise
Allgemeines
Junge Komodowarane sind hervorragende Kletterer und halten sich nahezu ausschließlich auf Bäumen auf. Hauptgründe sind die Futtersuche, gute Verstecke, Sonnungsplätze und Schutz vor kannibalischen großen Artgenossen. Mit zunehmender Größe wird das Klettern immer langsamer und bedächtiger, jedoch sind Tiere unter 150 cm immer noch fähig, Stämme vertikal bis in 10 m Höhe zu erklimmen. Mit einer Größe um die 100 cm breiten sie ihren Aktivitätsraum immer mehr auf den Boden aus und gehen ab einer Gesamtlänge von zirka 150 cm zu einer bodenbewohnenden Lebensweise über, da Körpergröße und Masse das Klettern nicht mehr erlauben. Treppensteigen ist auch für schwere Exemplare möglich. Die Einwohner von Komodo bauen ihre Häuser auf Stelzen und halten die Außentüren geschlossen.
Komodowarane sind sehr aktiv. Abgesehen von Verdauungspausen legen große Individuen täglich durchschnittlich etwa 450 bis 960 m, teilweise sogar bis zu 5,5 km in einem etwa 4,8 km/h schnellen Trott zurück. Bewegungen des Komodowarans werden stark von der Suche nach Partnern in der Paarungszeit sowie von Aas beeinflusst. Bei Gefahr können sie zudem ziemlich unabhängig von ihrer Körpergröße mit 14 bis 18,5 km/h schnell rennen und diese Geschwindigkeit im Notfall für mehr als einen halben Kilometer aufrechterhalten. Sie sind mittelmäßige Schwimmer, die sich mit angeschmiegten Beinen unter Wasser mit wellenförmigen Körperbewegungen fortbewegen und teilweise bis 4 m tief tauchen können. Anders als etliche Warane schwimmen sie jedoch nur selten, meist nur über kurze Distanzen, maximal etwa 450 m weit zu dem Festland vorgelagerten kleinen Inseln.
Die Art ist von Sonnenaufgang (um 6 Uhr) bis Sonnenuntergang (um 19 Uhr) tagaktiv. Dieses Aktivitätsmuster bleibt in seinen Grundzügen das ganze Jahr über gleich, zumal Komodowarane keine saisonale Ruheperiode halten. In der Regenzeit von Januar bis März konzentriert sich die Aktivität auf die wärmsten Tagesstunden um die Mittagszeit. Im trockeneren Rest des Jahres wärmen sich die Tiere morgens in offenem Gelände von etwa 28 °C auf 40 °C auf, ruhen um die heiße Mittagszeit in kühlen Verstecken und zeigen ab 13:30 Uhr verstärkte Bewegungsaktivität in bewaldeten Gebieten, gegen 17 Uhr auch wieder in offenerem Gelände. Als Unterschlupf während der heißesten Tagesstunden und in der Nacht nutzen adulte Komodowarane bevorzugt einen ihrer zahlreichen, 0,75 bis 3,2 m langen und mit den Vorderbeinen selbstgegrabenen Bauten, daneben auch Höhlen von Säugetieren oder dichte Vegetation. Jungtiere verstecken sich in Astlöchern, Baumhöhlen oder unter loser Rinde.
Ernährung
Komodowarane sind opportunistische Jäger, die ihre Beute züngelnd orten und sich aus der Nähe auf ihren Sehsinn verlassen. Jungtiere ernähren sich primär von kleinen Echsen und Insekten, die sie aktiv unter Baumrinde, seltener auch im Gras aufspüren. Komodowarane bis zu einer Gesamtlänge von etwa 100 cm sind ebenfalls noch aktive Jäger, die ihre Beute teilweise für bis zu 15 Sekunden verfolgen. Sie fressen bevorzugt Nagetiere, die sie aus deren Gangsystemen ausgraben, sowie bodenbewohnende Vögel und deren Eier. Adulte Individuen erbeuten hauptsächlich große Wirbeltiere, die bevorzugt halb bis gleich viel, regelmäßig aber auch doppelt so viel wiegen wie der Waran selbst. Die häufigsten Beutetiere sind junge Mähnenhirsche und kleine Wildschweine, daneben auch Makaken, verwilderte Hunde, domestizierte Ziegen, diverse giftige und ungiftige Schlangen, Meeresschildkröten und deren Eier, bodenbewohnende Vögel und deren Eier, Kälber von Wasserbüffeln und Sambar sowie Fohlen verwilderter Hauspferde. Selten werden sogar Beutetiere über 100 kg attackiert, in ungewöhnlichen Fällen sogar bis zu 320 kg schwere Wasserbüffel überwältigt. Des Weiteren werden besonders an Orten mit hoher Populationsdichte auch junge Artgenossen (Kannibalismus) gefressen.
Adulte Komodowarane jagen aus dem Hinterhalt, indem sie sich am Rand von Wildwechseln auf die Lauer legen, die Beute beim Schlafen überraschen oder sich langsam an sie anpirschen. Aus etwa 1 m Distanz wird die Beute durch plötzliches Vorpreschen gepackt. Kleinere Beutetiere werden sodann mit der Schnauze auf dem Boden totgedrückt, totgeschüttelt oder schlicht durch einen einfachen Biss getötet. Große Beute wird am Hinterbein, Gesäß oder Genick gepackt, durch heftiges Ziehen und Schütteln zu Boden gerungen, fixiert, weitere tiefe Wunden gebissen und die Eingeweide herausgerissen, was zum Verbluten führt. Vom Angriff bis zum Tod vergehen dabei meist 2,5 bis 4 Minuten. Einem sehr großen Beutetier werden die Achillessehnen durchgebissen und dieses durch weiteres Beißen und Ziehen nach und nach zu Fall gebracht und überwältigt. Gelegentlich missglücken solche Attacken, sodass die verletzte Beute flieht und teilweise erst Tage später an der Vergiftung stirbt.
Darüber hinaus wird von semiadulten (heranwachsenden) und adulten Komodowaranen wann immer möglich Aas gefressen. Dieses können sie durch Züngeln bereits auf etwa 3 km, unter optimalen Bedingungen sogar schon aus 11 km Entfernung wahrnehmen. Der Waran folgt dann der Geruchsspur bis zum Kadaver. An größerer Beute sammeln sich in seltenen Fällen bis zu 17 Individuen. Während einer solchen Futteraggregation warten große Individuen in einem Radius von etwa 1,5 m um die Nahrungsressource, bis das in der Hierarchie über ihnen stehende Tier gesättigt den Platz verlässt. Kleinere Individuen müssen warten, bis sie zum Zug kommen können.
Wie bei allen Waranen wird die Beute ganz oder in großen Brocken verschluckt. Durch Hin-und-her-Schleudern und Auf-den-Boden-Schlagen werden Knochen disartikuliert, und mit den gesägten Zähnen wird das Fleisch durch ruckartige Körperbewegungen zerrissen. Die Beute wird nahezu vollständig gefressen, bei größeren Kadavern können nur etwa 8 %, bei sehr großen maximal 30 % nicht verwertet werden. Bei einer Mahlzeit können Komodowarane bis über 70 % ihres eigenen Körpergewichtes an Nahrung aufnehmen. Ein 42 kg schweres Tier ist beispielsweise fähig, ein 30 kg schweres Wildschwein innerhalb von 17 Minuten zu zerlegen und nahezu komplett zu fressen. Die Verdauung dauert drei bis sechs Tage, schlecht verdauliche Teile wie Haare, Federn, Klauen, Hufe, Zähne und größere Knochen werden bereits im Vorfeld wieder ausgewürgt. Die Erfolgsquote größerer Komodowarane bei aktiver Jagd und Aassuche ist recht niedrig, weswegen sie nur etwa einmal im Monat zu einer größeren Beute kommen. Jüngere Komodowarane hingegen fressen noch häufiger und in regelmäßigeren Abständen kleinere Mahlzeiten.
Rolle von Gift und Bakterien im Jagdverhalten
Der Komodowaran besitzt im Unterkiefer Giftdrüsen, die aus einem klar abgegrenzten Hohlraum (Lumen) sowie Gängen bestehen, die sich zwischen den Zähnen des Unterkiefers in die Mundhöhle öffnen. Die wirksamen Bestandteile des Gifts sind wie bei allen Reptiliengiften eine Mischung verschiedener Proteine, beim Komodowaran Kallikrein, Phospholipase A2 (PLA2), natriuretische Peptide, Proteine der AVIT-Familie sowie CRISP-Proteine. Das Gift bewirkt Bewusstlosigkeit durch schnellen Blutdruckabfall (arterielle Hypotonie) und übermäßige Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) sowie Hemmung der Blutgerinnung (Koagulopathie) mit beschleunigtem Verbluten unter Volumenmangelschock. Das Gift optimiert die Jagd, womöglich können große Beutetiere nur deswegen überwältigt werden. Erste biomechanische Studien am Schädel des Komodowarans deuten nämlich darauf hin, dass der Schädel im Wesentlichen nur auf Zug von vorne gut ausgerichtet ist. Daneben hat der Kiefer mit 39 Newton (N) eine nur geringe Beißkraft (Leistenkrokodil mit vergleichbarer Körpergröße: 252 N). Der initiale giftige Biss kann folglich die fehlende Belastbarkeit des Schädels kompensieren und das Niederringen des Beutetieres vereinfachen. Im Vergleich dazu haben andere große Raubtiere wie Großkatzen für den Angriff auf große Beutetiere sehr viel belastbarere Schädel.
Früher wurde vermutet, dass größere, gebissene Beute nach einer misslungenen Attacke Tage später an einer bakteriellen Sepsis (Blutvergiftung) stirbt. Tatsächlich finden sich im Speichel des Komodowarans verschiedene pathogene Bakterien, die nach einiger Zeit den Tod durch Sepsis verursachen können. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass diese Bakterien in der Regel beim Verenden entflohener Beutetiere eine untergeordnete Rolle spielen und der Hauptgrund für das doch eher rasche Sterben der Wirkung des applizierten Gifts zuzuschreiben ist.
Giftdrüsen sind bei den „Echsen“ (Schuppenkriechtiere, exklusive Schlangen (Serpentes)) nicht auf den Komodowaran beschränkt, sondern kommen wahrscheinlich bei allen Waranen sowie allen Mitgliedern des Taxons Toxicofera vor, dem auch die Warane angehören. Wie bei allen Waranen scheint es auch beim Komodowaran wahrscheinlich, dass das Gift mit Bestandteilen wie PLA2 auch die Verdauung unterstützt.
Sozialverhalten und Aktionsräume
Komodowarane sind primär Einzelgänger. Dominante Individuen beanspruchen 258 bis 529 Hektar große, über Jahre beibehaltene Territorien, die sie mit Exkrementen markieren. Die Reviere der Warane können in ein kleines Kernareal und ein großes Streifgebiet unterteilt werden. Im Kernareal mit den präferierten Sonnungsstellen, Versteckplätzen und den bedeutendsten Beutepfaden finden etwa die Hälfte aller Aktivitäten statt. Im ebenfalls sehr gut vertrauten Streifgebiet werden in regelmäßigen Abständen auf zahlreichen Routen Brutstellen, Wildtierpfade und Schlafstellen nach potentieller Beute abgesucht. Daneben besitzen dominante Komodowarane noch ein viel größeres, schwieriger zu quantifizierendes Areal, welches sie zum Auffinden von Tierkadavern beanspruchen. Im Gegensatz zu Kernarealen werden Streifgebiete nicht speziell verteidigt und überschneiden sich bei dominanten Männchen im Schnitt zu 35 % mit den Streifgebieten anderer Männchen und bis zu 99 % mit denen von Weibchen. Junge und jüngere adulte Tiere sind Durchzügler, bewegen sich nach eher zufälligen Mustern sehr vorsichtig über weitere Areale und scheinen kein eigenes Revier zu haben. Diese Bewegungen könnten eine wichtige Rolle in der Populationsgenetik spielen.
Die innerartliche Kommunikation der Komodowarane ist für Echsen sehr weit entwickelt. Kommen mehrere Individuen an einer Nahrungsressource zusammen, begegnen sie sich zufällig oder konkurrieren während der Paarungszeit um Fortpflanzungspartner, zeigen sie verschiedenartiges Ausdrucksverhalten, um ein hierarchisches Verhältnis herzustellen. Hierzu dienen vordergründig visuelle Signale. Drohgebärden beinhalten in ansteigenden Stufen Kopfhochstellen, senkrechtes Kehlespreizen, Zischen, Schwanz in Peitschposition bringen, Maulöffnen, auf den Gegner zurennen und Beißen. Unterwerfung wird durch Kopfsenken und hochbeinig in steifem Schritt Weglaufen, Körper auf den Boden pressen und Beine von sich strecken oder durch Wegrennen signalisiert. In der Regel lässt das dominante Tier dem Unterlegenen die Chance zu fliehen. Bei der Versammlung mehrerer Tiere um eine Nahrungsressource werden Artgenossen toleriert, wenn sie sich im Hierarchiesystem einordnen.
Fortpflanzung und Entwicklung
Die Balz- und Paarungszeit des Komodowarans reicht von Mai bis August, gelegentlich werden Paarungen aber auch außerhalb der eigentlichen Saison beobachtet. Oft treffen sich die Geschlechter zufällig an einem Kadaver. Die Männchen legen auf der Partnersuche aber auch häufig große Strecken zurück. Ist beim Zusammentreffen mehrerer paarungsbereiter Warane die Hierarchie unter den Männchen noch nicht geregelt, liefern sich diese ritualisierte Kämpfe um die Weibchen, sogenannte Kommentkämpfe. Diese verlaufen beim Komodowaran „warantypisch“: Die Kontrahenten richten sich einander zugewandt auf ihren Hinterbeinen auf, stützen sich mit ihrem Schwanz ab, greifen den Oberkörper des Gegners mit den Vorderbeinen und versuchen, den Gegner zu Fall zu bringen. Der Gewinner erhält Zugang zu einem oder mehreren Weibchen. Weibchen werden umworben, indem sie zuerst von der Schnauzenspitze bis zur Kloake bezüngelt werden. Dann reibt das Männchen seinen Kopf am Weibchen, drückt seine Schnauze auf ihre Schwanzwurzel, kratzt sie mit den Vorderbeinen am Rücken, und schließlich steigt das Männchen zur Paarung auf ihren Rücken. Weibchen zeigen sich während der ersten Phase der Balz oft abwehrend, drohen oder beißen und reißen sich los, weswegen die Paarung meist erst nach mehreren Anläufen gelingt.
Die Weibchen legen in der Trockenzeit, meist im September, Gelege von maximal 33, im Schnitt 18 ledrigen Eiern, die durchschnittlich 87 × 56 Millimeter groß sind und 125 Gramm wiegen. Sie werden bevorzugt in bereits von Großfußhühnern angelegte, bis zu 1,5 Meter hohe Bruthügel vergraben. Daneben werden unter anderem auch selbst ausgehobene Nistmulden verwendet. Häufig werden die Eier eines Geleges auf mehrere Nester verteilt, um die Überlebenschancen gegenüber Nesträubern zu steigern. Weiter wurden Weibchen beobachtet, die in regelmäßigen Abständen ihr Gelege besuchten oder dieses beinahe permanent über drei Monate hinweg bewachten. Die Jungtiere schlüpfen schließlich nach einer sehr langen Inkubationsperiode von etwa acht Monaten am Ende der Regenzeit von März bis April. Sie sind beim Schlupf im Schnitt 42 cm lang und wiegen 100 g. Im ersten Lebensjahr wachsen die Jungtiere beinahe auf das Doppelte ihrer Geburtslänge heran, danach nimmt die Wachstumsgeschwindigkeit stetig ab. Im Vergleich zu anderen Waranen werden Komodowarane verhältnismäßig spät geschlechtsreif. In Gefangenschaft erreichen sowohl männliche als auch weibliche Tiere die Geschlechtsreife frühestens mit fünf Jahren. Für freilebende Weibchen wird das jeweilige Alter auf etwa neun Jahre und für Männchen auf zehn Jahre geschätzt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Tier gewöhnlich mehr als elf Jahre benötigt, um eine Länge von über zwei Metern zu erlangen.
Aus Zoos sind von Komodowaranen bisher mindestens zwei bestätigte Fälle von Parthenogenese bekannt. Als Parthenogenese bezeichnet man die Fähigkeit eines weiblichen Tieres, lebensfähige Junge ohne vorherige Befruchtung durch ein Männchen zur Welt zu bringen. Bei Komodowaranen und anderen Waranen kommt noch die Besonderheit hinzu, dass sich in parthenogenetisch gezeugten Gelegen nur Männchen, anstelle der üblichen Weibchen finden. Dies hängt mit dem ZW-System bei Reptilien zusammen: Wenn das Weibchen zwei Z-Chromosomen weitergibt, entwickeln sich Männchen. Ein Jungtier mit zwei W-Chromosomen ist nicht entwicklungsfähig.
Natürliche Feinde und Lebenserwartung
Größere Komodowarane haben keine Fressfeinde, Jungtiere hingegen werden außer von ihren großen Artgenossen auch von verwilderten Hunden, Zibetkatzen, Wildschweinen, Greifvögeln und Schlangen gejagt. Wildlebende Komodowarane werden vor allem von der Zecke Amblyomma robinosoni, aber auch von Aponomma komodoense und Amblyomma helvolum parasitiert. Die Zecken finden sich meist am Rücken und an den Flanken, vor allem über der Lateralfalte und an den Ansätzen der Beine. Die Anzahl von Zecken ist während des Höhepunkts der Trockenzeit am größten und nimmt nach Beginn der Regenzeit stark ab. Als Endoparasiten gelten Amöben der Gattung Endolimax und Bandwürmer der Gattungen Duthiersa und Acanthotaenia.
Angaben zum Durchschnitts- und Maximalalter freilebender Individuen sind unbekannt. Die maximale Lebenserwartung wird auf mindestens 30 Jahre geschätzt. Im Taronga Zoo in Sydney wurde ein Exemplar 24 Jahre alt.
Systematik
Die Erstbeschreibung erfolgte 1912 durch Pieter Ouwens, damals Direktor der zoologischen Sammlung von Bogor (Java). Ouwens verwendete die Haut eines adulten Exemplars als Holotypus und veröffentlichte als zusätzlichen Beweis Fotografien. Anhand seiner Hemipenismorphologie wird der Komodowaran innerhalb der Gattung Varanus in die Untergattung Varanus gestellt. Laut DNA-Analysen ist Varanus varius die Schwesterart von Varanus komodoensis. Die zwei Arten bilden zusammen das Schwestertaxon von Varanus salvadorii und alle drei Arten zusammen die V. varius-Gruppe innerhalb der Indo-Australischen Warane. Schwestergruppe der V. varius-Gruppe sind die kleinwüchsigen Warane der Untergattung Odatria. Obwohl im Verbreitungsgebiet des Komodowarans merkliche genetische Unterschiede festgestellt wurden, wird aktuell sowohl auf morphologischer als auch auf genetischer Basis keine Unterart anerkannt.
Stammesgeschichte
Anfänglich wurde angenommen, die enorme Körpergröße des Komodowarans hätte sich nach Einwanderung einer kleineren Waranart auf die Kleinen Sundainseln aufgrund von Inselgigantismus, vielleicht auch als Anpassung an die Jagd auf die heute ausgestorbenen Zwergelefanten der Gattung Stegodon, entwickelt. Nach heutigen molekularbiologischen und paläobiogeographischen Erkenntnissen ist der Komodowaran Teil einer Indo-Australischen Klade großer Warane, die ihre enorme Größe bereits während des Pliozäns in Australien entwickelte und unter anderem auch den größten Waran überhaupt enthielt (Varanus priscus, starb nach dem Pleistozän aus). Der Komodowaran entwickelte sich im frühen Pliozän in Australien. Dass während der letzten Eiszeiten oft der Meeresspiegel sank, hätte eine weitere Ausbreitung nach Südwesten im indonesischen Archipel begünstigt. Der Komodowaran erreichte vor etwa 900.000 Jahren Flores, Vorkommen zu dieser Zeit werden durch fossile Zähne belegt. Java besiedelte er wahrscheinlich vor 800.000 bis 700.000 Jahren. Er starb schließlich, bis auf den Bereich seiner heutigen Verbreitung, aus. Der Komodowaran ist somit als letzter Überlebender einer australischen Radiation großer Warane anzusehen.
Bestand und Gefährdung
Mitte der 1990er-Jahre lebten ungefähr 5000–8000 wildlebende Komodowarane. Bestandsschätzungen von 2002 gingen von rund 2000 Exemplaren auf Flores, 1700 Exemplaren auf Komodo, 1300 Exemplaren auf Rinca und je 100 auf Gili Motang und Gili Dasami aus, insgesamt also knapp mehr als 5000 Exemplaren der Bestand auf Flores könnte jedoch mittlerweile auf 500 Exemplare gesunken sein. Die IUCN gab 2021 die Anzahl geschlechtsreifer Individuen mit 1383 an, die Zahl juveniler Tiere mit etwa 2000, der Populationstrend wird als stabil bewertet.
Die IUCN stuft den Komodowaran seit 2019 in der Roten Liste gefährdeter Arten als stark gefährdet (endangered) ein, nachdem zuvor seit 1996 nur die Einstufung gefährdet (vulnerable) galt und bereits 2004 der Vorschlag gemacht wurde, die Einstufung anzupassen. Auf seinem Kongress in Marseille im September 2021 berichtete die IUCN von der Höherstufung des Komodowarans einer breiteren Öffentlichkeit, der Bestand im Nationalpark Komodo sei gut geschützt. Wenig bekannt sei über den Bestand auf der Insel Flores außerhalb der Schutzgebiete.
Als Hauptbedrohungen für den Komodowaran gelten aktuell Habitatfragmentierung bzw. -verlust und vor allem der Rückgang der Populationen von Mähnenhirschen, Wildschweinen und Wasserbüffeln, den wichtigsten Beutetieren für große Warane. Verantwortlich für den Rückgang sind Wilderei, Brände (teils durch Menschen verursacht) und Rodung, letztere beide vor allem, um neues Ackerland zu gewinnen. Auf Gili Motang wurden die Auswirkungen des Beutetierrückgangs genauer untersucht: Es konnte festgestellt werden, dass dort die Komodowarane wegen Beutemangel im Vergleich zu anderen Populationen deutlich kleiner blieben und 2004 die Fangrate von Waranen in Fallen mit Ködern 63,56 % niedriger war als 1994. Das Aussterben des Komodowarans auf Padar (ebenfalls Kleine Sundainseln) in den späten 1970ern ist wahrscheinlich auch auf Mangel an größeren Huftieren zurückzuführen. Daneben müssen Komodowarane oft mit verwilderten Haushunden um Aas konkurrieren.
1980 wurde zum Schutz des Komodowarans der Nationalpark Komodo gegründet, später wurden noch im Westen von Flores das Wae Wuul Reserve und im Norden das Wolo Tado Reserve gegründet. Die Tiere sind in Indonesien streng geschützt. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen listet den Komodowaran in Anhang I, somit ist ohne Sondergenehmigungen jeglicher Handel mit lebendigen Komodowaranen oder Körperteilen von ihnen (z. B. Häute) verboten. Im Nationalpark Komodo versuchen Ranger die für den Rückgang von Beutetieren mitverantwortliche Wilderei zu unterbinden. Erhaltungszuchten in Gefangenschaft können ebenfalls dem Erhalt der Art dienen. Die erste Nachzucht in menschlicher Obhut außerhalb des Heimatlandes Indonesien erfolgte 1992 im Smithsonian National Zoological Park. Die erste europäische Nachzucht glückte 2004 in einem Zoo auf Gran Canaria.
Komodowarane und Menschen
Verhalten gegenüber Menschen
Komodowarane meiden die Konfrontation mit Menschen. Jungtiere sind scheu und fliehen bei Annäherung eines Menschen teilweise schon auf 100 m Distanz schnell in ein Versteck. Ältere Tiere ziehen sich erst bei geringerer Distanz in einem langsamen Trott zurück. Werden Komodowarane jedoch in die Enge getrieben, reagieren sie aggressiv, sperren das Maul auf, zischen warnend und bringen ihren Schwanz in Peitschposition. Lässt der Angreifer nicht ab, gehen sie zum Gegenangriff über, indem sie auf den Gegner zulaufen und ihn schließlich zu beißen versuchen.
Es existieren einige Berichte, wonach Komodowarane angeblich Menschen attackiert oder in Einzelfällen sogar getötet und gefressen haben sollen. Von den wenigen seriös nachprüfbaren Berichten haben sich die meisten Attacken als Verteidigungsbisse bei Bedrohung durch den Menschen herausgestellt. Nur wenige Vorfälle sind nachweislich unprovoziert geschehen. Auffenberg (1981) ist der Überzeugung, dass diese Attacken nur auf wenige abnormale Individuen zurückzuführen sind, welche die Scheu vor Menschen verloren haben und sich ungewöhnlich aggressiv verhalten.
In Gefangenschaft können Komodowarane zahm werden, erkennen ihre Pfleger und zeigen zuweilen Spielverhalten. Sie gelten wie alle Warane als vergleichsweise intelligent.
Verhältnis zur lokalen Bevölkerung
Komodowarane sind bei der einheimischen Bevölkerung teils sehr unbeliebt, weil sie gelegentlich Nutztiere (speziell Ziegen) reißen und zum Trocknen aufgehängten oder ausgelegten Fisch fressen. Sie sollen auch frisch bestattete Tote ausgegraben und gefressen haben. Andererseits sind Komodowarane als große Touristenattraktion eine wichtige Einnahmequelle für die Bewohner der Kleinen Sundainseln. 1995/96 gaben Waran-Touristen geschätzte 1,1 Millionen US-Dollar aus, zum allergrößten Teil in den beiden Orten, von denen der Park erreicht werden kann.
Angedachte Touristenbeschränkung als Schutzmaßnahme wieder aufgehoben
Im Jahr 2018 wurde von der örtlichen Regierung beschlossen, die Insel Komodo im Jahr 2020 für Touristen geschlossen zu halten, um neue Bäume zu pflanzen und zur Erholung des Waran-Bestandes Ab dem 1. August 2022 sollte es – so eine Ankündigung der Provinzbehörden – nur noch möglich sein, mit einem Jahresticket für 3,75 Millionen indonesische Rupien (etwa 220 Euro) pro Person die Insel zu besuchen. Zuvor kostete der einmalige Eintritt etwa fünf Euro für einheimische Gäste und zehn Euro für Ausländer. Die Behörden der Provinz Ost-Nusa Tenggara begründeten die Preiserhöhung damit, die Besucherzahl reduzieren zu wollen, um die Riesenechsen besser zu schützen. Tourismusunternehmen und Mitarbeiter der Branche in der Region traten jedoch nach der Ankündigung in einen Streik, weil viele Touristen ihre Reise stornierten. Nach einer Mitteilung des Tourismusministeriums vom Dezember 2022 werden die bisherigen Preise für einen einmaligen Eintritt von etwa fünf Euro für einheimische Gäste und zehn Euro für Ausländer nun beibehalten.
Weblinks
komodonationalpark.org – offizielle Website des Nationalpark Komodo
Quellen
Literatur
Walter Auffenberg: The Behavioral Ecology of the Komodo Monitor. University Press of Florida, Gainesville, FL 1981, ISBN 0-8130-1898-6 (englisch).
James B. Murphy, C. Ciofi, C. de la Pennouse & T. Walsh: Komodo Dragons – Biology and Conservation. Smithsonian Books, Washington, D.C. 2002, ISBN 1-58834-073-2 (englisch).
Belege
Warane
Nusa Tenggara Timur
Wikipedia:Artikel mit Video |
10284 | https://de.wikipedia.org/wiki/Deuteronomium | Deuteronomium | Das Deuteronomium (abgekürzt Dtn) ist das fünfte Buch des Pentateuch. Dewarim oder Devarim () ist der Name des Deuteronomiums in jüdisch-hebräischen Bibelausgaben. In den meisten evangelischen Bibelübersetzungen wird es als Fünftes Buch Mose bezeichnet.
Der Inhalt des Buches ist der letzte Tag im Leben seiner Hauptperson Mose. Mose verbringt diesen Tag mit Reden an das versammelte Volk Israel, das sich auf die Überquerung des Jordan und die Eroberung des von seinem Gott JHWH verheißenen Landes vorbereitet. Mose wird daran nicht mehr beteiligt sein, seine Reden werden ihn von nun an gewissermaßen vertreten. Diese Abschiedsreden beziehen sich auf Themen, die innerhalb des Pentateuch bereits in den Büchern Exodus (besonders Kapitel 20–23: Bundesbuch) und Levitikus (besonders Kapitel 17–26: Heiligkeitsgesetz) vorkommen. Am Ende des Deuteronomiums stirbt Mose.
Typisch für das Deuteronomium ist die Verbindung von Gesetzestexten und argumentierenden, werbenden oder warnenden Ausführungen des Mose (Paränese). Diese Mahnrede legt sich wie ein Rahmen als Prolog und Epilog um die juristischen Stoffe, die den Kern des Deuteronomiums (Kapitel 12 bis 26) bilden. In diesem zentralen juristischen Teil tritt Mose als Sprecher in den Hintergrund.
Die stofflichen Übereinstimmungen mit Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz werden mehrheitlich so erklärt, dass das Deuteronomium einen Kommentar zum Bundesbuch darstellt, das Heiligkeitsgesetz dagegen das Deuteronomium kommentiert. Das Deuteronomium enthält eine Neuerung, die auch im altorientalischen Kontext sehr ungewöhnlich ist: Es fordert ein Zentralheiligtum für JHWH anstelle vieler Lokalheiligtümer. Diese Kultzentralisation entspricht der Einheit JHWHs, die im Schma Jisrael proklamiert wird. Die Zehn Gebote sind dem Bundesbuch wie den Gesetzen des Deuteronomiums programmatisch vorangestellt. Diese Positionierung ist wohl als Leseanweisung gemeint, das Bundesbuch im Licht des Deuteronomiums zu verstehen.
Für die älteren Teile des Deuteronomiums wird eine Entstehung in Jerusalem (8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) vermutet. Die Verfasser setzen sich mit neuassyrischer Politik und deren ideologischer Begründung auseinander. Die eigentliche Ausarbeitung des Textes erfolgte aber nach Meinung vieler Exegeten etwas später, in exilischer und frühnachexilischer Zeit. Nun wurde die im Deuteronomium vorausgesetzte Situation zur Deutung der eigenen Existenz wichtig: außerhalb des Landes Israel ein künftiges Wohnen in diesem Land zu imaginieren und sich lernend in die Gebote zu vertiefen, die dann gelten sollen.
Devarim – Deuteronomium – Fünftes Buch Mose
Beim hebräischen Buchtitel handelt es sich um eine Benennung nach den Anfangsworten (Incipit). Sie lauten: „Dies sind die Worte …“, , dies wurde verkürzt zu „Worte“.
In Alexandria übersetzten jüdische Gelehrte im 3. Jahrhundert v. Chr. das Buch in die Verkehrssprache des östlichen Mittelmeerraums, die Koine genannte hellenistischen Form des Altgriechischen. Dabei blieben sie eng an der hebräischen Vorlage. Ihre Übersetzung entstand im Kontext der Übersetzung der gesamten fünf Bücher der Tora ins Griechische, nach Meinung der meisten Fachleute nach dem Buch Exodus. Ob sie zeitlich vor Levitikus und Numeri anzusetzen ist, bleibt allerdings unsicher. Der Buchtitel lautet . Er soll den Inhalt des Buchs charakterisieren. Die Formulierung findet sich im Deuteronomium selbst: Die Übersetzer nahmen eine leichte Sinnveränderung in vor. Im hebräischen Text geht es um die Anfertigung einer Kopie der Weisung, im griechischen Text dagegen um eine Kopie eines Textes, der „zweites Gesetz“, Deuteronómion, heißt. Damit meinten die alexandrinischen Gelehrten sehr wahrscheinlich das 5. Buch Mose, so Karin Finsterbusch. In der rabbinischen Literatur wird der gleichbedeutende Ausdruck manchmal für das Buch Deuteronomium gebraucht.
Von der Septuaginta übernahmen die Übersetzer der Vulgata den Buchtitel: Deuteronomium. Diese latinisierte Schreibweise ist in der wissenschaftlichen Literatur vorherrschend.
Die im evangelischen Raum übliche Bezeichnung Fünftes Buch Mose steht ebenfalls in einer Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Bereits Flavius Josephus bezeichnete im 1. Jahrhundert n. Chr. die Tora als die „fünf Bücher Mose“.
Sprache
Das Deuteronomium ist ein Prosatext. Er ist weniger zum stillen Lesen als zum Vortrag gedacht, wobei er durch rhetorische Mittel die Hörer beeindruckt: Weit gespannte Satzperioden, in Sprechzeilen gegliedert und mit Assonanzen geschmückt, erzeugen einen wogenden Rhythmus. Einerseits wird im Deuteronomium argumentiert und um die Zustimmung des Hörers geworben, andererseits hat das Buch ein pädagogisches Interesse. Leitworte und wiederkehrende Formulierungen prägen religiöse Inhalte ein bzw. rufen sie in Erinnerung. Diese „rhetorische Kunstprosa“ zeichnet sich durch einen hohen Wiedererkennungswert aus. Der hebräische Text des Deuteronomiums hat eine besondere ästhetische Qualität. So heißt es in der Encyclopedia Judaica: „Der Stil des Deuteronomiums zeichnet sich aus durch seine Einfachheit, Flüssigkeit und Klarheit und ist wiedererkennbar durch seinen Sprachgebrauch und besonders durch seinen rhetorischen Charakter.“
Verfasser, Entstehungszeit und -ort
Das Deuteronomium gibt sich ein archaisches Aussehen, indem alte geographische und ethnische Bezeichnungen und Namen vorzeitlicher Riesen und legendarischer Völker verwendet werden. Doch es gibt Textsignale dafür, dass die Verfasser mit zeitlichem Abstand zu den dargestellten Ereignissen schreiben. Um etwa formulieren zu können: „Nie wieder erstand in Israel ein Prophet wie Mose“ (), musste man von einer langen Reihe von Propheten nach Mose Kenntnis haben. Darum wird eine Abfassung in der vorstaatlichen Zeit, sei es durch Mose oder durch Schreiber in seinem Umfeld, in der historisch-kritischen Forschung kaum vertreten.
Man nimmt an, dass das Buch jünger ist und auch nicht in einem Zug niedergeschrieben wurde. Der Text war quasi lebendig, veränderte sich im Lauf der Jahrhunderte, bis er schließlich eine verbindliche Fassung annahm. Nun wurde er zum Schlussteil eines größeren Werks, des Pentateuch, umgearbeitet. So sehr das Deuteronomium in seiner langen Entstehungsgeschichte ein selbständiges Werk war (diachrone Betrachtung), so sehr gilt auch: Als jetzt vorliegender Endtext ist es das nicht mehr, sondern Abschluss des Pentateuch (synchrone Betrachtung).
Das Zeitfenster für die Entstehung des Deuteronomiums lässt sich so bestimmen:
Zum ersten Mal wird das Deuteronomium für viele Exegeten in der Spätphase des Südreichs Juda erkennbar. Nacheinander regierten hier die Könige Hiskija, Manasse, Amon und Joschija. Im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts v. Chr. nahm die staatliche Administration und damit verbunden die Schreiberausbildung in Jerusalem einen Aufschwung. Ostraka belegen diese zunehmende Schriftlichkeit. Damit ist eine Voraussetzung für die Abfassung eines Gesetzbuchs gegeben.
Ein weiterer Hinweis auf die Datierung ist die Erwähnung von Astralkulten (; ), die nur hier im Pentateuch thematisiert werden. Wahrscheinlich wurden Astralkulte durch aramäisch-assyrischen Einfluss im 8. Jahrhundert v. Chr. in Juda attraktiv.
Die älteste bekannte Pentateuchhandschrift ist 4Q17; sie wurde etwa 250 v. Chr. geschrieben. Davon ausgehend nimmt man an, dass der Pentateuch spätestens etwa 350 v. Chr. zusammengestellt wurde. Die im Deuteronomium enthaltenen Texte sind folglich älter.
Religiöse Veränderungen zur Zeit Hiskijas
Nach dem Ende des Nordreichs Israel 722/720 v. Chr. erlebte das Südreich Juda eine Zeit der Blüte und der territorialen Ausdehnung. Hiskija rechnete aber mit einem bevorstehenden Angriff der Neuassyrer auf Jerusalem und traf Sicherungsmaßnahmen. Die Schiloach-Inschrift ist ein epigraphischer Beleg für diese Kriegsvorbereitungen, denn es geht hierbei um die Wasserversorgung Jerusalems im Fall der Belagerung.
