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https://de.wikipedia.org/wiki/Atom
Atom
Atome (von „unteilbar“) sind die Bausteine, aus denen alle festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe bestehen. Alle Materialeigenschaften dieser Stoffe sowie ihr Verhalten in chemischen Reaktionen werden durch die Eigenschaften und die räumliche Anordnung ihrer Atome festgelegt. Jedes Atom gehört zu einem bestimmten chemischen Element und bildet dessen kleinste Einheit. Zurzeit sind 118 Elemente bekannt, von denen etwa 90 auf der Erde natürlich vorkommen. Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich in ihrer Größe und Masse und vor allem in ihrer Fähigkeit, mit anderen Atomen chemisch zu reagieren und sich zu Molekülen oder festen Körpern zu verbinden. Die Durchmesser von Atomen liegen im Bereich von 6 · 10−11 m (Helium) bis 5 · 10−10 m (Cäsium), ihre Massen in einem Bereich von 1,7 · 10−27 kg (Wasserstoff) bis knapp 5 ·10−25 kg (die derzeit schwersten synthetisch hergestellten Kerne). Atome sind nicht unteilbar, wie zum Zeitpunkt der Namensgebung angenommen, sondern zeigen einen wohlbestimmten Aufbau aus noch kleineren Teilchen. Sie bestehen aus einem Atomkern und einer Atomhülle. Der Atomkern hat einen Durchmesser von etwa einem Zehn- bis Hunderttausendstel des gesamten Atomdurchmessers, enthält jedoch über 99,9 Prozent der Atommasse. Er besteht aus positiv geladenen Protonen und einer Anzahl von etwa gleich schweren, elektrisch neutralen Neutronen. Diese Nukleonen sind durch die starke Wechselwirkung aneinander gebunden. Die Hülle besteht aus negativ geladenen Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse bei, bestimmt jedoch die Größe des Atoms. Der positive Kern und die negative Hülle sind durch elektrostatische Anziehung aneinander gebunden. In der elektrisch neutralen Grundform des Atoms ist die Anzahl der Elektronen in der Hülle gleich der Anzahl der Protonen im Kern. Diese Zahl legt den genauen Aufbau der Hülle und damit auch das chemische Verhalten des Atoms fest und wird deshalb als chemische Ordnungszahl bezeichnet. Alle Atome desselben Elements haben die gleiche chemische Ordnungszahl. Sind zusätzliche Elektronen vorhanden oder fehlen welche, ist das Atom negativ bzw. positiv geladen und wird als Ion bezeichnet. Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, war jedoch bis in die Neuzeit umstritten. Der endgültige Nachweis konnte erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbracht werden und gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einzelne Atome sind selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Eine direkte Beobachtung einzelner Atome ist erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit Feldionenmikroskopen möglich, seit einigen Jahren auch mit Rastertunnelmikroskopen und hochauflösenden Elektronenmikroskopen. Die Atomphysik, die neben dem Aufbau der Atome auch die Vorgänge in ihrem Inneren und ihre Wechselwirkungen mit anderen Atomen erforscht, hat entscheidend zur Entwicklung der modernen Physik und insbesondere der Quantenmechanik beigetragen. Erforschungsgeschichte Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, allerdings nur in Form von spekulativen philosophischen Überlegungen. Aufgrund ihrer extrem geringen Größe sind einzelne Atome selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Dennoch konnte Johann Loschmidt schon Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund makroskopischer Eigenschaften der Gase ungefähr abschätzen, wie groß und schwer ein solches hypothetisches Atom sein müsste. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war umstritten, ob es Atome wirklich gibt. Der endgültige Nachweis ihrer Existenz gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einen entscheidenden Beitrag lieferte Albert Einstein 1905, indem er die bereits seit langem bekannte, im Mikroskop direkt sichtbare Brownsche Bewegung kleiner Körnchen quantitativ dadurch erklärte, dass sie von zufällig gehäuften Stößen von Atomen oder Molekülen aus der Umgebung herrührte. Erst seit wenigen Jahrzehnten erlauben Feldionenmikroskope und Rastertunnelmikroskope, seit einigen Jahren zudem auch Elektronenmikroskope, einzelne Atome direkt zu beobachten. Philosophische Überlegungen Das Konzept des Atomismus, nämlich dass Materie aus Grundeinheiten aufgebaut ist – „kleinsten Teilchen“, die nicht immer weiter in kleinere Stücke zerteilt werden können – existiert seit Jahrtausenden, genauso wie das Gegenkonzept, Materie sei ein beliebig teilbares Kontinuum. Doch diese Ideen beruhten zunächst ausschließlich auf philosophischen Überlegungen und nicht auf empirischer experimenteller Untersuchung. Dabei wurden den Atomen verschiedene Eigenschaften zugeschrieben, und zwar je nach Zeitalter, Kultur und philosophischer Schule sehr unterschiedliche. Eine frühe Erwähnung des Atomkonzepts in der Philosophie ist aus Indien bekannt. Die Nyaya- und Vaisheshika-Schulen entwickelten ausgearbeitete Theorien, wie sich Atome zu komplexeren Gebilden zusammenschlössen (erst in Paaren, dann je drei Paare). In der griechischen Philosophie ist die Atomvorstellung erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Leukipp überliefert. Sein Schüler Demokrit systematisierte sie und führte den Begriff () ein, was etwa „das Unzerschneidbare“ bedeutet, also ein nicht weiter zerteilbares Objekt. Diese Bezeichnung wurde Ende des 18. Jahrhunderts für die damals hypothetischen kleinsten Einheiten der chemischen Elemente der beginnenden modernen Chemie übernommen, denn mit chemischen Methoden lassen sich Atome in der Tat nicht „zerschneiden“. Experimentell arbeitende Naturwissenschaftler machten sich Ende des 18. Jahrhunderts die Hypothese vom Atom zu eigen, weil diese Hypothese im Rahmen eines Teilchenmodells der Materie eine elegante Erklärung für neue Entdeckungen in der Chemie bot. Doch wurde gleichzeitig die gegenteilige Vorstellung, Materie sei ein Kontinuum, von Philosophen und auch unter Naturwissenschaftlern noch bis ins 20. Jahrhundert hinein aufrechterhalten. Naturwissenschaftliche Erforschung Im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung konnte die Existenz von Atomen bestätigt werden. Es wurden viele verschiedene Atommodelle entwickelt, um ihren Aufbau zu beschreiben. Insbesondere das Wasserstoffatom als das einfachste aller Atome war dabei wichtig. Einige der Modelle werden heute nicht mehr verwendet und sind nur von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Andere gelten je nach Anwendungsbereich als noch heute brauchbare Näherung. In der Regel wird das einfachste Modell genommen, welches im gegebenen Zusammenhang noch ausreicht, um die auftretenden Fragen zu klären. Viele der im Folgenden genannten Entdeckungen (sofern nach 1900) wurden mit dem Nobelpreis für Physik oder Chemie ausgezeichnet. Bestätigung der Atomhypothese Robert Boyle vertrat 1661 in seinem Werk The Sceptical Chymist die Meinung, die Materie sei aus diversen Kombinationen verschiedener corpuscules aufgebaut und nicht aus den vier Elementen der Alchemie: Wasser, Erde, Feuer, Luft. Damit bereitete er die Überwindung der Alchemie durch den Element- und Atombegriff der modernen Chemie vor. Daniel Bernoulli zeigte 1740, dass der gleichmäßige Druck von Gasen auf die Behälterwände, insbesondere das Gesetz von Boyle und Mariotte, sich durch zahllose Stöße kleinster Teilchen erklären lässt. Damit wurde seine Forschung zum Vorläufer der kinetischen Gastheorie und statistischen Mechanik. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von Atomen genutzt, um die wohlbestimmten Winkel an den Kanten und Ecken der Edelsteine auf die verschiedenen möglichen Schichtungen von harten Kugeln zurückzuführen. Nachdem Antoine Lavoisier 1789 den heutigen Begriff des chemischen Elements geprägt und die ersten Elemente richtig identifiziert hatte, benutzte 1803 John Dalton das Atomkonzept, um zu erklären, wieso Elemente immer in Mengenverhältnissen kleiner ganzer Zahlen miteinander reagieren (Gesetz der multiplen Proportionen). Er nahm an, dass jedes Element aus gleichartigen Atomen besteht, die sich nach festen Regeln miteinander verbinden können und so Stoffe mit anderen Materialeigenschaften bilden. Außerdem ging er davon aus, dass alle Atome eines Elements die gleiche Masse hätten, und begründete damit den Begriff Atomgewicht. Die Beobachtungen zum chemischen und physikalischen Verhalten von Gasen konnte Amedeo Avogadro 1811 dahingehend zusammenfassen, dass zwei ideale Gase bei gleichen Werten von Volumen, Druck und Temperatur des Gases immer aus gleich vielen identischen Teilchen („Molekülen“) bestehen. Die Moleküle bestehen bei elementaren Gasen wie Wasserstoff, Sauerstoff oder Stickstoff immer aus zwei Atomen des Elements (Avogadrosches Gesetz). 1866 konnte Johann Loschmidt die Größe des einzelnen Luftmoleküls bestimmen, indem er mit einer von James C. Maxwell aus der kinetischen Gastheorie gewonnenen Formel die von George Stokes gemessenen Werte für die innere Reibung in Luft auswertete. Damit konnte er auch das Gewicht bzw. die Masse eines Luftmoleküls bestimmen. Außerdem erhielt er die nach ihm benannte Loschmidtsche Zahl als Anzahl der Luftmoleküle pro Kubikzentimeter (unter Normalbedingungen). Infolge der Arbeiten von Avogadro und Stanislao Cannizzaro wurde angenommen, dass Atome nicht als einzelne Teilchen auftreten, sondern nur als Bestandteile von Molekülen aus mindestens zwei Atomen. Doch 1876 gelang August Kundt und Emil Warburg der erste Nachweis eines einatomigen Gases. Sie bestimmten den Adiabatenexponenten von Quecksilber-Dampf bei hoher Temperatur und erhielten einen Wert, wie er nach der kinetischen Gastheorie nur für Teilchen in Gestalt echter Massenpunkte auftreten kann. Ab 1895 kamen entsprechende Beobachtungen an den neu entdeckten Edelgasen hinzu. Nach Erscheinen seiner Dissertation über die Bestimmung von Moleküldimensionen schlug Albert Einstein im selben Jahr 1905 ein Experiment vor, um die Hypothese von der Existenz der Atome anhand der Zitterbewegung kleiner Partikel in Wasser quantitativ zu prüfen. Nach seiner Theorie müssten die Partikel aufgrund der Unregelmäßigkeit der Stöße durch die Wassermoleküle kleine, aber immerhin unter dem Mikroskop sichtbare Bewegungen ausführen. Es war Einstein dabei zunächst nicht bekannt, dass er damit die seit 1827 bekannte Brownsche Bewegung von Pollen quantitativ erklärt hatte, für deren Ursache schon 1863 Christian Wiener erstmals Molekularstöße angenommen hatte. Nach Einsteins Formeln hängt die Stärke der Zitterbewegung von der Masse der stoßenden Moleküle ab, und auf dieser Grundlage bestimmte der französische Physiker Jean Perrin die Molekülmasse experimentell und fand ähnliche Ergebnisse wie Loschmidt. Diese Arbeiten trugen entscheidend zur allgemeinen Anerkennung der bis dahin so genannten „Atomhypothese“ bei. Teilbarkeit und Aufbau der Atome Joseph John Thomson entdeckte 1897, dass die Kathodenstrahlen aus Teilchen bestimmter Ladung und Masse bestehen und dass deren