Israelische Archäologen sehen Hinweise auf kultische Veränderungen im Reich Juda bereits in der Regierungszeit Hiskijas. Ze’ev Herzog führt die Aufgabe der JHWH-Heiligtümer von Tel Arad und Tell Be’er Scheva auf die Religionspolitik dieses Königs zurück, was allerdings von Nadav Na’aman in Frage gestellt wird. Die Heiligtümer wurden nicht einfach zerstört (schließlich waren es JHWH-Heiligtümer), sondern quasi respektvoll geschlossen – so die Vertreter dieses Szenarios. Kultzentralisation ist ein zentrales Anliegen des Deuteronomiums. Eine solche Maßnahme war für die ländliche Bevölkerung zweifellos verstörend, auch wenn sie in einem zu dieser Zeit verfassten „Ur-Deuteronomium“ nachträglich legitimiert wurde. Georg Braulik versucht, die Kultzentralisation mit den Kriegsvorbereitungen Hiskijas zu verbinden: Der König siedelte die Landbevölkerung zu ihrem Schutz in befestigte Städte um. Dazu musste die Bindung der Menschen an die Lokalheiligtümer ihrer Großfamilien aufgelöst werden.
Hiskijas Kriegsvorbereitungen waren berechtigt. Im Rahmen einer Strafexpedition zerstörte der assyrische König Sanherib mehrere Städte in der Schefela, darunter Lachisch III, und begann mit der Belagerung Jerusalems (), die er aber aus unbekannten Gründen abbrach – für die Bibel ein von JHWH gewirktes Wunder. Hiskija schickte dem abziehenden Assyrerkönig seinen Tribut hinterher (, bestätigt durch assyrische Quellen) und nahm das Südreich Juda damit aus dem Visier künftiger assyrischer Angriffe.
Manasses Vasalleneid
Der von der Bibel negativ gewertete König Manasse verhielt sich als treuer Vasall der Neuassyrer, was den Untertanen während seiner langen Regierung (694–640 v. Chr.) eine stabile und prosperierende Zeit bescherte.
Der assyrische König Asarhaddon ließ 672 einen Text verfassen, mit dem seine Vasallen auf die von ihm gewünschten Thronfolger verpflichtet wurden: Assurbanipal auf dem Thron Assurs und Šamaš-šuma-ukin auf dem Thron Babylons. Der Text, auf Keilschrifttafeln niedergelegt, wurde assyrisch als adê („Treueid“) bezeichnet. Britische Archäologen fanden 1955 über 350 Fragmente dieser Tafeln im Nabu-Tempel von Nimrud. Bei der Erstveröffentlichung 1958 interpretierte man adê als „Vasallenvertrag“, daher die Bezeichnung The Vassal-treaties of Esarheddon, abgekürzt VTE. Die Ähnlichkeit der bei Untreue angedrohten Flüche mit den Flüchen in Dtn 28 war auffällig. Aber erst 1995 konnte Hans Ulrich Steymans nachweisen, dass die Ähnlichkeiten nicht auf einer altorientalischen Tradition des Drohens und Fluchens beruhen, sondern dass Dtn 28 von den VTE literarisch abhängig ist. Ein Beispiel (Übersetzungen nach Steymans):
„Mögen alle Götter … euren Boden wie (aus) Eisen machen! Nichts möge daraus aufgehen! Wie es vom Himmel aus Bronze nicht regnet, so mögen Regen und Tau auf eure Felder und eure Fluren nicht kommen! Statt Regen … möge es Kohlen auf eurer Land regnen!“ (VTE § 63, Zeile 526–§ 64, Zeile 533)
„Und es wird dein Himmel, der über deinem Kopf (ist), Bronze, und die Erde, die unter dir ist, Eisen. JHWH gebe (als) Regen (für) deine Erde Staub und Asche, vom Himmel komme er herab auf dich bis zu deiner Ausrottung.“ ()
Exemplare der VTE wurden bisher nur in Tempeln gefunden, wo sie von den Vasallenkönigen anscheinend wie Götterbilder verehrt wurden. Man kann daher annehmen, dass auch König Manasse von Juda sein Exemplar im JHWH-Tempel von Jerusalem aufstellte. So wurde der Text in der Jerusalemer Oberschicht bekannt. Der Grundbestand von ist nach Steymans Analyse bald nach 672 geschrieben worden, wobei zu bedenken ist, dass Ninive ab 612 in Trümmern lag und der Text der assyrischen Treueide das Ende des Neuassyrischen Reichs wohl nicht sehr lange überlebte.
Eckart Otto weist auf eine weitere Parallele hin. Schon ein „übles, schlechtes, unpassendes Wort, das für Assurbanipal … nicht angemessen, nicht gut ist“, gilt in den Eidesformeln der VTE als Hochverrat (VTE § 10). Hochverräter müssen angezeigt und an den Palast ausgeliefert werden, am besten ist es aber, „sie zu packen, sie zu töten“ (VTE § 12). Es besteht eine auffällige Ähnlichkeit zu , wo der Tatbestand eines religiösen Hochverrats geschaffen wird, der ebenfalls mit Lynchjustiz geahndet werden soll. „Die Forderung der Lynchjustiz … hat im gesamten Rechtssystem des Alten Testaments keinen weiteren Anhalt, wohl aber in den VTE.“ Sie widerspricht anderen Texten des Deuteronomiums, die ein ordentliches Gerichtsverfahren mit Anhörung von mindestens zwei Zeugen fordern (; ), ein Indiz dafür, dass in Dtn 13,2–10 eine andere Rechtstradition zitiert wurde. Nach assyrischem Vorbild schafft Dtn 13,2–10 eine Art JHWH-Loyalitätsverpflichtung, mit Drohungen, die innerhalb des Deuteronomiums und innerhalb der Hebräischen Bibel befremdlich klingen. Otto meint, dass judäische Intellektuelle sich mit der absoluten Loyalitätsforderung der assyrischen Hegemonialmacht kritisch auseinandersetzten und einen ebenso hohen Loyalitätsanspruch für ihren Gott JHWH erhoben. Er sieht darin eine subversive Strategie. „Der Gedanke der Begrenzung staatlicher Macht durch die Macht des einen Gottes, der absolute Loyalität fordere, war eine Frucht der Traditionsgeschichte der Hebräischen Bibel“ und nahm, so Otto, mit den Zitaten aus den VTE ihren Anfang. Thomas Römer sieht in den VTE die „Vorlage und Inspirationsquelle“ des Ur-Deuteronomiums, legt sich aber nicht fest, ob diese Rezeption subversiv war „oder einfach dem Zeitgeist entsprach“. Das heißt auch: „Ohne die Assyrer hätte es das Dtn nie gegeben!“
Moshe Weinfeld und S. David Sperling weisen darauf hin, dass dem Leser im Deuteronomium die konventionelle Sprachform von Staatsverträgen des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr., nur eben auf die Gottheit und nicht auf den Herrscher bezogen, begegnet. So sei die Versicherung, man „liebe ihn mit ganzem Herzen“, die übliche Weise, wie man damals seine Loyalität zum Herrscher bekundet habe (vgl. ).
Joschija und ein Buchfund im Tempel
In ist von der Auffindung eines Tora-Buchs im Jerusalemer Tempel die Rede. Außerdem werden in 2 Kön 23,4 ff. Kultreformen des Königs Joschija berichtet, die sich gegen nichtjahwistische Kulte richteten und Jerusalem zum einzig legitimen JHWH-Kultort machten. Die Erzählung vom Buchfund deutet Joschijas Maßnahmen als Restaurationsprogramm, man kehrt zu einer alten und ursprünglichen JHWH-Verehrung zurück. Die materielle Kultur der Region, wie sie archäologisch greifbar wird, zeigt indes, dass die Reformen ein Modernisierungsprogramm darstellten, wenn sie denn historisch stattgefunden haben. Das ist allerdings schwierig zu beurteilen, weil der Text redaktionell mehrfach bearbeitet wurde. Einen archäologischen Nachweis für religiöse Veränderungen in der Regierungszeit des Joschija gibt es nicht; kultische Praktiken der Bevölkerung wie die Verehrung von Pfeilerfigurinen wurden jedenfalls fortgeführt. Angelika Berlejung zieht daraus den Schluss: Falls historisch, war Joschijas Modernisierungsprogramm ohne Rückhalt in der Bevölkerung und blieb daher Episode.
Michael Pietsch meint, dass es in Jerusalem unter Joschija eine religionsinterne Neuinterpretation des JHWH-Glaubens gegeben habe, die dann auch zu Veränderungen des Kultbetriebs am dortigen Tempel führte. Das Deuteronomium sei aber historisch nicht die Vorlage („blueprint“) für diese Reform gewesen. Erst im Nachhinein sei das so interpretiert worden, mit einem gewissen sachlichen Recht, denn das Deuteronomium stelle die Einheit JHWHs in den Mittelpunkt () und die Kultreform unter Joschija habe einen Prozess der Selbstreflexion in Gang gesetzt, der dann später auf ein monotheistisches Gotteskonzept zugelaufen sei.
Georg Braulik definiert das im Tempel zur Zeit Joschijas vorhandene Torabuch als relativ knappe Vorstufe des Deuteronomiums. Es habe noch keine Mosereden und keine Sozialgesetze enthalten, sondern vor allem Kultgesetze und Segen-Fluch-Sanktionen. Auch habe Joschija die Schwäche der Großmacht Assur nutzen und das Gebiet des Reiches Juda nach Norden und nach Westen erweitern wollen (vgl. ). Mit einer „Landeroberungserzählung“ habe er seine Expansion auf das Territorium assyrischer Provinzen (bzw. des früheren Nordreichs Israel) propagandistisch begründet. Joschija beanspruchte demnach nur das Land, das Gott Israel längst zugeeignet habe. Diese Propagandaschrift wurde nach Braulik in den biblischen Büchern Deuteronomium und Josua verarbeitet. Ein Vorteil dieser Hypothese ist, dass sie die vom Deuteronomium in Aussicht gestellte, im Buch Josua beschriebene gewaltsame Landeroberung und Landverteilung plausibel machen kann, ein Motiv, das man sich bei Autoren der Exilszeit schwer vorstellen kann. Die Verfasserkreise des Ur-Deuteronomiums sucht Braulik in der Jerusalemer Führungselite, bei Personen mit höfischem Redestil sowie auch Kenntnis neuassyrischer Rechtstexte. Das Ur-Deuteronomium sei für den öffentlichen Vortrag in der Volksversammlung bestimmt gewesen.
Deuteronomium als Exilliteratur
Im Gegensatz zur Mehrheit der Exegeten bestreitet Reinhard Gregor Kratz, dass ein Ur-Deuteronomium vor dem Ende des Südreichs Juda verfasst wurde. Die Kultzentralisation sei „so absonderlich und singulär in der altorientalischen Welt“, dass sie als Regierungsmaßnahme der Könige Hiskija oder Joschija nicht verständlich gemacht werden könne. Erst nach der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (586 v. Chr.), als alle JHWH-Heiligtümer ohnehin verloren waren, hätten exilierte Mitglieder der Jerusalemer Elite dieses Programm entwickeln können, und nun sei es auch plausibel: „Ersetzt wird die natürliche durch eine künstliche Mitte, an die Stelle des Staatskults tritt der kultische Anspruch der Gottheit selbst …“ Karin Finsterbusch stimmt insoweit zu, dass sie im Deuteronomium eine „exilische Komposition“ sieht, eine planvolle Gesamtstruktur, in die ältere Stoffe integriert worden seien. Die Situation des Exils wird im Deuteronomium mehrfach angesprochen: , , . Erst hier im Exil erhielt das Deuteronomium – so Finsterbusch – sein Profil:
Tora, „Weisung“, ist ein Schlüsselwort des Deuteronomiums. Gemeint ist damit ein konkreter Text: Unter der Überschrift wird das Textkorpus Dtn 5,1b–26,16 mitgeteilt, hinzu kommen Segen und Fluch als Abschluss.
Der Bundesschluss im Lande Moab ist eine Besonderheit des Deuteronomiums; er wird in der Hebräischen Bibel sonst nicht erwähnt. Laut schloss JHWH selbst mit Israel einen Bund am Horeb, dessen Bundesdokument der Dekalog ist. Laut schloss Mose mit Israel einen weiteren Bund im Lande Moab, dessen Bundesdokument die im Deuteronomium enthaltene Tora ist.
Lehren und Lernen sind Schlüsselworte des Deuteronomiums, in ähnlicher Konzentration begegnen sie wieder im Buch der Psalmen. Mose ist im Deuteronomium (und innerhalb des Pentateuch nur hier) Lehrer, sein Gegenüber, Israel, konstituiert sich als Lerngemeinschaft. Die Unterrichtung der nächsten Generation ist ein wichtiges Anliegen der Verfasser. Als „Du“ werden freie israelitische Männer und Frauen angesprochen, d. h. weder Kinder noch Unfreie.
Zweck der Komposition ist, dass die Adressatenschaft exilierter Judäer sich mit dem Israel identifiziert, das von Mose im Land Moab unterrichtet wird: eine Identitätsschrift also. Dem dienen einerseits das eindringliche „Du/Ihr“, mit dem Mose sein Gegenüber anspricht, und das „Wir“ in den geschichtlichen Rückblicken, andererseits das für das Deuteronomium sehr kennzeichnende „Heute“. Es ist das „Heute“ von Moses Todestag, das aber so eingesetzt wird, dass es für ein späteres Heute, die Gegenwart der Adressaten, transparent bleibt.
Inhaltsübersicht
Die folgende Gliederung des Deuteronomiums orientiert sich an der Darstellung von Jan Christian Gertz und Karin Finsterbusch:
Erzählerischer Rahmen und Mosereden
Ort und Zeit der Handlung
In knapper, konzentrierter Form gibt der Bucherzähler Informationen zu Ort, Zeit und Anlass der Mosereden. Dieser Erzähler verortet sich selbst im Land Israel, denn von ihm aus gesehen befinden sich Mose und seine Hörer „jenseits des Jordan“ () im Land Moab (). Die Erzählung des Deuteronomiums spielt also im heutigen Jordanien. Trotz mehrerer Ortsnamen in ist nicht (mehr) deutlich, wo genau sich Mose und seine Zuhörer „in der Wüste“ aufhalten. Nach lagern die Israeliten „im Tal gegenüber von Bet-Peor“. Und dort wird Mose nach von Gott an unbekannter Stelle begraben.
Eine geographische Angabe, die im Deuteronomium Gewicht hat, lässt sich klar lokalisieren: das tief eingeschnittene Tal des Arnon (Wadi Mudschib). Seine Überquerung markiert den Wechsel von friedlicher Wanderung des Volkes Israel zu militärischer Eroberung des verheißenen Landes. Irgendwo hier, östlich des Toten Meeres, spielt die Handlung des Deuteronomiums.
Die erzählte Zeit, der letzte Lebenstag des Mose, ist „der 1.4.40 nach dem Auszug aus Ägypten“, wie präzise feststellt.
Zweck der Mosereden
Das Verb in Dtn 1,5 erklärt, was Zweck von Moses Reden ist; bei der Übersetzung dieses seltenen Worts fallen deshalb Vorentscheidungen für das Verständnis des Buches:
„[Hier] begann Moscheh die Erläuterung dieser Lehre“ (Rabbinerbibel);
„[Hier] fing Mose an, dies Gesetz auszulegen“ (Lutherbibel);
„[Hier] begann Mose …, diese Weisung aufzuschreiben“ (Unrevidierte Einheitsübersetzung 1980);
„[Hier] begann Mose …, diese Weisung bindend zu machen“ (Revidierte Einheitsübersetzung 2016).
Hinter den ersten beiden Übersetzungen steht die rabbinische Auslegungstradition: Die folgenden Mosereden sind ein Kommentar, eine Erläuterung der in den vorherigen Büchern des Pentateuch ergangenen Weisung. Hatte die unrevidierte Einheitsübersetzung die Stelle im Licht von recht frei wiedergegeben, so ging die Revision davon ab. Inzwischen hatten nämlich Georg Braulik und Norbert Lohfink vorgeschlagen, die Bedeutung von durch das akkadische Wort bâru(m) zu erhellen: „Rechtsgeltung verschaffen, bindend machen, Rechtskraft verleihen“. Der öffentliche Vortrag, zu dem Mose ab Dtn 1,6 ansetzt, sei der erste Schritt der mehrphasigen Inkraftsetzung (Promulgation) der Tora. „In der erzählten Welt bildet die Tora die Urkunde des Bundes/Vertrags, auf die Mose anlässlich des Führungswechsels und der Einsetzung Josuas in Moab Israel vereidigen muss. Was er, um diesen Rechtszustand herzustellen, Israel rechtskräftig präsentiert (1,5), ist die von JHWH empfangene Neuformulierung des schon bekannten göttlichen Rechtswillens (5–26). Er wird jetzt von Mose vermittelt, nicht ausgelegt.“
Dem wurde allerdings von anderen Exegeten, voran Eckart Otto, widersprochen, so dass die traditionelle jüdische Auffassung, die Mosereden des Deuteronomiums seien ein Kommentar der Tora innerhalb der Tora, auch in der heutigen Exegese weit verbreitet ist.
Inwiefern legen aber die Mosereden die Sinaigesetzgebung aus? Hier kommt nach Konrad Schmid den Zehn Geboten eine Schlüsselfunktion zu. Sie gehen sowohl dem Bundesbuch als auch dem Gesetzeskorpus des Deuteronomiums programmatisch voraus und sichern die sachliche Identität beider Gesetzgebungen.
Gottes und Moses Schreiben
Als einziges Buch des Pentateuch bezeichnet sich das Deuteronomium ausdrücklich als Niederschrift der Weisungen Moses. Hier bedeutet die autoritative und göttlich bestätigte Unterweisung. „Kurzum, die Tora ist faktisch Ersatz für Mose selbst in seiner Eigenschaft als der höchste Vermittler des göttlichen Wortes an Israel.“
Dass Gott selbst einen Text aufschreibt, wird im Pentateuch mehrfach und exklusiv für den Dekalog ausgesagt, was diesem Text höchste Autorität gibt. Mose ist im Pentateuch mit dem Niederschreiben der Sinaigesetze beauftragt (; ). Nachdem er seine Reden im Lande Moab beendet hat, schreibt er diese ebenfalls nieder () und schließlich auch das Moselied (). Das heißt: Die antiken Endredaktoren des Pentateuch waren nicht der Meinung, Mose habe die erzählenden Stoffe des Pentateuch aufgeschrieben, darunter das gesamte Buch Genesis und umfangreiche Partien der anderen vier Bücher.
Gesetzeskorpus
Das Gesetzeskorpus, das in den Kapiteln 12 bis 26 vorliegt, gilt als der älteste Teil des Deuteronomiums. Man unterscheidet einen Grundbestand, eine mehrstufige Bearbeitung und jüngere Nachträge. Relativ sicher hat man es mit dem Grundbestand zu tun, wo sich das Deuteronomium mit dem Bundesbuch auseinandersetzt. Der Grundbestand begann mit einer Buchüberschrift:
„Das sind … die Gesetze und die Rechtsentscheide, die Mose den Israeliten verkündet hat, als sie aus Ägypten zogen.“ (Dtn 4, 45*)
Das heißt, bereits das Ur-Deuteronomium war als Rede des Mose nach dem Auszug aus Ägypten verfasst, Inhalt dieser Rede waren juristische Stoffe. Es folgte Dtn 5,1*:
„Mose rief ganz Israel zusammen. Er sagte zu ihnen…“
So wurde der Grundtext jüdischen Glaubens eingeleitet, der erste Satz des Schma Jisrael (Dtn 6,4):
„Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig!“
Der nächste Satz des Schma Jisrael mit dem Aufruf zur Gottesliebe () ist demgegenüber nach der Analyse von Timo Veijola sekundär. Im Grundbestand des Deuteronomium folgte auf das „Höre Israel“ direkt das Gesetzeskorpus, und zwar – mindestens – diese Gesetzestexte:
Grundgebot der Kultzentralisation: es gibt nur ein legitimes JHWH-Heiligtum ();
Zehnt ();
Erlassjahr und Sklavenfreilassung ();
Erstgeburt ();
Festkalender ();
Reformen der Rechtspflege (; ; ; ; ; ).
Zur Fortschreibung des Deuteronomiums in exilisch-frühnachexilischer Zeit werden grob skizziert zwei Ansätze vertreten: Timo Veijola und Eckart Otto rechnen mit durchgängigen Überarbeitungen des gesamten Gesetzeskorpus Dtn 12–25. Norbert Lohfink und Georg Braulik dagegen meinen, dass ein Ur-Deuteronomium aus der Zeit Hiskijas und ein „Bundesdokument“ aus der Zeit Joschijas blockweise ergänzt worden sei durch a) das exilische Ämtergesetz, b) die nachexilischen Gesetze in Dtn 19–25.
sind zwei Nachträge, mit denen das Gesetzeskorpus abschließt. Sie setzen voraus, dass die Israeliten im Land wohnen, und nennen zwei liturgische Texte, die beim Besuch im Zentralheiligtum rezitiert werden sollen. Der erste Text („Mein Vater war ein heimatloser Aramäer …“) ist bekannt unter dem Namen „Kleines geschichtliches Credo“ (Gerhard von Rad). Er ist nicht als uralter Text von den Verfassern des Deuteronomiums an dieser Stelle eingefügt worden, wie von Rad vermutete. Sie haben den Text nicht übernommen, sondern selbst formuliert. Als pädagogisch hilfreiche „Kurzformel des Glaubens“ bringt er die Geschichte Israels auf den Punkt – das ist typisch Deuteronomium. Zusammen mit dem Einleitungstext, der das eine Zentralheiligtum fordert, bilden die Nachträge einen Rahmen um das Gesetzeskorpus.
Auseinandersetzung mit dem Bundesbuch
Das deuteronomische Gesetz bezieht sich auf ein älteres Gesetzeswerk, das ebenfalls im Pentateuch enthalten ist: das Bundesbuch im Buch Exodus (Ex 20,22–23,33). Neu ist die Forderung der Kultzentralisation, die im Widerspruch zum Altargesetz des Bundesbuchs formuliert wird. Dabei bezieht sich die deuteronomische Formulierung des Altargesetzes zurück auf das Schma Jisrael: „So wie JHWH nicht an einer Vielzahl von Lokalheiligtümern geopfert werden soll, soll JHWH nicht in einer Vielzahl von lokalen Manifestationen, die mit JHWH-Heiligtümern verbunden sind, verehrt werden.“
Der hebräische Text der beiden Altargesetze zeigt enge sprachliche Berührungen bei diametral verschiedenem Inhalt:
Bundesbuch: „Du sollst mir einen Altar aus Erde machen und darauf deine Brandopfer und Heilsopfer, deine Schafe, Ziegen und Rinder schlachten. An jedem Ort, an dem ich meinem Namen ein Gedächtnis stifte, will ich zu dir kommen und dich segnen.“ (Ex 20,24 EÜ)
Deuteronomium: „Nimm dich in Acht! Verbrenn deine Brandopfertiere nicht an irgendeiner Stätte, die dir gerade vor die Augen kommt, sondern nur an der Stätte, die der HERR im Gebiet eines deiner Stämme erwählen wird!“ (Dtn 12,13–14a EÜ)
Was gilt denn nun? Die Helden der biblischen Erzählungen (sowohl des Pentateuch als auch der Geschichtsbücher) opfern an lokalen Heiligtümern, ohne dass dies problematisiert würde; einige Beispiele: Abraham baut einen Altar in Sichem (), Jakob baut einen Altar in Bet-El (), Samuel baut einen Altar in Rama (), Elija baut den Altar JHWHs auf dem Karmel wieder auf (). Bernard M. Levinson betont, dass die Verfasser des Deuteronomiums ihr Reformprogramm in einer Welt vertraten, in der alte, autoritative Texte wie das Bundesbuch fast unangreifbar waren. Sie tarnten deshalb die Radikalität ihres Projekts, indem sie Formulierungen des Bundesbuchs übernahmen und mit neuer Bedeutung füllten; Levinson nennt dies ein „gelehrtes Textrecycling“. Ihr Ziel sei gewesen, das Bundesbuch zu verdrängen und das Deuteronomium an seine Stelle zu setzen.
Die Gegenposition nimmt Eckart Otto ein: „In der Perspektive der dtn Zentralisationsgesetze gelesen, definiert das Bundesbuch grundsätzlich die Legitimität eines JHWH-Heiligtums. Im Deuteronomium wird diese Definition auf die Erwählung des Zentralheiligtums appliziert. … Die Reformulierung durch das Deuteronomium nimmt dem Bundesbuch, das nun im Horizont des Deuteronomiums interpretiert werden will, nichts von seiner Autorität.“ Weil beide Gesetzeskorpora sich ergänzten, habe das Körperverletzungs- und Sachenrecht Ex 21,18–22,14 im Deuteronomium kein Pendant, während das Familienrecht (im Bundesbuch nur Ex 22,15 f.) im Deuteronomium breit entfaltet werde. Indem die Sozialgesetzgebung des Dtn an das Bundesbuch anknüpft, ist dieser Teil des Gesetzeskorpus zugleich als spätvorexilisch erwiesen – hier besteht weitgehender Konsens. Daraus ergibt sich die zeitliche Abfolge der Gesetzeskorpora, die in den Pentateuch integriert wurden: Bundesbuch – Deuteronomium – Priesterschrift – Heiligkeitsgesetz.
Die Kultzentralisation griff tief in das Alltagsleben der Bevölkerung ein. Bisher wurde z. B. für jede Fleischmahlzeit das Tier am lokalen JHWH-Heiligtum geschlachtet. Das Deuteronomium gab die profane Schlachtung frei und stellte dafür Regeln auf (). „Der radikale Bruch bei dieser Veränderung religiöser Routinen sollte nicht unterschätzt werden. Dass das Deuteronomium wiederholt die ‚Freude‘ betont, die man am Zentralheiligtum erlebe, mag sehr wohl als Versuch einer Kompensation für den Verlust der Lokalheiligtümer gemeint gewesen sein, wo die Menschen häufiger Zugang zur Gottheit haben konnten“, vermutet Levinson.
Aber die Veränderungen, die die Verfasser des Deuteronomiums am Bundesbuch vornahmen, beschränken sich nicht nur auf die Kultzentralisation und die daraus folgenden praktischen Konsequenzen. Das lässt sich am Beispiel des Gesetzes der Sklavenfreilassung verdeutlichen ( gegenüber ). Es geht hier um Schuldsklaven, d. h. Israeliten, die sich aus Armut in die Sklaverei begeben mussten. Sie sollen nach sechs Jahren Dienst freigelassen werden. Das Deuteronomium nahm einige Präzisierungen vor: Der Herr soll die Sklaven (die hier als seine „Geschwister“ bezeichnet werden) bei der Freilassung so ausstatten, dass sie sich eine eigene Existenz aufbauen können – eine Art Startkapital. Sklave und Sklavin sollen gleich behandelt werden. Es gibt keine Sonderregel mehr für eine in der Sklaverei geheiratete Frau und gemeinsame Kinder. Diese sozialen Forderungen begründet das Deuteronomium damit, dass JHWH die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten befreit habe. Der Sklavenbesitzer soll durch Argumente für die Neuerungen gewonnen werden und für die Befolgung wird ihm göttlicher Segen verheißen.
Dekalog als Grundgesetz, Deuteronomium als Entfaltung
Der Text der Zehn Gebote (Dekalog) „trat erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Horizont des Dtn, prägte dann aber Theologie, Aufbau und Sprache des Dtn entscheidend“, so Georg Braulik. Er ist für die Verfasser ein einzigartiger Text, dadurch ausgezeichnet, dass Gott selbst ihn am Horeb Israel offenbart hat (). Norbert Lohfink schlug vor, den Dekalog im Deuteronomium als eine Art ewiges Grundgesetz zu sehen, das Mose in Dtn 12–26 mit konkreten, zeitbedingten Einzelgesetzen entfalte. Es ist allerdings nicht plausibel gelungen, in Dtn 12–26 eine Anordnung der Einzelgesetze nach den Zehn Geboten aufzuzeigen.
Der Dekalog beginnt mit einer Selbstvorstellung des göttlichen „Ich“ als Israels Befreier aus ägyptischer Sklaverei. Fragt man, wer der Adressat der Gebote ist, so scheinen vor allem freie, wohlhabende israelitische Männer gemeint zu sein. Aber das Sabbatgebot () macht deutlich, dass auch die Israelitinnen als „Du“ angesprochen sind. Sonst müsste man nämlich annehmen, dass der Hausherr, seine Söhne und Töchter, Sklaven und Sklavinnen, sogar auch die Haustiere die Sabbatruhe halten und die Hausfrau als einzige Person arbeitet. Das ist sehr unwahrscheinlich.
Deuteronomium als altorientalisches Rechtsbuch
Im Alten Orient waren Rechtsbücher nicht die Grundlage der Rechtsprechung. Prozessakten sind aus den Nachbarkulturen Israels erhalten, die Richter beriefen sich darin nicht auf ein Gesetzbuch. Sie entschieden nach Gewohnheitsrecht und Präzedenzfällen. Wahrscheinlich waren altorientalische Rechtsbücher Unterrichtstexte, an denen die angehenden Richter ihr Rechtsbewusstsein schulten. Auch für das Deuteronomium gilt: Es war „kein Gesetzbuch, sondern Lehrbuch“. Das zeigt sich in der Art, wie der Stoff disponiert wird. An sich werden die Gesetze zwar nach Sachgebieten geordnet vorgestellt, Grenzfälle markieren den Übergang zum nächsten Sachgebiet. Aber überall kann sich durch Stichwortassoziationen verwandtes Material anlagern, das dann exkursartig abgehandelt wird. Nach dieser Abschweifung wird das Hauptthema wieder aufgenommen. Diese für den heutigen Leser eher verwirrende Reihenfolge erleichterte das Auswendiglernen.
Vergleich mit griechischem und römischem Recht
Obwohl das Gesetzeskorpus so wenig aus einem Guss ist wie der Rest des Deuteronomiums, kann es theologisch und rechtshistorisch doch als geschlossener Sinnzusammenhang behandelt werden. Wie das Stadtrecht von Gortys und das Zwölftafelgesetz und im Gegensatz zu anderen altorientalischen Rechtskorpora handelt es sich um ein Gesetzeswerk für eine freie Bürgergemeinschaft.
Das wenig durchstrukturierte oder systematisierte Material lässt sich grob in drei Teile gliedern:
Religiöse Gesetze (Kult, Feste, Abgaben, Reinheitsgebote, Verbot anderer Kulte);
Vorschriften staatsrechtlicher und rechtspflegerischer Natur;
Zivil-, Straf-, Sozial- und Familienrecht.
Obwohl der Eindruck entsteht, hier werde das gesamte Recht Israels vorgelegt, ist dem nicht so. Im Fall des Diebstahlsrechts, das im Bundesbuch () thematisiert wird, sahen die Autoren des Deuteronomiums wohl keinen Reformbedarf und scheinen auf dieses ältere Recht zu verweisen. Das Erbrecht wird nur gestreift (, ).
Es handelt sich vor allem um materielles Recht, während zum Verfahrensrecht nur wenige Angaben gemacht werden. Verglichen mit dem Stadtrecht von Gortys und dem Zwölftafelgesetz fällt auf, dass es sich in Israel um von der Gottheit gesetztes Recht handelt, während in Gortys und in Rom das Recht eher etwas ist, was die Gesellschaften sich selbst geben. Beim Verfahrensrecht ist interessant, dass die Rechtspflege zwei Ebenen kennt: lokale Gerichte () und eine Art Zentralgericht, an das schwierige Fälle überwiesen werden sollen. Es ist aber wohl keine Appellationsinstanz der streitenden Parteien, sondern wird vom lokalen Richter hinzugezogen, wenn er Schwierigkeiten bei der Urteilsfindung hat (). Dem Richter wird aufgetragen, einen Fall sorgfältig zu untersuchen, insbesondere den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen, dem wichtigsten Beweismittel. Er ist also Untersuchender und Urteilender in einer Person. Laut hat er auch eine Rolle im Strafvollzug, er ist für die korrekte Durchführung der Prügelstrafe verantwortlich. Diese Kumulation von Kompetenzen beim lokalen Richter ist verglichen mit Gortys und Rom ungewöhnlich.
Große Teile des materiellen Rechts im Deuteronomium sind ohne Parallele im Stadtrecht von Gortys sowie im Zwölftafelrecht: das gesamte Sakralrecht, das Asylgesetz, die Bestimmungen über den Zehnt, aber auch zivilrechtliche Vorschriften, die man als Sozialgesetzgebung bezeichnen könnte. Das Strafmaß reicht von der Todesstrafe über Körperstrafen bis hin zur Geldbuße, wobei letztere im Deuteronomium, verglichen mit Gortys und Rom, wenig entwickelt ist (nur und ). Ebenso wie das Zwölftafelgesetz unterscheidet auch das Deuteronomium () zwischen Handeln mit und ohne Vorsatz. „Die individuelle Verantwortlichkeit für das eigene Tun wird aufgewertet, dem Willen hinter einer Handlung wird unabhängig von deren Folgen das entscheidende Gewicht bei deren Beurteilung – im Wortsinne – beigemessen.“
Deuteronomium als Abschluss des Pentateuch
In der persischen Provinz Jehud wurde bis Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. der Pentateuch zusammengestellt. Das heißt: Die persische Regierung setzte den politischen Rahmen, in dem dieses geschah. Dass sie den Pentateuch quasi in Auftrag gab, um ihn als verbindliches Recht für ihre jüdischen Untertanen einzuführen (These der Reichsautorisation), wird heute weniger vertreten. Man sucht die Motive für die Komposition dieses Werks eher innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Die Provinz Jehud stand wirtschaftlich und im Blick auf die Bevölkerungsgröße völlig im Schatten der Nachbarprovinz Samaria. Eine wahrscheinlich in Jerusalem ansässige Pentateuchredaktion suchte daher den Kompromiss mit samaritanischen Traditionen und Interessen. Der Pentateuch ist im Ergebnis ein Konsensdokument der JHWH-Religion, das sowohl für Juden (mit dem Zentrum Jerusalem) als auch für Samaritaner (mit dem Zentrum Garizim) akzeptabel war. Auch in einem anderen Sinn findet man im Pentateuch einen Ausgleich von Interessen: Das Deuteronomium mit seinem Akzent auf staatlicher Unabhängigkeit in einem militärisch eroberten Land der Verheißung konnte nicht im Interesse der persischen Zentralregierung sein. Die Priesterschrift wird im Gegensatz dazu von Ernst Axel Knauf als universalistisch und pazifistisch gekennzeichnet – Kriege kommen in ihr nicht vor. Die Pentateuchredaktion nahm die „persisch-reichskonforme“ Priesterschrift als Rahmen (Gen 1 und Dtn 34), und die Priesterschrift prägte auch das Zentrum, die Sinai-Perikope (Ex 25 bis Num 10). Das „nationalreligiöse“ Deuteronomium wurde aber nicht etwa unterdrückt, sondern in diesen Rahmen integriert, seine aggressiv-militanten Anteile domestiziert.
Das Deuteronomium hat als Schlussteil eine herausragende Bedeutung für die Komposition des Pentateuch. Das Schlusskapitel bringt zwei Spannungsbögen zu Ende: Nicht nur stirbt hier die Hauptperson Mose, die seit ihrer Geburt im Buch Exodus () den Leser begleitet, erinnert an die Landverheißung an die Väter und nimmt damit ein Motiv aus dem Buch Genesis auf (). Absichtsvoll werden mit der Jordansenke und dem Ort Zoar Schauplätze der Abrahamerzählungen genannt.
Meist nimmt man an, dass die Erzählung vom Tod des Mose von den Verfassern der Priesterschrift (oder ihnen nahestehenden Kreisen) stammt, aber von der Pentateuchredaktion „zugeschnitten“ und ergänzt wurde. Die Pentateuchredaktion setzte Mose in ein literarisches Denkmal („Epitaph“): Alle Propheten, die in den folgenden historischen Büchern auftreten, reichen nicht an ihn heran. Dass Mose mit 120 Jahren stirbt (), entspricht der maximalen menschlichen Lebenszeit von und lässt Mose als vollkommenen Menschen erscheinen. Während es in hieß, Mose sterbe altersschwach, wird das im „Epitaph“ korrigiert. Trotz hohen Alters sei Mose jung geblieben (). Mose tritt am Ende des Deuteronomiums auf die Seite Gottes, zu dem er eine einzigartige Nähe hat.
Die Zwischenstellung des Deuteronomiums als Abschluss des Pentateuch und Eröffnung des Deuteronomistischen Geschichtswerks lässt sich wie in einem Brennglas in Dtn 34 betrachten:
: Das Volk trauert nicht mehr um Mose und hört auf Josua. Das ist nicht Abschluss, sondern Kontinuität bzw. Dynamik nach vorn. Die ersten Sätze im Buch Josua können gut als Fortsetzung gelesen werden.
: Moses Tod bedeutet eine einschneidende Zäsur. So schließt die Pentateuchredaktion die Fünf Bücher Moses ab.