Masse kleiner als ein Tausendstel der Atommasse ist. Diese Teilchen wurden als Elektronen bezeichnet und erwiesen sich als ein Bestandteil aller Materie, was dem Konzept des Atoms als unzerteilbarer Einheit widersprach. Thomson glaubte, dass die Elektronen dem Atom seine Masse verliehen und dass sie im Atom in einem masselosen, positiv geladenen Medium verteilt seien wie „Rosinen in einem Kuchen“ (Thomsonsches Atommodell). Die kurz zuvor von Henri Becquerel entdeckte Radioaktivität wurde von Marie Curie als eine Strahlung direkt aus den einzelnen Atomen angesehen und 1903 von Ernest Rutherford und Frederick Soddy mit Umwandlungen verschiedener Atomsorten ineinander in Verbindung gebracht. Ein solcher Prozess widersprach aber der in der Chemie erfolgreichen Grundannahme, die Atome seien unveränderlich. Rutherford und Soddy konnten 1908 nachweisen, dass aus den α-Teilchen, die die Alphastrahlung bilden, Helium-Atome werden. Zusammen mit seiner Forschergruppe beschoss Ernest Rutherford 1909 eine Goldfolie mit α-Teilchen. Er stellte fest, dass die meisten der Teilchen die Folie fast ungehindert durchdrangen, einige wenige aber um sehr viel größere Winkel abgelenkt wurden als nach Thomsons Modell möglich wäre. Rutherford schloss daraus, dass fast die ganze Masse des Atoms in einem sehr viel kleineren, elektrisch geladenen Volumen in der Mitte des Atoms konzentriert sei und schuf damit die grundlegende Vorstellung vom Aufbau des Atoms aus Atomkern und Atomhülle. Dies Rutherfordsche Atommodell ist seither gültig. Die stark abgelenkten α-Teilchen waren diejenigen, die einem Kern zufällig näher als etwa ein Hundertstel des Atomradius gekommen waren. Die Ladungszahl des Atomkerns entpuppte sich als die chemische Ordnungszahl des betreffenden Elements, und α-Teilchen erwiesen sich als die Atomkerne des Heliums. Der Chemiker Frederick Soddy stellte 1911 fest, dass manche der natürlichen radioaktiven Elemente aus Atomen mit unterschiedlichen Massen und unterschiedlicher Radioaktivität bestehen mussten. Der Begriff Isotop für physikalisch verschiedene Atome desselben chemischen Elements wurde 1913 von Margaret Todd vorgeschlagen. Da die Isotope desselben Elements an ihrem chemischen Verhalten nicht zu unterscheiden waren, entwickelte der Physiker J.J. Thomson ein erstes Massenspektrometer zu ihrer physikalischen Trennung. Damit konnte er 1913 am Beispiel von Neon nachweisen, dass es auch stabile Elemente mit mehreren Isotopen gibt. 1918 fand Francis William Aston mit einem Massenspektrometer von erheblich größerer Genauigkeit heraus, dass fast alle Elemente Gemische aus mehreren Isotopen sind, wobei die Massen der einzelnen Isotope immer (nahezu) ganzzahlige Vielfache der Masse des Wasserstoffatoms sind. Rutherford wies 1919 in der ersten beobachteten Kernreaktion nach, dass durch Beschuss mit α-Teilchen aus den Kernen von Stickstoffatomen die Kerne von Wasserstoffatomen herausgeschossen werden können. Diesen gab er den Namen Proton und entwickelte ein Atommodell, in dem die Atome nur aus Protonen und Elektronen bestehen, wobei die Protonen und ein Teil der Elektronen den kleinen, schweren Atomkern bilden, die übrigen Elektronen die große, leichte Atomhülle. Die Vorstellung von Elektronen im Atomkern stellte sich jedoch als problematisch heraus und wurde 1932 endgültig fallengelassen, nachdem von James Chadwick das Neutron als ein neutraler Kernbaustein mit etwa gleicher Masse wie das Proton nachgewiesen wurde. Damit entstand das heutige Atommodell: Der Atomkern ist zusammengesetzt aus so vielen Protonen, wie die Ordnungszahl angibt, und zusätzlich so vielen Neutronen, dass die betreffende Isotopenmasse erreicht wird; die Atomhülle besteht aus so vielen Elektronen, dass das ganze Atom neutral wird. Aufbau der Atomhülle Die beobachteten Eigenschaften (wie Größe, Stabilität, Reaktionsweisen, Absorption und Emission von Licht) der Atomhülle konnten im Rahmen der klassischen Physik keine Erklärung finden. Erst unter Einbeziehung von neuartigen Quantisierungsregeln mithilfe der Planck-Konstante konnte Niels Bohr 1913 erklären, wie es in den optischen Spektren reiner Elemente zu den Spektrallinien kommt, die für das jeweilige Element absolut charakteristisch sind (Spektralanalyse nach Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff 1859). Im Franck-Hertz-Versuch konnte die quantisierte Energieaufnahme und -abgabe an Quecksilberatomen experimentell bestätigt werden. Das Bohrsche Atommodell war zwar nur für Systeme mit lediglich einem Elektron (damals nur Wasserstoff und ionisiertes Helium) gültig, bildete jedoch im Laufe des folgenden Jahrzehnts das Fundament für eine Reihe von Verfeinerungen. Sie führten im Schalenmodell zu einem ersten Verständnis des Aufbaus der Elektronenhüllen aller Elemente und damit auch zum physikalischen Verständnis des chemischen Periodensystems. Damit wurde das Bohrsche Atommodell zur Grundlage des populären Bildes vom Atom als einem kleinen Planetensystem. 1925 entwickelte Werner Heisenberg zusammen mit Max Born, Pascual Jordan, Wolfgang Pauli u. a. die Matrizenmechanik. 1926 ersetzte Erwin Schrödinger die Quantisierungsregeln durch seine Wellenmechanik. Sie beschreibt die Elektronen nicht als Massenpunkte auf bestimmten ebenen Bahnen, sondern als in drei Dimensionen ausgedehnte stehende Materiewelle. Beide Formen einer neuen „Quantenmechanik“ konnten das Spektrum des Wasserstoffatoms richtig erklären. Als Folge dieser Beschreibungen ist es unter anderem unzulässig, einem Elektron gleichzeitig genaue Werte für Ort und Impuls zuzuschreiben. Dieser Sachverhalt wurde 1927 von Heisenberg in der Unschärferelation formuliert. Demnach können statt der Bewegung auf bestimmten Bahnen nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Wertebereiche von Ort und Impuls angegeben werden, eine Vorstellung, die nur schwer zu veranschaulichen ist. Den quantisierten Umlaufbahnen des Bohrschen Modells entsprechen hier „Atomorbitale“. Sie geben unter anderem an, wie sich in der Nähe des Atomkerns die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen konzentriert, und bestimmen damit die wirkliche Größe des Atoms. Die Beschreibung der Eigenschaften der Atome gelang mit diesen ersten vollständig quantenmechanischen Atommodellen sehr viel besser als mit den Vorläufermodellen. Insbesondere ließen sich auch bei Atomen mit mehreren Elektronen die Spektrallinien und die Struktur der Atomhülle in räumlicher und energetischer Hinsicht darstellen, einschließlich der genauen Möglichkeiten, mit den Atomhüllen anderer Atome gebundene Zustände zu bilden, also die aus der Chemie bekannten stabilen Moleküle. Daher wurde das Bohrsche Atommodell zugunsten des quantenmechanischen Orbitalmodells des Atoms verworfen. Das Orbitalmodell ist bis heute Grundlage und Ausgangspunkt genauer quantenmechanischer Berechnungen fast aller Eigenschaften der Atome. Das Orbitalmodell bei einem Atom mit mehr als einem Elektron ist physikalisch als eine Näherung zu bezeichnen, nämlich als eine Ein-Teilchen-Näherung, die jedem einzelnen Elektron ein bestimmtes Orbital zuschreibt. Ein so gebildeter Zustand des Atoms wird als Konfiguration bezeichnet und gehört in der Quantenmechanik zu der einfachsten Art von Mehrteilchenzuständen. Genauere Modelle berücksichtigen, dass nach den Regeln der Quantenmechanik die Hülle auch in einem Zustand sein kann, der durch Superposition verschiedener Konfigurationen entsteht, wo also mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitsamplituden gleichzeitig verschiedene Elektronenkonfigurationen vorliegen (Konfigurationsmischung). Hiermit werden die genauesten Berechnungen von Energieniveaus und Wechselwirkungen der Atome möglich. Wegen des dazu nötigen mathematischen Aufwands werden jedoch, wo es möglich ist, auch weiterhin einfachere Atommodelle genutzt. Zu nennen ist hier neben dem Schalenmodell unter anderen das Thomas-Fermi-Modell, in dem die Elektronenhülle pauschal wie ein im Potentialtopf gebundenes ideales Elektronengas („Fermigas“) behandelt wird, dessen Dichte wiederum zusammen mit der Kernladung die Form des elektrostatischen Potentialtopfs bestimmt. Aufbau des Atomkerns Zur Entdeckung des Atomkerns und seiner Zusammensetzung aus Protonen und Neutronen siehe den Abschnitt „Teilbarkeit und Aufbau der Atome“ oben. Hier folgen Stichworte zur Erforschung weiterer Eigenschaften der Kerne. Bindungsenergie Die Bindungsenergie der Nukleonen ist Ursache der hohen Energie der Quanten der radioaktiven Strahlung. Sie übersteigt die chemische Bindungsenergie von Molekülen um fünf bis sechs Größenordnungen. Ab 1935 war hierbei erstmals eine grobe Modellvorstellung erfolgreich, das Tröpfchenmodell von C.F. von Weizsäcker und Hans Bethe. Damit wurde für Kerne ab etwa 10 Nukleonen die anfängliche Zunahme der mittleren Bindungsenergie bis etwa durch die wachsende Anzahl erklärt, in der die Nukleonen sich aufgrund der eigentlichen Kernkräfte mit ihren jeweiligen Nachbarn binden, und danach die Abnahme der mittleren Bindungsenergie aufgrund der zunehmenden elektrostatischen Abstoßung, die alle Protonen untereinander betrifft. Kernfusion und Kernspaltung Da das Maximum der mittleren Bindungsenergie bei mittelschweren Kernen liegt, bedeutet es Energiefreisetzung sowohl, wenn sehr leichte Kerne fusionieren, als auch wenn sehr schwere Kerne spalten. Die Fusion von Wasserstoff zu Helium wurde 1938 als Energiequelle der Sterne identifiziert. Die Spaltung nach Neutroneneinfang wurde erstmals 1938 an Urankernen (des Isotops U-235) durch Otto Hahn und Fritz Strassmann nachgewiesen. Danach wurde die Kernforschung erheblich intensiviert und führte 1945 zu den ersten Atombomben, 1952 den Wasserstoffbomben und ab Mitte der 1950er Jahre zur Nutzung der Atomenergie zur Energieversorgung. Schalenmodell und vereinheitlichtes Modell Sehr viel detaillierter als das Tröpfchenmodell ist das 1949 von J.H.D. Jensen und Maria Goeppert-Mayer aufgestellte Schalenmodell der Kerne. Ähnlich wie das Schalenmodell der Atome nimmt es für je ein Nukleon ein bestimmtes Orbital in einem gemeinsamen kugelsymmetrischen Potentialtopf an. Damit kann eine Fülle von Daten über die Grundzustände und angeregten Zustände der Kerne erklärt werden, zum Beispiel ihr Kernspin, ihr magnetisches Dipol- und elektrisches Quadrupolmoment, sowie über ihre Zerfalls- und Reaktionsweisen. Aage Bohr, Ben Mottelson und James Rainwater gelang es Anfang der 1960er Jahre, dies Einzelteilchenmodell mit den Aspekten kollektiver Bewegung zu verbinden, womit auch die Abweichungen von der Kugelgestalt in bestimmten Bereichen der Nukleonenzahlen verständlich wurden. Ursprung der Kernkräfte Die kurzreichweitigen Kernkräfte konnten in den 1970er Jahren auf die Starke Wechselwirkung zwischen Quarks zurückgeführt werden. Aufbau von Proton und Neutron Ab den 1950er Jahren konnten Atome und vor allem die Atomkerne durch die Entwicklung verbesserter Teilchenbeschleuniger und Teilchendetektoren beim Beschuss mit Teilchen sehr hoher Energie untersucht werden. Ende der 1960er Jahre zeigte sich in der „tiefinelastischen Streuung“ von Elektronen an Atomkernen, dass auch Neutronen und Protonen keine unteilbaren Einheiten sind, sondern aus Quarks zusammengesetzt sind. Einige fortgeschrittene Experimente mit Atomen 1951 entwickelte Erwin Müller das Feldionenmikroskop und konnte damit von einer Nadelspitze erstmals ein Abbild erzeugen, das auf direkte Weise so stark vergrößert war, dass einzelne Atome darin sichtbar wurden (wenn auch nur als verschwommene Flecken). 1953 entwickelte Wolfgang Paul die magnetische Ionenfalle (Paulfalle), in der einzelne Ionen gespeichert und mit immer höherer Genauigkeit untersucht werden können. Hier kann ein einzelnes Atom auch durch sein Fluoreszenzlicht direkt visuell sichtbar gemacht und fotografiert werden. 1985 entwickelte eine Arbeitsgruppe um Steven Chu die Laserkühlung, ein Verfahren, die Temperatur einer Ansammlung von Atomen mittels Laser­strahlung stark zu verringern. Im selben Jahr gelang es einer Gruppe um William D. Phillips, neutrale Natriumatome in einer magneto-optischen Falle einzuschließen. Durch Kombination dieser Verfahren mit einer Methode, die den Dopplereffekt nutzt, gelang es einer Arbeitsgruppe um Claude Cohen-Tannoudji, geringe Mengen von Atomen auf Temperaturen von einigen Mikrokelvin zu kühlen. Mit diesem Verfahren können Atome mit höchster Genauigkeit untersucht werden; außerdem ermöglichte es auch die experimentelle Realisierung der Bose-Einstein-Kondensation. Anfang der 1980er Jahre wurde von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer das Rastertunnelmikroskop entwickelt, in dem eine Nadelspitze eine Oberfläche mittels des Tunneleffekts so fein abtastet, dass einzelne Atome sichtbar werden. Damit wurde es auch möglich, Atome einzeln an bestimmte Plätze zu setzen. In den 1990er Jahren konnten Serge Haroche und David Wineland in Experimenten die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon erfolgreich untersuchen. In den 2000er Jahren wurde die Handhabbarkeit einzelner Atome unter anderem genutzt, um einen Transistor aus nur einem Metallatom mit organischen Liganden herzustellen. Seit Ende der 1980er Jahre werden durch Vielfachanregung mit einem Laserimpuls Rydberg-Atome erzeugt. In einem Rydberg-Atom ist ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten sich damit dem eines klassischen Teilchens nähert. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. Klassifizierung Elemente, Isotope, Nuklide Die Unterscheidung und Bezeichnung verschiedener Atomsorten geht zunächst vom Aufbau des Atomkerns aus, während der Zustand der Hülle gegebenenfalls durch zusätzliche Symbole angegeben wird. Kennzahlen sind die Protonenzahl (Ordnungszahl, Kernladungszahl) Z, die Neutronenzahl N des Kerns, und die daraus gebildete Massenzahl A=Z+N. Je nach ihrer Protonenzahl gehören die Atome zu einem der 118 bekannten chemischen Elemente, von Wasserstoff mit Z=1 bis Oganesson mit Z=118. Davon sind 91 in natürlichen Vorkommen entdeckt worden, 27 nur nach künstlicher Herstellung durch Kernreaktionen. Die Ordnung der Elemente wird im Periodensystem – wichtig für die Chemie – graphisch veranschaulicht. Darin werden die Elemente mit aufsteigender Ordnungszahl in Form einer Tabelle angeordnet. Jede Zeile wird als Periode des Periodensystems bezeichnet und endet, wenn das jeweilige Orbital mit Elektronen voll besetzt ist (Edelgas). In den nächsten Zeilen wiederholt sich aufgrund der schrittweisen Elektronenbesetzung der nächsten Orbitale der chemische Charakter der Elemente. So stehen Elemente mit ähnlichen chemischen Eigenschaften in einer Spalte untereinander; sie bilden eine Gruppe des Periodensystems. Atome eines Elements, die sich in der Neutronenzahl unterscheiden, gehören zu verschiedenen Isotopen des Elements. Insgesamt bestehen die 118 Elemente aus etwa 2800 Isotopen, wovon 2500 künstlich erzeugt wurden. Isotope werden nach dem chemischen Element und der Massenzahl bezeichnet. Für die schwereren Wasserstoffisotope gibt es die speziellen Namen „Deuterium“ und „Tritium“. Das Symbol für ein bestimmtes Isotop des Elements hat die Form , oder X-A (Beispiele: , , Pb-208). Die Angabe der Protonenzahl Z ist redundant, da sie schon durch die Ordnungszahl des Elements gegeben ist. Nuklid ist die ganz allgemeine Bezeichnung für Atomarten, unabhängig davon, ob sie zum gleichen Element gehören oder nicht. Die Nuklidkarte oder Isotopenkarte – wichtig für die Kernphysik und ihre Anwendungen – ist eine Tabelle, in der jede Atomart einen eigenen Platz erhält. Dazu wird auf einer Achse die Anzahl der Protonen, auf der anderen die der Neutronen aufgetragen. Häufig wird die Stabilität und bei instabilen Nukliden auch die Art der Umwandlung oder die Größenordnung der Halbwertszeit durch bestimmte Farben und gegebenenfalls auch Teilung des dem Isotop zugewiesenen Platzes dargestellt. Stabile und instabile (radioaktive) Atome Der Atomkern eines Nuklids kann entweder im energetischen Grundzustand oder in einem der verschiedenen Anregungszustände vorliegen. Wenn darunter relativ langlebige, sogenannte metastabile Zustände sind, werden diese als Isomere bezeichnet und als eigene Nuklide gezählt (Symbol , o. ä.). Nach dieser Definition sind mit dem Stand von 2003 insgesamt etwa 3200 Nuklide bekannt. In der Kernphysik werden Nuklide mit unterschiedlichen Protonenzahlen, aber gleicher Massenzahl als Isobare bezeichnet. Seltener werden unter dem Namen Isotone Nuklide mit verschiedenen Protonenzahlen, aber gleicher Neutronenzahl zusammengefasst. Nur etwa 250 Isotope von 80 Elementen haben einen stabilen Kern. Alle anderen Atome sind instabil und wandeln sich über kurz oder lang in Atome eines stabilen Isotops um. Da sie dabei im Allgemeinen ionisierende Strahlung erzeugen, heißen sie auch Radioisotope oder Radionuklide. Auf der Erde wurden in den natürlichen Vorkommen neben allen 250 stabilen Isotopen 30 Radioisotope gefunden, die sich auf 10 radioaktive Elemente verteilen und die natürliche Radioaktivität verursachen. Viele weitere kurzlebige Isotope existieren im Inneren von Sternen, insbesondere während der Supernova-Phase. Seltene und theoretische Formen Als Rydberg-Atom wird ein Atom bezeichnet, in dem ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt ist, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten damit dem eines klassischen Teilchens ähnelt. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. Im teils übertragenen Sinn werden als exotische Atome auch solche Systeme bezeichnet, die in physikalischer Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten zu den gewöhnlichen Atomen aufweisen. In ihnen kann z. B. eines der Protonen, Neutronen oder Elektronen durch ein anderes Teilchen derselben Ladung ersetzt worden sein. Wird etwa ein Elektron durch ein schwereres Myon ersetzt, bildet sich ein myonisches Atom. Als Positronium wird ein exotisches Atom bezeichnet, in dem ein Elektron statt an ein Proton an ein Positron, das ist das positiv geladene Antiteilchen des Elektrons, gebunden ist. Auch Atome, die gänzlich aus Antiteilchen zur normalen Materie aufgebaut sind, sind möglich und für sich allein sogar ebenso stabil wie die entsprechenden „normalen“ Atome. So wurden erstmals 1995 am Genfer CERN Antiwasserstoffatome künstlich hergestellt und nachgewiesen. An solchen exotischen Atomen lassen sich unter anderem fundamentale physikalische Theorien über die Symmetrie zwischen Teilchen und Antiteilchen überprüfen. Des Weiteren wird der Name Atom manchmal auch für Zwei-Teilchen-Systeme verwendet, die nicht durch elektromagnetische Wechselwirkung zusammengehalten werden, sondern durch die starke Wechselwirkung. Bei einem solchen Quarkonium handelt es sich um ein kurzlebiges Elementarteilchen vom Typ Meson, das aus einem Quark und einem Antiquark aufgebaut ist. Ein Quarkonium-Atom lässt sich in seinen verschiedenen metastabilen Zuständen so durch Quantenzahlen klassifizieren wie das Wasserstoffatom. Entstehung Etwa eine Sekunde nach dem Urknall kamen wegen sinkender Temperatur die ständigen Umwandlungen zwischen den Elementarteilchen zur Ruhe, übrig blieben Elektronen, Protonen und Neutronen. In den darauf folgenden drei Minuten verbanden sich in der primordialen Nukleosynthese die vorhandenen Neutronen mit Protonen zu den einfachsten Kernen: Deuterium, Helium, in geringerem Umfang auch Lithium und möglicherweise in noch kleineren Mengen Beryllium und Bor. Die übrigen Protonen (86 Prozent) blieben erhalten. Die ersten neutralen Atome mit dauerhaft gebundenen Elektronen wurden erst 380.000 Jahre nach dem Urknall in der Rekombinationsphase gebildet, als das Universum durch Expansion so weit abgekühlt war, dass die Atome nicht sogleich wieder ionisiert wurden. Die Kerne aller schwereren Atome wurden und werden durch verschiedene Prozesse der Kernfusion erzeugt. Am wichtigsten ist die stellare Nukleosynthese, durch die in Sternen zunächst Helium, anschließend auch die schwereren Elemente bis zum Eisen gebildet werden. Elemente mit höheren Kernladungszahlen als Eisen entstehen in explosionsartigen Vorgängen wie im r-Prozess in Supernovae und im s-Prozess in AGB-Sternen, die kurz vor dem Ende ihrer Lebensdauer sind. Kleine Mengen verschiedener Elemente und Isotope werden auch dadurch gebildet, dass schwere Kerne wieder geteilt werden. Das geschieht durch radioaktive Zerfälle (siehe Zerfallsreihe), die u. a. für einen Teil des Vorkommens von Helium und Blei verantwortlich sind, und Spallationen, die für die Entstehung von Lithium, Beryllium und Bor wichtig sind. Vorkommen und Verteilung Im beobachtbaren Universum liegen die Atome mit einer mittleren Dichte von 0,25 Atome/m³ vor. Nach dem Urknallmodell (Lambda-CDM-Modell) bilden sie etwa 4,9 Prozent der gesamten Energiedichte. Die übrigen 95,1 Prozent, deren Natur noch weitgehend unklar ist, setzen sich aus etwa 27 Prozent dunkler Materie und 68 Prozent dunkler Energie zusammen, sowie kleinen Beiträgen von Neutrinos und elektromagnetischer Strahlung. Im Inneren einer Galaxie wie etwa der Milchstraße ist im interstellaren Medium (ISM) die Dichte der Atome wesentlich höher und liegt zwischen 104 und 1011 Atome/m3. Die Sonne befindet sich in der weitgehend staubfreien lokalen Blase, daher ist die Dichte in der Umgebung des Sonnensystems nur etwa 103 Atome/m3. In festen Himmelskörpern wie der Erde beträgt die Atomdichte etwa 1029 Atome/m3. In der Verteilung der Elemente dominiert im Universum Wasserstoff mit rund drei Viertel der Masse, danach folgt Helium mit etwa einem Viertel. Alle schwereren Elemente sind viel seltener und machen nur einen kleinen Teil der im Universum vorhandenen Atome aus. Ihre Häufigkeiten werden von den verschiedenen Mechanismen der Nukleosynthese bestimmt. Im Sonnensystem sind Wasserstoff und Helium vorwiegend in der Sonne und den Gasplaneten enthalten. Dagegen überwiegen auf der Erde die schweren Elemente. Die häufigsten Elemente sind hier Sauerstoff, Eisen, Silicium und Magnesium. Der Erdkern besteht vorwiegend aus Eisen, während in der