Für verschiedene Texte wird diskutiert, ob sie erst von der Pentateuchredaktion in das Deuteronomium eingefügt wurden, z. B. die Liste reiner und unreiner Tiere in , und gelehrte Glossen über Vorbewohner des Landes und geografische Notizen. Eine weitere Zugabe der Pentateuchredaktion ist der Segen des Mose über die Stämme Israels am Ende des Deuteronomiums (). Er hat seine Entsprechung im Jakobssegen am Ende des Buchs Genesis. Als Intention der Pentateuchredaktion vermutet Karin Finsterbusch: „Außerhalb des verheißenen Landes wird ‚Israel‘ zweimal von zentralen Figuren seiner Gründungsgeschichte gesegnet und ist damit für die Zukunft bestens gerüstet.“
Wirkungsgeschichte
Berg Garizim oder Berg Ebal
In der Perserzeit lebten Juden und Samaritaner in benachbarten Provinzen halbwegs harmonisch nebeneinander, aber in der hellenistischen Zeit verschlechterten sich die Beziehungen drastisch. Das hinterließ Spuren im Buch Deuteronomium. Denn in der Zeit gutnachbarschaftlicher Beziehungen wurde formuliert, dass die Israeliten nach ihrem Einzug ins Land der Verheißung auf dem Berg Garizim mit Kalk bestrichene und mit Tora-Texten beschriftete Steine aufstellen sollten; außerdem sollte dort ein Altar für JHWH gebaut werden und ihm Opfer dargebracht werden (). Dass der Altar auf dem Garizim der Tora entspricht, wird durch die Schrift auf den Steinen eindrucksvoll unterstrichen.
In der Hasmonäerzeit (2. Jahrhundert v. Chr.) kam dann der Bruch zwischen beiden Glaubensgemeinschaften. Darauf erfolgte ein Eingriff in den Text: „In Dtn 27,4 wird im Masoretischen Text und in der hebräischen Vorlage der Septuaginta … Garizim in Ebal umformuliert und damit dem auf dem Garizim situierten Altar die mosaisch-sinaitische Legitimation entzogen, indem sie umgelenkt wird.“ Im samaritanischen Pentateuch stand an dieser Stelle natürlich weiterhin Garizim. Dass Garizim die ursprüngliche Lesart ist und nicht Ebal, ist dadurch sehr wahrscheinlich, dass die „unverdächtigen“, da hier nicht polemisch engagierten Übersetzer der Vetus Latina (Codex Lugdunensis) Garizim lasen und damit eine unkorrigierte Version der Septuaginta bewahrten. Neuerdings wurde diese Vermutung durch ein Qumran-Textfragment bestätigt (4QDeutf).
Im samaritanischen Pentateuch wurde dieser Abschnitt aus Dtn 27, weil er für die eigene Identität so wichtig war, als zehntes Gebot zum Dekalog hinzugefügt (Ex 20,17b = Dtn 5, 21b); damit es bei zehn Geboten bleibt, zählen Samaritaner das Fremdgötter- und Bilderverbot als ein Gebot. Die Textänderung legitimiert den samaritanischen Kult und Kultort, und der Abschluss der Zehn Gebote bot sich als „Textort“ an, weil der Dekalog für die samaritanische Glaubensgemeinschaft von zentraler Bedeutung ist und weil es im Kontext der Zehn Gebote um den Altarbau geht – das passte also recht gut.
Deuteronomium in Qumran
Unter den Schriftrollen vom Toten Meer gibt es je nach Zählung 33 bis 36 fragmentarische Exemplare des Buchs Deuteronomium. Es ist damit neben dem Buch der Psalmen (36 Exemplare) die häufigste biblische Schrift. Man geht davon aus, dass wichtige, oft gelesene Bücher häufiger kopiert wurden; außerdem gab es Luxus-Handschriften besonders geschätzter Schriften. So spiegelt die hohe Zahl an Exemplaren die große Beliebtheit des Deuteronomiums.
Die in Qumran mit mehreren Exemplaren vertretene Tempelrolle ist ein im antiken Judentum singuläres Werk, das sich kritisch mit dem Deuteronomium auseinandersetzt und es überbieten will. Sie ist damit ein klassisches Beispiel für Rewritten Bible. Während der Erstherausgeber Yigael Yadin 1976 die Tempelrolle für ein Werk der Essener hielt, wird diese Meinung heute kaum noch vertreten. Die Tempelrolle ist älter als die von antiken Autoren beschriebene Gruppe der Essener. Ihre Endredaktion fand im 3./2. Jahrhundert v. Chr. statt, in Kreisen, die dem späteren Jachad ideologisch nahestanden. Gott selbst wird in der Tempelrolle eine systematische Neufassung der Tora in den Mund gelegt, die Mittlergestalt des Mose ist überflüssig geworden. Ein weiterer Vorzug: Nicht erst 40 Jahre später im Lande Moab, sondern direkt am Sinai gibt JHWH die in der Tempelrolle niedergelegte, verbindliche Interpretation seiner Tora. Die Tempelrolle ersetzt das Deuteronomium aber nicht, sondern verhält sich zu diesem wie eine Korrektur, Ergänzung oder Systematisierung. Darum enthält sie weder das Schma Jisrael noch die Zehn Gebote. Es reichte den Verfassern offenbar, dass diese Texte im Deuteronomium enthalten waren, das mit dem hermeneutischen Schlüssel der Tempelrolle gelesen werden sollte.
In den Höhlen am Toten Meer fanden Beduinen antike Gebetsriemen (Tefillin); die ältesten Exemplare stammen aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Die Bewohner von Qumran haben demnach befolgt, aber nicht in der Weise, wie diese Gebote später im rabbinischen Judentum interpretiert wurden. Die antiken Tefillin waren lederne Kapseln mit bis zu vier Fächern, die teilweise noch beschriftete Pergamentstücke enthielten, außerdem separate Lederriemen und Pergamentstücke ohne Kapseln. Einige davon hält man für Mesusot, wobei allerdings kein antikes Gehäuse einer Mesusa bekannt ist. Unter den Bibeltexten, die in Tefillin enthalten waren, ist auch der Dekalog, der im antiken Judentum eine sehr hohe Stellung hatte.
Deuteronomium im Neuen Testament
Nicht nur in Qumran, auch in der Urchristenheit war das Deuteronomium eine viel gelesene Schrift. Nach den Psalmen und Jesaja steht es an dritter Stelle der im Neuen Testament häufig zitierten alttestamentlichen Schriften.
Ein Beispiel aus der Logienquelle Q, das Matthäusevangelium () übernahm diesen Abschnitt fast unverändert: Jesus verbringt nach seiner Taufe 40 Tage fastend in der Wüste und wird vom Teufel in Versuchung geführt. Dreimal wehrt Jesus die Versuchung mit einem Zitat aus dem Deuteronomium ab (; und ). Der Verfasser der Jesus-Erzählung las das Deuteronomium in seiner griechischen Fassung und bezog aus dem Kontext weitere Stichworte: Nach führte () Gott das Volk Israel für 40 Jahre in die Wüste, indem er es versuchte (), ob es seine Gebote halte, und um es zu erziehen wie einen Sohn. Für den Evangelisten Matthäus ist Jesus Gottes Sohn, indem er das Grundgebot der Gottesliebe hält. Einen weitergehenden Bezug der Versuchungserzählung auf das Schma Jisrael sah Birger Gerhardsson: Die erste Versuchung zeige, dass man Gott von ganzem Herzen lieben solle, die zweite, mit dem ganzen Leben, die dritte, mit ganzer Kraft bzw. mit dem ganzen Eigentum.
Die Lebensweise der Jerusalemer Urgemeinde beschrieb der Verfasser der Apostelgeschichte (Apg 2–5) mit Motiven des Deuteronomiums. Insbesondere sollte es in der christlichen Gemeinde keine Armen mehr geben (vgl. ), weil vorhandene Güter geteilt wurden. Die Freude, die das Deuteronomium mit den Pilgerfesten am Zentralheiligtum verbindet, wurde in der christlichen Mahlfeier erlebbar (). Vermittelt durch die Apostelgeschichte, wirken Themen des Deuteronomiums auf die moderne christliche Pastoraltheologie ein.
Paulus von Tarsus entwickelte seine Rechtfertigungslehre in Auseinandersetzung mit dem Deuteronomium. Ein Beispiel: Im Römerbrief () legte Paulus für seine christlichen Leser aus. Paulus entnahm dem Deuteronomium einerseits, dass es für Israel wirklich auf das Tun der Gebote ankomme, und andererseits, dass Israel trotz seines Ungehorsams von Gott angenommen werde. Die Spannung zwischen „Gesetz und Evangelium“, kennzeichnend für paulinische Theologie, war also im Deuteronomium schon angelegt.
Pessach-Haggada
Der Sederabend, mit dem das jüdische Pessachfest beginnt, nahm Elemente des antiken Symposions auf; dazu gehört ein Tischgespräch mit pädagogischem Charakter. Die Mischna (Pesachim X4) legte fest, dass jeder verpflichtet sei, den Abschnitt seinen Kindern ausführlich zu erklären und traditionelle sowie eigene Interpretationen anzuführen. Im Ablauf des Seder gibt es zunächst eine Beracha (Lobspruch: Gott, der seine Versprechungen hält), sodann den Abschnitt ze u-lemad: „Geh und lerne, was Laban, der Aramäer, unserem Vater Jakob antun wollte …“ Sodann folgt in der Pessach-Haggada, dem Textbuch für den Sederabend, eine traditionelle Auslegung von Dtn 26,5–10. Es ist eine Kompilation verschiedener Midraschim, die wohl im Frühmittelalter ihre abschließende Form erhielt.
Eine Besonderheit der Pessach-Haggada ist die Interpretation des Verses . Hier stellt sich auch für den heutigen Leser ein Problem: Auf welche biblische Gestalt passt die Aussage „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten …“? Am ehesten wohl auf Jakob, aber der ist im Buch Genesis nicht als Aramäer dargestellt.
Die Übersetzer der Septuaginta fanden eine elegante Lösung, indem sie die Worttrennung im hebräischen Konsonantentext änderten (ארם יאבד אבי statt ארמי אבד אבי), wodurch sich folgende Übersetzung ergibt: „Mein Vater gab Syrien auf, ging hinunter nach Ägypten …“
Der Kunstgriff des Midrasch besteht darin, die Vokalisierung des Konsonantentextes zu ändern: ʾArami ʾived ʾavi statt ʾArami ʾoved ʾavi. Mit dieser Vokalisierung hat der Satz folgende Bedeutung: „Ein Aramäer suchte meinen Vater zu vernichten.“ Nun ist klar: Der „Vater“ ist der Patriarch Jakob, der „Aramäer“ ist Jakobs Schwiegervater Laban, der im Buch Genesis eine ambivalente Haltung gegenüber Jakob einnimmt. In der Pessach-Haggada wird Laban zum Schurken der Geschichte. Nach Louis Finkelstein ist dieses Textverständnis, das dann in der Pessach-Haggada Aufnahme fand, der älteste Midrasch in der rabbinischen Literatur. Er datiert ihn ins 3./2. Jahrhundert v. Chr. und damit in die Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Seleukiden und der Ptolemäer in Jerusalem. Beide Gruppen kann man hinter den Begriffen Aramäer/Syrien bzw. Ägypten vermuten.
Die von der Pessach-Haggada vertretene Vokalisierung wird auch von den Übersetzern des Deuteronomiums ins Aramäische (Targum Onkelos) und ins Arabische (Saadja Gaon) geteilt. Aus philologischen Gründen lehnte Abraham ibn Esra dieses Textverständnis ab, ebenso Obadja ben Jacob Sforno und Samuel ben Meir. Damit war die Deutung auf Laban in der rabbinischen Exegese zwar weitverbreitet und durch die Haggada popularisiert, aber nicht unumstritten.
Deuteronomium und Halacha
enthält die sogenannte Kanonformel. Sie wird aber, wie Hanna Liss erläutert, im Judentum nicht so verstanden, „als ob man nur das auszuführen habe, was die Tora gebietet (und nur auf diese Weise). Die Rabbinen haben stets Gebote an die Aktualität der Situation angepasst, Gesetze hinzugefügt oder Strafmaßnahmen uminterpretiert.“ Passagen und ganze Traktate der Mischna beziehen sich auf Abschnitte des Deuteronomiums. Günter Stemberger nennt folgende Beispiele:
Rezitation des Schma Jisrael (; ): Mischna Brachot, Kapitel 1–2;
Zehnt (; ): Mischna Maʿasrot und Mischna Maʿaser Scheni;
Erstlingsfrüchte (): Mischna Bikkurim;
Leviratsehe (): Mischna Jevamot;
Ausnahmen vom Militärdienst () und Sühnung eines Mordes bei unbekanntem Täter (Dtn 21,1–8): Mischna Sota, Kapitel 8.
Zu Mischna-Traktaten gibt es Parallelen in der Tosefta und eine weitere Entfaltung des Stoffes in den Talmudim.
Ein Beispiel für die Entfaltung einer biblischen Halacha ist בל תשחית Bal Taschchit („Vernichte nichts!“): ist im Bibeltext bezogen auf Obstbäume, die unter Schutz gestellt werden. Heute versteht man das so, dass Obstbäume stellvertretend für alle Pflanzen genannt sind. Bal Taschchit steht heute für Schonung der natürlichen Ressourcen und Umweltschutz überhaupt.
Mose als Typus des Papstes
In keiner europäischen Stadt ist Mose visuell so präsent wie im Rom der Renaissance. Mose konnte nämlich als Bild für Christus (typus Christi) und als Bild für den Papst (typus papae) interpretiert werden. Die Grundlage für diese humanistische Beschäftigung mit der Figur des Mose war ein Werk der christlichen Spätantike: Gregor von Nyssas „Leben des Mose“ (De vita Moysis), das 1446 aus dem Altgriechischen ins Lateinische übersetzt worden war. Das Werk wurde am päpstlichen Hof gelesen und weckte das Interesse, die Autorität und das Prestige der Päpste mit Hilfe der Mose-Typologie zu fördern. Der umbrische Humanist Lilio Tifernate verehrte Papst Sixtus IV. 1480 eine lateinische Übersetzung von Philo von Alexandrias „Leben des Mose“. Das altgriechische Original des jüdischen Gelehrten Philo hatte schon Gregor von Nyssa als Quelle für viele Einzelheiten seiner Mose-Biografie gedient.
Vor diesem Hintergrund wurde das Bildprogramm für die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle festgelegt. An den Wänden stehen Szenen aus dem Leben des Mose Szenen aus dem Leben Christi gegenüber. Sie sind so ausgewählt, dass Parallelen zwischen Christus und Mose als Herrscher, Priester und Gesetzgeber ihrer jeweiligen Gemeinschaften suggeriert werden. Über diesem Bilderzyklus sind Porträts der frühen Päpste zu sehen, so dass auch die Papst-Typologie beim Betrachter in Erinnerung gerufen wird.
Das Fresko „Testament und Tod des Mose“ malte Luca Signorelli 1482 für diesen Bilderzyklus. Hier sind die verschiedenen Ereignisse von Moses Todestag zu sehen und damit wesentliche Motive des Buchs Deuteronomium:
im Vordergrund links die Einsetzung des Josua durch Übergabe eines Stabes;
im Vordergrund rechts die Verlesung des Gesetzes, wobei Mose auf seinem Lehrstuhl die Volksmenge überragt;
im zentralen Hintergrund Moses Ausblick auf das Land der Verheißung.
Tod und Begräbnis des Mose hat der Künstler in eine Felslandschaft links im Hintergrund verlegt, während im Vordergrund der lehrende Mose und die um ihn gescharte Volksmenge – Frauen und Männer, Greise und Kinder – den Blick des Betrachters auf sich zieht. Ein aufmerksam zuhörender junger Mann in der Bildmitte ist als Gegenüber des greisen Mose besonders hervorgehoben. Vielleicht repräsentiert er die Nichtjuden, die sich im Lager der Israeliten befinden (vgl. ). Das Testament des Mose hat in der Sixtinischen Kapelle sein typologisches Gegenüber in der Jüngerbelehrung beim Letzten Abendmahl.
Calvins Deuteronomium-Predigten
In 200 Predigten legte Johannes Calvin vom 20. März 1555 bis zum 15. Juli 1556 seiner Genfer Gemeinde das Deuteronomium fortlaufend aus. Er hatte dieses biblische Buch wahrscheinlich ausgewählt, um sozialethische Themen ansprechen zu können. Die Hörerschaft lebte vorwiegend im Wohlstand.
Grundsätzlich galt für Calvin: Warum einige Menschen arm sind und andere reich, ist das Geheimnis Gottes. Die Christen würden von Gott durch ungleiche Güterverteilung vor verschiedene Aufgaben gestellt, an denen sich zeigen solle, wie sie sich ethisch bewährten. Calvin kombinierte und zum Grundsatz: Bettelei muss rigoros unterbunden werden, den Armen dagegen muss man helfen. Die spätmittelalterliche Almosenfrömmigkeit begünstige nur Betrüger. In seinen Deuteronomium-Predigten stellte Calvin allerdings kein neuartiges Konzept vor, wie die Armen besser unterstützt werden könnten. Bereits vor Calvins Ankunft hatte die Stadt Genf ihre Armenfürsorge reorganisiert.
Calvin hatte insofern ein historisches Bewusstsein, dass er nicht versuchte, Sozialgesetze des antiken Israel auf das Genf seiner Zeit zu übertragen. Aber die Grundintention der Gesetze sei überzeitlich und exemplarisch. „Besonders fasziniert ihn die biblische Vorstellung, dass das Land von Gott seinen Besitzern nur als Leihgabe zur Verfügung gestellt worden ist. […] Wenn nämlich Arme die Reichen darum bitten, ihnen etwas von ihrem Besitz zu überlassen, fordern sie im Auftrag Gottes so etwas wie den Pachtzins“, kommentiert Frank Jehle. Calvin analysierte auch, warum Reiche sich oft an ihren Reichtum klammerten, und machte dahinter Zukunftsangst aus. Jehle vergleicht Adam Smiths und Calvins Wirtschaftsethik und findet einen grundsätzlichen Unterschied: „Nach Adam Smith führt der egoistische Trieb des einzelnen unwillkürlich zum Wohl der Allgemeinheit. Nach Calvin ist der egoistische Trieb Ausdruck von Misstrauen und Glaubenslosigkeit und hat die verhängnisvolle Auswirkung, dass die Reichen immer reicher werden.“
Kontrastgesellschaft
Der Begriff Kontrastgesellschaft wurde durch die Brüder Gerhard und Norbert Lohfink geprägt. Gerhard Lohfink, Neutestamentler, sah die Kirche dazu berufen, Kontrastgesellschaft zu sein. Zwei Aspekte der Kontrastgesellschaft Kirche fand er 1982 im Deuteronomium:
eine strenge Trennung des Volkes Gottes von anderen Völkern (), und
die alternative Gesellschaftsordnung, worin sich das „heilige Volk“ von allen Völkern der Erde unterscheide ().
Norbert Lohfink, einer der prägenden katholischen Alttestamentler im deutschen Sprachraum, verwendete den Begriff „Kontrastgesellschaft“ etwas später für das Gesellschaftsmodell des Deuteronomiums. Georg Braulik machte die Kontrastgesellschaft 1986 zum Leitmotiv seines Deuteronomium-Kommentars (Neue Echter-Bibel); die Bezugnahme auf die Ekklesiologie ist Programm: „Die im Dtn entworfene Gesellschaft gehört in die Vorgeschichte des Neuen Testaments. … Es ist ein besonderes Anliegen dieses Kommentars, die bis zu uns reichende ekklesiologisch-gesellschaftliche Weisungskraft des Dtn zum Sprechen zu bringen.“
Das ekklesiologische Konzept Kontrastgesellschaft war ein Phänomen vor allem der 1980er Jahre. Kritiker merkten seinerzeit an, dass die „Welt“ durchgängig negativ bewertet werde. Die Vertreter des Konzepts riefen dazu auf, modellhafte christliche Alternativgesellschaften aufzubauen. Die Kritiker meinten, dies sei für die Ortsgemeinden als ganze keine realistische Option. Wolfgang Huber sprach von einer „Flucht in die Kontrastgesellschaft“, die in zwei Spielarten anzutreffen sei: Kirche als „heilige Kontrastgesellschaft“, die sich als Hüterin vermeintlich zeitloser Glaubensüberzeugungen und Werte verstehe, und Kirche als „prophetische Kontrastgesellschaft“, die für sich in Anspruch nehme, die Ursachen für Armut und Hunger und die Mittel zu ihrer Überwindung zu kennen. Beide Kontrastgesellschaften haben, so Huber, einen elitären Zug.
Paradigma kultureller Mnemotechnik
In mehreren Arbeiten hat der Ägyptologe Jan Assmann die Bedeutung des Deuteronomiums für die Begründung einer neuartigen kulturellen Mnemotechnik verdeutlicht. Diese habe in der Erzählung vom Fund des Tora-Buchs im Jerusalemer Tempel ihre Urszene oder Gründungslegende. Die Historizität sei fraglich, aber als „Erinnerungsfigur“ sei sie wichtig. Die Kultreform Joschijas machte den Tempel in Jerusalem zum einzigen legitimen Kultort: ein gewollter Traditionsbruch. Legitimiert werde dieser Umbruch durch ein plötzlich aufgetauchtes Buch, also eine „vergessene Wahrheit“. Das Thema Erinnerung werde dadurch dramatisiert. Vergessen und Erinnern sind Leitmotive im Deuteronomium.
Das Deuteronomium stelle acht Verfahren kulturell geformter Erinnerung vor:
Beherzigung – Einschreiben ins eigene Herz;
Weitergabe an die nächste Generation, Kommunikation;
Sichtbarmachung durch Körperzeichen (Tefillin);
Einschreiben an den Grenzen des eigenen Bereichs (Mesusa);
Einschreiben auf gekalkten Steinen, die öffentlich aufgestellt werden sollen;
Drei jährliche Pilgerfeste (Pessach, Schawuot, Sukkot) als Feiern der kollektiven Erinnerung;
Poesie als zusätzliche Form der Erinnerung – Lied des Mose in Dtn 31;
Niederschrift der Tora und Verpflichtung auf ihre regelmäßige Verlesung.
„Von diesen acht Formen kollektiver Mnemotechnik ist die achte die entscheidende. Sie bedeutet einen Eingriff in die Tradition, der die in ständigem Fluß befindliche Fülle der Überlieferungen einer strengen Auswahl unterwirft, das Ausgewählte kernhaft verfestigt und sakralisiert, d. h. zu letztinstanzlicher Hochverbindlichkeit steigert und den Traditionsstrom ein für allemal stillstellt.“
Forschungsgeschichte
Die mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren befassten sich intensiv mit dem Buch Deuteronomium. Folgende Stellen galten als besonders schwierig:
: Der Ausdruck „jenseits des Jordan“ im Mund des Mose wirkt eigenartig, da Mose den Jordan ja nie überschreiten durfte.
: Hier wird auf die Eroberung Kanaans zurückgeblickt, die für Mose in der Zukunft liegt.
; : Die Formulierungen „zu jener Zeit“ und „bis zu diesem Tag“ implizieren, dass seitdem viel Zeit vergangen ist.
: Das Bett des Riesen Og als Beweis für seine Riesengröße impliziert, dass Og schon lange verstorben ist.
: Ein Buch kann nicht Aktionen des Autors nach dessen Fertigstellung beschreiben.
Abraham ibn Esra vermutete deshalb im 12. Jahrhundert, im Buch Deuteronomium seien einige Sätze nach dem Tod des Mose hinzugefügt worden. Ibn Esra drückte sich jedoch unklar aus, wohl um Sanktionen zu vermeiden.
Baruch de Spinoza vertrat 1670 im Tractatus theologico-politicus die Meinung, Esra habe ein großes Geschichtswerk verfasst, das die Zeit von der Weltschöpfung bis zur Zerstörung Jerusalems behandle, bzw. die biblischen Bücher von Genesis bis zum 2. Buch der Könige (sogenannter Enneateuch, „Neunbuch“). In kritischer Auseinandersetzung mit Spinoza entwickelte der Oratorianer Richard Simon 1678 seinerseits eine Enneateuch-Hypothese: „Öffentliche Schreiber“ und „öffentliche Redner“ hätten die Tora des Mose fortentwickelt, und Esra habe diese Texte gesammelt und überarbeitet.
Das 19. Jahrhundert begann mit einem Paukenschlag für die Deuteronomiumsforschung: Wilhelm Martin Leberecht de Wette stellte in seiner Jenaer Dissertation 1805 die These auf, das im Tempel gefundene Tora-Buch (2 Kön 22,8–10) sei eine frühe Form des Deuteronomiums und stehe in Zusammenhang mit den Reformmaßnahmen König Joschijas. Und – das war das eigentlich Neue – es sei auch erst in dieser Zeit, kurz vor seiner Auffindung, verfasst worden, folglich sei Mose nicht der Autor gewesen.
Von de Wettes These ausgehend, stellten sich der Forschung neue Fragen: Handelte es sich beim Ur-Deuteronomium um einen frommen Betrug – reformfreudige Hofbeamte schrieben ein Werk, das ihre Anliegen enthielt, und deponierten es im Tempel so, dass es bald gefunden werden musste? Oder war die Erzählung vom Buchfund eine Legende, um dem Deuteronomium ein hohes Alter, und das hieß: große Autorität, zu verschaffen? Darüber wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv diskutiert, woran auch jüdische Theologen und Historiker teilnahmen, die sich unterschiedlich positionierten. Heinrich Graetz z. B. konnte de Wettes Theorie in seine Geschichtskonzeption integrieren: „Ist das Buch uralt? Oder ist es erst kurz vor seinem Auffinden geschrieben worden? Müßige Fragen! Wenn auch nicht uralt, so kommt ihm kein Gesetzbuch der schriftkundigen Völker an Alter gleich, wie es auch alle Gesetzbücher an Erhabenheit und Schönheit übertrifft. Ein Gesetzbuch mit gewinnender Herzlichkeit und milder Innigkeit ist gewiß eine seltene Erscheinung.“
David Hoffmann dagegen verteidigte die mosaische Autorschaft in mehreren Kommentaren zum Pentateuch, weil hier aus seiner Sicht etwas Entscheidendes auf dem Spiel stand. Seinem Kommentar zum Buch Levitikus stellte er einige hermeneutische Grundsätze voran, die so beginnen: „Der jüdische Erklärer des Pentateuchs hat einen besonderen Umstand zu berücksichtigen, … der ihm gewissermaßen die Gesetze für seine Exegese vorschreibt. Dieser Umstand ist: unser Glaube an die Göttlichkeit der jüdischen Tradition.“
Die Päpstliche Bibelkommission verwarf 1906 die Neuere Urkundenhypothese und lehrte verbindlich, dass Mose der Verfasser des Pentateuch sei. Dies müsse aber nicht als eigenhändiges Schreiben oder Diktat des Mose aufgefasst werden; möglicherweise hätten mehrere Schreiber unter Aufsicht des Mose den Text erstellt. Ältere Quellen und mündliche Traditionen könnten mit Billigung Moses eingearbeitet worden sein; Textänderungen und Überlieferungsfehler in der nachmosaischen Zeit seien möglich. Damit war für römisch-katholische Alttestamentler das Feld ihrer Pentateuchforschung verbindlich abgesteckt. (Mitte des 20. Jahrhunderts öffnete sich die römisch-katholische Kirche für die Bibelwissenschaften, zunächst in der Bibelenzyklika Divino afflante Spiritu und dann im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils.)
Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Schwäche der de Wetteschen These unübersehbar. Denn was stand in dem Ur-Deuteronomium aus der Zeit Joschijas? Jetzt wurde es methodisch schwierig. Die Abgrenzung des Ur-Deuteronomiums erfolgte anhand der Joschija in 2 Kön 22–23 zugeschriebenen Reformmaßnahmen. 2 Kön 22–23 ist aber selbst ein redaktionell (deuteronomistisch) bearbeiteter Text: ein Zirkelschluss. Gustav Hölscher kritisierte 1922 die Versuche, ein Ur-Deuteronomium zu rekonstruieren, indem man „hinüberschiele“, welche Texte im Deuteronomium auf die in 2 Kön 22–23 beschriebenen Reformen Joschijas passten. Hölscher selbst sah im Deuteronomium einen utopischen Gesellschaftsentwurf der nachexilischen Zeit. Er verwies z. B. auf den „weltfremden Idealismus des Gesetzgebers“, der sich in den Sozialgesetzen des Deuteronomiums zeige: „Man kann das Deuteronomium wohl als Appell an die milde Gesinnung begreifen, aber schwerlich als Staatsgesetz.“
Für die Neuere Urkundenhypothese war eine Datierung des Deuteronomiums nach dem Jahwisten und vor der Priesterschrift aber unverzichtbar, deshalb musste der Zusammenhang des Deuteronomiums mit der Reform König Joschijas unbedingt gewahrt bleiben. Aus diesem Grund lehnten die namhaften deutschen protestantischen Alttestamentler eine Spät- wie auch Frühdatierung des Deuteronomiums einhellig ab. Zwei Wege standen der Deuteronomiumsforschung danach offen:
Analyse der literarischen Schichtung anhand des Wechsels der Anrede zwischen „du“ und „ihr“ (Carl Steuernagel). Als Faustregel galt: Formulierungen im Singular seien älter, pluralische Formulierungen seien später ergänzt.
Annahme sehr alter, vorstaatlicher Quellentexte, die in das Ur-Deuteronomium eingearbeitet seien (Gerhard von Rad).
Indem er das Deuteronomium nicht als Teil des Pentateuch, sondern als Teil des deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrG) verstanden wissen wollte, „immunisierte“ Martin Noth die Urkundenhypothese gegen mögliche Anfragen der Deuteronomium-Fachleute. So ging die alttestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert von der Annahme aus, dass ein tiefer Bruch zwischen den Büchern Numeri und Deuteronomium bestehe, während das Deuteronomium mit den nachfolgenden Geschichtsbüchern (Josua bis 2. Buch der Könige) vielfältig verbunden sei. „Das Dtn war zunächst Kopfstück des deuteronomistischen Geschichtswerks, bevor es dann im Zuge der Formierung der Tora dem Tetrateuch [= die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri] als dessen Ende zugeschlagen wurde.“ Hatte Noth eine Verfasserpersönlichkeit (den Deuteronomisten) hinter dem Deuteronomistische Geschichtswerk gesehen, so ging die Exegese bald davon ab und postulierte eine Deuteronomistische Schule, die über einen längeren Zeitraum die geschichtlichen Bücher der Hebräischen Bibel überarbeitet habe. Zunächst wurde vorausgesetzt, dass die Redaktoren das Deuteronomium (bis auf die Einleitungskapitel 1–3) en bloc übernommen hatten. Horst-Dietrich Preuß dagegen rechnete damit, dass sie auch im Deuteronomium selbst bearbeitend tätig geworden waren. Damit war in den 1980er Jahren die Untersuchung des „deuteronomistischen Deuteronomiums“ eröffnet. Irritierenderweise ließ sich die im Deuteronomium etwa von Dietrich Knapp (1987) ermittelte Schichtung nicht zu dem sogenannten Göttinger Schichtenmodell des Deuteronomistischen Geschichtswerks in Beziehung setzen.
Das Deuteronomium hat eine eigenartige Zwischenstellung, mit der es sowohl in der Neueren Urkundenhypothese als auch in der Hypothese des Deuteronomistischen Geschichtswerks schwer zu integrieren war. „Doch nachdem sowohl die Neuere Urkundenhypothese als auch die These des DtrG ins Wanken geraten sind, ist die Partie wieder eröffnet“, schrieb Reinhard Gregor Kratz 2002. Beispielsweise nehmen Vertreter des Münsteraner Pentateuchmodells ein „großes nachexilisches Geschichtswerk“ an, das in der Grundidee nichts anderes ist als der Enneateuch, wie er schon von Spinoza und Simon im 17. Jahrhundert vertreten wurde.
An der Wende zum 21. Jahrhundert war die diachrone, am historischen Wachstum des Textes interessierte Analyse in den Ruf geraten, dass sie mit ihrem Instrumentarium den Text in kleine und kleinste Fragmente zerlege, die aber hypothetisch bleiben und über die meist kein Konsens erzielt werden kann. Im Ergebnis nehme sie dem Exegeten das einzig Sichere, was er in Händen hält: den Text. Die synchrone Analyse wird etwa seit der Jahrtausendwende von vielen Exegeten bevorzugt, ist aber noch dabei, ihr Instrumentarium zu entwickeln. Sie befasst sich mit dem Text, wie er jetzt vorliegt. Im Hintergrund steht der Literary Turn in der Exegese des Alten Testaments: Anstatt die Autoren und Redaktoren und ihre mutmaßlichen Interessen zu rekonstruieren, steht nun die Interaktion zwischen Text und Leser im Mittelpunkt. Aus der Fülle neuerer Arbeiten zwei Beispiele: Den ersten synchronen Gesamtentwurf zum Deuteronomium legte Jean-Pierre Sonnet 1997 vor. Sonnet untersucht das Motivs der Verschriftung durch Mose als selbstreflexiven Legitimationsmodus im Deuteronomium. Geert Johan Venema (2004) sieht die Hebräische Bibel als literarischen Text, in dem Texte auf andere Texte verweisen, aber nicht auf eine Realität außerhalb der Textwelt. Der Kanon setze den Rahmen, innerhalb dessen Texte aus verschiedenen biblischen Büchern, die ein gemeinsames Thema behandeln, miteinander ins Gespräch gebracht werden könnten.
Literatur
Textausgaben
Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9.
Deuteronomy. אֵלֶּה הַדְּבָרִים. Hrsg. von Carmel McCarthy (= Biblia Hebraica Quinta. Faszikel 5). Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2005. ISBN 978-3-438-05265-0.
The Jerusalem Bible Edition of The Koren Tanakh. Hebräisch / Englisch. Koren Publishers, 3. Auflage Jerusalem 2015. ISBN 978-965-301-723-8. Standardausgabe der Hebräischen Bibel in Israel, englische Übersetzung (von Harold Fisch) genehmigt durch die Rabbiner Moshe Feinstein und Joseph B. Soloveitchik.
Hilfsmittel
Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Hrsg.: Herbert Donner. 18. Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-25680-6.
Überblicksdarstellungen
Georg Braulik: Das Buch Deuteronomium. In: Christian Frevel (Hrsg.): Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-030351-5, S. 152–182.
Jan Christian Gertz: Das Deuteronomium. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 248–260.
Hanna Liss: Das Buch Devarim (Deuteronomium). In: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien. Band 8). Universitätsverlag C. Winter, 4., völlig neu überarbeitete Auflage Heidelberg 2019, ISBN 978-3-8253-6850-0, S. 213–256.
S. Dean McBride Jr.: Art. Deuteronomium. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 8, 1981, S. 530–542.
Moshe Weinfeld, S. David Sperling: Art. Deuteronomy. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage, Band 5, 2007, S. 613–619.
Forschungsberichte
Eckart Otto: Perspektiven der neueren Deuteronomiumsforschung. In: Zeitschrift für die alttestamentlichen Wissenschaft. Band 119, 2007, S. 319–340.
Horst Dietrich Preuß: Deuteronomium. (= Erträge der Forschung. 164). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, ISBN 3-534-07266-9.
Udo Rüterswörden: Alte und neue Wege in der Deuteronomiumsforschung. In: Theologische Literaturzeitung. Band 132, 2007, Sp. 877–889.
Kommentare
Eckart Otto: Deuteronomium 1,1–34,12. In: (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). 4 Bände, Herder, Freiburg im Breisgau 2012–2017, ISBN 978-3-451-26808-3, ISBN 978-3-451-34145-8, ISBN 978-3-451-25077-4, ISBN 978-3-451-25078-1.
Eduard Nielsen: Deuteronomium (= Handbuch zum Alten Testament. Band I,6). Mohr Siebeck, Tübingen 1995, ISBN 3-16-146253-X.
Udo Rüterswörden: Das Buch Deuteronomium (= Neuer Stuttgarter Kommentar: Altes Testament. Band 4). Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2006, ISBN 3-460-07051-X.
Timo Veijola: Das fünfte Buch Mose: Kapitel 1,1–16,17. (= Das Alte Testament Deutsch. Band 8,1 der Neubearbeitung). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-51138-8.
Artikel und Monographien
Ulrich Dahmen: Leviten und Priester im Deuteronomium. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Studien. (= Bonner biblische Beiträge. Band 110). PHILO, Bodenheim 1996, ISBN 3-8257-0039-9.
Karin Finsterbusch: Deuteronomium. Eine Einführung. UTB 3626. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8252-3626-7.
Georg Fischer, Dominik Markl, Simone Paganini (Hrsg.): Deuteronomium – Tora für eine neue Generation (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 17). Harrassowitz, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-447-06553-5.
Jan Christian Gertz: Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Band 165). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, ISBN 3-525-53847-2.