Erdkruste Sauerstoff und Silicium vorherrschen. Bestandteile des Atoms Die beiden Hauptbestandteile eines Atoms sind der Atomkern und die Atomhülle. Die Hülle besteht aus Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse des Atoms bei, bestimmt aber dessen Größe und dessen Verhalten gegenüber anderen Atomen, wenn sie einander nahekommen. Der Kern besteht aus Protonen und Neutronen, ist im Durchmesser zehn- bis hunderttausendmal kleiner als die Hülle, enthält aber mehr als 99,9 Prozent der Masse des Atoms. Atomkern Aufbau Die in einem Atom vorhandenen Protonen und Neutronen, zusammen auch als Nukleonen bezeichnet, sind aneinander gebundenen und bilden den Atomkern. Die Nukleonen zählen zu den Hadronen. Das Proton ist positiv geladen, das Neutron ist elektrisch neutral. Proton und Neutron haben einen Durchmesser von etwa 1,6 fm (Femtometer) und sind selber keine Elementarteilchen, sondern nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik aus den punktförmigen Quarks aufgebaut. Jeweils drei Quarks binden sich durch die starke Wechselwirkung, die durch Gluonen vermittelt wird, zu einem Nukleon. Die starke Wechselwirkung ist darüber hinaus für den Zusammenhalt der Nukleonen im Atomkern verantwortlich, insbesondere ist die Anziehung bis zu etwa 2,5 fm Abstand deutlich stärker als die gegenseitige elektrische Abstoßung der Protonen. Unterhalb von etwa 1,6 fm wird die starke Wechselwirkung der Hadronen jedoch stark abstoßend. Anschaulich gesprochen verhalten sich die Nukleonen im Kern also etwa wie harte Kugeln, die aneinander haften. Daher steigt das Volumen des Kerns proportional zur Nukleonenzahl (Massenzahl) . Sein Radius beträgt etwa  fm. Der leichteste Atomkern besteht aus nur einem Proton. Mehrere Protonen stoßen sich zwar gemäß der Elektrostatik ab, können zusammen mit einer geeigneten Anzahl von Neutronen aber ein stabiles System bilden. Doch schon bei kleinen Abweichungen von dem energetisch günstigsten Zahlenverhältnis ist der Kern instabil und wandelt sich spontan um, indem aus einem Neutron ein Proton wird oder umgekehrt und die frei werdende Energie und Ladung als Betastrahlung abgegeben wird. Kerne mit bis zu etwa 20 Protonen sind nur bei einem Verhältnis von nahezu 1:1 von Neutronenzahl und Protonenzahl stabil. Darüber steigt in den stabilen Atomkernen das Verhältnis von 1:1 bis auf etwa 1,5:1, weil bei größeren Protonenzahlen wegen ihrer elektrostatischen Abstoßung die Anzahl der Neutronen schneller anwachsen muss als die der Protonen (Details siehe Tröpfchenmodell). Die Bindungsenergie liegt in stabilen Kernen (abgesehen von den leichtesten) oberhalb von 7 MeV pro Nukleon (siehe Abbildung) und übertrifft damit die Bindungsenergie der äußeren Elektronen der Atomhülle oder die chemische Bindungsenergie in stabilen Molekülen um das ca. 106-fache. Kerne mit bestimmten Nukleonenzahlen, die als Magische Zahl bezeichnet werden, beispielsweise Helium-4, Sauerstoff-16 oder Blei-208, sind besonders stabil, was mit dem Schalenmodell des Atomkerns erklärt werden kann. Oberhalb einer Zahl von 82 Protonen (also jenseits von Blei) sind alle Kerne instabil. Sie wandeln sich durch Ausstoßen eines Kerns He-4 in leichtere Kerne um (Alphastrahlung). Dies wiederholt sich, zusammen mit Betastrahlung, so lange, bis ein stabiler Kern erreicht ist; mehrere Zerfallsstufen bilden eine Zerfallsreihe. Auch zu den Protonenzahlen 43 (Technetium) und 61 (Promethium) existiert kein stabiler Kern. Daher kann es insgesamt nur 80 verschiedene stabile chemische Elemente geben, alle weiteren sind radioaktiv. Sie kommen auf der Erde nur dann natürlich vor, wenn sie selber oder eine ihrer Muttersubstanzen eine genügend lange Halbwertzeit haben. Masse Da der Großteil der Atommasse von den Neutronen und Protonen stammt und diese etwa gleich schwer sind, wird die Gesamtzahl dieser Teilchen in einem Atom als Massenzahl bezeichnet. Die genaue Masse eines Atoms wird oft in der atomaren Masseneinheit u angegeben; ihr Zahlenwert ist dann etwa gleich der Massenzahl. Kleinere Abweichungen entstehen durch den Massendefekt der Atomkerne. Die atomare Masseneinheit ergibt sich aus der Definition der SI-Einheit des Mols in der Art und Weise, dass ein Atom des Kohlenstoffisotops 12C (im Grundzustand inklusive seiner Hüllenelektronen) eine Masse von exakt 12 u besitzt. Damit beträgt 1 u gleich 1,66053904 · 10−27 kg. Ein Atom des leichtesten Wasserstoffisotops hat eine Masse von 1,007825 u. Das schwerste stabile Nuklid ist das Bleiisotop 208Pb mit einer Masse von 207,9766521 u. Da makroskopische Stoffmengen so viele Atome enthalten, dass die Angabe ihrer Anzahl als natürliche Zahl unhandlich wäre, erhielt die Stoffmenge eine eigene Einheit, das Mol. Ein Mol sind etwa 6,022 · 1023 Atome (oder auch Moleküle oder andere Teilchen; die betrachtete Teilchenart muss immer mitgenannt werden). Die Masse von 1 Mol Atomen der Atommasse X u ist daher exakt X g. Daher ist es in der Chemie üblich, Atommassen statt in u auch indirekt in g/mol anzugeben. Bildung und Zerfall In welcher Art ein instabiler Atomkern zerfällt, ist für das jeweilige Radionuklid typisch. Bei manchen Nukliden können die (untereinander völlig gleichen) Kerne auch auf verschiedene Arten zerfallen, so dass mehrere Zerfallskanäle mit bestimmten Anteilen beteiligt sind. Die wichtigsten radioaktiven Zerfälle sind Alpha-Zerfall, bei dem sich aus zwei Protonen und zwei Neutronen des Kerns durch die starke Wechselwirkung ein Helium-Atomkern bildet, der ausgestoßen wird, Beta-Zerfall, bei dem mittels der schwachen Wechselwirkung ein Neutron des Kerns in ein Proton oder umgekehrt umgewandelt wird und ein Elektron und ein Antineutrino beziehungsweise ein Positron und ein Neutrino erzeugt und ausgesendet werden, Gamma-Zerfall, bei dem ein angeregter Kern durch elektromagnetische Wechselwirkung Gammastrahlung erzeugt und in ein niedrigeres Energieniveau gelangt, bei gleichbleibender Protonen- und Neutronenzahl. Die Energien der Strahlungen sind für das jeweilige Nuklid charakteristisch, ebenso wie die Halbwertszeit, die angibt, wie lange es dauert, bis die Hälfte einer Probe des Nuklids zerfallen ist. Durch Anlagerung eines Neutrons kann sich ein Kern in das nächstschwerere Isotop desselben Elements verwandeln. Durch den Beschuss mit Neutronen oder anderen Atomkernen kann ein großer Atomkern in mehrere kleinere Kerne gespalten werden. Einige schwere Nuklide können sich auch ohne äußere Einwirkung spontan spalten. Größere Atomkerne können aus kleineren Kernen gebildet werden. Dieser Vorgang wird Kernfusion genannt. Für eine Fusion müssen sich Atomkerne sehr nahekommen. Diesem Annähern steht die elektrostatische Abstoßung beider Kerne, der sogenannte Coulombwall, entgegen. Aus diesem Grund ist eine Kernfusion (außer in bestimmten Experimenten) nur unter sehr hohen Temperaturen von mehreren Millionen Grad und hohen Drücken, wie sie im Inneren von Sternen herrschen, möglich. Die Kernfusion ist bei Nukliden bis zum Nickel-62 eine exotherme Reaktion, so dass sie im Großen selbsterhaltend ablaufen kann. Sie ist die Energiequelle der Sterne. Bei Atomkernen jenseits des Nickels nimmt die Bindungsenergie pro Nukleon ab; die Fusion schwererer Atomkerne ist daher endotherm und damit kein selbsterhaltender Prozess. Die Kernfusion in Sternen kommt daher zum Erliegen, wenn die leichten Atomkerne aufgebraucht sind. Atomhülle Aufbau und Bindungsenergie Die Atomhülle besteht aus Elektronen, die aufgrund ihrer negativen Ladung an den positiven Atomkern gebunden sind. Sie wird oft auch als Elektronenhülle bezeichnet. Bei einem neutralen Atom mit Elektronen beträgt die durchschnittliche Bindungsenergie je Elektron etwa . Sie nimmt daher mit steigender Teilchenzahl erheblich zu, im Gegensatz zur durchschnittlichen Bindungsenergie pro Nukleon im Kern, die ab der Massenzahl sogar abnimmt. Zur Erklärung wird angeführt, dass zwischen Nukleonen nur Bindungskräfte kurzer Reichweite wirken, die kaum über die benachbarten Teilchen hinausreichen, während die Hülle durch die elektrostatische Anziehungskraft gebunden ist, die vom -fach geladenen Kern aus alle Elektronen erfasst. Abgesehen von der Masse, die zu über 99,95 Prozent im Atomkern konzentriert ist, ist die Atomhülle für praktisch alle äußeren Eigenschaften des Atoms verantwortlich. Der Begriff Atommodell bezieht sich daher im engeren Sinn meist nur auf die Hülle (siehe Liste der Atommodelle). Ein einfaches Atommodell ist das Schalenmodell, nach dem die Elektronen sich in bestimmten Schalen um den Kern anordnen, in denen jeweils für eine bestimmte Anzahl Elektronen Platz ist. Allerdings haben diese Schalen weder einen bestimmten Radius noch eine bestimmte Dicke, sondern überlappen und durchdringen einander teilweise. Besser getrennt sind sie auf der Skala der Bindungsenergie der Elektronen. Interpretation grundlegender Atomeigenschaften im Rahmen des Schalenmodells Die Atomhülle bestimmt die Stärke und Abstandsabhängigkeit der Kräfte zwischen zwei Atomen. Im Abstandsbereich mehrerer Atomdurchmesser polarisieren sich die gesamten Atomhüllen wechselseitig, sodass durch elektrostatische Anziehung anziehende Kräfte, die Van-der-Waals-Kräfte, entstehen. Sie bewirken vor allem die Kondensation der Gase zu Flüssigkeiten, also einen Wechsel der Aggregatzustände. Die (näherungsweise) Inkompressibilität der Flüssigkeiten und Festkörper hingegen beruht darauf, dass alle Atome bei starker Annäherung einander stark abstoßen, sobald sich ihre Hüllen im Raum merklich überschneiden und daher verformen müssen. Außer im Fall zweier Wasserstoff­atome, die jeweils nur ein Elektron in der Hülle haben, spielt die elektrostatische Abstoßung der beiden Atomkerne dabei nur eine geringe Rolle. In einem mittleren Abstandsbereich zwischen dem Vorherrschen der schwach anziehenden Van-der-Waals-Kräfte und der starken Abstoßung kommt es zwischen zwei oder mehr zueinander passenden Atomhüllen zu einer besonders starken Anziehung, der chemischen Bindung. Bei Atomen bestimmter Elemente kann diese Anziehung zu einem stabilen Molekül führen, das aus Atomen in zahlenmäßig genau festgelegter Beteiligung und räumlicher Anordnung aufgebaut ist. Die Moleküle sind die kleinsten Stoffeinheiten der chemischen Verbindungen, also der homogenen Materialien in all ihrer Vielfalt. Vermittelt über die Hüllen ihrer Atome ziehen auch Moleküle einander an. Ein fester Körper entsteht, wenn viele Moleküle sich aneinander binden und dabei, weil es energetisch günstig ist, eine feste Anordnung einhalten. Ist diese Anordnung regelmäßig, bildet sich ein Kristallgitter. Infolge dieser Bindung ist der feste Körper nicht nur weitgehend inkompressibel wie eine Flüssigkeit, sondern im Unterschied zu dieser auch auf Zug belastbar und deutlich weniger leicht verformbar. Verbinden sich Atome metallischer Elemente miteinander, ist ihre Anzahl nicht festgelegt und es können sich nach Größe und Gestalt beliebige Körper bilden. Vor allem chemisch reine Metalle zeigen dann meist auch eine große Verformbarkeit. Verbindungen