Bernard M. Levinson: Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation. Oxford University Press, New York 1998. ISBN 978-0-19-515288-3.
Norbert Lohfink: Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 5. (= Stuttgarter biblische Aufsatzbände. Band 38). Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2005, ISBN 3-460-06381-5.
Dominik Markl: Gottes Volk im Deuteronomium (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 18). Harrassowitz, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-447-06763-8.
Eckart Otto: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 2). Harrassowitz, Wiesbaden 2002, ISBN 3-447-04276-1.
Eckart Otto: Das Deuteronomium: Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien (= Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Band 284). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1999, ISBN 3-11-016621-6.
Eckart Otto: Das postdeuteronomistische Deuteronomium als integrierender Schlußstein der Tora. In: Die Tora: Studien zum Pentateuch: Gesammelte Aufsätze (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 9). Harrassowitz, Wiesbaden 2009, S. 421–446. (PDF)
Lothar Perlitt: Deuteronomium-Studien (= Forschungen zum Alten Testament. Band 8). Mohr (Siebeck), Tübingen 1994, ISBN 3-16-146154-1.
Hans Ulrich Steymans: Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons: Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel (= Orbis biblicus et orientalis. Band 145). Vandenhoeck & Ruprecht, Fribourg / Göttingen 1995, ISBN 3-525-53780-8. (Digitalisat)
Weblinks
AnaBiDeut – Analytische Bibliografie zum Deuteronomium der Universität Wien
Erklärungen zum 5. Buch Mose Jüdisches Bildungszentrum Karlsruhe
Parascha – Die Junge Tora – Eine deutsche Übertragung der Devarim zur religiösen Unterweisung von Kindern und Jugendlichen.
Anmerkungen
Mose, 5. Buch
Mose, 5. Buch |
12163 | https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische%20Reaktion | Chemische Reaktion | Eine chemische Reaktion ist ein Vorgang, bei dem eine oder meist mehrere chemische Verbindungen in andere umgewandelt werden und Energie freigesetzt oder aufgenommen wird. Auch Elemente können an Reaktionen beteiligt sein. Chemische Reaktionen sind in der Regel mit Veränderungen der chemischen Bindungen in Molekülen oder Kristallen verbunden. Durch eine chemische Reaktion können sich die Eigenschaften der Produkte im Vergleich zu den Edukten stark ändern. Nicht zu den chemischen Reaktionen zählen physikalische Vorgänge, bei denen sich lediglich der Aggregatzustand ändert wie Schmelzen oder Verdampfen, Diffusion, das Vermengen von Reinstoffen zu Stoffgemischen sowie Kernreaktionen, bei denen Elemente in andere umgewandelt werden.
Reaktionen bestehen aus einer meist recht komplizierten Folge einzelner Teilschritte, den sogenannten Elementarreaktionen, die zusammen die Gesamtreaktion bilden. Auskunft über den exakten Ablauf der Teilschritte gibt der Reaktionsmechanismus. Zur Beschreibung chemischer Reaktionen wird die Reaktionsgleichung verwendet, in der Edukte, Produkte und mitunter auch wichtige Zwischenprodukte graphisch dargestellt werden und über einen Pfeil, den Reaktionspfeil, miteinander verbunden werden.
Sowohl Elementarreaktionen als auch Reaktionsmechanismen kann man in verschiedene Gruppen aufteilen. Zu den Elementarreaktionen zählen etwa der Zerfall von einem Molekül in zwei oder der umgekehrte Fall, die Synthese von zwei Atomen oder Molekülen zu einem. Reaktionsmechanismen werden häufig nach der erfolgten Änderung in den beteiligten Stoffen eingeteilt. Erfolgt etwa eine Änderung der Oxidationszahlen, spricht man von Oxidation und Reduktion; entsteht ein festes Produkt aus gelösten Stoffen, von einer Fällung.
In welchem Umfang eine bestimmte Reaktion zweier oder mehrerer Partner stattfindet, hängt davon ab, wie groß die Differenz der sich aus einem enthalpischen und einem entropischen Anteil zusammensetzenden Gibbs-Energie der Produkte und der Edukte ist. Bei negativen Werten liegt das Reaktionsgleichgewicht auf Seite der Produkte. Es gibt jedoch auch viele Reaktionen, die zwar in diesem Sinne thermodynamisch möglich sind, aber kinetisch nur sehr langsam ablaufen, im Extremfall so langsam, dass sie praktisch nicht beobachtet werden können. Verantwortlich hierfür ist eine zu hohe Aktivierungsenergie, die aufgebracht werden muss, damit die weitere Reaktion möglich wird. Derartige Reaktionen laufen aber bei höheren Temperaturen schneller ab, da so eine vergleichsweise größere Anzahl der beteiligten Teilchen genug Energie besitzt, um die Aktivierungsbarriere zu überwinden. Bei vielen Reaktionen ist dies auch mittels Katalyse möglich, bei der nicht die direkte Reaktion, sondern eine andere, bei der ein dritter, aus der Reaktion unverändert hervorgehender Stoff beteiligt ist, stattfindet. Durch die Anwesenheit dieses Katalysators wird die benötigte Aktivierungsenergie gesenkt.
Geschichte
Chemische Reaktionen wie die Verbrennung im Feuer, die alkoholische Gärung oder die Reduktion von Erzen zu Metallen – beispielsweise bei Eisen – sind schon seit sehr langer Zeit bekannt. Erste Theorien zur Umwandlung von Stoffen wurden von griechischen Philosophen entwickelt, etwa die Vier-Elemente-Lehre des Empedokles, nach der jeder Stoff aus den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde zusammengesetzt ist und in diese auch zerlegt werden kann. Im Mittelalter beschäftigten sich vor allem die Alchemisten mit chemischen Reaktionen. Dabei versuchten sie insbesondere Blei in Gold umzuwandeln, wobei sie unter anderem Reaktionen von Blei und Blei-Kupfer-Legierungen mit Schwefel einsetzten.
Die Herstellung chemischer Substanzen, die in der Natur nicht vorkommen, durch geeignete Reaktionen ist schon lange bekannt. Dies betrifft etwa die Schwefel- und Salpetersäure, deren erstmalige Herstellung dem umstrittenen Alchemisten Dschābir ibn Hayyān zugeschrieben werden. Die Herstellung erfolgte durch Erhitzung von Sulfat- und Nitraterzen wie Kupfervitriol, Alaun und Salpeter. Im 17. Jahrhundert stellte Johann Rudolph Glauber durch Reaktion von Schwefelsäure und Natriumchlorid erstmals Salzsäure und Natriumsulfat her. Mit Entwicklung des Bleikammer-Verfahrens zur Schwefelsäureproduktion und des Leblanc-Verfahrens zur Natriumcarbonatherstellung wurden chemische Reaktionen auch industriell eingesetzt. Mit der zunehmenden Industrialisierung wurde die industrielle Synthese immer bedeutender und es wurden neuere und effizientere Verfahren entwickelt. Beispiele sind etwa das ab 1870 angewendete Kontaktverfahren zur Schwefelsäureproduktion oder das 1910 entwickelte Haber-Bosch-Verfahren zur Ammoniaksynthese.
Ab dem 16. Jahrhundert versuchten Forscher wie Johan Baptista van Helmont, Robert Boyle oder Isaac Newton beobachtete chemische Umwandlungen wissenschaftlich zu untersuchen und Theorien zu ihrem Ablauf aufzustellen. Eine wichtige untersuchte Reaktion war die Verbrennung, für die Johann Joachim Becher und Georg Ernst Stahl Anfang des 18. Jahrhunderts die Phlogistontheorie entwickelten. Diese erwies sich jedoch als falsch und konnte 1785 durch Antoine Lavoisier widerlegt werden, der die korrekte Erklärung der Verbrennung als Reaktion mit Sauerstoff der Luft fand.
Joseph Louis Gay-Lussac erkannte 1808, dass Gase stets in bestimmten Verhältnissen miteinander reagieren. Daraus und aus Daltons Atomtheorie entwickelte Joseph Louis Proust das Gesetz der konstanten Proportionen, auf dem die Stöchiometrie aufbaut und das auch die Entwicklung der Reaktionsgleichungen ermöglichte.
Für organische Reaktionen wurde lange Zeit angenommen, dass sie durch eine spezielle „Lebenskraft“ (vis vitalis) bestimmt werden und sich so von nicht-organischen Reaktionen unterscheiden. Nach der Harnstoffsynthese aus anorganischen Vorläufersubstanzen durch Friedrich Wöhler 1828 verlor diese Annahme in der Chemie stark an Bedeutung. Weitere Chemiker, die wichtige Beiträge zur Aufklärung organischer chemischer Reaktionen lieferten, waren beispielsweise Justus von Liebig mit seiner Radikaltheorie, Alexander William Williamson, der die nach ihm benannte Synthese von Ethern entwickelte, sowie Christopher Kelk Ingold, der unter anderem die Mechanismen für Substitutionsreaktionen erforschte.
Reaktionsgleichungen
Um chemische Reaktionen graphisch darzustellen, werden sogenannte Reaktionsgleichungen genutzt. Diese bestehen aus Summen- oder Strukturformeln der Edukte auf der linken und denen der Produkte auf der rechten Seite. Dazwischen befindet sich ein Pfeil, der sogenannte Reaktionspfeil, der die Richtung und Art der Reaktion anzeigt. Die Spitze des Pfeiles zeigt dabei immer in die Richtung, in die die Reaktion verläuft. Bei Gleichgewichtsreaktionen werden Doppelpfeile genutzt, die in entgegengesetzte Richtungen zeigen. Reaktionsgleichungen sollten stöchiometrisch ausgeglichen sein. Dies bedeutet, dass auf beiden Seiten des Reaktionspfeils die gleiche Zahl Atome stehen soll und Gleichungen gegebenenfalls durch unterschiedliche Anzahlen der beteiligten Moleküle ausgeglichen werden.
Schematische einfache Reaktionsgleichung
Kompliziertere Reaktionen werden durch Formelschemata dargestellt, die neben Edukten und Produkten auch wichtige Zwischenprodukte oder Übergangszustände zeigen. Dabei werden die Reaktionswege durch Pfeile verdeutlicht, die den Angriff von Elektronenpaaren eines Atoms an andere Atome zeigen. In Reaktionsgleichungen der organischen Chemie werden kleine, anorganische Moleküle wie Wasser oder Kohlenstoffdioxid, häufig auf den Pfeil (für Edukte) oder darunter (für Produkte) gesetzt oder durch Vorzeichen kenntlich gemacht. Auch Katalysatoren, Lösungsmittel, besondere Bedingungen oder andere Stoffe, die während der Reaktion eine Rolle spielen, sich bei dieser aber nicht verändern, werden auf den Reaktionspfeil geschrieben.
Für die Planung komplizierter Synthesen kann auch die Schreibweise einer Reaktion als Retrosynthese nützlich sein. Hier wird eine Reaktion vom Ende, also dem Produkt her aufgeschrieben, das über mögliche Syntheseschritte so lange zerlegt wird, bis mögliche Edukte erreicht sind. Retrosynthesen werden durch einen speziellen Pfeil, den Retrosynthesepfeil (), gekennzeichnet.
Elementarreaktionen
Die Elementarreaktion ist der kleinste Abschnitt, in den eine chemische Reaktion zerlegt werden kann. Makroskopisch beobachtbare Reaktionen bauen sich aus einer Vielzahl Elementarreaktionen auf, die parallel oder nacheinander ablaufen. Die konkrete Abfolge einzelner Elementarreaktionen bezeichnet man auch als Reaktionsmechanismus. An einer Elementarreaktion sind in der Regel ein oder zwei, selten drei Moleküle beteiligt. Reaktionen mit mehr Molekülen sind praktisch ausgeschlossen, da es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich mehr als drei Moleküle gleichzeitig nahe genug für eine Reaktion kommen.
Die wichtigsten Elementarreaktionen sind die unimolekularen und die bimolekularen Reaktionen. Bei einer unimolekularen Reaktion ist nur ein Molekül beteiligt, das sich durch eine Isomerisierung oder einen Zerfall in ein oder mehrere andere Moleküle umwandelt. Für diese Reaktionen braucht es in der Regel Energiezufuhr etwa in Form von Wärme oder durch Bestrahlung mit Licht.
Ein Beispiel für eine typische unimolekulare Reaktion ist die cis-trans-Isomerisierung, bei der die cis-Form einer Verbindung in die trans-Form oder umgekehrt umgewandelt wird.
Bei einer Dissoziation spaltet sich eine Bindung in einem Molekül und es entstehen zwei Teile. Die Spaltung kann homo- oder heterolytisch erfolgen. Im ersten Fall wird die Bindung so gespalten, dass jeder Teil ein Elektron behält und Radikale entstehen, bei der heterolytischen Spaltung bleiben beide Elektronen bei einem Teil des Moleküls, während der andere keine Elektronen aus der gespaltenen Bindung zurückbehält und so Ionen entstehen. Zerfälle spielen eine wichtige Rolle beim Auslösen von Kettenreaktionen wie der Knallgasreaktion oder Polymerisationen.
Zerfall eines Moleküls AB in zwei kleinere Teile A und B
Bei bimolekularen Reaktionen stoßen zwei Moleküle zusammen und reagieren miteinander. Eine Möglichkeit dabei ist, dass aus diesen zwei Molekülen ein einziges wird, also eine Synthese stattfindet. Dies erfolgt beispielsweise bei der Reaktion zweier Radikale zu einem Molekül. Auch bei Additionsreaktionen der organischen Chemie bildet sich aus mehreren Molekülen ein neues.
Es ist aber auch möglich, dass bei einer Reaktion kein stabiles Molekül entsteht und nur ein Teil des einen auf das andere Molekül übergeht. Dieser Reaktionstyp tritt beispielsweise bei Redox- und Säure-Base-Reaktionen auf. Bei Redoxreaktionen ist das übertragene Teilchen ein Elektron, bei Säure-Base-Reaktionen ein Proton. Dieser Reaktionstyp wird auch Metathese genannt.
Chemisches Gleichgewicht
Jede chemische Reaktion in homogener Phase ist umkehrbar und kann in beide Richtungen verlaufen. Wenn etwa die Reaktion zweier Stoffe zu einem dritten stattfindet, existiert gleichzeitig auch der Zerfall des dritten in die Ausgangsstoffe. Hin- und Rückreaktion stehen immer in Konkurrenz zueinander und unterscheiden sich durch unterschiedliche Reaktionsgeschwindigkeiten. Da Reaktionsgeschwindigkeiten auch konzentrationsabhängig sind, ändern sie sich mit der Zeit. Die Geschwindigkeiten von Hin- und Rückreaktion nähern sich mit Verlauf der Reaktion immer weiter an, bis sie schließlich gleich sind. Zu diesem Zeitpunkt ändern sich die Konzentrationen der einzelnen Stoffe in der Reaktionsmischung nicht mehr, ein Gleichgewicht, das sogenannte chemische Gleichgewicht, ist erreicht.
Die Lage des Gleichgewichtes ist neben den Eigenschaften der beteiligten Stoffe abhängig von der Temperatur und dem Druck und wird durch die minimale freie Energie bestimmt. Häufig wird auch mit der Ableitung der freien Enthalpie, der freien Reaktionsenthalpie gerechnet, die im Gleichgewicht 0 sein muss. Die Druckabhängigkeit lässt sich einfach mit dem Prinzip von Le Chatelier erklären, nach der ein System einem Zwang wie einer Druckerhöhung so ausweicht, dass die Wirkung minimal wird.
An diesem Punkt ist die maximale Ausbeute einer Reaktion erreicht, da bei weiterer Bildung eines Produktes nun die Rückreaktion schneller abläuft und daher so lange bevorzugt wird, bis wieder das Gleichgewicht erreicht wird. Größere Ausbeuten lassen sich aber durch Entfernen von Produkten aus der Reaktionsmischung, bei der das Gleichgewicht gestört wird, oder durch Änderungen von Druck oder Temperatur erzielen. Keinen Einfluss auf die Lage des Gleichgewichtes besitzen die Ausgangskonzentrationen der beteiligten Stoffe.
Thermodynamik
Chemische Reaktionen werden maßgeblich von den Gesetzen der Thermodynamik bestimmt. Prinzipiell läuft jede Reaktion umkehrbar ab. Jedoch liegt das Gleichgewicht in sehr vielen Fällen fast vollständig auf Seite der Edukte. Damit eine Reaktion ablaufen kann, muss sie exergon sein, also die freie Enthalpie während der Reaktion abnehmen. Die freie Enthalpie setzt sich aus zwei verschiedenen thermodynamischen Größen, der Enthalpie und der Entropie, zusammen. Diese sind über die Fundamentalgleichung für die freie Enthalpie miteinander verbunden.
G: freie Enthalpie, H: Enthalpie, T: Temperatur, S: Entropie, Δ: Differenzen
Reaktionen können auf mehrere Arten stattfinden. Eine Möglichkeit ist die exotherme Reaktion, bei der ΔH negativ ist und Energie frei wird. Abhängig von der Größe der freiwerdenden Energie können hierbei auch hochgeordnete Strukturen, die eine niedrige Entropie besitzen, entstehen. Typische Beispiele für exotherme Reaktionen mit Entropieverlust sind Fällungen und Kristallisationen, bei denen aus ungeordneten Strukturen in Gasphase, Flüssigkeit oder Lösung, geordnete feste Strukturen entstehen. Bei endothermen Reaktionen wird dagegen Wärme verbraucht und muss aus der Umgebung aufgenommen werden. Diese können nur ablaufen, wenn gleichzeitig die Entropie des Systems zunimmt. Dies kann beispielsweise über die Bildung gasförmiger Reaktionsprodukte erfolgen, die eine hohe Entropie besitzen.
Da die Entropie temperaturabhängig ist und mit steigender Temperatur zunimmt, finden Entropie-bestimmte Reaktionen wie Zerfälle bevorzugt bei hohen Temperaturen statt. Energie-bestimmte Reaktionen wie Kristallisationen finden dagegen vor allem bei tiefen Temperaturen statt. Mitunter lässt sich die Richtung einer Reaktion durch Temperaturänderung umdrehen.
Ein Beispiel hierfür ist das Boudouard-Gleichgewicht.
Die Reaktion von Kohlenstoffdioxid und Kohlenstoff zu Kohlenstoffmonoxid ist endotherm, so dass das Gleichgewicht bei tiefen Temperaturen auf der Seite des Kohlenstoffdioxides liegt. Erst bei Temperaturen von über 800 °C ist durch die höhere Entropie auf der Seite des Kohlenstoffmonoxides diese Seite bevorzugt.
Auch über Änderungen der inneren Energie können Reaktionen betrachtet werden. Diese lässt sich ebenfalls über eine Fundamentalgleichung beschreiben, die unter anderem Entropie, Volumenänderungen und chemisches Potential berücksichtigt. Letzteres hängt unter anderem von den Aktivitäten der beteiligten Stoffe ab.
U: innere Energie, S: Entropie, p: Druck, μ: chemisches Potential, n: Stoffmenge, d: differentielle Schreibweise
Reaktionskinetik
Die Reaktionskinetik untersucht die Geschwindigkeit, mit der eine Reaktion abläuft. Diese ist von verschiedenen Parametern der Reaktion abhängig, etwa der Reaktionsordnung, den Konzentrationen der beteiligten Stoffe, der Temperatur, der Aktivierungsenergie und weiteren, meist empirisch bestimmten Faktoren. Zudem gibt es verschiedene Theorien, Reaktionsgeschwindigkeiten für verschiedene Systeme theoretisch auf molekularer Ebene zu berechnen. Dieses Arbeitsgebiet wird in Abgrenzung zur Reaktionskinetik auch als Reaktionsdynamik bezeichnet.
Für Elementarreaktionen lassen sich einfache Geschwindigkeitsgesetze aufstellen, die sich je nach Reaktionsordnung unterscheiden und die Abhängigkeit von den Konzentrationen der beteiligten Stoffe zeigen. Für eine Reaktion erster Ordnung, also etwa einen Zerfall eines Stoffes A, gilt für die Reaktionsgeschwindigkeit v (k: Geschwindigkeitskonstante, t: Zeit, [A]: Konzentration von A, [A]0: Anfangskonzentration von A):
integriert
Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt also bei einer Reaktion erster Ordnung nur von der Konzentration und den Eigenschaften des zerfallenden Stoffes ab. Da bei einer Reaktion 1. Ordnung die Konzentration exponentiell mit der Zeit abnimmt, lässt sich eine konstante und damit für die jeweilige Reaktion typische Halbwertszeit bestimmen. Vor allem bei den nicht zu den chemischen Reaktionen gehörenden, aber ebenfalls nach einem Geschwindigkeitsgesetz erster Ordnung ablaufenden radioaktiven Zerfällen wird dieser Wert häufig angegeben. Für andere Reaktionsordnungen und kompliziertere Reaktionen existieren entsprechend andere Geschwindigkeitsgesetze. Um die Geschwindigkeitskonstante zu berechnen, kann die Arrhenius-Gleichung verwendet werden, die die Temperaturabhängigkeit der Konstante zeigt.
Ein einfaches Modell, mit dem der molekulare Ablauf einer chemischen Reaktion und die Reaktionsgeschwindigkeiten erklärt werden können, ist die Stoßtheorie. Mit dieser lassen sich jedoch nur wenige einfache Reaktionen einigermaßen korrekt berechnen. Für kompliziertere Reaktionen muss darum auf genauere Theorien, die in der Regel auf ein spezielles Problem zugeschnitten sind, zurückgegriffen werden. Dazu zählen etwa die Theorie des Übergangszustandes, die Berechnung der Potentialhyperfläche, die Marcus-Theorie und die RRKM-Theorie.
Arten von Reaktionen
Reaktionen können in verschiedene Arten eingeteilt werden, die sich in der Art des übertragenen Teilchens und den entstehenden Produkten unterscheiden.
Oxidation und Reduktion
Werden bei einer Reaktion zweier Atome Elektronen übertragen, ändern sich die Oxidationsstufen der beteiligten Atome. Das Atom, das ein oder mehrere Elektronen abgibt (Reduktionsmittel genannt), wird oxidiert, das andere, das Oxidationsmittel, entsprechend reduziert. Da beide Reaktionen stets zusammen auftreten, spricht man auch von einer Redoxreaktion.
Welcher der beteiligten Reaktionspartner Reduktions- beziehungsweise Oxidationsmittel ist, lässt sich anhand der Elektronegativitäten der beteiligten Elemente vorhersagen. Elemente mit niedrigen Elektronegativitäten, wie die meisten Metalle, geben leicht Elektronen ab und werden dementsprechend oxidiert, Nichtmetalle mit hohen Elektronegativitäten werden dagegen leicht reduziert. Sind Ionen an einer Redoxreaktion beteiligt, ist auch die Oxidationsstufe des Ions zu beachten. So sind Chromate oder Permanganate, bei denen die Elemente in hohen Oxidationsstufen vorliegen, starke Oxidationsmittel.
Wie viele Elektronen ein Element in einer Redoxreaktion abgibt beziehungsweise aufnimmt, lässt sich häufig durch die Elektronenkonfiguration der Edukte vorhersagen. Elemente versuchen, die Edelgaskonfiguration zu erreichen und geben darum häufig eine dementsprechende Anzahl Elektronen ab oder nehmen sie auf. Dies gilt insbesondere für viele Hauptgruppenelemente wie die Alkalimetalle, Erdalkalimetalle oder Halogene. Für Übergangsmetalle und insbesondere schwere Atome gilt dies auf Grund der notwendigen hohen Ladung zum Erreichen der Edelgaskonfiguration und dem zunehmenden Einfluss relativistischer Effekte jedoch vielfach nicht. Die Edelgase, die schon Edelgaskonfiguration besitzen, haben dementsprechend keine Neigung, weitere Elektronen aufzunehmen und sind sehr reaktionsträge.
Eine wichtige Klasse der Redoxreaktionen sind die elektrochemischen Reaktionen. In der Elektrolyse dienen die Elektronen des elektrischen Stroms als Reduktionsmittel. Elektrochemische Reaktionen finden in galvanischen Zellen statt, bei denen Reduktion und Oxidation räumlich getrennt stattfinden. Besonders wichtig sind diese Reaktionen für die Gewinnung vieler Elemente wie Chlor oder Aluminium. Auch die umgekehrte Reaktion, bei der in Redoxreaktionen Elektronen frei werden und als elektrische Energie genutzt werden können, ist möglich. Dies ist das Prinzip der Batterie, in der Energie chemisch gespeichert und in elektrische Energie umgewandelt wird.
Komplexbildungsreaktion
Bei der Komplexbildungsreaktion reagieren mehrere Liganden mit einem Metallatom zu einem Komplex. Dies erfolgt dadurch, dass freie Elektronenpaare der Liganden in leere Orbitale des Metallatoms eindringen und eine koordinative Bindung bilden. Bei den Liganden handelt es sich um Lewis-Basen, die freie Elektronenpaare besitzen. Dies können sowohl Ionen als auch neutrale Moleküle (etwa Kohlenstoffmonoxid, Ammoniak oder Wasser) sein. In welcher Anzahl Liganden mit dem zentralen Metallatom reagieren, lässt sich häufig mit Hilfe der 18-Elektronen-Regel voraussagen, durch die besonders stabile Komplexe bestimmt werden können. Nach der Kristallfeld- und Ligandenfeldtheorie spielt auch die Geometrie des Komplexes eine wichtige Rolle, besonders häufig bilden sich tetraedrische oder oktaedrische Komplexe.
Auch innerhalb eines Komplexes können Reaktionen stattfinden. Dazu zählen etwa der Ligandenaustausch, bei der ein oder mehrere Liganden durch einen anderen ersetzt werden, Umlagerungen sowie Redox-Vorgänge, bei denen sich die Oxidationsstufe des zentralen Metallatoms ändert.
Säure-Base-Reaktionen
Säure-Base-Reaktionen sind – bei der Säuredefinition nach Brønsted – Reaktionen, bei denen Protonen von einem Molekül zum anderen übertragen werden. Dabei wird das Proton immer von der Säure (Protonendonator) auf die Base (Protonenakzeptor) übertragen (Protolyse).
Säure-Base-Reaktion, HA: Säure, B: Base, A−: korrespondierende Base, HB+: korrespondierende Säure
Da bei der Übertragung des Protons von der Säure zur Base wiederum eine Base und eine Säure entstehen, die sogenannten korrespondierenden Säuren bzw. Basen, ist auch die Rückreaktion möglich. Säure/Base und korrespondierende Base/Säure stehen daher immer im Gleichgewicht. Auf welcher Seite der Reaktion das Gleichgewicht liegt, lässt sich durch die Säurekonstanten der beteiligten Stoffe bestimmen. Je stärker eine Säure bzw. Base ist, desto leichter gibt sie das Proton ab bzw. nimmt es auf. Ein Spezialfall der Säure-Base-Reaktion ist die Neutralisation, bei der eine Säure und eine Base in exakt dem Verhältnis reagieren, dass eine neutrale Lösung, also eine Lösung ohne Überschuss an Hydroxid- oder Oxoniumionen entsteht.
Fällung
Die Fällung ist eine Reaktion, bei der sich vorher gelöste Teilchen verbinden und zu einem neuen, wasserunlöslichen Stoff werden, dem Niederschlag. Dies findet vor allem bei gelösten Ionen statt, die sich bei Überschreitung des Löslichkeitsproduktes zusammenfinden und ein unlösliches Salz bilden. Dies kann beispielsweise durch Zugabe eines Fällungsmittels mit geringem Löslichkeitsprodukt zu einem schon gelösten Salz oder durch Entfernen des Lösungsmittels erfolgen. Je nach Bedingungen kann ein Stoff sehr unterschiedlich aus einer Lösung ausfallen. Erfolgt die Fällung schnell, haben die Ionen keine Zeit sich zu ordnen, es bildet sich ein amorpher oder mikrokristalliner Niederschlag. Beim langsamen Überschreiten des Löslichkeitsproduktes und einer Übersättigung erfolgt die Fällung dagegen nur langsam. Die Ionen haben daher Zeit, sich zu ordnen und es bilden sich regelmäßig aufgebaute Kristalle. Dies kann auch durch Umkristallisation aus dem mikrokristallinen Niederschlag erfolgen.
Festkörperreaktionen
Reaktionen können auch zwischen zwei festen Stoffen stattfinden. Jedoch ist die Diffusion, die die Reaktionsgeschwindigkeit hierbei maßgeblich bestimmt, sehr klein, Festkörperreaktionen sind dementsprechend langsame Reaktionen. Dies bewirkt, dass Festkörperreaktionen in der Regel bei hohen Temperaturen durchgeführt werden müssen. Gleichzeitig sollten die Reaktanten möglichst fein verteilt vorliegen, da so eine möglichst große Oberfläche, an der die beiden Stoffe reagieren können, geschaffen wird.
Photochemische Reaktionen
In photochemischen Reaktionen spielt elektromagnetische Strahlung eine entscheidende Rolle. Von besonderer Bedeutung sind hierbei Licht und UV-Strahlung von etwa 200 bis 800 nm Wellenlänge. Durch diese Strahlung werden Elektronen in Atomen und Molekülen angeregt, es bilden sich angeregte Zustände. Diese sind durch die absorbierten Photonen sehr energiereich und können die Energie über verschiedene Prozesse abgeben. Neben physikalischen Prozessen wie Fluoreszenz und Phosphoreszenz sind hier auch Reaktionen möglich. Häufig erfolgen homolytische Bindungsbrüche, so dass Radikale entstehen. So können durch photochemische Reaktionen beispielsweise Kettenreaktionen wie die Knallgasreaktion von Wasserstoff und Sauerstoff ausgelöst werden. Aber auch Ionisierungen, Elektronentransferreaktionen, Isomerisierungen oder Umlagerungen können durch photochemische Reaktionen verursacht werden.
Eine biologisch sehr wichtige photochemische Reaktion ist die Photosynthese, bei der mit Hilfe von Licht organische Verbindungen aus Kohlenstoffdioxid und Wasser synthetisiert werden. Auch in der Atmosphärenchemie, etwa beim Auf- und Abbau von Ozon spielen photochemische Reaktionen eine wichtige Rolle.
Katalyse
Bei einer Katalyse findet die Reaktion zweier Stoffe nicht direkt, sondern über einen Umweg statt. Es ist immer ein dritter Stoff, der sogenannte Katalysator, beteiligt, der in die Reaktion eingreift, aber am Ende stets unverändert aus der Reaktion hervorgeht. Durch die Katalyse können Reaktionen, die durch eine hohe Aktivierungsenergie kinetisch gehemmt wird, unter Umgehung dieser Aktivierungsenergie stattfinden. Dadurch ist häufig nur noch ein geringer Energieeinsatz und damit eine wirtschaftliche Durchführung einer Reaktion möglich. Mitunter werden Reaktionen durch Katalysatoren auch erst ermöglicht, wenn etwa bei sonst nötigen Temperaturen Konkurrenzreaktionen bevorzugt ablaufen.
Katalysatoren können sowohl in einer anderen Phase (heterogen) als auch in gleicher Phase (homogen) vorliegen. Heterogene Katalysatoren sind meist Festkörper, an deren Oberfläche die Reaktionen stattfinden. Dementsprechend sollte die Oberfläche des Katalysators für eine effektive Katalyse möglichst groß sein. Katalytische Reaktionen an Oberflächen sind häufig mit Chemisorption verbunden, bei der ein Molekül chemisch an die Oberfläche gebunden und daher die Bindungen innerhalb des Moleküls geschwächt werden. So ist eine leichtere Reaktion möglich.
Von besonderer Bedeutung in der heterogenen Katalyse sind die Platinmetalle und weitere Übergangsmetalle, die in vielen technisch wichtigen Reaktionen wie Hydrierungen, Katalytisches Reforming oder der Synthese von Grundchemikalien wie Salpetersäure oder Ammoniak verwendet werden. Katalysatoren der Homogenen Katalyse können etwa Säuren sein, die die Nukleophilie einer Carbonylgruppe erhöhen und so eine Reaktion mit sonst nicht reagierenden Elektrophilen ermöglichen, oder lösliche Komplexe wie bei der Hydroformylierung.
Homogene Katalysatoren haben den Vorteil, dass es keine Probleme mit der Erreichbarkeit des Katalysators und zu kleinen Oberflächen gibt, die Reaktanten und der Katalysator können durch Vermischen und Rühren leicht zusammengebracht werden. Zudem kann der Katalysator, etwa ein Komplex, speziell und reproduzierbar für eine Reaktion synthetisiert werden. Ein Nachteil ist jedoch die schwierige Abtrennung des Katalysators vom Produkt, was zu Verunreinigungen und Verlust des meist teuren Katalysators führen kann. Darum werden in vielen technischen Prozessen heterogene Katalysatoren bevorzugt.
Reaktionen in der organischen Chemie
In der organischen Chemie gibt es neben den auch bei anorganischen Stoffen ablaufenden Reaktionen wie Oxidationen, Reduktionen oder Säure-Base-Reaktionen eine Vielzahl weiterer Reaktionen, bei denen kovalente Bindungen zwischen Kohlenstoffatomen oder Kohlenstoff- und Heteroatomen (beispielsweise Sauerstoff, Stickstoff, Halogene) gebildet werden. Diese werden neben der Unterscheidung zwischen homolytischen und radikalisch ablaufenden Reaktionen, vor allem nach der Art der Strukturänderung eingeteilt. Viele spezielle Reaktionen in der organischen Chemie sind als Namensreaktionen nach ihren Entdeckern benannt.
Substitution
Bei der Substitution wird ein Atom, Molekülteil oder Ligand (in der Komplexchemie, in der Substitutionen ebenfalls möglich sind) gegen einen anderen ausgetauscht. Ein angreifendes Atom oder Molekül nimmt dabei den Platz eines anderen, als Abgangsgruppe abgespaltenen Atoms oder Moleküls ein. Die Bindigkeit des Kohlenstoffatoms ändert sich nicht.
Substitutionsreaktionen können je nach angreifendem Teilchen in drei Arten eingeteilt werden. Bei nukleophilen Substitutionen greift ein Nukleophil, also ein Atom oder Molekül mit einem Elektronenüberschuss und damit einer negativen Ladung oder Partialladung, an ein geeignetes Kohlenstoffatom an und ersetzt ein anderes Atom oder Teilmolekül. Typische Nukleophile sind Atome, Ionen oder Atomgruppen mit elektronegativen Nichtmetallen wie Amine, Halogenide, Thiole, Hydroxide oder Alkoholate. Neben dem Nukleophil spielt auch die Abgangsgruppe eine Rolle, ob eine Substitution stattfindet. Gute Abgangsgruppen sollten leicht abzuspalten sein und möglichst stabile Moleküle oder Ionen bilden. Beispiele sind die schweren Halogenide Bromid und Iodid oder Stickstoff. Diesen Reaktionstyp findet man vorwiegend bei aliphatischen Kohlenwasserstoffen, bei Aromaten ist er – da Aromaten eine hohe Elektronendichte besitzen – eher selten und kann nur unter speziellen Umständen bei sehr stark elektronenziehenden Gruppen am Aromaten stattfinden (Nukleophile aromatische Substitution). Nukleophile Substitutionen können nach zwei verschiedenen Mechanismen, als SN1 und SN2 bezeichnet, ablaufen. Die Bezeichnungen leiten sich von den Reaktionsordnungen ab, nach denen die geschwindigkeitsbestimmenden Schritte der beiden Reaktionsarten ablaufen.
Im SN1-Mechanismus wird zunächst die Abgangsgruppe abgespalten, es entsteht ein Carbokation. Anschließend erfolgt eine schnelle Reaktion mit dem Nukleophil.
Beim SN2-Mechanismus greift zunächst das Nukleophil unter Bildung eines gemeinsamen Übergangszustandes an, erst danach wird die Abgangsgruppe abgespalten. Die beiden Mechanismen unterscheiden sich in der Stereochemie der erhaltenen Produkte, bei SN1 tritt auf Grund des dreibindigen Carbokations eine Racemisierung ein, während bei SN2 eine Umkehr der vorher vorhandenen Stereochemie (Walden-Umkehr) beobachtet wird.
Das Gegenstück zur nukleophilen Substitution ist die Elektrophile Substitution. Bei dieser ist ein Elektrophil, also ein Atom oder Molekül mit einer geringeren Elektronendichte, also einer positiven Ladung oder Partialladung, das angreifende Teilchen. Typische Elektrophile sind beispielsweise Carbokationen, das Kohlenstoffatom in Carbonylgruppen, Schwefeltrioxid oder Nitronium-Kationen. Diese Reaktion findet fast ausschließlich bei aromatischen Kohlenwasserstoffen statt, man spricht darum auch häufig von einer elektrophilen aromatischen Substitution. Im Mechanismus bildet sich durch den Angriff des Elektrophils zunächst der sogenannte σ-Komplex, ein Übergangszustand, bei dem das aromatische System aufgehoben ist. Anschließend wird die Abgangsgruppe, in der Regel ein Proton, abgespalten und das aromatische System wiederhergestellt.