verschiedener Metalle werden Legierung genannt. Die Art der Bindung von Metallatomen erklärt, warum Elektronen sich fast frei durch das Kristallgitter bewegen können, was die große elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit der Metalle verursacht. Zusammengefasst ergeben sich aus der Wechselwirkung der Atomhüllen miteinander die mechanische Stabilität und viele weitere Eigenschaften der makroskopischen Materialien. Aufgrund des unscharfen Randes der Atomhülle liegt die Größe der Atome nicht eindeutig fest. Die als Atomradien tabellierten Werte sind aus der Bindungslänge gewonnen, das ist der energetisch günstigste Abstand zwischen den Atomkernen in einer chemischen Bindung. Insgesamt zeigt sich mit steigender Ordnungszahl eine in etwa periodische Variation der Atomgröße, die mit der periodischen Variation des chemischen Verhaltens gut übereinstimmt. Im Periodensystem der Elemente gilt allgemein, dass innerhalb einer Periode, also einer Zeile des Systems, eine bestimmte Schale aufgefüllt wird. Von links nach rechts nimmt die Größe der Atome dabei ab, weil die Kernladung anwächst und daher alle Schalen stärker angezogen werden. Wenn eine bestimmte Schale mit den stark gebundenen Elektronen gefüllt ist, gehört das Atom zu den Edelgasen. Mit dem nächsten Elektron beginnt die Besetzung der Schale mit nächstkleinerer Bindungsenergie, was mit einem größeren Radius verbunden ist. Innerhalb einer Gruppe, also einer Spalte des Periodensystems, nimmt die Größe daher von oben nach unten zu. Dementsprechend ist das kleinste Atom das Heliumatom am Ende der ersten Periode mit einem Radius von 32 pm, während eines der größten Atome das Caesium­atom ist, das erste Atom der 5. Periode. Es hat einen Radius von 225 pm. Erklärung der Atomeigenschaften im Rahmen des Orbitalmodells Die dem Schalenmodell zugrundeliegenden Elektronenschalen ergeben sich durch die Quantisierung der Elektronenenergien im Kraftfeld des Atomkerns nach den Regeln der Quantenmechanik. Um den Kern herum bilden sich verschiedene Atomorbitale, das sind unscharf begrenzte Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche räumliche Zustände der Elektronen. Jedes Orbital kann aufgrund des Pauli-Prinzips mit maximal zwei Elektronen besetzt werden, dem Elektronenpaar. Die Orbitale, die unter Vernachlässigung der gegenseitigen Abstoßung der Elektronen und der Feinstruktur theoretisch die gleiche Energie hätten, bilden eine Schale. Die Schalen werden mit der Hauptquantenzahl durchnummeriert oder fortlaufend mit den Buchstaben K, L, M,… bezeichnet. Genauere Messungen zeigen, dass ab der zweiten Schale nicht alle Elektronen einer Schale die gleiche Energie besitzen. Falls erforderlich, wird durch die Nebenquantenzahl oder Drehimpulsquantenzahl eine bestimmte Unterschale identifiziert. Sind die Orbitale, angefangen vom energetisch niedrigsten, so weit mit Elektronen besetzt, dass die gesamte Elektronenzahl gleich der Protonenzahl des Kerns ist, ist das Atom neutral und befindet sich im Grundzustand. Werden in einem Atom ein oder mehrere Elektronen in energetisch höherliegende Orbitale versetzt, ist das Atom in einem angeregten Zustand. Die Energien der angeregten Zustände haben für jedes Atom wohlbestimmte Werte, die sein Termschema bilden. Ein angeregtes Atom kann seine Überschussenergie abgeben durch Stöße mit anderen Atomen, durch Emission eines der Elektronen (Auger-Effekt) oder durch Emission eines Photons, also durch Erzeugung von Licht oder Röntgenstrahlung. Bei sehr hoher Temperatur oder in Gasentladungen können die Atome durch Stöße Elektronen verlieren (siehe Ionisationsenergie), es entsteht ein Plasma, so z. B. in einer heißen Flamme oder in einem Stern. Da die Energien der Quanten der emittierten Strahlung je nach Atom bzw. Molekül und den beteiligten Zuständen verschieden sind, lässt sich durch Spektroskopie dieser Strahlung die Quelle im Allgemeinen eindeutig identifizieren. Beispielsweise zeigen die einzelnen Atome ihr elementspezifisches optisches Linienspektrum. Bekannt ist etwa die Natrium-D-Linie, eine Doppellinie im gelben Spektralbereich bei 588,99 nm und 589,59 nm, die auch in nebenstehender Abbildung mit D-1 bezeichnet wird. Ihr Aufleuchten zeigt die Anwesenheit von angeregten Natrium-Atomen an, sei es auf der Sonne oder über der Herdflamme bei Anwesenheit von Natrium oder seinen Salzen. Da diese Strahlung einem Atom auch durch Absorption dieselbe Energie zuführen kann, lassen sich die Spektrallinien der Elemente sowohl in Absorptions- als auch in Emissionsspektren beobachten. Diese Spektrallinien lassen sich auch verwenden, um Frequenzen sehr präzise zu vermessen, beispielsweise für Atomuhren. Obwohl Elektronen sich untereinander elektrostatisch abstoßen, können in einem neutralen Atom zusätzlich bis zu zwei weitere Elektronen gebunden werden, wenn es bei der höchsten vorkommenden Elektronenenergie noch Orbitale mit weiteren freien Plätzen gibt (siehe Elektronenaffinität). Chemische Reaktionen, d. h. die Verbindung mehrerer Atome zu einem Molekül oder sehr vieler Atome zu einem Festkörper, werden dadurch erklärt, dass ein oder zwei Elektronen aus einem der äußeren Orbitale eines Atoms (Valenzelektronen) unter Energiegewinn auf einen freien Platz in einem Orbital eines benachbarten Atoms ganz hinüberwechseln (Ionenbindung) oder sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dort aufhalten (kovalente Bindung durch ein bindendes Elektronenpaar). Dabei bestimmt die Elektronegativität der Elemente, bei welchem Atom sich die Elektronen wahrscheinlicher aufhalten. In der Regel werden chemische Bindungen so gebildet, dass die Atome die Elektronenkonfiguration eines Edelgases erhalten (Edelgasregel). Für das chemische Verhalten des Atoms sind also Form und Besetzung seiner Orbitale entscheidend. Da diese allein von der Protonenzahl bestimmt werden, zeigen alle Atome mit gleicher Protonenzahl, also die Isotope eines Elements, nahezu das gleiche chemische Verhalten. Nähern sich zwei Atome über die chemische Bindung hinaus noch stärker an, müssen die Elektronen eines Atoms wegen des Pauli-Prinzips auf freie, aber energetisch ungünstige Orbitale des anderen Atoms ausweichen, was einen erhöhten Energiebedarf und damit eine abstoßende Kraft nach sich zieht. Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle Mit großer Genauigkeit wird die Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle schon durch den einfachen Ansatz beschrieben, in dem der Kern eine punktförmige Quelle eines elektrostatischen Felds nach dem Coulomb-Gesetz darstellt. Alle genannten Atommodelle beruhen hierauf. Aufgrund zusätzlicher Effekte, die in erweiterten Modellen behandelt werden, sind nur extrem kleine Korrekturen nötig, die unter dem Namen Hyperfeinstruktur zusammengefasst werden. Zu berücksichtigen sind hier drei Effekte: erstens die endliche Ausdehnung, die jeder Kern besitzt, zweitens eine magnetische Dipolwechselwirkung, wenn sowohl Kern als auch Hülle eine Drehimpulsquantenzahl von mindestens ½ haben, und drittens eine elektrische Quadrupolwechselwirkung, wenn beide Drehimpulsquantenzahlen mindestens 1 sind. Die endliche Ausdehnung des Kerns – verglichen mit einer theoretischen Punktladung – bewirkt eine schwächere Anziehung derjenigen Elektronen, deren Aufenthaltswahrscheinlichkeit bis in den Kern hineinreicht. Betroffen sind nur s-Orbitale (Bahndrehimpuls Null). Bei Atomen mittlerer Ordnungszahl liegt die Korrektur der Bindungsenergie in der Größenordnung von 1 Prozent. Die magnetischen Dipol- bzw. elektrischen Quadrupol-Momente von Hülle und Kern bewirken eine Kopplung mit der Folge, dass die Gesamtenergie eines freien Atoms je nach Quantenzahl seines Gesamtdrehimpulses äußerst geringfügig aufgespalten ist. Im H-Atom beträgt die Aufspaltung etwa ein Millionstel der Bindungsenergie des Elektrons (siehe 21-cm-Linie). Anschaulich gesprochen hängt die Energie davon ab, in welchem Winkel die Achsen der beiden magnetischen Dipolmomente bzw. elektrischen Quadrupolmomente von Kern und Hülle zueinander stehen. Auch bei Atomen in Flüssigkeiten und Festkörpern machen sich diese Wechselwirkungen in entsprechend modifizierter Form bemerkbar. Trotz der Kleinheit der dadurch verursachten Effekte haben sie eine große Rolle in der Atom- und Kernforschung gespielt und sind in besonderen Fällen auch bei modernen Anwendungen wichtig. Beobachtung Indirekte Beobachtung Indirekte Möglichkeiten, Atome zu erkennen, beruhen auf der Beobachtung der von ihnen ausgehenden Strahlung. So kann aus Atomspektren beispielsweise die Elementzusammensetzung entfernter Sterne bestimmt werden. Die verschiedenen Elemente lassen sich durch charakteristische Spektrallinien identifizieren, die auf Emission oder Absorption durch Atome des entsprechenden Elements in der Sternatmosphäre zurückgehen. Gasentladungslampen, die dasselbe Element enthalten, zeigen diese Linien als Emissionslinien. Auf diese Weise wurde z. B. 1868 Helium im Spektrum der Sonne nachgewiesen – über 10 Jahre, bevor es auf der Erde entdeckt wurde. Ein Atom kann ionisiert werden, indem eines seiner Elektronen entfernt wird. Die elektrische Ladung sorgt dafür, dass die Flugbahn eines Ions von einem Magnetfeld abgelenkt wird. Dabei werden leichte Ionen stärker abgelenkt als schwere. Das Massenspektrometer nutzt dieses Prinzip, um das Masse-zu-Ladung-Verhältnis von Ionen und damit die Atommassen zu bestimmen. Die Elektronenenergieverlustspektroskopie misst den Energieverlust eines Elektronenstrahls bei der Wechselwirkung mit einer Probe in einem Transmissionselektronenmikroskop. Beobachtung einzelner Atome Eine direkte Abbildung, die einzelne Atome erkennen lässt, wurde erstmals 1951 mit dem Feldionenmikroskop (oder Feldemissionsmikroskop) erzielt. Auf einem kugelförmigen Bildschirm, in dessen Mittelpunkt sich eine extrem feine Nadelspitze befindet, erscheint ein etwa millionenfach vergrößertes Bild. Darin sind die obersten Atome, die die Spitze bilden, nebeneinander als einzelne Lichtpunkte zu erkennen. Dies kann heute auch im Physikunterricht an der Schule vorgeführt werden. Das Bild entsteht in Echtzeit und erlaubt z. B. die Betrachtung der Wärmebewegung einzelner Fremdatome auf der Spitze. Auch das Rastertunnelmikroskop ist ein Gerät, das einzelne Atome an der Oberfläche eines Körpers sichtbar macht. Es verwendet den Tunneleffekt, der es Teilchen erlaubt, eine Energiebarriere zu passieren, die sie nach klassischer Physik nicht überwinden könnten. Bei diesem Gerät tunneln Elektronen durch einen nur Nanometer breiten Spalt zwischen einer elektrisch leitenden Spitze und der elektrisch leitenden Probe. Bei Seitwärtsbewegungen zur Abrasterung der Probe wird die Höhe der Spitze so nachgeregelt, dass immer derselbe Strom fließt. Die Bewegung der Spitze bildet die Topographie und Elektronenstruktur der Probenoberfläche ab. Da der Tunnelstrom sehr stark vom Abstand abhängt, ist die laterale Auflösung viel feiner als der Radius der Spitze, manchmal atomar. Eine tomographische Atomsonde erstellt ein dreidimensionales Bild mit einer Auflösung unterhalb eines Nanometers und kann einzelne Atome ihrem chemischen Element zuordnen. Aufbauend auf einer um 2010 entwickelten Atom-Licht-Schnittstelle ist es 2020 gelungen, Fotos einzelner Atome zu machen, die weniger als einen Tausendstel Millimeter über einer lichtleitenden Glasfaser schweben. Dadurch ist es unter Laborbedingungen nun möglich, Effekte wie die Absorption und Aussendung von Licht kontrollierter als bisher zu untersuchen. Dies kann bei der Entwicklung neuartiger optischer Glasfaser-Netzwerke helfen. Literatur Weblinks HydrogenLab: Wie sieht ein Atom aus? Übersicht über die verschiedenen Atommodelle Geschichtlicher Überblick zum Atombegriff aus naturphilosophischer Perspektive von Brigitte Falkenburg im Online-Lexikon naturphilosophischer Grundbegriffe. Einzelnachweise Atomphysik Physikalische Chemie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Isar