Bei der dritten Substitutionsart ist das angreifende Teilchen ein Radikal, es wird darum auch von einer radikalischen Substitution gesprochen. Diese verläuft in Form einer Kettenreaktion und findet beispielsweise bei der Reaktion von Alkanen mit Halogenen statt. Im ersten Schritt werden etwa durch Licht, Hitze oder den Zerfall von sehr instabilen Molekülen wenige Startradikale gebildet. In der Kettenreaktion verläuft die Reaktion durch Übertragung des Radikals weiter, bis es durch die Rekombination zweier Radikale zu einem Kettenabbruch kommt.
Reaktionen während der Kettenreaktion einer radikalischen Substitution
Addition/Eliminierung
Die Addition und das Gegenstück, die Eliminierung, sind Reaktionen, bei denen sich die Anzahl der Substituenten am Kohlenstoffatom ändert und Mehrfachbindungen gebildet oder gespalten werden. Bei Eliminierungsreaktionen werden Doppel- und Dreifachbindungen aufgebaut, indem an jedem Kohlenstoffatom der Bindung jeweils ein Substituent entfernt („eliminiert“) wird. Für eine Eliminierung muss sich an einem Kohlenstoffatom der fraglichen Bindung eine geeignete Abgangsgruppe befinden, die relativ leicht abgespalten werden kann. Ähnlich wie bei der nukleophilen Substitution gibt es mehrere mögliche Mechanismen, die je nach Molekül und Bedingungen ablaufen und wiederum nach der jeweiligen Reaktionsordnung benannt sind. Im E1-Mechanismus findet zunächst die Abspaltung der Abgangsgruppe unter Bildung eines Carbokations statt. Im nächsten Schritt erfolgt dann die Ausbildung der Doppelbindung unter Abspaltung eines Protons. Auf Grund der ähnlichen Bedingungen beider Reaktionen steht die E1-Eliminierung immer in Konkurrenz zur SN1-Substitution.
Ebenfalls erster Reaktionsordnung ist der E1cb-Mechanismus, bei dem mit Hilfe einer Base zunächst das Proton abgespalten wird und sich ein Carbanion bildet. Im nächsten Schritt bildet sich unter Abspaltung der Abgangsgruppe die Doppelbindung.
Der E2-Mechanismus erfordert ebenfalls eine Base. Bei diesem laufen jedoch der Angriff der Base und die Abspaltung der Abgangsgruppe konzertiert ab und es wird kein ionisches Zwischenprodukt gebildet. Im Gegensatz zu den E1-Eliminierungen ist hier die Festlegung der Stereochemie im Produkt möglich, da eine Reaktion der Base in anti-Stellung zur Abgangsgruppe bevorzugt abläuft. Durch ähnliche Bedingungen und Reagenzien steht die E2-Eliminierung immer in Konkurrenz zur SN2-Substitution.
Das Gegenstück zur Eliminierung ist die Additionsreaktion. Bei dieser lagern sich Atome oder Moleküle an Doppel- oder Dreifachbindungen an und bilden Einfachbindungen. Additionsreaktionen können sowohl an C-C-Mehrfachbindungen, also Alkenen oder Alkinen, als auch an Kohlenstoff-Heteroatom-Mehrfachbindungen wie Carbonylgruppen, Thiocarbonylgruppen oder Nitrilen stattfinden. Wie die Substitutionen lassen sich auch die Additionen je nach angreifendem Teilchen in mehrere Gruppen einteilen. Bei der elektrophilen Addition greift ein Elektrophil, häufig ein Proton, an der Doppelbindung unter Bildung eines Carbeniumions an. Dieses reagiert mit Nukleophilen unter Bildung des Produktes.
Für die Bildung des Carbeniumions gibt es zwei Möglichkeiten – auf welcher Seite der Doppelbindung es bevorzugt gebildet wird, hängt bei asymmetrischen Alkenen von der Stabilisierung durch unterschiedliche Reste ab. Eine Regel, welches der Produkte bevorzugt gebildet wird, bietet die Markownikow-Regel.
Soll die Addition einer funktionellen Gruppe am weniger substituierten Kohlenstoffatom der Doppelbindung stattfinden, ist die elektrophile Substitution mit Säuren nicht möglich. Eine Möglichkeit bietet die Hydroborierung, bei der das Boratom als Elektrophil wirkt und daher entsprechend der Markownikow-Regel am weniger substituierten Kohlenstoffatom angreift. Durch Oxidation oder Halogenierung können in einem weiteren Schritt dann andere funktionelle Gruppen gebildet werden.
Während bei den elektronenreichen Alkenen und Alkinen vor allem die elektrophile Addition auftritt, spielt bei den Kohlenstoff-Heteroatom-Mehrfachbindungen und vor allem deren wichtigstem Vertreter, der Carbonylgruppe, die nukleophile Addition eine wichtige Rolle. Diese ist häufig mit einer Eliminierung verbunden, so dass nach der Reaktion die Carbonylgruppe wieder vorliegt. Dieses kann bei Carbonsäurederivaten wie Carbonsäurechloriden, -estern oder -anhydriden erfolgen, die eine geeignete Abgangsgruppe an der Carbonylgruppe tragen. Es wird dabei häufig vom Additions-Eliminierungs-Mechanismus gesprochen. Dieser wird häufig durch Säuren oder Basen katalysiert, die (bei Säuren) durch Anlagerung an das Sauerstoffatom die Elektrophilie der Carbonylgruppe oder (bei Basen) die Nukleophilie des angreifenden Nukleophils erhöhen.
Ein Angriff durch eine nukleophile Addition kann gemäß dem Vinylogie-Prinzip auch an die Doppelbindung von α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen wie Ketonen oder Estern stattfinden. Ein wichtiger Vertreter dieser Reaktionsart ist die Michael-Addition.
Additionen können wie Substitutionen nicht nur durch Nukleophile und Elektrophile, sondern auch durch Radikale ausgelöst werden. Wie bei der radikalischen Substitution verläuft auch die radikalische Addition in Form einer Kettenreaktion. Diese Reaktion ist die Grundlage der radikalischen Polymerisation.
Weitere organische Reaktionsmechanismen
Umlagerungen sind Reaktionen, bei denen die Atome oder Molekülteile einer organischen Verbindung erhalten bleiben, aber neu angeordnet werden. Hierzu zählen Hydridverschiebungs-Reaktionen wie die Wagner-Meerwein-Umlagerung, bei der zunächst ein Carbokation gebildet wird, das sich anschließend unter Verschiebung eines Hydrid-Iones zu einem stabileren Carbokation umlagert. Meist sind Umlagerungen jedoch mit dem Brechen und Neubilden von C-C-Bindungen verbunden. Typische Beispiele hierfür sind sigmatrope Umlagerungen wie die Cope-Umlagerung, bei der in einer cyclischen Reaktion gleichzeitig eine C-C-Bindung gebrochen und eine andere gebildet wird.
Wie die sigmatropen Umlagerungen gehören auch Cycloadditionen zu den pericyclischen Reaktionen. Bei dieser Reaktion wird aus mehreren, meist zwei, Doppelbindungen enthaltenden Molekülen ein cyclisches Molekül gebildet. Die wichtigste Cycloaddition ist die Diels-Alder-Reaktion, eine [4+2]-Cycloaddition, bei der ein Dien und ein Alken (auch als Dienophil bezeichnet) zu einem Cycloalken reagieren.
Neben der Diels-Alder-Reaktion gibt es auch die [2+2]-Cycloaddition, bei der zwei Alkene oder andere Verbindungen mit Doppelbindungen wie Ketone miteinander reagieren. Mit 1,3-Dipolen wie Ozon, Diazomethan oder Nitriloxiden sind ebenfalls Cycloadditionen möglich. Ob und wie eine Cycloaddition abläuft, hängt von der Anordnung der p-Orbitale der beteiligten Doppelbindungen ab.
Diese müssen so gegeneinanderstehen, dass jeweils Orbitale mit dem gleichen Vorzeichen der Wellenfunktion überlappen und damit konstruktiv wechselwirken können und die energetisch günstigeren Einfachbindungen bilden. Cycloreaktionen können sowohl thermisch als auch photochemisch durch Bestrahlung mit Licht induziert werden. Da bei der Bestrahlung Elektronen in Orbitale gebracht werden, die eine andere Anordnung und Symmetrie besitzen, sind photochemisch andere Cycloadditionen möglich als thermisch. So sind Diels-Alder-Reaktionen thermische Cycloadditionen, während [2+2]-Cycloadditionen durch Bestrahlungen induziert werden müssen.
Durch die Orbitalanordnungen werden die möglichen entstehenden Produkte und -bei stereoisomeren Edukten- auch deren Stereoisomerie eingeschränkt. Wie dies stattfindet, wird durch die Woodward-Hoffmann-Regeln beschrieben.
Biochemische Reaktionen
In biochemischen Reaktionen sind Enzyme von zentraler Bedeutung. Diese Proteine katalysieren meist speziell eine einzelne Reaktion, so dass Reaktionen sehr exakt gesteuert werden können. Es sind aber auch Enzyme bekannt, die mehrere spezielle Funktionen katalytisch beschleunigen können. Die Reaktion findet in einem kleinen Teil des Enzyms, dem Aktiven Zentrum statt, während der Rest des Enzyms überwiegend zur Stabilisierung dient. Das aktive Zentrum liegt in einer Grube oder Furche des Enzyms. Für die katalytische Aktivität sind unter anderem Bindungen an das Enzym, die veränderte, hydrophobe, chemische Umgebung und die räumliche Nähe der Reaktanten verantwortlich, während die spezielle Form des aktiven Zentrums für die Selektivität verantwortlich ist.
Die Gesamtheit der biochemischen Reaktionen im Körper bezeichnet man als Stoffwechsel. Zu den wichtigsten Mechanismen zählt der Baustoffwechsel, bei dem in unterschiedlichen durch die DNA und Enzyme gesteuerten Prozessen wie der Proteinbiosynthese aus einfachen Vorläufersubstanzen komplexe Naturstoffe wie Proteine oder Kohlenhydrate synthetisiert werden. Daneben existiert der Energiestoffwechsel, durch den mit Hilfe chemischer Reaktionen die für eine Reaktion, etwa des Baustoffwechsels, notwendige Energie bereitgestellt wird. Ein wichtiger Energielieferant ist die Glucose, die durch Pflanzen in der Photosynthese hergestellt werden kann oder mit der Nahrung aufgenommen wird. Diese ist jedoch nicht direkt nutzbar, stattdessen wird über die Zellatmung und die Atmungskette mit Hilfe von Sauerstoff ATP erzeugt, das als Energielieferant für die weiteren Reaktionen dient.
Technische Anwendung
Chemische Reaktionen und ihre Durchführung sind zentral für die technische Chemie. Sie werden in großer Zahl zur Synthese neuer Verbindungen aus natürlich vorkommenden Grundstoffen wie Erdöl, Erzen, Luft oder nachwachsenden Rohstoffen eingesetzt. Häufig werden zunächst einfache Zwischenprodukte synthetisiert, aus denen dann die Endprodukte wie Polymere, Waschmittel, Pflanzenschutzmittel, Pharmaka oder Farbstoffe hergestellt werden. Technische Reaktionen finden in Reaktoren wie Rührkesseln oder Strömungsrohren statt.
Für die Technik ist es besonders wichtig, die Reaktionsführung so wirtschaftlich wie möglich zu gestalten. Dazu zählen etwa ein minimaler Rohstoff- und Energieeinsatz, hohe Reaktionsgeschwindigkeiten und hohe Ausbeuten mit möglichst wenigen Abfallprodukten. Von großer Bedeutung ist daher der Einsatz von Katalysatoren, die sowohl die Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen als auch den Energieeinsatz verringern. Um geringe Abfallmengen zu gewährleisten, werden in technischen Anwendungen häufig Reaktionen gewählt, die eine hohe Atomökonomie aufweisen, bei denen also ein Großteil der Edukte sich im gewünschten Produkt wiederfindet.
Beobachtung
Wie chemische Reaktionen beobachtet und verfolgt werden können, hängt stark von der Reaktionsgeschwindigkeit ab. Bei langsamen Reaktionen können während der Reaktion Proben entnommen und analysiert werden. Dabei werden die Konzentrationen der einzelnen Inhaltsstoffe der Reaktionsmischung bestimmt und so der Konzentrationsverlauf während der Reaktion verfolgt. Ändern sich die Konzentrationen nach einiger Zeit nicht mehr, ist die Reaktion abgeschlossen und im Gleichgewicht angekommen. Damit die Reaktion während der Messung nicht zu sehr voranschreitet, werden vor allem schnelle und einfach durchzuführende Analyseverfahren wie die Dünnschichtchromatographie oder Massenspektrometrie eingesetzt. Auch eine kontinuierliche Beobachtung während der Reaktion ist durch spektroskopische Methoden möglich, wenn damit beispielsweise die Konzentration einer farbigen Substanz in der Mischung bestimmt werden kann. Ist dies nicht möglich, kann mitunter auch ein spezieller Marker, etwa ein radioaktives Isotop eingesetzt werden, dessen Konzentration dann gemessen wird. Dies wird beispielsweise in der Szintigrafie für die Beobachtung von Stoffwechselvorgängen eingesetzt, bei denen sich bestimmte Elemente in einzelnen Organen anreichern. Oberflächenreaktionen können unter günstigen Voraussetzungen direkt mit einem Rastertunnelmikroskop auf molekularer Ebene beobachtet werden.
Bei Nachweisreaktionen spielen sogenannte Indikatoren eine wichtige Rolle, das sind Stoffe, die sich beispielsweise in ihrer Farbe verändern, wenn ein bestimmter Punkt der Reaktion erreicht ist. Bekannt sind vor allem Säure-Base-Indikatoren, die ihre Farbe ändern, sobald eine Lösung neutralisiert wurde und der pH-Wert vom Sauren ins Basische wechselt oder umgekehrt. Auch selektive Fällungsreaktionen können zum Nachweis von Stoffen oder etwa im Kationentrennungsgang zur Auftrennung vor dem genauen Nachweis genutzt werden.
Je schneller eine Reaktion abläuft, desto schwieriger wird es, sie zu beobachten. Für kinetische Untersuchungen schneller Reaktionen wird die Ultrakurzzeit-Spektroskopie verwendet, die mit Hilfe von Femtosekundenlasern eine Zeitauflösung im Bereich von Piko- oder Femtosekunden ermöglicht. So lassen sich auch kurzlebige Übergangszustände während der Reaktion beobachten.
Literatur
Peter W. Atkins, Julio de Paula: Physikalische Chemie. 4. Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 978-3-527-31546-8.
Reinhard Brückner: Reaktionsmechanismen. 3. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-1579-9.
Weblinks
Einzelnachweise |
19571 | https://de.wikipedia.org/wiki/Peloponnesischer%20Krieg | Peloponnesischer Krieg | Der Peloponnesische Krieg zwischen dem von Athen geführten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund unter seiner Führungsmacht Sparta dauerte, unterbrochen von einigen Waffenstillständen, von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. und endete mit dem Sieg der Spartaner. Der Krieg beendete das klassische Zeitalter Athens und der attischen Demokratie und erschütterte die griechische Staatenwelt nachhaltig. Fast alle griechischen Stadtstaaten (Poleis) nahmen an ihm teil, und die Kampfhandlungen umfassten nahezu die gesamte griechischsprachige Welt.
Ebenso bedeutend wie für den Verlauf der Geschichte des antiken Griechenlands war der Krieg aber auch für die Geschichtsschreibung selbst. Denn er war das erste Ereignis, das Gegenstand einer wissenschaftlichen historischen Darstellung wurde: Der griechische Historiker Thukydides lieferte in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs eine ausführliche zeitgenössische Darstellung bis zum Winter des Jahres 411 v. Chr., in der er die Ursachen und Hintergründe des Krieges in einer Weise analysierte, die für die europäische Geschichtsschreibung vorbildlich wurde. Sein Geschichtswerk prägt das heutige Wissen über den Verlauf des Peloponnesischen Krieges maßgeblich. Für die Zeit nach 411 v. Chr. setzte später Xenophon mit seinem Werk Hellenika Thukydides’ unvollendete Arbeit fort, ohne aber dessen Niveau zu erreichen.
Die Bezeichnung Peloponnesischer Krieg ist nicht zeitgenössisch, sondern kam erst später auf. Thukydides selbst sprach vom Krieg zwischen den Peloponnesiern und den Athenern.
Ursachen und Anlass des Krieges
Ausgangslage und erster Peloponnesischer Krieg
Der Attische Seebund, nach den Perserkriegen 50 Jahre zuvor noch ein freiwilliges Verteidigungsbündnis freier griechischer Städte, war inzwischen zu einem reinen Macht- und Zwangsinstrument Athens geworden und diente nun dem Ausbau und der Sicherung der Hegemonie Athens im Raum des Ägäischen Meers (siehe auch Pentekontaetie). In Athen wurden zudem die sogenannten Langen Mauern gebaut, die die Stadt mit ihrem Hafen Piräus verbanden und so gegen Bedrohungen vom Festland immun machten.
Der Peloponnesische Bund unter Führung Spartas stellte jedoch ein effektives Gegengewicht zu den Bestrebungen Athens dar, den Herrschaftsbereich des Seebundes auszuweiten. Der Konflikt zwischen Athen und Sparta in den Jahren 457–446/445 v. Chr., der sich unter anderem aus dem Übertritt Megaras zu Athen ergab, wird oft als Vorstufe zum Großen Krieg gesehen. Dieser so genannte Erste Peloponnesische Krieg entzündete sich daran, dass Theben, der nördliche Nachbar Athens, ein Bündnis mit Sparta schloss, um Hilfe gegen Phokis zu gewinnen, einen Verbündeten Athens. Als die Spartaner daraufhin nach Böotien marschierten, stellten sich ihnen die Athener entgegen, wurden von den Spartanern aber in der Schlacht von Tanagra 457 v. Chr. geschlagen. Nur zwei Monate später blieben die Athener jedoch in der Schlacht von Oinophyta gegen Theben erfolgreich, womit sie für die nächsten 10 Jahre die Vorherrschaft über Mittelgriechenland erlangten. Da es aber danach innerhalb des attischen Herrschaftsgebietes vermehrt zu Abfallbewegungen kam, musste Athen Böotien wieder die Autonomie zugestehen, und der Krieg endete 445 v. Chr. mit einem Patt, wobei Megara wieder zu Sparta überwechselte. Es schien ein Gleichgewicht erreicht, da in dem auf 30 Jahre geschlossenen Friedensvertrag vereinbart wurde, dass man das jeweilige Bündnissystem achten und bei Konflikten ein Schiedsgericht anrufen werde. Bewusst wurde das Verhältnis zu den „neutralen“ Poleis ausgeklammert, was sich als folgenschwerer Fehler erweisen sollte: Denn in den dreißiger Jahren des 5. Jahrhunderts v. Chr. flackerte am äußersten Rand der griechischen Welt ein Brandherd auf, der eine Entwicklung in Gang setzte, die schließlich zum Krieg führen sollte.
Militärische Kräfteverhältnisse
So unterschiedlich wie die naturräumlichen Gegebenheiten der Kriegsparteien waren auch ihre Fähigkeiten zur Kriegsführung. Die von Athen geführte Allianz bestand vor allem aus den ägäischen Inseln sowie Hafenstädten, ihre Stärke war folgerichtig die Seekriegsführung. Der Status von Athen als größte Seemacht hing dabei von seiner starken Flotte ebenso ab wie vom Bestehen des Seebundes. Dies erklärt sich aus der Bauweise der griechischen Trieren sowie der Topografie der Ägäis. Die Trieren hatten eine sehr leichte Bauweise und waren keineswegs hochseetauglich; beim ersten Anzeichen eines Unwetters musste ein Ankerplatz aufgesucht werden. Zum Ankern reichte zwar für die leichten Trieren ein Strand aus, die Küsten der Ägäis sind jedoch mehr von Felsen und Klippen geprägt als von Stränden; geeignete Ankerplätze waren selten und meist besiedelt. Daher war die Verfügung darüber so wichtig für Athen – sowohl für den Handel als auch für den Seekrieg. Bei Kriegsbeginn verfügte Athen nach Thukydides zudem über 13.000 Hopliten – darunter auch Sokrates, der an den Feldzügen nach Potideia, Amphipolis und an der Schlacht bei Delion teilnahm – sowie 16.000 Reservisten.
Die spartanische Allianz hingegen bestand vor allem aus den Städten der Peloponnes und Zentralgriechenlands (mit der Ausnahme der Hafenstadt Korinth), das heißt Landmächten, deren Vorteile auf dem Gebiet des Hoplitenkampfes lagen. Einen indirekten militärischen Vorteil hatte Athen gegenüber Sparta, da es durch die Einnahmen aus dem Seebund über große Finanzreserven verfügte.
Kulturelle und ideologische Charakteristika der Kriegsparteien
Athen, zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner kulturellen Blüte (perikleisches goldenes Zeitalter; Bau des Parthenon, der Propyläen), war eine Demokratie. Spartas Herrschaftsform dagegen war eine Mischverfassung, wobei die Spartaner außenpolitisch aber traditionell Oligarchien bevorzugten. Dieser Gegensatz bestand auch bei den jeweiligen Verbündeten. Wie wichtig dieser ideologische Gegensatz war, zeigt sich in der Tatsache, dass Sparta nach Kriegsende im besiegten Athen sofort eine Oligarchie einführte.
Es gab eine aus heutiger Sicht paradox anmutende Situation: Das demokratische Athen stand für Unterdrückung der nach Unabhängigkeit strebenden Poleis, während Sparta – eine Militärgesellschaft, die die Demokratie ablehnte und einen Großteil der eigenen Bevölkerung, die Heloten, brutal unterdrückte – die Rolle des Verteidigers der Freiheit Griechenlands spielte. Das Attribut „demokratisch“ für Athen wurde noch in der jüngeren Geschichtsschreibung häufig dazu verwendet, das expansive Verhalten Athens zu relativieren. Auch in der populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibung und in der Belletristik wird oft ein „gutes“ demokratisches Athen dem „militaristischen“ Sparta gegenübergestellt. Eine solche moralisch orientierte Bewertung der Kriegsparteien, die von der heutigen Bedeutung der Begriffe Demokratie und Militarismus ausgeht, ist in der modernen Geschichtsforschung nicht mehr zu finden.
Weg in den Krieg
Eine Schlüsselrolle in der Entstehungsphase des Konflikts kam dem spartanischen Alliierten Korinth zu, das unabhängig von den großen Bündnissystemen seine Hegemonie im Golf von Ambrakia zu erhalten suchte. Als bei einer Stasis (Bürgerkrieg) in Epidamnos (um 436 v. Chr.) die „demokratische“ Partei Korinth, die Adelspartei hingegen Korinths ehemalige Kolonie Kerkyra (Korfu) um Hilfe bat, entstand zwischen diesen beiden Poleis ein Konflikt um die Vorherrschaft im Ionischen Meer. Nach ersten Niederlagen gegen Kerkyra rüstete Korinth eine derart große Flotte auf, dass Athen um seinen Status als größte Seemacht fürchtete und deshalb im Sommer 433 v. Chr. ein Defensivbündnis (Epimachia) mit Kerkyra einging, das über die zweitgrößte Flotte Griechenlands verfügte. Korinth sah damit jedoch eine Verletzung des Friedens von 446 v. Chr. gegeben und wandte sich schließlich an Sparta.
Infolge eines weiteren Konflikts verhängte Athen (wohl noch im Jahr 433 v. Chr.) per Volksbeschluss (Psephisma) ein Handelsverbot gegen die Polis Megara, mit der Athen seit dem Ende des ersten Peloponnesischen Krieges verfeindet war (megarisches Psephisma; wobei es umstritten ist, ob es ein oder mehrere Beschlüsse waren). Megara, ebenso wie Korinth Mitglied des Peloponnesischen Bundes, setzte nun alles daran, Sparta zum Handeln zu zwingen. Allgemein wird vor allem dieser Beschluss als letztendlich entscheidender Kriegsgrund angesehen, da Sparta unter Zugzwang geriet. Diese Einschätzung wurde schon von Zeitgenossen geteilt, so von Aristophanes, der meinte, Perikles wollte dadurch von inneren Schwierigkeiten ablenken:
Ein dritter Konflikt entwickelte sich in der Stadt Potidaia auf der Chalkidike, einem Mitglied des Attischen Seebundes, das ebenfalls gute Beziehungen zur Mutterstadt Korinth pflegte. Als Athen von Potidaia verlangte, korinthische Beamte auszuweisen und die Seemauern niederzureißen, trat dieses aus dem Seebund aus. Trotz der Unterstützung durch Korinth konnten die Athener Potidaia allerdings schnell einschließen.
Diese Konflikte waren jedoch nur Auslöser und nicht Ursache des Krieges – ein Unterschied, den bereits Thukydides betonte. Den wahren Grund für den Krieg sah er in der Furcht der Spartaner vor der wachsenden Macht Athens. Nach seiner Meinung war der Konflikt letztendlich unvermeidbar – eine Einschätzung, die die moderne Forschung jedoch nur bedingt teilt.
Im Sommer 432 v. Chr. forderten die unzufriedenen peloponnesischen Bundesgenossen Sparta auf, endlich einzugreifen. In Sparta war es vor allem König Archidamos II., der zur Vernunft riet; er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Zunächst wurde aber nur festgestellt, dass Athen den dreißigjährigen Frieden von 446 v. Chr. gebrochen hatte; dem folgte bald darauf die förmliche Kriegserklärung. Die auch weiterhin fortgesetzten Verhandlungen mit Athen brachten jedoch keine Lösung: In Athen war es vor allem Perikles, der es nun auf einen Krieg ankommen ließ; diese These wurde etwa von Karl Julius Beloch in seiner „Griechischen Geschichte“ besonders hervorgehoben, wurde aber auch von Thukydides wenigstens bedingt geteilt.
Letztendlich waren die Risikobereitschaft des Perikles und die spartanische Furcht vor einem Austreten eines oder mehrerer Alliierter aus dem Peloponnesischen Bund (womit Spartas Sicherheitsinteressen tangiert waren, siehe die permanente Helotengefahr) die Hauptgründe für den Krieg. Perikles’ Absicht war es, Sparta zur Akzeptanz des Dualismus und damit des Seebundes zu zwingen; Sparta musste den Interessen seiner Bundesgenossen Rechnung tragen.
Ob die Kriegsschuld für den Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs nun bei Athen (wegen der Konfrontationspolitik des Perikles) oder bei Sparta lag (wegen des kalkulierten Risikos eines Krieges, um so Athen zu bezwingen), ist in der Forschung umstritten. Sicher ist, dass aufgrund einer Atmosphäre politischer Verunsicherung, aggressiver Machtpolitik und übersteigerten Prestigedenkens von allen Seiten eine mehr oder weniger große Bereitschaft zum Krieg vorhanden war. Thukydides brachte die Stimmung auf den Punkt:
Die eigentlichen Kampfhandlungen begannen jedoch erst mit dem Überfall der mit Sparta verbündeten Thebaner auf Platää im Frühjahr des Jahres 431 v. Chr.
Kriegsverlauf
Allgemein wird der Peloponnesische Krieg in der modernen Forschung in drei Phasen unterteilt:
Der Archidamische Krieg (benannt nach dem spartanischen König und Feldherrn Archidamos II.), der von 431 v. Chr. bis 421 v. Chr. andauerte.
Die Zeit des Nikiasfriedens, die von 421 v. Chr. bis etwa 413 v. Chr. andauerte.
Der Dekeleisch-Ionische Krieg, da sich die Kampfhandlungen weiter auf Attika ausbreiteten (wo die Spartaner von Dekeleia aus operierten) und auf die Ostküste der Ägäis (Ionien). Diese Phase dauerte von 414/413 v. Chr. bis zur Niederlage Athens 404 v. Chr. an.
Archidamischer Krieg
Erste Jahre
Athen besaß verglichen mit Sparta ein schwaches Landheer, aber eine starke Flotte. Die von Perikles erdachte Strategie war demnach, einerseits sich nicht auf eine Auseinandersetzung zu Lande einzulassen und die Bevölkerung Attikas hinter den Langen Mauern zu schützen, andererseits aber mit der starken Flotte die Küstenstädte der Peloponnes anzugreifen und mit einer Blockierung der Seewege Sparta langsam zu zermürben (bereits im ersten Peloponnesischen Krieg wurde sie in ähnlicher Weise von dem athenischen Strategen Tolmides ausgeführt). Allerdings fanden auch Feldzüge in die Megaris statt, doch hatten diese letztendlich wenig Erfolg: Zwar fiel einer der beiden Häfen Megaras, Nisaia, 424 v. Chr. endlich den Athenern in die Hände, doch ging dieser in den letzten Kriegsjahren wieder verloren.
Sparta dagegen fiel mit seinem starken Landheer in Attika ein und verwüstete das Umland von Athen, mit der Absicht, die Athener so zu einer offenen Feldschlacht zu zwingen. Die Athener ließen sich darauf jedoch wegen der Überlegenheit der spartanischen Phalanx nicht ein. Da es angesichts der starken Befestigung, des damaligen Stands der Belagerungstechnik und der damaligen Grenzen der Logistik unmöglich war, Athen einzunehmen, verfolgte auch Sparta eine Zermürbungsstrategie: Der sommerliche Einfall in Attika wiederholte sich, bis auf die Jahre 429 v. Chr. (aufgrund einer Seuche) und 426 v. Chr. (aufgrund eines Erdbebens), Jahr für Jahr. Die Spartaner verwüsteten das Land und zogen nach einigen Wochen wieder ab. Athen hingegen kostete der Unterhalt der Flotte und die Belagerung Potideias Unsummen, was zu schweren Vorwürfen gegen Perikles führte, der vorübergehend als Strategos abgesetzt wurde.
In Athen brach 430 v. Chr. eine Seuche aus, der etwa ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel, darunter im Jahr 429 v. Chr. auch Perikles. Obwohl Thukydides eine genaue Beschreibung der Symptome gibt, konnte die genaue Natur dieser oft als „Pest (von Athen)“ bezeichneten (Attischen) Seuche bzw. ältesten dargestellten Pandemie bis heute nicht sicher geklärt werden.
Vom Tod des Perikles bis zur Schlacht von Sphakteria
Der Tod des Perikles brachte eine neue Generation von Politikern ans Ruder: Männer wie Kleon (der Führer der Radikaldemokraten und Befürworter einer aggressiveren Politik) und Nikias (der zu einem Ausgleich mit Sparta riet und die Interessen der Besitzenden vertrat) stammten nicht aus den alten Adelsgeschlechtern und nutzten als Forum noch stärker die Volksversammlung. Dass nun jedoch auch weitere Alimentierungsmaßnahmen von den Radikaldemokraten durchgesetzt wurden, war eine Folge des Umstands, dass der Großteil der Bevölkerung Attikas erstmals längere Zeit an einem Ort versammelt war, eben innerhalb der Befestigungsanlagen Athens. Allerdings sollten diese Versorgungszahlungen an die ärmeren Bevölkerungsschichten die finanziellen Ressourcen Athens in späterer Zeit stark belasten (siehe auch unten: Oligarchischer Umsturz in Athen).
In den folgenden Jahren kam es zu keiner Entscheidung. Den Athenern gelang es jedoch, den korinthischen Golf zu blockieren und somit große Teile der peloponnesischen Flotte lahmzulegen. 428 v. Chr. fiel Mytilene auf Lesbos vom Seebund ab, wurde jedoch bald darauf wieder in das Bündnis gezwungen. 427 v. Chr. kam es schließlich zur so genannten ersten sizilischen Expedition Athens unter Führung des Laches, die jedoch für den Kriegsverlauf keine Bedeutung hatte.
425 v. Chr. schien Athen im Vorteil zu sein: Eine athenische Truppe unter dem Strategen Demosthenes war bei Pylos an der Westküste der Peloponnes gelandet. Eine spartanische Belagerung misslang, wobei im Verlauf der Schlacht von Sphakteria 120 Spartiaten – die Elite Spartas – in Gefangenschaft gerieten. Der Ruhm fiel Kleon zu, der zu einer militärischen Entscheidung gegen die Spartaner bei Pylos gedrängt hatte. Sparta, in Sorge um die gefangenen Spartiaten (die Athener drohten mit der Hinrichtung der Gefangenen, falls die Spartaner ihre Einfälle nach Attika wiederholten), zeigte sich schließlich friedenswillig. Athen jedoch ging darauf nicht ein, vor allem unter dem Einfluss des Kleon. Dieser stellte vielmehr unannehmbare Gebietsforderungen, die Sparta ablehnte.
Kriegsgräuel und Thukydides’ Beobachtung über den Verfall der Sitten
Während des Krieges kam es auf Seiten der Athener zu zahlreichen Militäraktionen gegen abtrünnige Verbündete (wie beispielsweise an Mytilene auf Lesbos 427 v. Chr.), auch gegen neutrale Poleis. Thukydides schildert besonders eindringlich die Militäraktion gegen die Insel Melos im Jahr 416 v. Chr. in dem so genannten Melierdialog: Melos, ursprünglich neutral, wird von den Athenern entgegen bestehender Verträge angegriffen und erobert. In dem Melierdialog rechtfertigen die Athener ihr Handeln mit dem „Recht des Stärkeren“. In diesem Zusammenhang muss die Rolle der athenischen Volksversammlung betont werden, die sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss von „Demagogen“, welche die Stimmung in der Versammlung teils anheizten – leicht zu brutalen Handlungen hinreißen ließ (siehe attische Demokratie). Auch wurden auf Antrag der Volksversammlung die Abgaben der Bündnisgenossen erhöht und deren Eintreibung effizienter organisiert.
Thukydides, der die Brutalisierung des Krieges besonders herausstreicht, konstatierte insgesamt in diesem Krieg einen Verfall der Sitten, was er exemplarisch am Beispiel Kerkyras festmachte, wo es bald zu einem blutigen Bürgerkrieg kam (stasis). Die Gräueltaten nahmen im Verlauf des Krieges sogar noch zu. Zum Beispiel: Im Sommer 413 v. Chr. überfielen thrakische Söldner im Dienste Athens das Dorf Mykalessos in Böotien und töteten alle, die sie finden konnten – Männer, Frauen und Kinder, wobei die Thraker auch in eine Schule eindrangen und alle dort versammelten Jungen ermordeten.
Allerdings lässt sich generell feststellen, dass während des Krieges von beiden Parteien Gräueltaten begangen wurden; auch auf der Seite Spartas, wie die Belagerung von Plataiai zeigt. Thukydides Aussagen deuten darauf hin, dass auch der in der griechischen Antike geltende Standard an Gewalttätigkeit (der damalige kriegerische Kodex erlaubte mehr als die heute üblichen Standards) in diesem Krieg noch überschritten wurde.
Brasidasfeldzug und Ende des Archidamischen Krieges
Für Sparta waren aus Sorge um die gefangenen Spartiaten weitere Einfälle in Attika ausgeschlossen. Auch der Aufbau einer eigenen Flotte hatte mehr Rückschläge als Erfolge gebracht. Daher verlegte man sich auf eine neue Strategie: Athen an der Peripherie zu attackieren.
424 v. Chr. begann der talentierte spartanische General Brasidas mit seinen Operationen in Thrakien, wobei er auf seinem Feldzug auch Heloten einsetzte, denen die Freiheit versprochen wurde. Brasidas, der unter dem Motto Freiheit und Autonomie gegen Athens Seebund ins Feld zog (ein auch später immer wieder bewährtes Propagandainstrument), knüpfte Kontakte zu Perdikkas II., dem König von Makedonien, der während des Krieges zwischen Athen und Sparta lavierte, und schloss ein Bündnis mit ihm. Den Spartanern gelang denn auch 424 v. Chr. die Einnahme des wichtigsten athenischen Stützpunktes in dieser Region, Amphipolis. Hinzu kam im selben Jahr eine schwere Niederlage der Athener bei Delion in Böotien, wo sie in offener Feldschlacht den Thebanern unterlagen.
Mit den Operationen des Brasidas wurde der Lebensnerv Athens getroffen, denn durch jene Region verlief die Getreideroute aus der heutigen Ukraine, die Athens Überleben sicherstellte. Außerdem erhielt Athen aus dieser Region Geld und Holz für den Bau seiner Flotte. Der ehrgeizige Kleon hielt jedoch weiter an seinem harten Kurs gegenüber Sparta fest, während sein politischer Gegner Nikias zu einer Verständigung mit Sparta riet. Zwar kam es zu einem vorübergehenden Waffenstillstand, der jedoch nicht eingehalten wurde, so dass die Kämpfe schon bald wieder aufflammten.
Mit dem Tod des Kleon und des Brasidas im Jahre 422 v. Chr. in der Schlacht von Amphipolis, wo die Spartaner einen glänzenden Sieg errangen, der aber durch den Verlust ihres besten Generals getrübt wurde, fielen die beiden Hauptgegner einer Verständigung aus. Somit war der Weg frei für einen Friedensvertrag, den Nikias aushandelte und der auch seinen Namen trug: der Nikiasfrieden.