Isar
Die Isar ist ein für Wasserfahrzeuge über Floßgröße nicht schiffbarer Fluss in Tirol (Österreich) und Bayern (Deutschland), der nach einem 292 km langen Lauf südlich von Deggendorf von rechts in die Donau mündet. Sie entspringt in den Alpen im Tiroler Teil des Karwendels im Hinterautal, wechselt nach etwa 22 km unterhalb von Scharnitz über die Staatsgrenze nach Bayern, wo sie noch in den Alpen erst durch Mittenwald, dann durch Krün, Wallgau und im sogenannten Isarwinkel durch Lenggries und Gaißach fließt. Das Alpenvorland erreicht sie am Beginn des Mittellaufs bei Bad Tölz, an ihm folgen dann die Städte Geretsried, Wolfratshausen, München, Freising und Moosburg. Der Unterlauf fließt durch Landshut, Dingolfing, Landau an der Isar sowie Plattling. Fünf Kilometer südlich von Deggendorf mündet die Isar in die Donau. Die frühere Ausprägung als typischer Gebirgs- und Voralpenfluss mit breitem, sich ständig verlagerndem Flussbett, ausgedehnten Schotterbänken und verzweigten Flussarmen weist sie nur noch in einzelnen Bereichen des Oberlaufs auf. Nach der Donau, dem Inn und dem Main ist die Isar mit ihrem größtenteils in Bayern liegenden Einzugsgebiet von 8964,57 km² der viertgrößte Fluss dieses Bundeslandes. Der wichtigste Nebenfluss ist die in Moosburg zufließende Amper, gefolgt von der in Wolfratshausen mündenden Loisach. Etymologie Nach derzeitigem Forschungsstand ist der Name des Flusses auf die hypothetische indogermanische Wurzel *es oder *is mit der Bedeutung „(fließendes) Wasser“ zurückzuführen, die sich in heutigen Sprachen auf den festen Aggregatzustand des Wassers („Eis“) verengt hat. Ersturkundlich wird der Fluss im Jahr 763 als Isura im Traditionsbuch des Hochstifts Freising genannt. Von dieser Wurzel leiten sich eine Reihe weiterer Flussnamen ab: Jizera oder Iser (Tschechien), Izera (Polen) Isère (Frankreich) Isère, Oise, früher Isara (Frankreich) Isel (Österreich) IJssel (Niederlande) Yser (französisch), IJzer (niederländisch) (Belgien) Eisack (ital.: Isarco) (Südtirol, Italien) Isen (Bayern, Deutschland) Eis (Rheinland-Pfalz, Deutschland) Auch die Bezeichnung Ister für den unteren Flussabschnitt der Donau hat vermutlich den gleichen Ursprung. Das die gleiche Wurzel enthaltende „Eisach“ („Wasserlauf“) als Name mehrerer Gebirgsbäche im Alpenraum muss sich nicht notwendigerweise auf „eiskaltes“ Wasser beziehen. Die Interpretation Hans Bahlows, dass sich das Wort Isar von es, as oder os ableiten lasse und damit als „Sumpfwasser“ zu interpretieren sei, ist in Fachkreisen höchst umstritten, da es sich bei den Namensträgern um fließende Gewässer handelt. Als veraltet gilt jedenfalls die Deutung, wonach sich der Name Isar aus den keltischen Worten ys (schnell, reißend) und ura (Wasser, Fluss) zusammensetzt. Nach einer anderen Interpretation soll ys gleichzeitig für hoch und tief stehen und damit die Vertikale bezeichnen. Geografie Die Isar entwässert einen großen Teil der Bayerischen Alpen sowie Teile des Karwendels nach Norden zur Donau und damit letztlich zum Schwarzen Meer hin. Insgesamt umfasst das Einzugsgebiet nicht ganz 9.000 km². Da der Niederschlag im Winter vor allem in den Alpen zumeist als Schnee fällt, führt die Isar während der Schneeschmelze im Frühsommer besonders viel Wasser. Mit einem mittleren Abfluss von rund 176 m³/s ist sie mit mittelgroßen deutschen Flüssen wie dem Main (211 m³/s) vergleichbar. Verlauf der Ur-Isar Die Isar ist ein Schmelzwasserausfluss des Isar-Loisach-Gletschers der Würm-Kaltzeit. Ein kaltzeitlicher Fließweg dieser „Ur-Isar“ verlief ab Gaißach südlich von Bad Tölz nach Nordosten in Richtung Holzkirchen. Zunächst folgte sie dann einer ungefähren Linie Holzkirchen – Helfendorf – Aßling bis Wasserburg am Inn, wo sie in den „Ur-Inn“ mündete. Später wandte sie sich nach Norden, folgte etwa der Linie Holzkirchen – Egmating – Markt Schwaben – Erding und traf bei Moosburg nördlich von München auf die Loisach. Der genaue Verlauf der Ur-Isar ist aber unsicher. In römischer Zeit mündete die Isar in die Donau bei der Ortschaft Moos am östlichen Rand des holozänen Mündungsfächers, wo auch ein römisches Kastell im Umfeld des früheren Flussübergangs angelegt wurde. Der ehemalige Verlauf der Isar kann mittelbar anhand der durch fluviatile Erosion geschaffenen Lücken der donauparallelen Römerstraße von Regensburg nach Passau nachvollzogen werden (siehe Bayernatlas). Die Ortsnamen Isarau und Kurzenisarhofen erinnern daran, dass auch nach der bajuwarischen Ortsnamenbezeichnung die Isar eher am Ostrand des Mündungsfachers entlangfloss. Eine Verlagerung nach Westen im Mündungsbereich im Verlaufe des Mittelalters kann auch durch die Verlegung von Plattling nach einem Hochwasser um 1379 an das neue linke Flussufer nachvollzogen werden. Die romanische Kirche St. Jakob markiert das ehemals weiter östlich gelegene Ortszentrum von Plattling. Vor 15.000 Jahren kam es in Bad Tölz zu einem Durchbruch durch einen Molasse-Riegel, wobei sich dort die Isar ihre heutige Fließrichtung nach Norden schuf. Sie floss am Ende der Würmeiszeit in den Wolfratshausener See, den sie zum Verlanden brachte. Quellflüsse Die offiziell als Isar-Ursprung bezeichneten Quellen bzw. Bäche befinden sich im Hinterautal zwischen den beiden mittleren Karwendelketten, der Gleirsch-Halltal-Kette im Süden und der Hinterautal-Vomper-Kette im Norden, auf Der Lafatscher Bach entspringt als längster Quellbach der Isar etwa fünf Kilometer südöstlich beim Hallerangerhaus im Gemeindegebiet von Absam. Die wird daher ebenfalls als Isarquelle bezeichnet. Die Längenangabe der Isar von 292,26 Kilometern bezieht sich auf diese Quelle. Verlauf und Nebenflüsse Innerhalb des Karwendels fließt die Isar nach Westen. Wenige Kilometer, bevor sie am Westrand des Gebirges den Ort Scharnitz erreicht, münden der Gleirschbach und der Karwendelbach ein und der Fluss wendet sich nach Norden und passiert die Talenge der Scharnitzer Klause sowie die österreichisch-deutsche Grenze. Am südlichen Ortsrand von Mittenwald mündet von Westen auf der Südseite des Wettersteingebirges die Leutascher Ache ein, die bis zu dieser Stelle fast ebenso lang wie der Lauf der Isar ist. Zwischen Mittenwald und Krün wird die Isar am Stauwehr Krün erstmals gestaut, ihr Wasser hier größtenteils abgezweigt und durch die Isarüberleitung dem Kraftwerk Obernach am Walchensee zugeführt. Bei Wallgau wendet sich der Flusslauf nach Osten in den Isarwinkel, wo als Zuflüsse aus dem Karwendel die Dürrach und der Walchen, der als Ache natürlicher Abfluss des Achensees ist und zusammen mit diesem die östliche Begrenzung des Karwendelgebirges bildet, einmünden. Dürrach und Walchen erreichen den Fluss heutzutage im Sylvensteinspeicher, der 1955 bis 1959 zum Zweck von Hochwasserschutz und Energiegewinnung angelegt wurde. Das Wasser des aus dem Rißtal kommenden Rißbachs wird bei der Oswaldhütte () an der Straße Vorderriß (Bayern) – Hinterriß (Tirol) gestaut und in den insgesamt fast sieben Kilometer langen Rißbachstollen eingeleitet, in welchem das Wasser dem Kraftwerk Niedernach zugeführt wird. Ab dem Sylvensteinspeicher fließt die Isar in nördlicher Richtung durch die Bayerischen Voralpen und ab Bad Tölz durch die würmzeitliche Moränenlandschaft des Alpenvorlandes bis in die Münchner Schotterebene. Zwischen Sylvensteinsee und Lenggries erreichen von links die Jachen und in Gaißach von rechts die Große Gaißach die Isar. Der Abfluss des Walchensees, dessen Wasser heute zu annähernd 100 % durch das Walchenseekraftwerk in den Kochelsee gelangt, ist damit die Loisach. Diese fließt von Lermoos in Tirol entlang der Nordseite des Wettersteingebirges nach Garmisch, dann durch den Kochelsee und mündet schließlich bei Wolfratshausen in die Isar. In München wird wieder Wasser von der Isar in den Mittleren-Isar-Kanal abgezweigt. Er führt rechts der Isar durch das Erdinger Moos und speist sieben Wasserkraftwerke, bevor er hinter Moosburg wieder in die Isar mündet. Bei Freising erreicht die Isar den Nordrand der Schotterebene und fließt vor diesem nach Osten. Hier führt ihr die Dorfen Wasser aus dem Erdinger Moos zu. Nahe der Nordoststrecke der Ebene mündet vor Moosburg von rechts die Sempt. Hinter Moosburg mündet von links der größte Nebenfluss, die Amper, die als Ammer nahe der österreichischen Grenze südwestlich von Schloss Linderhof entspringt und erst nach Durchfließen des Ammersees den Namen Amper führt. Von Moosburg fließt die Isar in einem Urstromtal durch das von der Tertiärzeit geprägte Unterbayerische Hügelland nordostwärts zum Donautal. Nach insgesamt 292,26 Flusskilometern, davon 270,36 km in Deutschland, mündet die Isar, die ein mittleres Sohlgefälle von 2,9 ‰ aufweist, südöstlich von Deggendorf auf 312 m über Normalnull, also ungefähr 848 Höhenmeter unterhalb ihrer Quelle, in der Gemeinde Moos in die Donau. Inseln Die meisten kleinen Inseln und Kiesbänke der Isar werden durch die jährlichen Hochwasser immer wieder in Umfang und Form verändert. Einige Inseln im unmittelbaren Bereich von größeren Städten wurden im 19. Jahrhundert verbaut und so gegen Abtrag gesichert: die Museumsinsel und die Praterinsel in München sowie die Hammerinsel, die Mühleninsel und das Mitterwöhr in Landshut. Geschichte Die Isar wurde vermutlich schon in vorgeschichtlicher Zeit als Handelsweg genutzt, um Waren aus dem Bereich der Alpen und aus Italien mit Hilfe von Flößen zur Donau zu transportieren. Eine schon bestehende Handelsstraße aus dem Inntal über den Seefelder Sattel ins nördliche Alpenvorland wurde von den Römern ab 195 n. Chr. zur Via Raetia ausgebaut. Der Markt Mittenwald an der Isar konnte sich so von einem römischen Posten zu einem wichtigen Umschlagplatz für Handelswaren im Werdenfelser Land entwickeln. Brücken über die Isar sind erst seit dem Mittelalter nachgewiesen. Die Städte München und Landshut wurden im Mittelalter im Zusammenhang mit Brückenbauten über die Isar gegründet, dabei ging es immer auch um Lenkung von Handelswegen und damit die Erringung von Macht und wirtschaftlichem Einfluss. Der weitere Ausbau der Städte erzeugte eine stete Nachfrage nach Holz und Kalk, die