Nikiasfrieden – eine trügerische Sicherheit
Der 421 v. Chr. geschlossene so genannte Nikiasfrieden orientierte sich weitgehend am Status quo ante: Sparta sollte seine Gefangenen zurückerhalten und die thrakischen Stützpunkte räumen, wofür Athen im Gegenzug die peloponnesischen Stützpunkte aufgeben sollte, aber einen der beiden Häfen Megaras behalten durfte. Allerdings kam es bald zu Missstimmungen auf beiden Seiten, da nicht alle Vertragspunkte erfüllt wurden. So blieben spartanische Truppen weiterhin in Amphipolis stationiert und dachten gar nicht daran, es den Athenern zu übergeben. Währenddessen räumten die Athener nicht ihren peloponnesischen Stützpunkt Pylos.
Aber auch Spartas Verbündete, vor allem Korinth und Theben, waren unzufrieden: Ihre Interessen waren im Vertrag nicht berücksichtigt worden. Dies führte zu erheblichen Spannungen im Peloponnesischen Bund, woraufhin Sparta, unter Vermittlung des Nikias, ein Bündnis mit Athen schloss, das aber keinen reellen Wert besaß. Denn Argos, selbst eine Demokratie und Spartas Erzrivalin, arbeitete an einem anti-spartanischen Bündnis, wozu es schließlich auch einen Pakt mit Athen einging, wo der ehrgeizige und aus ältestem Adel stammende Alkibiades auf einen neuen Krieg mit Sparta hinarbeitete und die Ausgleichspolitik des Nikias unterminierte. Sparta wiederum bekräftigte daraufhin seine Bande mit Theben und mit Korinth, die sich beide nicht dem argivischen Bündnis anschlossen.
Sparta hatte dadurch die Hände gegenüber Argos frei, während Athen eine Atempause erhielt und sich um seine Probleme in Thrakien kümmern konnte. Argos konnte schließlich keinen Nutzen aus der zeitweiligen Schwäche Spartas ziehen, denn 418 v. Chr. wurden seine Streitkräfte von Spartas Aufgebot in der Schlacht von Mantineia geschlagen, während Athen seine Herrschaft über den Seebund konsolidierte.
Die Unterwerfung der Insel Melos durch Athen mitten im Frieden (416 v. Chr.) und die Bestrafung seiner Bevölkerung (Hinrichtung aller Männer, Versklavung der Frauen und Kinder) waren jedoch ein Verbrechen, das zuerst von dem Sophisten Diagoras von Melos angeprangert und später von Thukydides in seinem berühmten Melierdialog verarbeitet wurde.
Alkibiades und die Sizilienexpedition
Alkibiades gewann in der Erholungszeit nach den Auseinandersetzungen mit Sparta immer mehr Einfluss auf die Volksversammlung und begeisterte die Athener für einen gefährlichen Plan: den Sizilienfeldzug. Ziel war sowohl das Getreide der Insel als auch Pläne für eine Ausdehnung des athenischen Einflussgebiets. Vorgeschobener Grund war ein Hilferuf aus Segesta, das sich so wie einige andere örtliche Poleis im Konflikt mit Selinunt und Syrakus befand, dem mächtigsten sizilischen Stadtstaat, welcher zugleich eine gemäßigte Demokratie war. Alkibiades setzte gegen die Empfehlungen des Nikias, der zur Vernunft riet und den ganzen Plan für zu gewagt hielt, die Expedition durch. Überschattet wurde das Unternehmen bereits vor dessen Beginn, da es in der Stadt zum so genannten Hermenfrevel kam: Unbekannte hatten die Hermen in der Stadt verstümmelt, was auch als ein Angriff auf die attische Demokratie gedeutet wurde. Alkibiades geriet in Verdacht, daran beteiligt gewesen zu sein. Es wurde zwar vorerst kein Prozess gegen ihn angestrengt, doch der Zwischenfall blieb nicht ohne Folgen, da die Verdächtigungen bestehen blieben.
Schließlich zog unter dem Kommando des Alkibiades, des Nikias und des Lamachos eine gewaltige Flotte von 134 Trieren und etwa 5000 Hopliten (die Streitmacht wurde später noch verstärkt) im Jahre 415 v. Chr. nach Sizilien. Die Gesamtstärke der Expedition betrug insgesamt rund 32.000 Mann (6.400 Mann Landungstruppen und über 25.000 Ruderer). Allein das Athener Kontingent (100 Trieren, 1500 Hopliten) war die bei weitem größte Expeditionsflotte, die je eine einzelne Polis ausgerüstet hatte – noch dazu operierte sie fern der Heimat. Alkibiades jedoch wurde noch vor Ankunft des Heeres in Sizilien nach Athen zurückberufen, wo er sich einem Prozess stellen sollte: Angeklagt wurde er wegen des Hermenfrevels und aufgrund der Anschuldigung, einen Religionsfrevel verübt zu haben (er soll die Mysterien von Eleusis verspottet haben). Er lief daraufhin zum Gegner Sparta über.
Die Athener unter Nikias belagerten zunächst Syrakus, konnten die Einschließung aber nicht lückenlos durchführen. Von Seiten Spartas erhielt Syrakus nur geringe Unterstützung, doch sollte sich die Entsendung des Strategen Gylippos im Nachhinein als ein Glücksgriff herausstellen. Nikias musste einige Rückschläge einstecken, wagte aber aus Furcht vor dem Zorn der Volksversammlung nicht den Rückzug und erhielt Ende 414 v. Chr. noch einmal Verstärkung unter dem Kommando des Demosthenes, der sich bereits im archidamischen Krieg hervorgetan hatte. Schließlich gerieten die Athener im Sommer 413 v. Chr. in Gefahr, vollständig abgeschnitten zu werden. Sie waren nun auch ihrer Flotte beraubt, die im Hafen von Syrakus im Gefecht vernichtet worden war. Somit war die Belagerung von Syrakus endgültig gescheitert und die Athener mussten doch noch den Rückzug antreten – viel zu spät, wie sich schon bald herausstellte. Der Großteil der Truppen geriet auf dem Rückzug in Gefangenschaft, in der die meisten von ihnen starben, während Nikias und Demosthenes hingerichtet wurden. Die so genannte sizilische Expedition endete in einer Katastrophe für Athen, das seine Kräfte bei weitem überspannt hatte.
Dekeleisch-Ionischer Krieg
Sparta und Persien verständigen sich
Von der Katastrophe des Sizilienfeldzugs sollte sich Athen nie wieder wirklich erholen, wenn auch lange offen war, wer den Konflikt für sich entscheiden würde. Sparta erklärte aufgrund athenischer Übergriffe 414 v. Chr. den Nikiasfrieden für gebrochen. Es ging bald darauf in die Offensive und setzte sich 413 v. Chr. auf Rat des Alkibiades im kleinen Ort Dekeleia in Attika fest, von wo aus spartanische Truppen Raubzüge in das attische Territorium unternahmen. Damit befand sich Athen im Zustand einer permanenten Belagerung: Mehrere tausend Sklaven liefen über. Viel gravierender war jedoch, dass die Versorgung Athens von Euböa aus, wo ein Großteil des athenischen Viehs stand, nur noch über den Seeweg möglich war, und Tag und Nacht die Mauern besetzt sein mussten, was zusätzliche Kräfte band und psychisch belastend wirkte.
Zudem hatte Athen 414 v. Chr. in Kleinasien einen lokalen Rebellen unterstützt, so dass es sich auch mit dem Perserreich überwarf, was schwerwiegende Folgen haben sollte, denn Persien nahm nun Kontakt zu Sparta auf. In Verhandlungen mit dem persischen Satrapen in Sardes, Tissaphernes, wurden insgesamt drei Vertragsentwürfe ausgehandelt. 412 v. Chr. verpflichtete sich Sparta schließlich, Kleinasien an Persien abzutreten, wofür es im Gegenzug regelmäßige, aber keineswegs besonders umfangreiche Geldzahlungen erhielt.
Diese für Athen prekäre Situation nutzten mehrere Mitglieder des Seebundes und fielen 412 v. Chr. und in den folgenden Jahren von Athen ab, während die spartanische Flotte, gebaut mit persischem Gold, recht erfolgreich in der Ägäis operierte, wobei es aber nicht gelang, die athenische Flotte zu schlagen. Allerdings betrieb Tissaphernes auch nach Abschluss des Vertrags mit Sparta eine wankelmütige Politik, um so den Zermürbungskrieg zwischen Athen und Sparta zum Vorteil Persiens in die Länge zu ziehen, wozu er angeblich von Alkibiades ermutigt worden war, der schon längst nicht mehr in der Gunst Spartas stand (angeblich hatte er die Frau von König Agis II. verführt).
Oligarchischer Umsturz in Athen
In Athen war währenddessen die Atmosphäre stark angespannt. Militärisch war die Lage ernst, standen doch nun spartanische Truppen sogar in Kleinasien, und auch in finanzieller Hinsicht ergaben sich Probleme. Man war sogar an die letzten Finanzreserven herangegangen, die man bei Kriegsausbruch zurückgelegt hatte. Diese Situation bereitete den Boden für den oligarchischen Verfassungsumsturz des Jahres 411 v. Chr. Bei der von Samos aus operierenden Flotte hatten sich mehrere oligarchisch gesinnte Kommandeure zusammengeschlossen. Sie hatten genug von der Politik ihrer Heimatstadt, die zur sizilischen Expedition und dem damit verbundenen Aderlass geführt hatte. In ihren Bestrebungen wurden sie von Alkibiades ermutigt, der mit der spartanischen Flotte in der Ägäis operierte. Aufgrund seiner gefährdeten Position plante er wieder einen Seitenwechsel und machte die Verschwörer glauben, dass, wenn in Athen eine Oligarchie an der Macht wäre, auch das Perserreich zu einem Ausgleich bereit sei und er, Alkibiades, wieder nach Athen würde kommen können.
Die Verschwörer gingen systematisch vor und knüpften Kontakt zu den oligarchisch gesinnten athenischen Hetairien (lockeren Verbindungen von Adligen). Einer der Wortführer der Oligarchen, Peisandros, erklärte vor der Volksversammlung, dass die Verfassung, so wie sie nun bestehe, nicht den Erfordernissen des Krieges Rechnung trage. In einer von den Hetairien geschaffenen Atmosphäre von Angst und Verunsicherung stimmte die Versammlung der Bildung eines Komitees zu, das eine neue Verfassung erarbeiten sollte.
So entmachteten die Oligarchen im Frühjahr 411 v. Chr. die Volksversammlung und erreichten schließlich die Einsetzung eines Rates der 400, der eine neue Verfassung vorbereiten sollte, wobei aber nur noch 5000 Hopliten in der Volksversammlung stimmberechtigt sein und die regelmäßigen Zahlungen an die freie Bevölkerung eingestellt werden sollten. Die Versammlung der 5000 trat erst gar nicht zusammen, und der Rat der 400 übte alle Macht aus (Mai/Juni 411 v. Chr.). Doch weder gelang ein Übereinkommen mit Persien (die Oligarchen sahen sich dabei von Alkibiades’ Versprechen getäuscht) noch wurde ein Frieden mit Sparta geschlossen, wo man gar nicht daran dachte, in dieser günstigen Lage einzulenken.
Dank der weiterhin demokratisch gesinnten Flotte, bei deren Rudermannschaften die Oligarchen keine Unterstützung fanden, konnte der Umsturz bald wieder rückgängig gemacht werden, zumal bei den Oligarchen Männer wie Theramenes in eine eher gemäßigte Richtung tendierten. Bereits nach wenigen Monaten wurde der Rat der 400 entmachtet, und es trat eine Versammlung der 5000 zusammen, bevor Mitte 410 v. Chr. die Demokratie wieder eingerichtet wurde, samt den Maßnahmen zur Alimentierung der Bevölkerung. Alkibiades war schon vorher zu den Demokraten übergewechselt und hatte sich zum Führer der demokratischen Gegenbewegung auf Samos gemacht, nachdem die Oligarchen ihn aufgrund des nicht zustande gekommenen Ausgleichs mit Persien außen vor gelassen hatten.
Lysander und Ende des Krieges
Nach der Rückkehr des Alkibiades folgte eine Reihe athenischer Siege, so bei Kyzikos 410 v. Chr., wonach Sparta noch einmal zum Frieden bereit war, was in Athen aber von den radikalen Demokraten unter Führung des Kleophon abgewiesen wurde. Alkibiades konnte mehrere abgefallene Städte zurück in den Seebund zwingen, so beispielsweise das strategisch wichtige Byzantion, und mit dem Satrapen von Phrygien, Pharnabazos (einem Konkurrenten des Tissaphernes), sogar einen Waffenstillstand abschließen. Alkibiades hielt daraufhin im Sommer 408 v. Chr. einen triumphalen Einzug in Athen und wurde zum Strategos gewählt. Obendrein erhielt er, der einst Athen verraten hatte und zum Feind übergelaufen war, den uneingeschränkten Oberbefehl über die Land- und Seestreitkräfte.
407 v. Chr. war der erfahrene spartanische General Lysander nach Kleinasien gegangen und hatte dort Kontakt zum persischen Prinzen Kyros dem Jüngeren aufgenommen, der nun in Kleinasien als eine Art Oberkommandierender fungierte. Kyros zeigte sich von Lysander tief beeindruckt. Persien beendete seine Schaukelpolitik endgültig, und Sparta erhielt nun wesentlich mehr Unterstützung durch Persien. In dieser letzten Phase des Dekeleisch-Ionischen Kriegs verlor Athen zunächst gegen die Spartaner unter Lysander die Schlacht von Notion 407 v. Chr., was schließlich zur Abberufung des Alkibiades führte, obwohl dieser selbst nicht anwesend gewesen war, doch traute man ihm offensichtlich nicht mehr.
Lysander musste sein Kommando allerdings bald schon turnusmäßig abgeben, und der neue spartanische Flottenkommandeur Kallikratidas verstand sich weit weniger gut mit Kyros. Dennoch gelang es den Spartanern, die athenische Flotte bei Lesbos einzukesseln. Athen bot noch einmal alle Kräfte auf und entsandte eine Entsatzflotte, die die Spartaner bei den Arginusen (einer Inselgruppe in der Ägäis) im Jahre 406 v. Chr. zur Schlacht zwang. Es war die größte Seeschlacht, die sich die Griechen jemals gegeneinander geliefert hatten, und sie endete mit einem überwältigenden Sieg für Athen. Allerdings kam es aufgrund der unterlassenen Rettung von athenischen Seeleuten zum berüchtigten Arginusenprozess, der mit der Hinrichtung mehrerer athenischer Strategen endete, womit Athen sich selbst erfahrener Militärs beraubte.
Die Niederlage bei Aigospotamoi (in der die Spartaner wieder von Lysander kommandiert wurden) im Jahre 405 v. Chr. – eigentlich mehr ein Handstreich als eine Schlacht – besiegelte dann das Schicksal Athens, das nun über keine intakte Flotte mehr verfügte, während die Spartaner unter Lysander das Meer beherrschten. In der Stadt breitete sich Panik aus: Man befürchtete, dass man nun mit ihnen so umgehen würde, wie sie selbst in der Vergangenheit mit besiegten Gegnern verfahren waren. Nur Samos hielt noch zu den Athenern, alle anderen Alliierten waren längst abgefallen oder unterwarfen sich nun den Spartanern. Lysander beorderte Einheiten nach Samos (deren Bürger nun das attische Bürgerrecht erhielten und so den Bürgern Athens gleichgestellt wurden, eine zuvor undenkbare Maßnahme), der Rest der Flotte setzte Kurs auf Piräus, während zwei spartanische Heere sich vor Athen vereinigten. Die Stadt, die durch den Zustrom an Flüchtlingen überquoll, wurde eingekesselt und musste schließlich ausgehungert im Frühjahr des Jahres 404 v. Chr. kapitulieren.
Folgen des Krieges
Der Krieg, der mit einer bis dahin beispiellosen Brutalität geführt wurde und geprägt war von einer engen Verzahnung von Außen- und Innenpolitik, hatte die Macht Athens gebrochen. Mit dem Ende des langen Konflikts waren aber auch viele Hoffnungen verbunden, vor allem die auf Frieden und Freiheit, was in Xenophons Schilderung der Kapitulation Athens deutlich wird:
Die Langen Mauern wurden niedergerissen, der Seebund aufgelöst, die Flotte musste bis auf zwölf Schiffe ausgeliefert werden, und es wurde mit der Herrschaft der Dreißig eine pro-spartanische Oligarchie in Athen an die Macht gebracht, die jedoch 403 v. Chr. beseitigt wurde. In der Ägäis wurden pro-spartanische Regime, so genannte Dekarchien (da es sich um Zehnerkommissionen handelte), installiert und spartanische Garnisonen eingerichtet. Athen wurde jedoch nicht zerstört, wie von Korinth und Theben gewünscht. Sparta wollte kein Machtvakuum entstehen lassen, zumal es selbst große Schwierigkeiten hatte: Man war mit dem Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung gegen Athen zu Felde gezogen, hatte Persien aber im Gegenzug für dessen Hilfe die Abtretung der kleinasiatischen Küste zugesichert. Dies kam nicht mehr in Frage, so dass Sparta nun gegen das Perserreich Krieg führen musste. Das Perserreich hatte durch die Ausschaltung bzw. Schwächung der beiden stärksten Poleis am meisten vom Krieg profitiert – eine Entwicklung, die schließlich zum Königsfrieden im Jahre 386 v. Chr. führte.
Das goldene Zeitalter des klassischen Griechenlands wurde durch diesen antiken Weltkrieg, der von Sizilien bis nach Kleinasien getobt hatte und in dem jede größere Macht der Region beteiligt gewesen war, beendet. Der Krieg war ein Wendepunkt für die Geschichte der griechischen Poliswelt, deren ohnehin labiles politisches Gleichgewicht nun endgültig aufgehoben wurde. Athen konnte zwar im 4. Jahrhundert v. Chr. die Restauration des Seebunds erreichen, doch blieb dieser weit hinter dem ersten Seebund zurück.
Aber auch die spartanische Hegemonie sollte nur wenige Jahrzehnte Bestand haben, da Spartas politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System keine ausreichende Grundlage hatte, um einerseits die immensen materiellen und personellen Verluste aus dem jahrzehntelangen Krieg effektiv auszugleichen und andererseits die neuen Verbündeten/Vasallen effektiv zu kontrollieren. Die von jeher relativ kleine Bevölkerungsschicht der spartanischen Freien, die immer die Elite und das Rückgrat des spartanischen Staatswesens gebildet hatten, war durch den Krieg entscheidend geschwächt worden. Zunehmend mussten (bereits während des Krieges) unfreie Hilfstruppen die spartanischen Truppen unterstützen, was zu einer verstärkten Abhängigkeit der Spartaner von den unterjochten Heloten führte. Letztlich entzog die militärische Niederlage gegen die Thebaner in der Schlacht bei Leuktra 371 v. Chr. dem spartanischen Staat die Existenzgrundlage; Theben siegte auch 362 v. Chr. in der zweiten Schlacht von Mantineia und begründete so eine kurzfristige Hegemonialstellung. Die griechische Staatenwelt gelangte jedoch zu keinem modus vivendi. Versuche, einen dauerhaften, allgemeinen Frieden (koiné eiréne) auf der Basis von Autonomie und Gleichberechtigung zu erreichen, führten nur zu kurzfristigen Atempausen. Die griechische Poliswelt fand so im 4. Jahrhundert v. Chr. keinen Ausweg aus dem permanenten Kriegszustand. Am Ende dieser Entwicklung stand Griechenland unter der Hegemonie des ehrgeizigen Königs Philipp II. von Makedonien.
Quellen
Wichtigste Quelle bis 411 v. Chr. ist Thukydides, dessen Darstellung allerdings nicht immer unproblematisch ist. Daneben sind auch Diodor, Plutarch und für die letzten Kriegsjahre Xenophon (Hellenika) von Bedeutung. Weitere Quellen sind Inschriften (siehe Brodersen/Günther/Schmitt, Inschriften), Komödien/Tragödien (siehe Aristophanes und Euripides), historische Fragmente (wie die Hellenika Oxyrhynchia) sowie das wohl aus der Schule des Aristoteles stammende Werk Athenaion politeia und Pseudo-Xenophon.
Eine umfassende Übersicht der Quellenlage bietet Busolt, Griechische Geschichte, Bd. 3.2, S. 591ff. Siehe auch (mit Berücksichtigung neuerer Funde) die Überblicke bei Bleckmann und Kagan.
Kai Brodersen, Wolfgang Günther, Hatto H. Schmitt (Hrsg.): Historische griechische Inschriften in Übersetzung. Band 1: Die archaische und klassische Zeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992, ISBN 3-534-02243-2 (gute Übersetzungen, aber ohne Kommentar).
Hellenica Oxyrhynchia. Übersetzt und herausgegeben von Paul McKechnie et al. Warminster 1988, ISBN 0-85668-358-2.
Plutarch: Große Griechen und Römer. Herausgegeben von Konrat Ziegler, 6 Bde., Zürich 1954 (Bibliothek der alten Welt, mehrere Nachdrucke, u. a. ISBN 3-423-05989-3).
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Hrsg. von Helmuth Vretska und Werner Rinner (= Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 1808). Reclam, Stuttgart 2000, ISBN 3-15-001808-0.
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Hrsg. und übers. von Georg Peter Landmann (= Bibliothek der alten Welt; Historiae). Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2002, ISBN 3-7608-4103-1.
Xenophon: Hellenika. Übersetzt von Gisela Strasburger. München 1970 (mehrere Neuauflagen), ISBN 3-7608-1639-8.
Literatur
Die Literatur zum Thema Peloponnesischer Krieg ist uferlos, es sei daher nur eine kleine Auswahl genannt. Eine umfassendere Übersicht bezüglich Quellen und der Literatur (bis zur Mitte der 1980er Jahre) bietet Kagan in seinem Werk in vier Bänden.
Bruno Bleckmann: Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs. Stuttgart 1998, ISBN 3-519-07648-9.(Detaillierte und quellennahe Darstellung der letzten Kriegsjahre.)
Bruno Bleckmann: Der Peloponnesische Krieg. München 2007, ISBN 3-406-55388-5.(Knapper Überblick)
Georg Busolt: Griechische Geschichte. Bd. 3, zweiter Teil. Gotha 1904 (Digitalisat).(Trotz des Alters noch heute eine der grundlegenden Darstellungen zum Peloponnesischen Krieg.)
Martin Dreher: Athen und Sparta. München 2001.
Victor Davis Hanson: A War Like No Other: How the Athenians and Spartans Fought the Peloponnesian War. New York 2005, ISBN 1-4000-6095-8.(Hanson, ein angesehener Militärhistoriker, beschreibt vor allem, mit welchen Mitteln der Krieg ausgetragen wurde.)
Donald Kagan: The Peloponnesian War. New York 2003, ISBN 0-14-200437-5.(Wahrscheinlich die beste Gesamtdarstellung. Kagan hat ebenfalls ein vierbändiges Standardwerk zum Peloponnesischen Krieg verfasst, wobei dieses Buch eine für das breitere Publikum geschriebene Darstellung ist, allerdings auf hohem Niveau.)
Donald Kagan: The Outbreak of the Peloponnesian War. Ithaca/New York 1969, ISBN 0-8014-9556-3.(Erster Band von Kagans Tetralogie zum Krieg, die als Standardwerk gilt.)
Donald Kagan: The Archidamian War. Ithaca 1974, ISBN 0-8014-9714-0.
Donald Kagan: The Peace of Nicias and the Sicilian Expedition. Ithaca 1981, ISBN 0-8014-9940-2.
Donald Kagan: The Fall of the Athenian Empire. Ithaca 1987, ISBN 0-8014-9984-4.
Russell Meiggs: The Athenian Empire. Oxford 1972, mehrere Nachdrucke, ISBN 0-19-814843-7.(Detaillierte Darstellung des attischen Seereiches, einschließlich des Peloponnesischen Kriegs.)
Jennifer T. Roberts: The Plague of War: Athens, Sparta, and the Struggle for Ancient Greece. Oxford University Press, New York 2017, ISBN 978-0-19-999664-3.
Alexander Rubel: Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges. Darmstadt 2000, ISBN 3-534-15206-9.
Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassische Griechenland. Der Krieg und die Freiheit. C.H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-67915-5, besonders S. 163–225 (aktuelle Darstellung, die insbesondere die Vorgeschichte und die Folgen des Krieges auf aktuellem Forschungsstand gebündelt darstellt).
Raimund Schulz: Athen und Sparta (Reihe Geschichte kompakt. Antike). Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15493-2.(Intelligente und kompakte Darstellung, die zugleich die zentralen Forschungsmeinungen gut verständlich darstellt.)
Geoffrey de Ste Croix: The Origins of the Peloponnesian War. London 1972, ISBN 0-7156-1728-1.(Sehr gute Zusammenfassung über die Bedingungen, die zum Ausbruch des Krieges führten, allerdings mit einer anti-spartanischen Haltung.)
Lawrence A. Tritle: A New History of the Peloponnesian War. Hoboken/NJ 2010.
Karl-Wilhelm Welwei: Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert. Darmstadt 1999, ISBN 3-89678-117-0.(Hervorragende Detailstudie zur Entstehung der Hegemonie Athens.)
Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-94016-2.
Karl-Wilhelm Welwei: The Peloponnesian War and its Aftermath. In: Konrad Kinzl (Hrsg.): A Companion to the Classical Greek World. Blackwell, Oxford u. a. 2006, S. 526–546.(knappe Zusammenfassung)
Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges. C.H. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-74098-5.(aktueller Überblick)
Wolfgang Will: Der Untergang von Melos. Machtpolitik im Urteil des Thukydides und einiger Zeitgenossen. Bonn 2006, ISBN 3-7749-3441-X.
Siehe auch
Antikes Griechenland
Weblinks
Hören: Der Thukydides-Podcast: Hier wird nach und nach die deutsche, ungekürzte Übersetzung von Dr. Johann David Heilmann aus dem Jahr 1760 vorgelesen. Momentaner Stand: Erstes Buch, Kapitel 1–23 (41:40 Minuten, 19,2 MB)
Hören: LibriVox: The History of the Peloponnesian War (englisch – Public Domain Audiobooks in den USA – 20:57:23 Stunden, mind. 603,7 MB)
Richard Crawley: The History of the Peloponnesian War (englische Übersetzung von Thukydides' Werk im Project Gutenberg)
Xenophons Hellenika in englischer Übersetzung.
Anmerkungen
Kriege des antiken Griechenland
Konflikt (5. Jahrhundert v. Chr.) |
22094 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hellenismus | Hellenismus | Als Hellenismus (von ) wird die Epoche der antiken griechischen Geschichte vom Regierungsantritt Alexanders des Großen von Makedonien 336 v. Chr. bis zur Einverleibung des ptolemäischen Ägyptens, des letzten hellenistischen Großreiches, in das Römische Reich im Jahr 30 v. Chr. bezeichnet.
Diese Epochengrenzen, die das Alexanderreich und die Nachfolgereiche der Diadochen in den Mittelpunkt rücken, sind allerdings vor allem für die politische Geschichte sinnvoll, und auch für diese nur bedingt, weil schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. die meisten Griechen unter die direkte oder indirekte Herrschaft der Römer oder Parther geraten waren. Kulturgeschichtlich hingegen knüpfte der Hellenismus nicht nur an ältere Entwicklungen an, sondern wirkte vor allem auch über die römische Kaiserzeit bis in die Spätantike hinein fort.
Als Epochenbezeichnung verwendete den Begriff „Hellenismus“ zuerst der deutsche Historiker Johann Gustav Droysen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Er verstand unter Hellenismus die Zeit vom Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) bis zur Schlacht bei Actium (31 v. Chr.) und dem Ende des letzten makedonisch-griechischen Reiches in Ägypten. Im Sinne von „Nachahmung der griechischen Lebensweise“ wurden das Substantiv hellenismós und das Verb hellenizein jedoch bereits in der Antike gebraucht. Es ist von Hellenen, der Eigenbezeichnung der Griechen, abgeleitet.
Als ein wichtiges Kennzeichen dieser Geschichtsepoche gilt eine verstärkte Hellenisierung – die Durchdringung vor allem des Orients durch die griechische Kultur – und im Gegenzug der wachsende Einfluss orientalischer Kultur auf die Griechen. Die hellenistische Welt umfasste einen gewaltigen Raum, der von Sizilien und Unteritalien (Magna Graecia) über Griechenland bis nach Indien und vom Schwarzen Meer bis nach Ägypten sowie bis ins heutige Afghanistan reichte. Vermutlich kam es sogar zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Chinesen. Die Hellenisierung der orientalischen Bevölkerung sorgte dafür, dass noch bis ins 7. Jahrhundert neben dem Aramäischen wenigstens von der städtischen Bevölkerung Syriens eine Form des Griechischen verwendet wurde, die Koine (von ), die sich in Kleinasien noch erheblich länger hielt. Die kulturellen Traditionen des Hellenismus überstanden den politischen Zusammenbruch der Monarchien und wirkten noch über Jahrhunderte in Rom und im Byzantinischen Reich fort.
Geschichtlicher Grundriss
Der makedonische König Alexander III. „der Große“, unter dessen Vater Philipp II. Makedonien zur Hegemonialmacht über Griechenland geworden war, eroberte von 334 v. Chr. an das persische Achämenidenreich (Alexanderzug) und drang bis nach Indien vor. Nach dem Tod Alexanders im Jahr 323 v. Chr. kam es zu Bürgerkriegen um seine Nachfolge. Da es niemandem gelang, die Herrschaft über das Gesamtreich zu erlangen, erhoben sich seine führenden Generäle, die sogenannten Diadochen („Nachfolger“), schließlich zu lokalen Machthabern. Seit 306/5 führten die meisten von ihnen den Königstitel. Eine Wiedervereinigung des Alexanderreichs erschien spätestens 301 v. Chr. aussichtslos, als Antigonos I. Monophthalmos in der Schlacht bei Ipsos seinen Rivalen unterlag. Die sogenannten Diadochenkämpfe um Alexanders Erbe endeten schließlich 281 v. Chr. nach insgesamt sechs Kriegen. Es bildeten sich drei hellenistische Großreiche, die bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. den östlichen Mittelmeerraum beherrschen sollten und von makedonischen Dynastien regiert wurden: Das eigentliche Makedonien und große Teile Griechenlands fielen an die Antigoniden, die Nachfahren Antigonos’ I., Kleinasien, Syrien, Mesopotamien und Persien gerieten unter die Herrschaft der Seleukiden, und Ägypten, die Kyrenaika und die Levante fielen an die Ptolemäer. Alle drei makedonischen Dynastien rivalisierten zudem um Einfluss im Ägäisraum, oft unter Ausnutzung innergriechischer Konflikte, und sie gaben den Anspruch auf Alexanders Gesamtreich pro forma niemals auf. Hinzu kamen Mittelmächte wie das attalidische Pergamon, Rhodos und der Achaiische Bund.
Nach dem Ende der Diadochenkriege stabilisierte sich die politische Lage zunächst, da sich die drei Großreiche faktisch gegenseitig neutralisierten, wenngleich es immer wieder zu Versuchen kam, die Machtbalance zu verschieben. Ab 200 v. Chr. begann sich jedoch Rom in der hellenistischen Welt zu engagieren, zunächst in Griechenland, dann in Kleinasien, und griff auch in den Konflikt der Seleukiden mit den Ptolemäern um Palästina ein. Im Jahr 188 v. Chr. zwangen die Römer den Seleukiden Antiochos III. zum Verzicht auf Teile seines Reiches; er musste den größten Teil Kleinasiens aufgeben. Zuvor hatte bereits Philipp V. von Makedonien eine Einengung seines Handlungsspielraums in Griechenland und Kleinasien akzeptieren müssen, nachdem die kleineren Staaten der Region wie Pergamon, die aufgrund der expansiven Bestrebungen Antiochos’ und Philipps um ihre Unabhängigkeit fürchteten, den Römern Vorwände für militärische Interventionen geliefert hatten, was in einer zunächst indirekten regionalen Hegemonie Roms mündete. Spätestens seit dem Tag von Eleusis im Jahr 168 v. Chr., als der Seleukide Antiochos IV. auf römische Weisung einen siegreichen Feldzug gegen die Ptolemäer abbrechen musste, waren die neuen Machtverhältnisse offensichtlich.
Diese herben Rückschläge blieben für die Monarchien, deren Existenz wesentlich auf der militärischen Leistungsfähigkeit der Könige ruhte, nicht folgenlos: In Iran, bis dahin unter seleukidischer Kontrolle, breiteten sich bereits seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Parther aus, regiert von den Arsakiden, die sich im Westen anfangs als Erben der hellenistischen Tradition präsentierten. Nach 188 v. Chr. beschleunigte sich ihr Vordringen erheblich. Als die Arsakiden um 141 v. Chr. auch Mesopotamien in Besitz nahmen, beschränkten sie die Seleukiden, die bereits im 3. Jahrhundert ihre östlichen Gebiete an das Griechisch-Baktrische Königreich verloren hatten, auf einen unbedeutenden Reststaat in Syrien. Die hellenistischen Könige in Baktrien hingegen, deren Reich um 130 v. Chr. unterging, hatten ihren Einflussbereich zuvor noch auf Nordwestindien ausgedehnt, wo sich griechische Monarchen mindestens bis zum Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. halten konnten.
Im Jahr 168 v. Chr. teilten die Römer Makedonien nach einem letzten Krieg in vier Bezirke auf und schafften die antigonidische Monarchie ab; 148 v. Chr. wandelten sie es endgültig in eine römische Provinz um und stationierten erstmals dauerhaft Truppen in der Region. Auch das griechische Mutterland geriet damit endgültig unter römische Kontrolle; ein Fanal war dabei die Eroberung und Plünderung Korinths durch den Feldherrn Lucius Mummius im Jahr 146 v. Chr. 133 v. Chr. fiel das Attalidenreich an Rom und wurde bald darauf zur Provinz Asia. Um 88 v. Chr. wurde die römische Hegemonie ein letztes Mal in Frage gestellt, als sich viele Griechen an König Mithridates VI. anschlossen, der von Rom aber schließlich besiegt wurde. 63 v. Chr. beseitigte die Annexion Syriens durch Pompeius die letzten Reste der Seleukidenherrschaft; 30 v. Chr. nahm Octavian Alexandria ein und gliederte das Ptolemäerreich, das seit dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. ohnehin nicht viel mehr als ein römisches Protektorat gewesen war, ins Imperium ein. 27 v. Chr. wurde schließlich auch das eigentliche Griechenland als Provinz Achaea endgültig direkter römischer Herrschaft unterstellt, auch wenn einige Poleis in Hellas und Kleinasien äußerlich frei blieben. Damit endete die politische Selbstständigkeit griechischer Staaten für fast zwei Jahrtausende, und somit auch die politische Geschichte des Hellenismus, während die kulturelle Ausstrahlung des Hellenismus bis in die Spätantike erhalten blieb (siehe auch Byzantinisches Reich).
Hellenistische Monarchien
Als charakteristisch für die politische Geschichte des Hellenismus gilt die Existenz permanent miteinander rivalisierender Monarchien unter Dynastien mit zumeist makedonischen Wurzeln. Die Legitimität des Königtums dieser hellenistischen Herrscher ruhte insbesondere auf zwei Säulen: der Alexandernachfolge (, diadochē) und der Akklamation durch die Heere (siehe unten). Die Reiche existierten dabei nicht unabhängig von ihrer Regierungsform; die Seleukidenherrscher waren beispielsweise nicht etwa Könige von Syrien, sondern nur Könige in Syrien; ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass jeder hellenistische basileus theoretisch Anspruch auf das ganze Alexanderreich, wenn nicht auf die ganze Welt, erhob. In den Diadochenreichen gab es keine Trennung zwischen Souverän und Person. Das Königtum (basileia) war kein staatliches Amt, sondern eine persönliche Würde, und der Monarch sah den begrifflich davon nicht abgegrenzten Staat als seine Angelegenheiten (pragmata). Theoretisch war das ganze eroberte Land im Besitz des Königs, weshalb dieser es auch testamentarisch einer fremden Macht wie den Römern übereignen konnte (so geschehen 133 v. Chr. in Pergamon).
Zunächst reichten die militärischen Erfolge der Diadochen bei ihrer Teilnahme an Alexanders Feldzügen aus, um sich Charisma und Legitimation zu verschaffen. Aufgrund fehlender Verwandtschaft der Diadochen mit den Argeaden ergab sich jedoch ein Legitimationsproblem. Da an erster Stelle der Legitimationsmittel die militärische Exzellenz stand, versuchten die Diadochen, auch ideell an Alexanders militärisches Genie anzuknüpfen. Selbst der Besitz bzw. der Bestattungsort von Alexanders Leichnam, um den hart konkurriert wurde, und seine Herrschaftsinsignien wie sein Siegelring dienten der Legitimation. Vor allem aber wurde der Personenkult, der sich um Alexander entwickelt hatte, von den Diadochen gefördert, um ihre eigene Machtstellung zu legitimieren. Das Legitimationsproblem verschärfte sich in der zweiten Generation. Daher wurde im Zuge einer strategischen Heiratspolitik mit den weiblichen Mitgliedern der Argeaden die Genealogie als zentrales Legitimationsmittel genutzt. Zum Teil wurden Verwandtschaftsverhältnisse mit dem makedonischen Herrscherhaus oder eine Gottessohnschaft einfach erfunden. So entstand etwa das Gerücht, Ptolemaios sei ein Halbbruder Alexanders. Insgesamt verliefen die Thronwechsel selten reibungslos; oft wurden konkurrierende Thronanwärter beseitigt.
Ihre mit kultischen Symbolen wie Stier- oder Widderhörnern geschmückten Porträts ließen die Diadochen auf das Avers der Münzen setzen, wo traditionell die Porträts der Götter ihren Platz fanden. Die Ammonshörner wurden bereits in der Ikonografie von Alexander dem Großen verwendet und stellten eine Verbindung mit der göttlichen Sphäre her. Sie wurden von den Diadochen zunächst zum Zweck ihrer Legitimation übernommen. Die kultische Verehrung der hellenistischen Herrscher wurde aber zumindest anfangs nicht von ihnen selbst gefordert, sondern von außen, durch die „freien“ Poleis Griechenlands an sie herangetragen. Anders als in Makedonien und in den einstigen Gebieten des Perserreiches wurde die Monarchie in Griechenland grundsätzlich abgelehnt, was Könige wie Untertanen dazu zwang, diplomatisch geschickt vorzugehen. Ein Weg, um die faktische Übermacht der Könige in eine akzeptable Form zu gießen, war der Herrscherkult, durch den die Poleis die Könige als Herren anerkennen konnten, ohne sie de iure als Monarchen anzunehmen. Man konnte hier auf Vorläufer aus spätklassischer Zeit (z. B. Lysander) zurückgreifen. Die Herrscher wurden dabei vorerst nur „gottgleich“ genannt. Doch schon im Jahr 304 v. Chr. bezeichneten die Rhodier Ptolemaios I. als Gott und nannten ihn (Sōtēr, „Retter“). Die Diadochen nahmen solche, auf sie selbst bezogenen Kulthandlungen offenbar eher zögerlich an, während die nachfolgenden hellenistischen Könige den Herrscherkult bewusst forcierten, auch um die Dynastiebildung zu betreiben. Der typisch hellenistische Herrscherkult setzte, nach Vorläufern unter den ersten beiden Antigoniden, unter ihren Nachfolgern auf breiter Front ein. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem zentral verordneten Dynastiekult der Ptolemäer und späten Seleukiden und der kultischen Verehrung, die viele Könige in den griechischen Poleis genossen, denen sie im Gegenzug als Euergeten gegenübertraten.
Vor allem Hans-Joachim Gehrke hat die hellenistische Monarchie unter Rückgriff auf die Soziologie Max Webers als eine stark charismatisch geprägte Herrschaftsform gedeutet, in der Sieghaftigkeit und persönlicher Erfolg entscheidend für die Legitimität des Königs gewesen seien. Die herrscherliche Tracht war die eines makedonischen Feldherrn, ergänzt um das Diadem, und viele Könige zogen persönlich in die Schlacht, mit den entsprechenden Konsequenzen: 12 der ersten 14 seleukidischen Herrscher fanden im Kampf den Tod. In jüngerer Zeit wurde darauf hingewiesen, dass es im späten Hellenismus immer schwieriger geworden sei, diesem Anspruch gerecht zu werden. Diese Interpretationen sind allerdings nicht unwidersprochen geblieben; manche Forscher halten sie allenfalls für die Diadochen für zutreffend, andere gar nicht.
Die Diadochen und ihre Nachfolger regierten mit Hilfe schriftlicher Erlasse, die als Briefe (, epistolē) oder Verordnungen (, prostagma) formuliert wurden. Der für diese Erlasse zuständige Beamte hieß epistoliagraphos. Beraten wurde der Herrscher von einem Gremium aus sogenannten „Freunden“ (, philoi) und „Verwandten“ (, syngeneis). Verschiedene Hofämter insbesondere im fiskalischen Bereich wurden von Eunuchen ausgeübt. Das wohl wichtigste Amt war das des Hausverwalters (, dioikētēs), der für Verwaltung, Wirtschaft und Finanzen zuständig war. Man kann bereits zur Zeit der Diadochen von einem „absolutistischen“ Staat sprechen. Entscheidenden Einfluss gewann die Herrschaftsform der hellenistischen Reiche auf die jüngere griechische Tyrannis, die Karthager und das römische Kaisertum.
Die Territorialstruktur der Diadochenreiche geht noch auf Alexander den Großen selbst zurück, der im Wesentlichen die Verwaltungsgliederung des Perserreiches beibehalten hatte. Das von Strategen und Satrapen verwaltete Königsland umfasste dabei den größten Teil des Alexanderreiches. Alexander hatte die militärischen Befugnisse der einheimischen Satrapen makedonischen Strategen übergeben, die nach seinem Tod nach und nach die gesamte Verwaltungsarbeit ihrer Gaue (, nomoi) übernahmen. Die Strategen waren nun auch für das Siedlungswesen und die Justiz zuständig und wurden dabei von einem königlichen Schreiber (, basilikos grammateus) unterstützt.
Besonders gut ist man dabei über die Verhältnisse im Ptolemäerreich, das aber teils einen Sonderfall darstellte, informiert. Der König konnte hier Teile des in Bezirke (, topoi) und Dörfer (, kōmai) untergliederten Königslandes oder die Einkünfte daraus an seine Untergebenen vergeben. Ihre endgültige Form fand die Gauverwaltung im 3. Jahrhundert v. Chr. unter Ptolemaios III. (246–221). Die Außenbesitzungen gehörten nicht zum Königsland mit seiner Gaustruktur. Sie bildeten einen eigenen Territorialtypus, unterstanden aber ebenfalls Strategen. Zu den Außenbesitzungen des Ptolemäerreiches gehörten Kyrene, Teile Syriens und Kleinasiens, Zypern und die Küsten des Roten und des Indischen Meeres.
Im Seleukidenreich waren die Außenbesitzungen etwas anders organisiert, sie wurden je nach Größe und politischem System als Völker (, ethnē), Städte (, poleis) oder Königreiche (, dynasteia) bezeichnet. Diese Enklaven, die nicht unter direkter Verwaltung des Diadochenherrschers standen, blieben in dieser Form bis zum Ende des Hellenismus bestehen. Einige davon machten sich jedoch im Laufe der Zeit selbstständig, insbesondere an der Peripherie des Seleukidenreiches. Im dritten großen hellenistischen Reich, Makedonien, knüpften die Antigoniden stärker als die anderen Monarchen an ältere Traditionen an.
Mehr als ihre Struktur hat die Verwaltung der Diadochenreiche die Nachwelt beeinflusst. Sie war in der Regel zentralistisch und wurde von Berufsbeamten organisiert. Dieser Beamtenapparat war keine Erfindung der griechischen Poliskultur, sondern stand in der Tradition des achaimenidischen und des pharaonischen Reiches. Im antiken Griechenland gab es Vergleichbares nur in der privatwirtschaftlichen Gutsverwaltung. Wie die Angestellten eines Gutes von dessen Besitzer, so waren die Beamten der hellenistischen Herrscher von ihrem König abhängig, der sie einsetzte, bezahlte, beförderte und entließ. Die Verwaltung der Diadochen legte den Grundstein für die feinziselierte und personalintensive Bürokratie der hellenistischen Zeit, wobei einheimische Beamte jedoch kaum zu höheren Ämtern zugelassen waren. Diese wurden in der Regel von Makedonen oder Griechen besetzt.
Hellenistische Poleis
Für die meisten im Mutterland, in Kleinasien, im Schwarzmeerraum oder Unteritalien siedelnden Griechen blieb die Polis auch im Hellenismus der wichtigste soziale und rechtliche Organisationsrahmen. Die in der älteren Forschung verbreitete Ansicht, mit der griechischen Klassik sei auch die große Zeit der Poleis an ihr Ende gelangt, wird heute nicht mehr vertreten, zumal inzwischen eine große Zahl an Inschriften bekannt ist, die ihre Vitalität bezeugen; vielmehr gilt nun zumindest der frühe Hellenismus als eine Blütezeit der Städte. Auch viele ursprünglich nichtgriechische Orte begannen nun, sich als Poleis zu organisieren. Alexander und die Diadochen hatten zudem vor allem in Vorderasien zahlreiche neue Poleis gegründet, die teils am griechischen, teils am weniger autonomen makedonischen Vorbild orientiert waren, denn die städtischen Eliten stellten für die Monarchen wichtige Instrumente dar, um ihre Herrschaft in der Fläche auf direkte oder indirekte Weise ausüben zu können. Während manche Städte auch de iure einem König untertan waren, galten andere als frei. Aber auch große Poleis wie Athen, Sparta, Korinth, Ephesos oder Tarent hatten nun Mühe, ihre außenpolitische Unabhängigkeit zu wahren. Teils konnten sie allerdings versuchen, sich im Spannungsfeld der Großmächte durch geschicktes Agieren eine weitgehende Autonomie zu bewahren; insbesondere die Polis Rhodos war hier lange recht erfolgreich. Ebenso wie in Archaik und Klassik waren sie dabei oft von inneren Konflikten (Staseis) bedroht, die mitunter zu Bürgerkriegen eskalierten.
Ökonomisch erlebten viele Städte im Hellenismus eine Blüte, von der bis heute zahlreiche öffentliche Bauten zeugen. Umstritten ist, wie lange sich in der Mehrheit der hellenistischen Poleis demokratische Regierungsformen halten konnten. Die meisten Althistoriker gehen derzeit davon aus, dass die entscheidende Zäsur in dieser Hinsicht vielerorts erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. anzusetzen sei, als die Römer ihre Hegemonie über den griechischen Osten etabliert hatten; andere nehmen an, dass die meisten Städte bereits seit dem 4. Jahrhundert von einer reichen Oberschicht dominiert worden seien, die vor allem im Rahmen des Euergetismus sichtbar wird. Unstrittig ist, dass es im Verlauf des Hellenismus zu einer Aristokratisierung kam, als deren Ergebnis die Poleis spätestens in der Kaiserzeit dann nicht mehr von der Volksversammlung, sondern von der im Stadtrat versammelten oligarchischen Elite, die zusehends den Charakter eines Erbadels annahm, regiert wurden.
Bundesstaaten
Die meisten hellenistischen Poleis waren zu klein, um auf sich gestellt ihre Handlungsfreiheit gegenüber den Großmächten zu behaupten. Mit den spätgriechischen Städtebünden bzw. Bundesstaaten (κοινά, koina) entwickelte sich daher vor allem im griechischen Mutterland aus älteren Kult- und Kampfbünden noch eine weitere Regierungsform neben den hellenistischen Königreichen. Ihre wichtigsten Vertreter waren der Aitolische Bund in Nordwestgriechenland und der Achaiische Bund auf der Peloponnes. Diese Bundesstaaten bildeten sich ursprünglich meist in wirtschaftlich und kulturell unterentwickelten Gebieten, die nicht von einer mächtigen Polis wie Athen oder Theben dominiert wurden; doch im Hellenismus rückten die Bünde in den Mittelpunkt griechischer Politik und boten sogar den Königen Paroli. Der Arkadische Bund, der im 3. Jahrhundert im Achaiischen Bund aufging, gründete eine eigene Bundeshauptstadt, Megalopolis, um nicht unter die Vorherrschaft eines Mitglieds zu geraten. Andere Bundesrepubliken wählten alte Kultstätten als Versammlungsplätze ihrer Gremien, der Aitolische Bund zum Beispiel das Apollonheiligtum in Thermos, was auch ein Mittel war, den Zusammenhalt des Bundes zu festigen. Hinzu kam der (oftmals fiktive) Anspruch, einander durch gemeinsame Vorfahren verbunden zu sein.
Die griechischen Bundesstaaten bestanden aus mehreren, formal zumeist unabhängigen Poleis, die ihre außenpolitischen und militärischen Befugnisse an übergeordnete Instanzen delegiert hatten, in deren Gremien sie durch Delegierte vertreten waren. In der Regel gab es ein gemeinsames Heeresaufgebot und Institutionen wie Bundesversammlung, Rat und Magistraturen, manchmal auch eine gemeinsame Währung und Maßeinheiten. Die innere Autonomie der einzelnen Städte blieb allerdings prinzipiell erhalten, solange sie nicht gegen die Bündnistreue verstießen oder unter die Herrschaft von Tyrannen gerieten (der Tyrannisvorwurf war allerdings wohl mitunter nur ein Vorwand, um eine Intervention zu rechtfertigen). Einige „Tyrannen“ traten deshalb freiwillig zurück und strebten eine Karriere auf Bundesebene an. Der ehemalige Tyrann Aratos von Sikyon war sogar achtmal Stratege (Bundesfeldherr) des Achaiischen Bundes. Ansonsten mischte sich der Bund in der Regel nur ausnahmsweise in die inneren Angelegenheiten der Städte ein; er wandte sich allerdings gegen radikale Sozialreformen und Umsturzversuche und griff bei Konflikten zwischen seinen Mitgliedern ausgleichend ein, indem etwa Schiedsleute als Streitschlichter entsandt wurden, um Staseis zu verhindern.
Typisches Kennzeichen der hellenistischen Koina war ein gemeinsames Bundes- bzw. Bürgerrecht, das jedoch nicht das Polisbürgerrecht ersetzte. Als übergeordnete politische Instanz fungierte eine Bundesversammlung, deren Kompetenzen von Bund zu Bund variierten und die auch in der Regel jährlich wechselnde Bundesbeamte wählte, denen die Vertretung des Bundes nach außen und die Führung des gemeinsamen Heeres oblag. Die Bünde versuchten oft, ihren Machtbereich auszudehnen und wandten dabei durchaus auch Gewalt an; ein Beispiel ist der Versuch des Achaiischen Bundes, Sparta gegen den Willen vieler Bürger zu integrieren. Versuchte eine Polis, einen Bund zu verlassen, wurde dies mitunter gewaltsam unterbunden.
Ihren Höhepunkt erreichten die Koina im späten 3. Jahrhundert v. Chr. Im Verlauf des 2. Jahrhunderts gerieten die griechischen Bundesstaaten dann nach und nach unter römische Kontrolle, einige bestanden allerdings noch nach dem Ende der hellenistischen Zeit, etwa der Lykische Bund in Kleinasien, der noch unter römischer Oberherrschaft für Riten verantwortlich war und den lykischen Poleis als Sprachrohr gegenüber römischen Instanzen diente. Der Geschichtsschreiber Polybios, dessen Vater Lykortas zu den führenden Politikern des Achaiischen Bundes gehört hatte, idealisierte diesen Bund in seinem Werk und sah in ihm die Vollendung der „wahren“ (d. h. von Aristokraten wie ihm gesteuerten) Demokratie. Die neuzeitliche Staatstheorie beurteilte die hellenistischen Koina lange ähnlich positiv, so nannte Montesquieu den Lykischen Bund eine ideale Bundesrepublik und der Althistoriker Karl Julius Beloch die spätgriechischen Bundesrepubliken „die vollendetste Schöpfung auf politischem Gebiet, die den Hellenen und dem Altertum überhaupt gelungen ist“. Erst in der neueren Forschung wurde auch die machtpolitische Realität hinter den hehren Ansprüchen der Bundesstaaten deutlicher benannt.
Die Bundesstaaten der hellenistischen Zeit, deren eigentliche Blütezeit nur einige Jahrzehnte dauerte, gewannen insbesondere aufgrund ihrer Ansätze, sich als repräsentative Demokratie mit gewählten Vertretern der Mitgliedsstädte zu organisieren, dennoch entscheidenden Einfluss auf die Nachwelt. Selbst die Väter der amerikanischen Verfassung orientierten sich bei deren Entwurf an den Berichten Polybios’ und Strabons darüber. Die Koina galten als der beste Weg, vormoderne Flächenstaaten ohne ein monarchisches Zentrum und durch Repräsentation zu organisieren. Auch die Hauptstadt der Vereinigten Staaten, Washington, wurde daher, wie das achaiische Megalopolis, eigens zu diesem Zweck neu gegründet, nachdem der amerikanische Kongress zuvor abwechselnd in verschiedenen Städten getagt hatte.
Heer und Kriegführung
Das Heer war vor allem für die Diadochenreiche von grundlegender Bedeutung. Es lässt sich grundsätzlich in drei große Gruppen einteilen: die makedonische Garde (, agēma), die aus Hopliten und Reitern bestand, die griechisch-makedonische Phalanx aus Schwerbewaffneten und eine wachsende Anzahl von auswärtigen Söldnern, die zumeist loyal waren, auf die insbesondere in der Spätzeit nicht immer Verlass war, wenn sie ihren Sold nicht pünktlich erhielten.
Von der makedonischen Heeresversammlung (, ekklēsia pandēmos) hatten die hellenistischen Heere neben der Landesverteidigung insbesondere vier Aufgaben übernommen: die Ausrufung oder Bestätigung eines Königs (Akklamation), die Einsetzung von Vormündern für unmündige Könige, die Anerkennung königlicher Testamente und die Verurteilung politischer Gegner des Herrschers. In der Diadochenzeit ließ unter anderem Ptolemaios den Eumenes, Kassandros die Olympias und schließlich Antigonos den Kassandros vom Heer verurteilen. Der zu dieser Zeit noch sehr große Einfluss des Heeres ging jedoch immer mehr zurück, später konnten nur noch die Garnisonen der Hauptstädte der politischen Führung ihren Willen aufzwingen. Dennoch blieb der militärische Oberbefehlshaber (, chiliarchos) der zweite Mann im Staat neben dem dioikētēs.
Eine Einschätzung der Größe dieser Heere ermöglicht unter anderem Appian, der berichtet, das Ptolemäerreich habe über 200.000 Fußsoldaten, 40.000 Reiter, 300 Kriegselefanten, 2.000 Streitwagen, 1.500 große und 2.000 kleine Kriegsschiffe verfügt. Allerdings sind die genauen Zahlen kaum zu ermitteln, da antike Historiker in dieser Hinsicht oft übertrieben. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die hellenistischen Heere, verglichen mit den Armeen der klassischen Zeit, gewaltig waren. Die Zahlenangaben für die Schlachten von Ipsos (301 v. Chr.), Raphia (217 v. Chr.) und Magnesia (190 v. Chr.), die bei gut 70.000 Soldaten pro Seite liegen, dürften durchaus realistisch sein.
Im Hellenismus wurden auch einige neue Waffengattungen eingeführt. Der Einsatz von Kriegselefanten geht auf Seleukos zurück, der in Apameia 500 indische Elefanten hielt, die er von dem Mauryakönig Chandragupta erhalten hatte. Außerdem wurden Kamele, gepanzerte Reiter (, kataphraktoi) und erstmals im großen Stil Belagerungsmaschinen eingesetzt, wobei die Belagerungstechnik gewaltige Fortschritte machte. Die meisten Poleis waren im Hellenismus nicht mehr zu selbständigen Feldzügen in der Lage, gerade wegen der steten Gefahr einer Belagerung bemühten sich viele Städte aber um eine militärische Ausbildung ihrer Bürger.
Demetrios Poliorketes, der Sohn des Antigonos, ließ riesige Großkampfschiffe mit bis zu sechzehn Reihen von Ruderern bauen und gab so der Kriegsmarine wichtige Impulse. Die Größe der Kriegsschiffe wuchs in der Diadochenzeit ungewöhnlich schnell. Die größten Schiffe der Euphratflotte Alexanders des Großen besaßen lediglich fünf Reihen, bereits zur Zeit der Schlacht bei Ipsos 301 v. Chr. ließ Demetrios aber dreizehnreihige Schiffe bauen. Die sechzehnreihige Hekkaidekere () markierte dann den Höhepunkt der auf praktischen Nutzwert ausgerichteten Schiffsentwicklung. Die später von den Ptolemäern gebauten zwanzig-, dreißig- und vierzigreihigen Schiffe waren dagegen wohl reine Schaustücke, die nur in sehr kleinen Stückzahlen gebaut wurden.
Bereits die Diadochen verfügten über ein stehendes Heer, das mobil und ständig einsatzbereit war. In Kriegszeiten wurde es durch eine große Anzahl von Militärsiedlern (, katoikoi klērouchoi) ergänzt, die von Seleukos in Städten, von Ptolemaios in Dörfern angesiedelt wurden. Mit dem System der Militärsiedler erreichten die hellenistischen Herrscher gleichzeitig zwei Ziele: Zum einen konnte der Sold ganz oder teilweise mit den Erträgen des von den Soldaten im Frieden bebauten Landes abgegolten werden, zum anderen waren sie in dieser Zeit Landarbeiter und damit Steuerzahler, welche die stark ausgebaute Verwaltung und die ständigen Kriege mitfinanzierten. Die Militärsiedler waren meist griechische Einwanderer und errichteten die für sie neu gegründeten Städte selbst. Allerdings wurden durchaus auch Söldner angeworben und – zunächst nur vereinzelt, in späterer Zeit regulär – einheimische Truppen in die Phalanx integriert.
Wirtschaft
Die Eroberungen Alexanders im Osten befreiten die griechische Welt nach Ansicht vieler Forscher aus einer Krise, in die sie durch Überbevölkerung, Verarmung der Massen, Niedergang des Handels und extreme Zusammenballung des Reichtums in den Händen weniger gelangt war. Die eroberten Gebiete boten Möglichkeiten zur Auswanderung und Ausweitung des Handels mit dem Orient. Sie leiteten eine, wenn auch relativ kurze, Periode des Wohlstands durch Intensivierung des Handels und Steigerung der Exporte ein, die freilich bald durch die Diadochenkriege gestört wurde.
Die Diadochenreiche betrieben eine planmäßige Wirtschaftspolitik, deren Grundlage eine bis ins Detail durchorganisierte Landwirtschaft bildete. Im seleukidischen Babylonien machten die Makedonen den Weinbau heimisch, Ägypten entwickelte sich mit Hilfe moderner Anbaumethoden zum wichtigsten Getreideexporteur im östlichen Mittelmeerraum. Für das Ptolemäerreich, dessen Herrscher etwa ein Drittel der landwirtschaftlichen Erträge erhielt, lassen Papyrusfunde auf eine echte staatliche Planwirtschaft schließen. Das Prinzip dieses noch auf die Pharaonen zurückgehenden Wirtschaftssystems bringt ein Papyrus aus Tebtynis auf den Punkt:
„Niemand hat das Recht, zu tun, was er will, denn alles ist aufs Beste geregelt.“
Durch die Beseitigung von Korruption, wirtschaftlichem Leerlauf und oftmals chaotischen Privatinitiativen wurde Ägypten zum wohlhabendsten Land und der Ptolemäerkönig zum reichsten Mann der antiken Welt. Er profitierte dabei nicht zuletzt von der Einbeziehung der reichen Tempelbezirke, die vorher eine Art Staat im Staate bildeten. Seine Hauptstadt Alexandria blieb bis in die Zeit des römischen Kaisers Augustus der größte Handelsplatz der damals bekannten Welt.
Auch die Münzprägung stand unter der Kontrolle des Königs. Zunächst war der attische Münzfuß die Basis des hellenistischen Geldwesens, später stellte das Ptolemäerreich, dessen zweitwichtigster Hafen die phönikische Stadt Tyros war, auf den phönikischen Münzfüß um. Im Umlauf waren Münzen aus Gold für außenpolitische Zwecke, aus Silber für die griechischstämmigen Untertanen und aus Bronze für den Gebrauch der Einheimischen. Der Geldwechsel war wie das Bankwesen insgesamt in den Händen des Staates. In Ägypten wickelte die königliche Staatsbank (, basilikē trapeza) auswärtige Geldgeschäfte über ihre Hauptstelle in Alexandria und den inländischen Zahlungsverkehr über zahlreiche Zweigstellen im ganzen Reich ab. Von internationaler Bedeutung war außerdem die Bank auf der Insel Delos. Alle Bankgeschäfte wurden mit Hilfe der in Athen entwickelten Buchführung schriftlich dokumentiert.
Eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben der hellenistischen Monarchien spielten zudem die königlichen Lagerhäuser (, thēsauroi). Neben dem Handel mit Naturalien wie Getreide boten sie auch zahlreiche Finanzdienstleistungen an. Die Einnahmen der Lagerhäuser bildeten gemeinsam mit den Erträgen der Krongüter, die von einem idiologos () geleitet wurden, den Zöllen und den von Steuerpächtern (, telōnai) eingetriebenen Steuern die Grundlage des Staatshaushalts. Dieser umfasste als wichtigste Posten die Hofhaltung, die Bezahlung der Soldaten und Beamten, den Flottenbau sowie außenpolitische Ausgaben wie Tribute. Steuerhinterziehung wurde mit Gefängnis oder dem Verkauf in die Sklaverei bestraft.
Im Bereich des Gewerbes blieb privaten Unternehmern mehr Spielraum. Dieser wurde jedoch durch umfangreiche Monopolbestimmungen begrenzt. Sache des Staates waren Grundnahrungsmittel wie Öl, Salz, Fisch, Bier, Honig und Datteln, die Herstellung von Papyrus, Textilien, Glas und Luxusartikeln und das Transportwesen, aber auch der Außenhandel. Die hellenistischen Staaten schützten die eigene Wirtschaft durch Zölle von bis zu 50 Prozent und erreichten nicht zuletzt durch eine Erweiterung des Osthandels beträchtliche Außenhandelsüberschüsse. Die Seleukiden profitierten von ihrer günstigen Lage an der Seidenstraße und bauten die Transportwege und -häfen beständig aus. Wichtigstes Exportgut des Seleukidenreiches waren Sklaven. Da im eigenen Land aufgrund der Leibeigenschaft nur wenig Bedarf für Sklaverei bestand, wurden Gefangene aus eroberten Städten nach Griechenland und Italien verkauft. Durch den Aufstieg Roms verlagerten sich die Handelsströme jedoch seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. allmählich: Die im Orient produzierten Waren wurden nunmehr meist unter Umgehung Griechenlands direkt nach Italien verschifft.
Gesellschaft und Sozialstruktur
Die Diadochenreiche hatten für antike Verhältnisse eine recht große Bevölkerung: Die Einwohnerzahl des Seleukidenreiches wird auf dreißig, die des Ptolemäerreiches auf etwa acht Millionen geschätzt. Dabei waren die Staaten der hellenistischen Zeit durch zwei große Gegensätze geprägt: die Aufteilung in Nationalitäten und die Trennung in soziale Schichten.
Der bedeutendere Gegensatz war der zwischen Griechen und Orientalen. Philon von Alexandria bezeugt die Existenz einer Zwei-Klassen-Gesellschaft: Ägypter wurden mit der Peitsche, Griechen lediglich mit dem Stock gezüchtigt. Die Diadochen gaben die von Alexander geförderte Gleichberechtigung der beiden Gruppen weitgehend auf und führten bald eine Trennung zwischen einheimischen und griechischen Funktionsträgern durch. Seleukos entzog den einheimischen Satrapen den militärischen Oberbefehl zugunsten griechischer Strategen, Ptolemaios verzichtete beim Aufbau seines Militär- und Verwaltungsapparates ganz auf Einheimische, die nur noch auf der Ebene der Dorfschulzen politische Verantwortung tragen durften. In dieses Bild einer Apartheidgesellschaft passt, dass Mischehen untersagt waren und jede Bevölkerungsgruppe einem eigenen Recht unterlag. Prozesse zwischen Menschen verschiedener ethnischer Gruppen wurden vor besonderen Gerichten verhandelt. Der ethnische Gegensatz zwischen Einwanderern und Orientalen war also noch größer und bedeutender als der zwischen Sklaven und Freien. Dabei war aber nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung griechischer Herkunft.
Die Diadochen und ihre Nachfolger wollten das griechische Element in ihren Staaten stärken und begünstigten deshalb die Einwanderer, von denen im Laufe der Zeit Hunderttausende kamen. Griechen traten als Soldaten oder Beamte in den Königsdienst und ließen sich in den griechischen Städten des Ostens, in denen sie auch als Privatleute sofort das Bürgerrecht erhielten, als Händler, Gewerbetreibende oder als zum Kriegsdienst verpflichtete Bauern (Katöken) nieder, wofür sie eine Landzuteilung erhielten. Auch Galater und Juden wurden ins Heer aufgenommen, die Städte nahmen auch Juden und Phönizier auf. Unter den eingewanderten Griechen nivellierten sich schon bald die Unterschiede: Die lokalen Traditionen traten zurück und es entstand eine gesamtgriechische Verkehrssprache, die , koinē. Ihre Bedeutung zeigt sich darin, dass das Alte Testament in diese Sprache übersetzt und das Neue sogar in ihr abgefasst wurde. Die Entwicklung einer griechischen Hochsprache in der Zeit des Hellenismus legte so gleichsam den Grundstein für die spätere Verbreitung des Christentums.
Die Makedonen blieben am längsten kulturell eigenständig. Die Bezeichnung „Makedone“ wurde jedoch schon bald zum Standesbegriff und wurde später selbst von Juden geführt. Die Zugehörigkeit zur griechischen Kultur war das Ziel vieler Orientalen. So bezeichnete Manetho, der die Liste der Pharaonen aufstellte, die Stammväter von Griechen und Ägyptern als Brüder, König Pyrrhos I. von Epirus führte seine Herrschaft auf Achilleus zurück. Selbst die Römer beriefen sich vor Seleukos auf eine angebliche Blutsverwandtschaft über ihre sagenhaften trojanischen Ahnen. Dabei galt allgemein das Wort des Philosophen Isokrates. Dieser hatte erklärt:
„Grieche ist man nicht durch Geburt (, genos) und Aussehen (, physis), sondern durch Vernunft (, dianoia) und Bildung (, paideusis).“
Langfristig wurde dadurch trotz der rigiden Trennung der ethnischen Gruppen eine Vermischung von Griechen und Orientalen erleichtert. Im Niltal wurden die Griechen ägyptisiert und die Ägypter hellenisiert. Besonders entgegenkommend zeigte sich Ptolemaios gegenüber den Fellachen, wohl vor allem, um mögliche Aufstände zu verhindern. Jedenfalls nahm der Wohlstand der ägyptischen Bauern in der frühen Diadochenzeit zeitweise so weit zu, dass ein Fellache mehr verdiente als ein griechischer Arbeiter auf Delos. In Mesopotamien erfolgte nur eine begrenzte Hellenisierung. Eine Ausnahme bildet nur Seleukeia-Ktesiphon, wo nur Griechen das Bürgerrecht erhielten. Doch schon gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. finden sich kaum noch griechische Namen in Mesopotamien.
Eine wesentlich geringere Rolle als der Gegensatz zwischen den verschiedenen Nationalitäten spielte die soziale Schichtung. Einen Adel in eigentlichen Sinne gab es zunächst nicht. Die Griechen waren gerade erst eingewandert und konnten so kaum mit der Leistung ihrer Vorfahren prunken, und die Bedeutung des vor allem in Persien zunächst noch vorhandenen einheimische Adels nahm schnell ab. Dies lag auch im Interesse der hellenistischen Herrscher, deren Beamtenapparat darauf angewiesen war, dass Ämter nach Tüchtigkeit und nicht nach Geburt vergeben wurden. Deshalb waren vom König verliehene Ränge zunächst nicht erblich. Stattdessen entstand vor allem im Seleukidenreich ein durch Fernhandel reichgewordenes Bürgertum.
Auch die Sklaven waren in den meisten Teilen der hellenistischen Welt wohl weniger zahlreich und auch weniger bedeutend als in anderen antiken Staatswesen. Zumindest für Ägypten kann mit einiger Sicherheit von einer geringen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung der Sklaverei ausgegangen werden, die Anzahl der Sklaven im Seleukidenreich lässt sich hingegen nur schwer ermitteln. Die Landarbeit wurde von Fellachen betrieben, den laoi, die rechtlich nicht als Sklaven galten. Ehen zwischen Freien und Unfreien waren relativ häufig. Von den Tempelsklaven (, Hierodulen) abgesehen gab es vor allem in den Privathaushalten reicher Griechen Sklaven, diese waren also kaum in der Produktion tätig. Sie galten als Luxusgut und unterlagen deshalb einer besonderen Steuer. Der Freikauf von Sklaven wurde erst um 200 v. Chr. üblich. Kriegsgefangene im Sklavenstatus kamen dagegen schon unter den Diadochen vor. Diese arbeiteten vor allem in königlichen Steinbrüchen und Bergwerken. Mehrere Sklavenrevolten sind für den Hellenismus bezeugt, darunter in Sizilien und Attika.
Die Stellung der Frauen war in hellenistischer Zeit im Vergleich zur klassischen Zeit relativ gut. Sie gewannen das Recht, selbstständig Unternehmen zu führen und vor Gericht im eigenen Namen auszusagen. Auch waren ihnen alle Stufen der Schulbildung zugänglich. Frauen besuchten das Gymnasion, betätigten sich als Dichterinnen oder Philosophinnen und organisierten sich in eigenen Vereinen. Wie Inschriften aus Kleinasien, Sparta und Kyrene zeigen, machten sich Frauen durch Stiftungen einen Namen und übernahmen politische Ämter. In Delphi und Priene amtierten Frauen sogar als Archonten. Zudem erhielten bedeutende Frauen das Bürgerrecht auswärtiger Städte. Frauen aus dem Königshaus wie Arsinoë II., die Tochter des Ptolemaios, und später Kleopatra, griffen sogar aktiv in die Politik ein. Allerdings wurden noch immer neugeborene Mädchen weit häufiger ausgesetzt als Jungen. Dieses Schicksal traf aber nur selten die Töchter von Sklavinnen, da Unfreie allgemein als Luxusgüter begehrt waren.
Religion und Kult
Die Diadochen gestatteten ihren Untertanen die Verehrung einheimischer Götter. Man neigte dazu, in den fremden Religionen Asiens und Ägyptens die eigenen Kulte und Gottheiten wiederzuerkennen. Die wohl folgenreichste religionspolitische Neuerung war die Einführung des synkretistischen Sarapiskults durch Ptolemaios. Sarapis war eine Verschmelzung aus den ägyptischen Göttern Osiris und Apis und dem griechischen Göttervater Zeus. Er machte zugleich Anleihen bei Dionysos und Hades. So wurden nach der Interpretatio Graeca vermehrt auch andere griechische und orientalische Götter gleichgesetzt, beispielsweise die Erntegöttin Demeter mit Isis, der Gattin des Osiris. Diese neuen synkretistischen Götter waren an keine Polis und kein Heimatland mehr gebunden; sie erfuhren sofort internationale Verehrung. So breitete sich der Sarapis-Kult in der gesamten Ägäis aus. Die nach äygptischem Vorbild entstandenen Einweihungs- und Erlösungskulte bildeten überregionale Bruderschaften, Vorläufer der Kirchen, die sich über den gesamten Mittelmeerraum verbreiteten. Zum syrischen Einfluss muss man die Verbreitung des Adonis-Kultes in hellenisierter Form rechnen. Phrygien trug den Kult der Großen Mutter Kybele bei, und selbst JHWH erschien in Form des Sabazios, einer Gestalt des Dionysios.
Während Seleukos den Kultstätten einen eigenen rechtlichen Status zubilligte und ihnen eine durch Tempelversammlung (, ekklēsia) und Kultvereine organisierte Selbstverwaltung gestattete, versuchte Ptolemaios, die reichen Heiligtümer Ägyptens in seinen Verwaltungsapparat zu integrieren. Die Ptolemäer ließen sich als (synnaoi theoi) in den Tempeln mitverehren und ernannten die Priester selbst. Griechische Kontrollbeamte übernahmen die Aufsicht über die Tempelwirtschaft, selbst griechische Priester kamen vor. Die Erträge der Tempel wurden besteuert und ihr Asylrecht eingeschränkt, der Kult selbst blieb jedoch weitgehend in seiner vorhellenistischen Form erhalten.
Nicht nur in Ägypten genossen die Diadochen göttliche Ehren. Ein anlässlich seiner Rückkehr in das von ihm besetzte Athen etwa 291 verfasster Hymnus an Demetrios, den Sohn des Antigonos, gibt einen seltenen Einblick in die begleitende Rhetorik:
„Freue dich, Sohn des mächtigen Gottes Poseidon [Anspielung auf seine oben genannte Flotte] und der Aphrodite [Schmeichelei gegenüber seiner Schönheit]. Denn die anderen Götter sind weit entfernt oder sie existieren überhaupt nicht, oder sie kümmern sich nicht um uns. Dich aber sehen wir gegenwärtig, nicht aus Holz oder Stein [wie die Kultbilder in den Tempeln], sondern wirklich.“
Neben solche – teils spontane, meist aber mit dem Herrscher abgesprochene – Ehrungen seitens der Poleis trat bei den Ptolemäern, den Seleukiden und später den Attaliden der reichsweit verordnete dynastische Kult. Bereits Alexander forderte 324 die Griechenstädte auf, ihn als Sohn des Zeus zu verehren. Schon seine Rückkehr aus Indien hatte Alexander in Anlehnung an den Dionysos-Mythos mit einem rauschenden Fest gefeiert (komos). Dionysos selbst sollte in der Folgezeit im Rahmen des hellenistischen Herrscherkults eine wichtige Rolle spielen. Seine Wesenszüge gestatten ihm, alle möglichen Elemente thrakischer, asiatischer und ägyptischer Elemente in sich aufzunehmen, vor allem der Götter, die jung gestorben wiederauferstanden und als Sühneopfer für das Heil der Menschheit angeboten wurden und dann über den Tod triumphierten. Unter Ptolemaios XII. dominierte der Kult in Ägypten so stark, dass man dem König den Beinamen Neos Dionysos gab.
Die Diadochen setzten auch den an den Dionysos-Mythos anschließenden Alexanderkult fort, dessen Zentrum im ptolemäischen Ägypten Alexanders Grab (, sēma) in Alexandria bildete. Zudem förderten sie Legenden über ihre eigene göttliche Abstammung. Bald schon fand allgemeine Verbreitung, dass Herakles der Ahnherr der Ptolemäer und Apollon der Stammvater der Seleukiden sei. Während in Makedonien eine kultische Verehrung des Herrschers nicht stattfand, wurde sie in den anderen beiden Reichen bald schon im großen Stil praktiziert. Bei den Ptolemäern gab es bereits sehr früh (unter Ptolemaios II.) einen dynastischen Kult, während im Seleukidenreich wohl erst unter Antiochos III. entsprechende Schritte eingeleitet wurden. In diesem Zuge entstand auch die von den Ptolemäern bald übernommene Institution des Oberpriesters (, archiereus), in dessen Zuständigkeitsbereich neben nicht näher bekannten administrativen Aufgaben auch der Herrscherkult fiel. Zu Ehren der hellenistischen Herrscher wurden regelmäßig Festspiele nach dem Vorbild der Olympischen Spiele abgehalten, die Gäste aus aller Welt anzogen. Allerdings war die Akzeptanz fremder Götter mit Ausnahme der Isis im oberflächlich hellenisierten Mesopotamien geringer als in anderen Teilen des Seleukidenreichs.
So trafen in hellenistischer Zeit griechisch-makedonische Vorstellungen von der Götterwelt auf lokale orientalische Kulte, woraus sich jeweils spezifische wechselseitige Beeinflussungen ergaben. Die polytheistische Grundhaltung der Monarchen ermöglichte die Koexistenz. In Alexandria bildete sich die größte jüdische Gemeinschaft außerhalb Jerusalems. Nach allerdings unsicheren (da jüdisch-apologetischen) Nachrichten bildeten die Juden in Alexandria ein eigenes politeuma mit gewissen Privilegien. Ebenfalls in hellenistischer Zeit begann die Arbeit an der Septuaginta, der griechischen Fassung des Alten Testaments. Der älteste außerbiblische Bericht über den Exodus stammt aus der Aegyptiaca des Hekataios von Abdera (um 300 v. Chr.). In seinem am Hof des Ptolemaios verfassten Werk berichtet er, dass die Juden während einer Pest aus Ägypten vertrieben und von ihrem weisen Gesetzgeber (dem biblischen Mose?) nach Judäa geführt wurden. Die Schriften des Hekataios beeinflussten offenbar auch Manetho, der in ähnlicher Weise über die Herkunft der Juden schrieb. Insgesamt waren die Juden einem Hellenisierungsprozess unterworfen, der auch dank der Unterstützung durch Seleukos und die ersten Seleukiden zu einer weitgehenden Gleichberechtigung mit den Griechen führte. So entstand das hellenistische Judentum.
Die neuen orientalischen Einweihungs- und Erlösungsreligionen mit ihren mystisch-orgiastischen Kulten wurden mit der Zeit in den Diadochenreichen immer wichtiger und verdrängten sowohl die Olympischen Götter der Griechen als auch das rationale Denken. Zeitweise bedrohte der Mystizismus sogar die öffentliche Ordnung. Auch die wirtschaftliche Betätigung erlahmte. Angesichts sinkender politischer Freiheit der Polisbürger, starker Besteuerung und permanenter Kriege und Bürgerkriege – Babylon wurde im 2. Jahrhundert v. Chr. allein neunmal von fremden Heeren erobert – wandten sich die Menschen der Magie, der Astrologie und privaten Schutzgöttern zu, mit dem Wunsch, ihr Schicksal (Tyche) wenigstens im Kleinen zu beeinflussen. Religion wurde zur Privatsache, lediglich der Herrscherkult blieb als verbindendes Element erhalten. Diese Entwicklung bereitete den Boden für die Verbreitung des Christentums, einer weiteren der östlichen Erlösungsreligionen, die mehr Innerlichkeit versprachen, weil sie fremd und exotisch anmuteten.
Wissenschaft und Forschung
Die Diadochenzeit leitete den Aufschwung in Wissenschaft und Technik der hellenistischen Zeit ein, von dem noch die Neuzeit profitieren sollte. Bereits der Alexanderzug wurde von Vermessern begleitet, deren Aufzeichnungen für die Geographie von großer Bedeutung waren. Im Hellenismus bildeten sich einige der bedeutendsten philosophischen Strömungen heraus (siehe beispielsweise Stoa, Epikureismus und Peripatos), wobei sich aber auch die Mathematik, Kunst und Medizin in dieser produktiven Zeit weiter entfalten konnten.
Zum Mittelpunkt der griechischen Gelehrsamkeit wurde seit der Zeit der Diadochen Alexandria mit seinem Museion und der zugehörigen Bibliothek von Alexandria, wobei die Patronagepolitik der Ptolemäer eine große Rolle spielte. Das im Palastbezirk der Stadt gelegene Museion lässt sich am ehesten mit einer heutigen Universität vergleichen. Mit seinem Vortragsraum, der zu philosophischen Gesprächen einladenden Wandelhalle und dem gemeinsamen Speisesaal der örtlichen Philologen bildete es ein Wissenschafts- und Kulturzentrum. Unter der Leitung eines Oberpriesters wurde neben Philosophie auch Naturwissenschaften und Medizin gelehrt. Hier gelangte die geographische Mathematik zur vollen Entfaltung, ebenso entstanden bedeutende Beiträge zur Philosophie und Astronomie. Die Ärzte Alexandrias, namentlich Herophilos und Erasistratos, wagten sich als erste an eine umfassende Erforschung der menschlichen Anatomie und sezierten dafür Hingerichtete. Auch Eratosthenes wirkte hier. Ihm kam wie auch den anderen Wissenschaftlern, Literaten und Künstlern jener Zeit zugute, dass er seine Wirkungsstätte frei wählen konnte. So entstand eine internationale Schicht aus Gelehrten, die bald den Spott der Satiriker herausforderte. In einem bei Athenaios (22d) überlieferten Bonmot werden sie mit Vögeln verglichen, die sich im Käfig des Museions mästeten und den König mit ihrem Gezänk belustigten.
Die an das Museion angeschlossene Bibliothek umfasste bis zu 500.000 Rollen. Vor allem Ptolemaios II., der Sohn und Nachfolger des Ptolemaios, machte sich um sie verdient, um sein Prestige zu mehren. Er ließ die Schriften der Griechen, Chaldäer, Ägypter, Römer und Juden sammeln, erwarb die Bibliothek des zu Beginn der Diadochenkriege verstorbenen Philosophen Aristoteles und kaufte vor allem in Athen und Rhodos weitere Bücher zu. Kallimachos verfasste den ersten Bibliothekskatalog, der erste Bibliotheksvorsteher war Zenodotos von Ephesos. Die große Bibliothek von Alexandria weckte den Ehrgeiz der Herrscher des sich gerade vom Seleukidenreich lösenden Pergamon. Auch sie begannen Bücher zu sammeln und kopieren zu lassen. Das von Ptolemaios II. verhängte Ausfuhrverbot für Papyrus (chartae) umgingen sie durch die Verwendung des neuartigen Pergaments.
Auch wenn die Hauptstadt der Ptolemäer von diesen planmäßig zum kulturellen Mittelpunkt der hellenistischen Welt ausgebaut wurde, so kamen doch die anderen Städte nicht zu kurz. Besonders das griechische Mutterland wurde immer wieder von den Diadochen mit Spenden bedacht. Seleukos gab die vom persischen Großkönig Xerxes I. 200 Jahre zuvor aus Athen entführte Bibliothek des Peisistratos wieder zurück. Um die griechische Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen, unterstützten die Diadochen die Poleis finanziell durch Stiftung und durch Bauten wie das Olympieion in Athen. Dieser vordergründigen Unterstützung des kulturellen Lebens und der finanziellen Lage der Städte stand deren weitreichende politische Entmachtung gegenüber. Die städtische Selbstverwaltung blieb nur im Inneren erhalten. Außenpolitik, Militär und Steuern waren nun Sache der Diadochenherrscher, die die Städte aber trotz allem relativ behutsam behandelten. So konnten sich in ihnen in der hellenistischen Zeit Kultur und Wissenschaften in einer Weise entfalten, die aus dem Hellenismus die moderne Zeit des Altertums machte.
Die astronomischen Arbeiten des Eudoxos von Knidos († 352 v. Chr.) wurden im 3. Jahrhundert fortgeführt von Aristarch († 230 v. Chr.), der das heliozentrische Weltbild begründete und die Drehung der Erde erkannte, und von Eratosthenes († 202 v. Chr.), der ihren Umfang berechnete und das System der Längengrade schuf. Schon zur Zeit Alexanders befuhr Pytheas die Nordsee und entdeckte Britannien. Ptolemaios II., der Sohn des Diadochen Ptolemaios, schickte Gesandte nach Indien und ließ das Innere Afrikas erforschen. Auch im Bereich der Technik wurden viele Fortschritte gemacht, die einige Jahrzehnte später Archimedes und Heron von Alexandria ihre bedeutenden Erfindungen ermöglichten. Bereits zur Diadochenzeit ließ Demetrios Poliorketes eine als Helepolis () bekannte Belagerungsmaschine konstruieren, mit der er Rhodos angriff.
Literatur und Philosophie
Generell kann man sagen, dass sich die hellenistische Literatur zwar im Rahmen bereits bekannter Gattungen bewegte (Drama, Elegie, Epigramm, Epos, Hymnus, Lyrik etc.), diese aber weiterentwickelte und umgestaltete.
Die Literatur des Hellenismus hat einige bemerkenswerte Werke hervorgebracht. Dabei sind vor allem die Schriften des Kallimachos, des bedeutendsten alexandrinischen Dichters, und seiner Schüler zu nennen, unter ihnen auch Apollonios von Rhodos, der sein berühmtes Werk zur Argonautensage verfasste (Ἀργοναυτικά, Argonautika), eine Mischung von Helden- und Liebesdichtung. Die im Museion von Alexandria versammelten Dichter pflegten einen höfischen Stil und eine L'art-pour-l'art-Ästhetik; sie wurden am Hofe ausgehalten, ja am „Gängelband“ geführt und ihr Werk erscheint recht gesellschaftsfern. Der Sizilianer Theokritos war Schöpfer des Genres der bukolischen Lyrik, also der Hirtengedichte, die bei ihm noch von tiefem Naturgefühl zeugen.
Während die attische Komödie in erster Linie Polit- und Gesellschaftssatire mit schematischer Handlung war, brachte die hellenistische Komödie Charaktere auf die Bühne. Zur Haupttriebkraft der Verwicklungen wurde dabei die Liebe. Die Komödie brachte damit Empfindungen und Situationen auf die Bühne, die bis dahin nicht literaturfähig waren. Auf diesem Gebiet war vor allem Menander bedeutend, der gemeinsam mit dem Philosophen Epikur in Athen als Ephebe diente. Von ihm sind zwar nur wenige Stücke überliefert; die von ihm entworfenen Typen gingen jedoch über die lateinische Literatur in die europäische Neuzeit ein und tauchen bei Molière wieder auf.
Nur der Roman (Abenteuer-, Liebes-, Reiseroman) gilt als eine originäre Entwicklung der hellenistischen Zeit. Im Gegensatz zu den älteren Gattungen ist er in Prosa gehalten, was auf Leserezeption statt öffentlicher Aufführung und damit die Ausbreitung einer privaten Buchkultur in den Städten hinweist. Der romantisch verklärte Alexanderroman konnte sich bis in die Neuzeit größter Beliebtheit erfreuen. Im Mittelalter war er sogar nach der Bibel das am weitesten verbreitete Buch und wurde von Europa bis Südostasien gelesen. Ebenso erfreuten sich die Werke der Alexanderhistoriker großer Beliebtheit.
Der größte Teil der hellenistischen Historiographie ging bereits während der Antike verloren, da sie später dem Geschmack des Publikums nicht mehr entsprach, was die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte erschwert. Die wichtigste Ausnahme stellt Polybios dar, von dessen im 2. Jahrhundert v. Chr. entstandenem Werk, das die Jahre 220 bis 146 behandelte, größere Teile erhalten blieben. Er gilt als einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber der Antike. Ganz am Ende der Epoche, um 50 v. Chr., verfasste dann Diodor eine Universalgeschichte, von der ebenfalls signifikante Abschnitte erhalten blieben. Die Werke der meisten übrigen hellenistischen Geschichtsschreiber lassen sich nur noch durch direkte und indirekte Zitate bei kaiserzeitlichen Autoren wie Plutarch, Arrian, Appian, Athenaios und Cassius Dio greifen.
Der Umgestaltungsprozess in der Literatur wurde durch eine neue Form der öffentlichen Bildung gefördert, wie öffentliche Schulen und vor allem das umfangreiche Bibliothekswesen der hellenistischen Zeit. Die oben erwähnten Bibliotheken ermöglichten den Wissenschaftlern und Schriftstellern zum ersten Mal auf breiter Basis, sich auf bereits analysiertes Material zu stützen und sich damit auseinanderzusetzen. Dadurch verbreitete sich jedoch ein philologisch orientiertes, an Gattungen und Stilen der Vergangenheit orientiertes Denken, das die Kreativität behinderte. Die Literatur wurde somit immer mehr zur Angelegenheit für Experten.
Das philosophische Denken des 3. Jahrhunderts v. Chr. war vor allem durch den Versuch geprägt, die Menschen, vor allem die Weisen, innerlich gegen die sich verbreitende Unsicherheit, gegen Kriege, Aufstände, Katastrophen und Folgen der zahlreichen Verbannungen zu rüsten. Das gilt sowohl für das Werk Epikurs und Zenons wie auch für das ihrer Schulen. Wenn auch Athen die Stadt der Philosophen blieb, so wurde vor allem die Stoa mit ihrer deterministischen Weltanschauung in Alexandria geschätzt; sie gab dem Königtum eine philosophische, „vernunftmäßige“ Begründung. Obwohl sich einige Seleukidenkönige an Epikur orientierten, scheint dessen Werk weniger beliebt gewesen zu sein, weil er von den Königen „nur“ verlangte, dass sie Sicherheit und Frieden garantierten. Der Brauch der Könige, sich von Philosophen als Berater und Quasi-Beichtväter begleiten zu lassen und ihnen die Erziehung der Prinzen im Museion anzuvertrauen, schuf der Disziplin zwar ein gutes Auskommen und trug wesentlich zur Erhaltung und weiten Verbreitung philosophischen Denkens bei, erwies sich aber für das theoretische Denken als abträglich, weil es zur Bevorzugung der praktischen (Moral-)Philosophie führte.
In der Folge verschmolzen in der Alexandrinischen Schule verschiedene Strömungen der Philosophie, Naturwissenschaften und Philologie, bis unter Ptolemaios VIII. im Jahr 145 v. Chr. viele griechische und jüdische Gelehrte aus Alexandria vertrieben wurden.
Urbanistik und Bildende Kunst
Der Hellenismus veränderte auch die Rahmenbedingungen für Kunst und Architektur der Griechen. Alexander der Große und nach ihm die hellenistischen Herrscher gründeten eine Vielzahl von Städten nach geometrischen Plänen, die Tempel, Gymnasien, Theater und Plätze benötigten und somit reiche Entfaltungsmöglichkeiten für Architekten und Kunsthandwerker boten. Ihre Residenzen wurden zu Zentren einer höfischen Kunst, in deren Mittelpunkt der Herrscher selbst stand. Pergamon ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine solche Residenzstadt. Aber auch die städtischen Oberschichten waren vermehrt um ihren Nachruhm besorgt und ließen ihr Wirken durch Ehrenstatuen dokumentieren. Die Häuser der Reichen verloren ihre schmucklose, nach außen geschlossene Form; es entwickelten sich zahlreiche villenähnliche Varianten in Peristyl-Bauweise.
Die Orientierung der Städte an den Bedürfnissen der Residenzen einerseits, an denen des wachsenden Fernhandels andererseits führte zur Entpolitisierung der Städte. Theater und Agora verloren ihre Funktion als Orte von Volksversammlungen; vor allem in den syrischen Städten breitete sich stattdessen der Handel in immer mehr Säulengängen entlang der Hauptstraßen und später in gedeckten Säulenhallen aus – den Vorläufern der späteren Suqs (Basare). Die neu gegründeten ägyptischen Städte besaßen überhaupt keine Autonomie; nur Alexandria blieb ein Vorposten Griechenlands in einem fremden Umfeld.
Durch den sich verbreitenden Reichtum entstand ein großer Markt für Kunst, auch für Kleinkunst und Kunstgewerbe wie kleine Hausaltäre, dekorative Wandmalereien usw. Eines der wesentlichen Merkmale der hellenistischen Kunst ist ihre massenhafte gewerbsmäßige Produktion in großen Werkstätten der Bildhauer, Maler, Dekorateure, Ziselierer oder Goldschmiede. So wurde der Hofbildhauer Alexanders, Lysippos, für seine ungeheure Produktivität bei gleichzeitig höchster Detailtreue bekannt.
Die Kunst der hellenistischen Zeit unterschied sich von ihren Vorläufern vor allem durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Orient und den Barbaren. Es entwickelten sich Mischformen zwischen griechischer und orientalischer Kunst, beispielsweise im Osten Irans. Gleichzeitig war vor allem die Bildhauerei durch ein verstärktes Streben nach Realismus geprägt, das auch die genauere Naturbeobachtung und die Darstellung der in der klassischen Zeit wenig beachteten unteren Schichten mit einschloss und teilweise ins Groteske überging. Zugleich wurde die hellenistische Kunst mit immer mehr Symbolen befrachtet, z. B. mit Darstellungen von Putten.
Wichtige Merkmale der hellenistischen Kunst sind expressionistische Stilelemente und pathetische Motive (Beispiele: Die trunkene Alte und Barberinischer Faun, beide in der Glyptothek) sowie ein Ausgreifen der Figuren in den Raum. Dieses wird besonders in der dramatischen Figurenführung der pergamenischen Bildhauer deutlich. Jacob Burckhardt prägte für den bewegten, emotionalen Stil dieser Skulpturen den Begriff Pergamenischer Barock. Die hellenistische Skulptur war in ihrer bewegten Dreidimensionalität in der Lage, zunehmend komplexe Geschichten zu erzählen und kann daher als frühe Form der Transmedialität gelten.
An herausragenden Werken der hellenistischen Kunst können vor allem genannt werden: die Gallieranatheme Attalos’ I. (überliefert in römischen Kopien, bekannt sind der Sterbende Gallier und der Gallier, der seine Frau tötet), der Pergamonaltar in Berlin, die Nike von Samothrake, die Aphrodite von Melos (auch Venus von Milo, beide im Louvre) und, als eine der letzten großen Kunstschöpfungen des Hellenismus, die Laokoon-Gruppe in Rom.
Daneben war die Unterstützung der herrscherlichen Selbstdarstellung eine wichtige Funktion der hellenistischen Kunst. Durch die Verwendung göttlicher Attribute wurde die herausgehobene Stellung und die Sieghaftigkeit der Monarchen betont. Das implizierte jedoch keineswegs immer eine Idealisierung. So wurden auch ihre individuellen Charakterzüge beispielsweise auf Münzen stärker hervorgehoben.
Nachwirkung
Der Hellenismus wirkte auch nach dem Ende der hellenistischen Monarchien im Jahr 30 v. Chr. weiter nach. Die bedeutendste Auswirkung war sicher die mit der Eroberung Persiens durch Alexander den Großen begonnene Hellenisierung des Orients und die damit verbundene Entwicklung einer griechisch geprägten Zivilisation, die das Gebiet des ehemaligen Alexanderreiches bis zur islamischen Expansion im 7. Jahrhundert prägen sollte. Wenn auch schon vor Alexander teilweise Griechen im Vorderen Orient lebten, so wurde diese Entwicklung durch den Alexanderzug intensiviert. In Syrien, Kleinasien und Ägypten war Griechisch noch Jahrhunderte nach der Auflösung der Diadochenreiche die Hauptverkehrssprache. Nicht zu unterschätzen ist auch der griechische Einfluss auf das römische Reich, das zwar die politische Vorherrschaft über die hellenistische Welt gewann, aber dieser nicht nur die kulturelle Autonomie beließ, sondern sich selbst der griechischen Kultur öffnete. Die Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur wurde zum Kennzeichen des gebildeten Römers.
Zwar gab es in hellenistischer Zeit noch zahlreiche demokratisch verfasste Poleis, politisch gesehen begann mit dem Hellenismus aber der Sieg der Monarchie über die Polisdemokratie der klassischen Zeit, deren letzte bedeutende Ausprägung die Bundesstaaten der hellenistischen Zeit waren. Auch das römische Reich wandelte sich schließlich – teilweise unter Übernahme hellenistischer Herrschaftsformen – von einer Republik zu einer Monarchie um, die im Verlauf der Jahrhunderte dem Königtum der Diadochenreiche immer ähnlicher wurde, ohne ihren eigentümlichen Charakter je ganz zu verlieren. Auch auf religiösem Gebiet wirkte der Hellenismus fort. Orientalische Kulte wie der Mithraskult, die unter griechischem Einfluss oft synkretistische Formen annahmen, verbreiteten sich im ganzen römischen Reich. Erheblichen Einfluss gewann der Hellenismus früh auch auf das Judentum und das sich daraus entwickelnde Christentum – der Apostel Paulus von Tarsus war ein gründlich hellenisierter Jude und auch die Sprache des Neuen Testaments und der meisten frühen Kirchenväter war das Griechische. Das Christentum wurde Ende des 4. Jahrhunderts römische Staatsreligion und fand später weltweite Verbreitung. Damit war es das wohl einflussreichste Erbe des Hellenismus.
Bewertung der Epoche
Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert wurde der Hellenismus allgemein recht negativ gesehen. Für Plutarch endete die Freiheit mit dem Tod des Demosthenes 322 v. Chr. und damit zu Beginn dieser Zeit. Die Diadochenzeit markierte demnach das Ende der griechischen Klassik und damit den Anfang des als Verfallsprozess empfundenen Hellenismus, dessen kulturelle Leistungen in spätantiker Zeit unter zunehmend christlichem Einfluss dermaßen gering geschätzt wurden, dass der größte Teil der hellenistischen Literatur verloren ging. Dabei wurde aber meist übersehen, dass die Kanonisierung der so genannten Klassik erst im Hellenismus erfolgte und der Begriff selbst erst in römischer Zeit entstand. Ebenso blieb unberücksichtigt, dass die innere Autonomie der griechischen Poleis bestehen blieb und ihre außenpolitische Handlungsfreiheit nur so weit eingeschränkt wurde, dass sie nicht mehr in der Lage waren, gegeneinander Krieg zu führen.
Die positive Würdigung der Zeit des Hellenismus geht vor allem auf den Historiker Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert zurück, der den Hellenismus als „moderne Zeit des Altertums“ bezeichnete und formulierte:
„Der Name Alexander bezeichnet das Ende einer Weltepoche, den Anfang einer neuen.“
Droysen, der die hellenistische Epoche als notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Christentums verstand, wandte sich gegen die Idealisierung der klassischen Zeit und meinte, dass die Diadochen den erfolgreichen Versuch unternommen hätten, das partikularistische Polissystem zu überwinden (wenn die Polis auch freilich weiterhin eine wichtige Verwaltungseinheit darstellte) und große Länder durch zentrale Planung politisch und wirtschaftlich wirklich zu erfassen. Auf Droysen geht die Einschätzung der Diadochenreiche als Teile einer vergleichsweise modernen, städtisch geprägten Weltzivilisation zurück, die durch einen wirtschaftlichen Aufschwung, technischen Fortschritt, Mobilität, Individualismus und die Begegnung verschiedener Kulturen geprägt war. Im 20. Jahrhundert fand diese Einschätzung allgemeine Anerkennung, so schrieb der Schriftsteller Gottfried Benn 1949:
„Der griechische Kosmos schuf durch den Hellenismus die innere Lebensform für die halbe Erde.“
Generell bleibt festzuhalten, dass bis heute keine einheitliche Einschätzung der Epoche entwickelt wurde. Michael Rostovtzeff kam 1941 zu dem Schluss, dass trotz wirtschaftlicher Konsolidierung, Schaffung eines großen einheitlichen Marktes, herausragender verwaltungstechnischer (vielfach vom Persischen Reich übernommener) und kultureller Leistungen und einer Fülle landwirtschaftlicher wie technischer Innovationen der grundlegende Konflikt der hellenistischen Welt, nämlich der zwischen der griechischen Polis und der orientalischen Monarchie, zwischen Privatinitiative und gelenkter Wirtschaft, der durch die Eroberungen Alexanders entstanden war, nicht aufgelöst werden konnte. Auch die destruktiven Machtkämpfe der Nachfolger der Diadochen und der sich verschärfende Konflikt zwischen immer reicheren Besitzenden und zunehmend apathischen arbeitenden Klassen hätten zum leichten Sieg Roms beigetragen. In der späthellenistischen Zeit sei das wirtschaftliche Interesse der breiten Massen erlahmt; sie hätten sich immer stärker den religiösen Kulten zugewandt.
Der britische Historiker Peter Green kommt 1990 in seiner umfangreichen, aber umstrittenen Studie From Alexander to Actium zu einer eher negativen Beurteilung, anders etwa Graham Shipley oder Hans-Joachim Gehrke, der ebenfalls 1990 seine Geschichte des Hellenismus vorlegte. Alexander Demandt verficht 1995 Droysens Einschätzung und betont die Ähnlichkeiten zwischen Hellenismus und Moderne. Ihm zufolge steht die Zeit der Diadochenreiche in einem ähnlichen Verhältnis zu klassischer und archaischer Zeit wie die Neuzeit zu Mittelalter und Antike. Ähnlichkeiten sieht er bei der Erweiterung des Lebensraumes, der Errichtung von Kolonialregimes über technisch weniger entwickelte Völker, dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der Entstehung eines Weltmarkts und der Urbanisierung.
Weitgehend unbestritten ist die Bedeutung des Hellenismus für die Entwicklung neuer Formen der Außenpolitik und Diplomatie. In dieser Zeit entstand ein außenpolitisches Regelsystem, das zwischenstaatliche Beziehungen in feste Formen brachte. Ludwig Mitteis bemerkte im Jahr 1900, dass dieses Regelsystem die Einheit des griechischen Rechts im gesammten Umfang des gräco-macedonischen Hellenismus verwirklicht habe. Einher mit dieser Regelung ging jedoch eine Labilität der Diadochenstaaten, die damit zusammenhing, dass fast jeder Diadoche ein großer Eroberer im Stil Alexanders des Großen werden wollte. Der armenische König Tiridates fasste laut Tacitus das Selbstbild eines hellenistischen Herrschers so zusammen:
„Ein Privatmann verdient Lob, wenn er sich um sein eigenes Haus kümmert, ein König aber, wenn er um die Güter anderer streitet.“
Während die hellenistischen Herrscher sich in der Zeit um 300 v. Chr. jedoch vor allem jeweils in untereinander geschlossenen Bündnissen gegen einen Aggressor aus ihren Reihen wehrten, konnten sie sich später an die mittlerweile zur Vormacht im Mittelmeerraum gewordenen Römer wenden. Diese – und nicht die Diadochen – errichteten schließlich das Weltreich, das die unmittelbaren Nachfolger Alexanders des Großen nicht verwirklichen konnten. Der kulturelle Einfluss des Griechentums blieb jedoch ungebrochen.
Quellen
In weiten Teilen fehlt eine durchgehende Überlieferung, die Quellenlage zum Hellenismus gehört damit in der Alten Geschichte zu den problematischsten. Die Historiker sind auf Fragmente (wie von Hieronymos von Kardia) bzw. auf die nicht vollständig erhaltenen Schriften von antiken Geschichtsschreibern (Polybios, Diodor), Papyri (vor allem aus Ägypten), Münzen, Inschriften sowie auf archäologische Quellen angewiesen. Aus diesem Grund sind viele Sachverhalte umstritten, auch wenn im Großen und Ganzen ein Gerüst steht, welches jedoch komplexe Detailfragen aufwirft.
Der Hellenismus gilt als die schreibfreudigste Zeit der griechischen Antike. Bereits die Diadochen sammelten in ihren Bibliotheken in Alexandria, Antiochia und Pella die Werke zeitgenössischer Autoren. Dennoch sind kaum historische oder philosophische Schriften aus jener Zeit erhalten. Der Altertumsforscher Hermann Strasburger geht von einem Verhältnis zwischen verlorengegangenen und erhaltenen Werken von 40:1 aus. Die meisten dieser Bücher gingen offenbar in byzantinischer Zeit verloren, da sie dem damals verfochtenen klassizistischen Sprachideal nicht entsprachen. Auch die Zerstörung der großen Bibliothek von Alexandria trug sicher zu dieser schlechten Überlieferungssituation bei.
Fragmentarisch erhalten sind die griechischen Autoren Timaios von Tauromenion (345–250 v. Chr.), Duris von Samos (340–270 v. Chr.) und Hieronymos von Kardia (360–272 v. Chr.), Zeitgenossen der Diadochen, sowie Phylarchos von Naukratis (3. Jahrhundert) und Poseidonios von Apameia (135–51 v. Chr.).
Deutlich besser sieht es mit den römischen und anderen in römischer Zeit schreibenden Autoren aus. Diese sind jedoch alle keine Zeitgenossen der Diadochen, einige lebten sogar erst nach dem um 30 v. Chr. angesetzten Ende des Hellenismus. Dennoch sind etwa Diodor, der um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. schrieb und der vom 18. Buch seines Geschichtswerkes an die Diadochenzeit behandelt, der in einer Zusammenfassung des Marcus Iunianus Iustinus erhaltene Pompeius Trogus und Appian, der im 2. Jahrhundert n. Chr. einen Überblick über die Seleukiden verfasste, wichtige Quellen, da sie sich auf gute, heute verlorene Vorlagen stützten. Ebenfalls in römischer Zeit schrieb der Grieche Plutarch, der unter anderem Viten von Eumenes von Kardia, Demetrios I. Poliorketes und Pyrrhos I. verfasst hat. Von entscheidender Bedeutung für die Chronologie der hellenistischen Zeit ist die Weltchronik des Eusebius von Caesarea.
Eine auf den ersten Blick wenig naheliegende Quelle sind jüdische Texte in griechischer und aramäischer Sprache. Dazu zählen Flavius Josephus, der Geschichtsschreiber des Jüdischen Krieges, das Buch Daniel in der Septuaginta und Apokryphen wie der Aristeasbrief.
Umfangreicher als die schriftlichen sind die dokumentarischen Zeugnisse jener Zeit. Neben den Inschriften, die vor allem Briefe der hellenistischen Könige an die Städte enthalten, sind insbesondere die ägyptischen Papyri, die Michael Rostovtzeff ausgewertet hat, und die Keilschrifturkunden aus dem Mesopotamien der ersten Seleukiden für die Historiographie bedeutsam. Von besonderer Bedeutung sind der dreisprachige Stein von Rosette, den der ägyptische König Ptolemaios V. 197 v. Chr. zu seinem Regierungsantritt aufstellen ließ und mit dessen Hilfe Jean-François Champollion die Hieroglyphenschrift entzifferte, und das rund 2000 Dokumente umfassende Archiv des ägyptischen Grundbesitzers Zenon, der zur Zeit Ptolemaios’ II. Sekretär des Dioiketes war. Im feuchtheißen Klima Mesopotamiens konnten sich jedoch Papyri kaum erhalten.
Wichtig für unser Bild des Hellenismus ist auch der Abgleich der Quellen mit den archäologischen Befunden. Die Reste Alexandrias, Antiochias und Seleukeias, der Hauptstädte der großen Diadochenreiche, sind eher kärglich, größere Funde wurden in Priene, Milet, Ephesos, Herakleia am Latmos und Pergamon gemacht. Für das Leben im griechisch-baktrischen Reich sind die Funde von Ai Khanoum von großer Bedeutung. Titel und Porträts der Diadochen sind uns vor allem von Münzbildern und Marmorbüsten bekannt.
Zeitleiste
(alle Angaben v. Chr.)
334 Beginn des Feldzugs Alexanders des Großen gegen das Perserreich
331 Entscheidungsschlacht von Gaugamela, Flucht des Perserkönigs Dareios, der 330 ermordet wird
327–325 Alexander unternimmt einen Feldzug nach Indien
323 Tod Alexanders des Großen
323/22 Lamischer Krieg
322 Perdikkas erobert Kappadokien, Eumenes wird Satrap
320 Konferenz von Triparadeisos und Neuordnung unter den verbliebenen Diadochen
317 Polyperchon verkündet die „Freiheit der Griechen“, Ermordung von Philipp III. Arrhidaios
310 Alexander IV. Aigos wird von Kassander ermordet, Ende des alten makedonischen Königshauses
306 Antigonos I. Monophthalmos und sein Sohn Demetrios I. Poliorketes nehmen den Königstitel an
305 Seleukos I. versucht vergeblich, die indischen Provinzen des Alexanderreichs zurückzuerobern
301 Schlacht bei Ipsos. Der letzte Versuch, die Reichseinheit zu bewahren, scheitert
281 Schlacht bei Kurupedion, Ende der Diadochenzeit
250 Das Gräko-baktrische Reich wird gegründet, die Parther beginnen ihre Eroberungszüge
221 Die Antigoniden werfen die letzte spartanische Erhebung unter Kleomenes III. nieder
212 Der Seleukidenkönig Antiochos III. beginnt seine berühmte Anabasis in den Osten und gelangt bis nach Baktrien und Nordwestindien
192–188 Antiochos III. unterliegt, wie schon 197 Philipp V. von Makedonien, den Römern und zieht sich aus Kleinasien zurück
168 Die Römer zerschlagen das antigonidische Königreich Makedonien; 20 Jahre später wird das Gebiet zur Provinz Macedonia
146 Die Römer brandschatzen Korinth
141 Die Parther nehmen Mesopotamien in Besitz
133 Attalos III. vermacht das Königreich Pergamon testamentarisch den Römern (Provinz Asia)
89 Beginn des 1. Mithridatischen Krieg (es folgen 83 und 74 zwei weitere)
88 Vesper von Ephesos: Mithridates VI. befiehlt die Ermordung von etwa 80.000 Römern und Italikern in Kleinasien
64 Der römische General Pompeius erobert Syrien und richtet die Provinz Syria ein; Ende des Seleukidenreichs
30 Ägypten wird römische Provinz (Aegyptus)
27 Griechenland wird römische Provinz (Achaea)
Literatur
Eine klassische Darstellung ist Droysens Geschichte des Hellenismus, die zwar immer noch lesenswert, aber inzwischen veraltet ist. Neuere Darstellungen sind in englischer (Peter Green, Graham Shipley, Frank W. Walbank) und französischer (Édouard Will) Sprache vorhanden; für den deutschen Leser sind Gehrkes Arbeiten, die Beiträge in Gregor Webers Kulturgeschichte sowie das Lexikon des Hellenismus sehr nützliche Orientierungen. Im Folgenden werden vor allem Überblickswerke genannt, anhand von deren Bibliografien sich leicht spezialisiertere Literatur erschließen lässt. Es sei auch auf die entsprechenden Abschnitte in der Cambridge Ancient History hingewiesen (ab Band 7.1).
Deutschsprachige Literatur
Fremdsprachige Literatur
Weblinks
Quellenausschnitte und Bibliografie
Peter Greens Hellenistic History and Culture frei zugänglich (englisch)
Internet Ancient History Sourcebook zum Hellenismus (Quellen in englischer Übersetzung)
Artikelsammlung zu Alexander dem Großen und den Diadochen bei Livius.org (englisch)
Anmerkungen
Transkulturation |