zu einem Aufschwung der Flößerei (vor allem im Oberland) führte. Seit dem 17. Jahrhundert wurden auch Waren wie Südfrüchte, Gewürze, Baumwolle und Seide vom Bozener Markt bzw. dem Venezianischen Markt in Mittenwald über die Isar bis nach Wien und Budapest transportiert. Auf dem Höhepunkt der Flößerei im 19. Jahrhundert landeten in München über 8.000 Flöße pro Jahr an. Seit dem Mittelalter wurden unter anderem Wassermühlen durch die Wasserkraft der Isar angetrieben, die einen gleichmäßigen Wasserstand brauchten. Deshalb wurde in München und in Niederbayern (Klötzlmühlbach und Längenmühlbach) Wasser aus dem Fluss in kleinere Mühlkanäle abgeleitet. Die Münchner Stadtbäche dienten als Kanäle zugleich der Versorgung der Bevölkerung mit Brauchwasser und speisten die Gräben vor den mittelalterlichen Stadtmauern. Während der jährlichen Hochwasser kam es immer wieder zu Überschwemmungen und Unglücksfällen in den anliegenden Städten und Gemeinden. So stürzte 1813 in München ein Vorgängerbau der heutigen Ludwigsbrücke ein und brachte so über 100 auf der Brücke stehenden Schaulustigen den Tod; beim Hochwasser 1899 stürzten ebenfalls in München die Luitpoldbrücke und die Max-Joseph-Brücke ein. Seit 1806, in Niederbayern seit etwa 1900, begann man die Ufer zu befestigen und den Fluss zu kanalisieren, damit dieser sich tiefer in sein Bett eingrub und danach seltener übers Ufer trat. Weitere umfangreiche, regulierende Maßnahmen wurden seit den 1920er Jahren durchgeführt, um aus Wasserkraft elektrische Energie zu erzeugen. Mit dem Bau des Walchenseekraftwerks im Jahr 1924 wurde massiv in den natürlichen Oberlauf der Isar eingegriffen. Seitdem leitet das Stauwehr Krün fast vollständig das Isarwasser zum Walchensee um. 1951 verlor die Isar zusätzlich auch fast vollständig das Wasser des Rißbachs, welches seitdem ebenfalls zum Walchensee weitergeleitet wird. Weiteres Wasser verlor der Oberlauf der Isar mit dem Bau des Achenseekraftwerks 1927 – der Achensee entwässert nun primär nicht mehr über die Seeache/Walchen und Isar, sondern nach Süden über den Inn. Dem Achenseekraftwerk wird seit den 1950er Jahren Wasser aus der Dürrach zugeleitet, was einen weiteren Wasserverlust der Isar bedeutete. Die Isar wurde deshalb im oberen Teil immer mehr zur Flussleiche, so dass es einer dringenden Besserung der Situation bedurfte. Deshalb wurde schließlich mit dem damals höchst umstrittenen Bau des Sylvensteinspeichers (Fertigstellung 1959) begonnen, um einen konstanteren Wasserspiegel der Isar zu erreichen. Der zusätzlich gewährleistete Hochwasserschutz war hingegen nur ein sekundäres Ziel. In Landshut wurde 1955 die Flutmulde Landshut fertiggestellt, die bei Hochwasser einen Teil des Wassers aufnimmt. Weitere Wasserkraftwerke mit Staustufen entstanden bis in die 1980er Jahre, etwa 1984 das Wasserkraftwerk Landau. In jüngster Zeit erst versucht man durch verschiedene Maßnahmen der Isar zumindest in Teilbereichen ihren ursprünglichen Wildflusscharakter zurückzugeben. Etwa durch den Isar-Plan in München sowie die Renaturierung der Isarufer bei Landau und seit 2016 bei Dingolfing. Am Unterlauf der Isar zwischen Moosburg und Plattling wurde vor allem im 16. und 17. Jahrhundert Gold aus den Flussablagerungen gewaschen. Davon zeugen noch Ortsnamen wie Golding (Gemeinde Gottfrieding) und Goldern (Gemeinde Niederaichbach). Die dabei gewonnenen Mengen an Edelmetall waren jedoch gering und wirtschaftlich nicht von großer Bedeutung. Das Gold wurde hauptsächlich zur Ausprägung von Flussgolddukaten verwendet. Sie sind durch die Umschrift EX AURO ISARE (= aus dem Gold der Isar) erkennbar. Auf der Isar wurde der moderne Kanusport begründet. Alfred Heurich befuhr 1905 die Isar zwischen Bad Tölz und München mit seinem selbstgebauten Faltboot in Form eines Kajaks zum ersten Mal. Schnell wurde diese Sportart in ganz Europa populär. Natur- und Umweltschutz Seit den 1920er Jahren wird das Wasser der Isar zur Erzeugung elektrischer Energie genutzt, mit weitreichenden Folgen nicht nur für die einheimische Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch für den Menschen. Um die insgesamt 28 Kraftwerke mit der notwendigen Wasserkraft zu versorgen, wird das Flusswasser mehrfach abgeleitet, kanalisiert und aufgestaut. So wurde beispielsweise nördlich von Mittenwald ab 1923 das gesamte Wasser der Isar dem Walchensee für den Betrieb des Walchenseekraftwerks zugeführt. Erst seit 1990 lässt man einen Restanteil von vier Kubikmetern pro Sekunde ins natürliche Flussbett abfließen, so dass die Isar in diesem Bereich nicht mehr trocken fällt. Auch der Bau des Sylvensteinsees zum Hochwasserschutz und zuvor schon zahlreiche regulierende Maßnahmen, die schon seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem im Bereich der Städte durchgeführt worden waren, veränderten nachhaltig den Wildflusscharakter. In der Mitte der 1980er Jahre dachte man um und wollte nun Hochwasserschutz, Ökologie und den Erholungswert des Flusses für die Anrainer besser in Einklang bringen. Der Isar-Plan wurde von 1995 bis 2011 im Rahmen einer offenen Planung unter intensiver Einbindung von Verbänden, politischen Gremien und Bürgern verwirklicht. Seit der Fertigstellung des Sylvensteinsees ist die Isar flussabwärts des Speichers nur noch selten über die Ufer getreten. Besondere Ausnahmen waren die großen Hochwässer 1999, 2002, 2005 und 2013. Damals fasste selbst das tief eingeschnittene Flussbett die Wassermenge nicht mehr, weshalb an vielen Orten zwischen München und Moosburg die Auwälder zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder überschwemmt und mit Sedimenten angereichert wurden. Die Eintiefung des Flussbetts ist eine Folge der vielen Stauseen wie der seitlichen Uferbefestigungen. Die Stauseen halten das natürliche Geschiebe des Oberlaufs zurück, die Verbauungen hindern die Isar daran, ihre Ufer abzutragen, weshalb auch diese Geschiebequelle versiegt ist. So verstärkt sich die Erosion in der Flusssohle, und die Isar schneidet sich immer tiefer in die Landschaft ein. In manchen Bereichen, so etwa auf Höhe von Geretsried, hat die Sohle nun schon die unter den Schotterablagerungen liegende, weichere Obere Süßwassermolasse erreicht („Sohldurchschlag“). Hier droht nun eine schnelle weitere Eintiefung, mit Folgen nicht nur für den Isarlauf, denn mit dem Flussniveau wird auch der Grundwasserspiegel in der Umgebung weiter absinken. In jüngster Zeit wird versucht durch verschiedene Maßnahmen der Renaturierungsökologie der Isar ihre Ursprünglichkeit wiederzugeben. So wurde zum Beispiel seit Mai 2000 ein acht Kilometer langer Teilbereich der Flusslandschaft im südlichen Stadtgebiet von München renaturiert. Dazu wurde das Flussbett aufgeweitet, die Ufer wurden abgeflacht und Kiesinseln sowie naturnahe Sohlrampen angelegt. Auch die vorhandenen Deiche wurden erhöht, verbreitert und durch den Einbau einer Dichtwand verstärkt. Bei der Verlängerung der Konzession für das Wasserkraftwerk Mühltal wurden mit Bescheid vom 28. Juni 1995 Auflagen erteilt, die eine eigenständige Regeneration der natürlichen Fließgewässerfunktionen begünstigen sollen. So wurde für die Ausleitungsstrecke ein Mindestwasserabfluss von 15 m³/s – nach vorher 5 m³/s – gefordert und die Entfernung von Uferverbauungen auf mehr als sieben Kilometern Länge. Wegen der Entfernung der Verbauungen haben die Hochwasser in den Jahren 1999, 2002 und 2005 dazu geführt, dass die Isar nun auf mehreren Hundert Metern Länge ihr Flussbett deutlich ausgeweitet hat und wieder Elemente einer alpin geprägten Flusslandschaft zeigt. Trotz besseren Schutzes vor Hochwasser ist die Flusslandschaft der Isar heute wieder naturnäher. Dieses wichtige Naherholungsgebiet im Großraum München hat an Attraktion für die Besucher gewonnen. Durch Aufrüstung verschiedener Klärwerke entlang der Isar ist auch die Wasserqualität gestiegen. Das Flusswasser gehört derzeit der Gewässergüteklasse II an, gilt also als mäßig belastet. Hoch ist allerdings nach wie vor die Keimzahl. Gemeinsam mit einer Reihe anderer Städte und Gemeinden entlang der Isar hatte sich die Stadt München 1998 zum Ziel gesetzt die Wasserqualität so weit zu verbessern, dass die Isar offiziell zum Baden freigegeben werden kann. Das Ziel wurde bisher nur zum Teil erreicht: Am Isaroberlauf wurden Klärwerke in Betrieb genommen, die durch Behandlung des Abwassers mit ultraviolettem Licht die Zahl der Keime drastisch reduzieren, so dass die Stadt München 2005 die Warntafeln entfernen konnte, welche vor dem Infektionsrisiko mit Keimen beim Baden warnten. Somit kann die EG-Richtlinie für Badegewässer während der Betriebszeit der UV-Desinfektionsanlagen zwischen 15. April und 30. September meist eingehalten werden. Jedoch kann die Isar im Bereich des Stadtgebiets nicht als Badegewässer ausgewiesen werden, da aufgrund der Einträge durch Niederschläge, insbesondere bei Starkregen, die Wasserqualität zu sehr einbrechen kann. Die Farbe der Isar ist grün. Dies lässt sich auf die Mineralien zurückführen, die der Fluss mit sich führt. Weil der Anteil an Feinstsedimenten sehr gering ist, wie in Schnee oder Gletschereis, wird das Sonnenlicht gefiltert und abgespiegelt, was die Isar nahe der Quelle bläulich erscheinen lässt. Bei Zunahme der aufgelösten Mineralstoffe, bei denen es sich in der Isar häufig um Kalkgesteine handelt, verwandelt sich die Färbung von den Alpen bis zur Mündung ins Grünliche. Entlang der Isar wurden eine Reihe von Natur-, Landschafts- sowie für einzelne Kiesbänke auch Vogelschutzgebiete ausgewiesen, beispielsweise das Naturschutzgebiet „Vogelfreistätte Mittlere Isarstauseen“ nordöstlich von Moosburg. Dieses Naturschutzgebiet ist eine bedeutende Raststätte für durchziehende Wasservögel. Über 260 verschiedene Vogelarten wurden bislang nachgewiesen, darunter auch gefährdete Arten wie die Flussseeschwalbe und das Blaukehlchen. Das Naturschutzgebiet Isarauen zwischen Hangenham und Moosburg befindet sich nordöstlich von Freising im Mündungsgebiet der Moosach und einiger Bachläufe. Das Landschaftsschutzgebiet „Untere Isar“ und das Naturschutzgebiet „Isarmündung“ umfassen die Auenlandschaft im Isarmündungsgebiet. Das europäische Schutzgebiet „Oberes Isartal“ befindet sich entlang eines Hundert Kilometer langen Flussabschnitts der Isar zwischen der Landesgrenze bei Scharnitz im Karwendelgebirge und München. Dieses Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (FFH-Gebiet) ist mit circa 4.700 Hektar eines der größten in Bayern. Um die Schönheit des Isartales zu erhalten, gründete Gabriel von Seidl bereits 1902 den Isartalverein. Um dieses Ziel zu erreichen, kaufte die erste Münchner Bürgerinitiative über 90 Hektar Land und betreut heute insgesamt über 330 Kilometer Wander- und Radwege. Die Konzentration von Mikroplastik steigt im Gewässerverlauf deutlich an. In einer 2018 veröffentlichten Studie der Universität Bayreuth wurde gezeigt, dass die Plastikkonzentration von 8,3 Partikel/m3 bei Baierbrunn auf 87,9 Partikel/m3 bei Moosburg ansteigt. Die Fische in der Isar bei Moosburg können mit Malachitgrün belastet sein. 2019 wurden bei zwei Regenbogenforellen insgesamt 336 Mikrogramm pro Kilo festgestellt. Fauna und Flora Der Bestand von Fauna und Flora hängt direkt mit der Gestaltung der Flusslandschaft zusammen, auf die der Mensch seit dem 19. Jahrhundert starken Einfluss nimmt. Durch Aufstauungen an zahlreichen Wehren wurde die Fließgeschwindigkeit stark herabgesetzt, was auch zur Erhöhung der Wassertemperatur führte. Fischarten, die sauerstoffreiches und kühleres Wasser als Lebensraum benötigen, wurden durch Arten aus dem Stillwasserbereich verdrängt. Durch die verringerte Fließgeschwindigkeit werden auch die Kiesbänke nur noch selten umgeschichtet, so dass diese zuwachsen. Vogelarten, die offene Kiesflächen als Brutplatz benötigen, finden hier keinen Lebensraum mehr. Durch verschiedene Maßnahmen wie die Ausweisung von Naturschutzgebieten, das Einrichten von verbesserten Fischpässen an Stauwehren oder das Erhöhen der Restwassermenge werden neue Rahmenbedingungen geschaffen, um die Lebensbedingungen für viele zum Teil seltene Tierarten und Pflanzen zu verbessern. Neuere Untersuchungen an der Ammer (Amper) belegen allerdings auch, dass der Rückgang des Äschenbestandes mit der ansteigenden Population der Gänsesäger zusammenhängt. Dieser als gefährdet eingestufte Entenvogel hat sich auf die Jagd nach kleinen Fischen spezialisiert. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, ein ursprünglich vorhandenes ökologisches Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn dieses nachhaltig gestört wurde. Ein vergleichbarer Zusammenhang zwischen den geschützten Kormoranen und den Fischbeständen führt immer wieder zu Diskussionen zwischen Fischereivereinen und Vogelschützern. 1976 wurde der Biber im Isardelta wieder angesiedelt. Von dort aus breiteten die Tiere sich flussaufwärts aus. Ein Exemplar lebte sogar jahrelang mitten in München unmittelbar am Deutschen Museum. Auch nach dem August-Hochwasser 2005 konnte man frische Biberbiss-Spuren an Bäumen in Isarnähe sehen. Ein Teil der typischen Isarfische ist in seinem Bestand bedroht, wie zum Beispiel der Huchen oder der Wels. Neben diesen Arten kommen in der Isar vor allem Forellen und Barsche sowie Koppe, Hecht, Nerfling, Rotauge, Rotfeder, Rutte, Schleie, Barbe und Zander vor. Als einer der bedeutendsten Nebenflüsse der Donau lassen sich im unteren Flussbereich der Isar typische Fischarten der Donau nachweisen, so beispielsweise das Donaubachneunauge oder der Sterlet. Die Verbreitung des Donaubachneunauges in Deutschland ist unter Wissenschaftlern allerdings umstritten; möglicherweise handelt es sich hier um eine Verwechslung mit dem Ukrainischen Bachneunauge. Insgesamt sind etwa 50 einheimische Fischarten bekannt. Von der Quelle bis zur Mündung lässt sich die Isar in drei Flussregionen aufteilen: die Forellenregion von der Quelle bis Lenggries, die Äschenregion von Lenggries bis Moosburg und die Barbenregion von Moosburg bis zur Mündung. Neben verbreiteten Vögeln wie Möwen, Schwänen oder Stockenten bietet die Isar auch anderen, weniger häufig vorkommenden Arten einen Lebensraum. So lassen sich Wasseramsel, Eisvogel, Graureiher und Flussregenpfeifer beobachten. Selten geworden sind die Fluss-Seeschwalbe und der Flussuferläufer; sie gelten als gefährdet. Ihre Nester liegen sehr gut getarnt inmitten des Gerölls der Kiesbänke und werden von Erholungssuchenden, die trotz Verbots die Kiesflächen (ausgewiesene Vogelschutzgebiete) betreten, meist nicht wahrgenommen. So werden die dort brütenden Vögel besonders während der Brutzeit massiv und nachhaltig gestört. Die als Vogelschutzgebiet gekennzeichneten Bereiche dürfen jeweils im Zeitraum vom 15. März bis zum 10. August nicht betreten werden. Vor allem im Ufer- und Böschungsbereich, aber auch auf den Kiesbänken kommen neben Wasserfröschen und Zauneidechsen auch Blindschleichen vor. Die Schlangen sind durch die Kreuzotter sowie durch die Ringel- und die Schlingnatter vertreten. In den noch verbliebenen natürlichen Lebensräumen und Auenlandschaften kommen vor allem an der unteren Isar die gefährdeten Amphibienarten Wechselkröte, Kreuzkröte, Europäischer Laubfrosch und Springfrosch vor. Eine Besonderheit stellt der in Bayern vom Aussterben bedrohte Moorfrosch dar, von dem im Isarmündungsgebiet noch eine kleine isolierte Population vorkommt. Besonders im oberen, aber teilweise auch im mittleren Flussabschnitt entstehen durch Bodenerosion und Sedimentation immer wieder neue Flussaufschüttungen. Diese noch offenen Schotterflächen werden zuerst von Pionierpflanzen besiedelt, welche mit den schwierigen Bedingungen dort gut zurechtkommen; dazu gehören das Alpen-Leinkraut, das gelb blühende Habichtskraut und die Deutsche Tamariske. Wird eine Kiesbank nicht von Hochwasser wieder abgetragen, siedeln sich nach einigen Jahren auch Weiße Silberwurz, Wacholder und schließlich auch verschiedene Weidenarten an. Bei einer weiteren Entwicklung entstehen so nach und nach lichte Kiefernwälder. Wirtschaft Die Isar hat keine Bedeutung für die Binnenschifffahrt und somit für den Warenverkehr, da der Fluss über seinen gesamten Verlauf hinweg nicht schiffbar ist. Früher wurden auf der Isar Holz und andere Güter in beträchtlichen Mengen von Mittenwald über München bis an die Donau geflößt. Seit dem Aufkommen von Eisenbahn und Kraftfahrzeugen wird dieser Transportweg so gut wie nicht mehr genutzt. Parallel zum Fluss entstand die Isartalbahn im südlichen Bereich und die Bahnstrecke München–Landshut–Plattling im nördlichen Bereich. Erhebliche wirtschaftliche Bedeutung erlangt der Fluss durch seine Wasserkraft, die zur Stromerzeugung unter anderem durch die Isar-Amper-Werke genutzt wird. Der Umfang der so erzeugten Energie erreicht allerdings nicht einmal mehr ein Prozent des heutigen Strombedarfes in Bayern. Durch die Kühlung des Kernkraftwerks Isar trug die Isar jedoch indirekt zur Energieerzeugung in großem Umfang bei; als noch beide Kernkraftwerksblöcke in Betrieb waren, deckten sie etwa 40 Prozent des bayerischen Strombedarfs. Energie Herkömmliche Wasserkraftwerke benötigen einen gleichmäßig hohen Wasserstand, damit die Energieerzeugung in niederschlagsarmen Monaten nicht zum Erliegen kommt. Dies wurde durch den Bau von mehreren Kanälen sichergestellt, die den Verlauf der Isar begleiten und den größeren Anteil des Flusswassers mit sich führen. Südlich von München versorgt der Mühltalkanal das Wasserkraftwerk Mühltal mit Wasser. Im Stadtgebiet von München liegen am Isar-Werkkanal drei zwischen 1900 und 1930 erbaute Kraftwerke (Isarwerke 1–3) der Stadtwerke München sowie zwei Kraftwerke von E.ON. Aus dem Werkkanal wird bei der Marienklause das Wasser für den Auer Mühlbach ausgeleitet, an dem drei weitere, kleinere Wasserkraftwerke liegen. Am Stauwehr Oberföhring am Nordrand von München zweigt der Mittlere-Isar-Kanal Richtung Erding ab und fließt erst nach über 60 Kilometern wieder zurück ins Flussbett. Ein Kraftwerk am Stauwehr mit einer Leistung von einem Megawatt nutzt das in der Isar verbleibende Wasser. Die Kraftwerke entlang der Isar erzeugen im Durchschnitt etwa zwei Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie im Jahr. Auch der Sylvensteinsee, der 1956 als Hochwasserschutz südlich von Bad Tölz fertiggestellt wurde, wird zur Energiegewinnung genutzt. Der Stausee ist in der Lage, maximal 124 Millionen Kubikmeter Wasser zwischenzuspeichern. Das Kernkraftwerk Isar östlich von Landshut nutzte das Wasser der Isar zur Kühlung. Durch die Kühlung des Reaktors von Isar II verdunsteten 800 Liter Flusswasser pro Sekunde im Kühlturm; die markante Wasserdampffahne war oft über 100 km hinweg aus den Bayerischen Alpen zu sehen. Bei der Kühlung des 2011 stillgelegten Siedewasserreaktors von Isar I ging i. d. R. kein Wasser für den Fluss verloren, da es um drei Grad Celsius erwärmt wieder in das Flussbett zurückgeleitet wurde. Aus diesem Grund wurde die vorhandene Zellenkühleranlage erweitert und 2009 in Betrieb genommen. Tourismus Neben der bayerischen Landeshauptstadt und einer Reihe weiterer sehenswerter Städte entlang der Isar sind zahlreiche Isarlandschaften und Naturschutzgebiete von touristischer Bedeutung: So zum Beispiel der Isarwinkel oder die Pupplinger Au südlich von München. Vom Ursprung bis zur Mündung wird die Isar vom Isarradweg, einem relativ einfach zu fahrenden Fernradweg, begleitet. Seit einigen Jahrzehnten erlebt auch die Flößerei eine Renaissance im touristischen Sektor. Jährlich fahren in den Sommermonaten bis zu 50.000 Touristen auf großen, bis zu 20 Tonnen schweren Flößen von Wolfratshausen über eine Strecke von 25 Kilometern bis zum Floßkanal in München-Thalkirchen. Die Wehre der Kraftwerke werden dabei durch Schleusenrutschen überwunden. Die Rutsche im Mühltal südlich vom Kloster Schäftlarn überwindet auf einer Länge von 360 Metern rund 18 Höhenmeter und gilt damit als die längste Floßgasse der Welt. Die mit Musikkapelle, Tischen und Bänken, Bewirtungsmöglichkeit mit Bier und Brotzeit und auch einer Bordtoilette ausgestatteten Flöße werden nach der Ankunft am Zielort in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, auf Lkws flussaufwärts gebracht und dort für die nächste Fahrt wieder zusammengesetzt. Das Befahren der Isar mit Kanus oder ähnlich kleinen und wendigen Booten ist über Teilstrecken problemlos möglich. Allerdings stellt die aktuell (2018) steigende Zahl solcher Flussfahrten für Flora und Fauna ein Problem dar. Bei hoher Wasserführung können an der Wittelsbacher Brücke in München Stehende Wellen zum Flusssurfen oder Playboating genutzt werden. An einigen Stellen entlang der Isar wird nackt gebadet, so beispielsweise nördlich von Wolfratshausen im Bereich der Pupplinger Au. Im südlichen Stadtgebiet von München sind sogar FKK-Gelände offiziell ausgewiesen. Viele Münchner lassen sich allerdings – unabhängig von offiziellen Ausweisungen – auch im inneren Stadtbereich nackt am Ufer oder auf den Kiesinseln von der Sonne bräunen. Die Isar in Kunst, Literatur und Musik Die ältesten Darstellungen der Isar entstanden vor religiösem Hintergrund. So stellt ein Altarbild aus dem Jahre 1480 in der Jakobskirche in Lenggries das Martyrium des Apostels Jakobus dar. Der unbekannte Künstler verlegte die Enthauptung, die in Jerusalem stattfand, an das Ufer der Isar. Im 19. Jahrhundert entdeckten Künstler der Münchner Schule - wie Wilhelm Scheuchzer, Joseph Wenglein und Wilhelm von Kobell – die Isar als Motiv für ihre Bilder. Dank der realistischen Darstellung der Motive haben ihre Gemälde auch einen historischen Wert für die Dokumentation der Flussumgebung vor ihrer massiven Verbauung. In seinem Heimatroman Der Jäger von Fall setzte Ludwig Ganghofer den Bewohnern des Isarwinkels ein Denkmal für ihre Heimatliebe und machte damit auch die Flusslandschaft der Isar überregional bekannt. Aber auch die neuere Literatur enthält Geschichten und Fakten über den Alpenfluss. Carmen Rohrbach beschreibt in ihrem Buch Der grüne Fluss eindrucksvoll ihre Wanderung von den Quellen bis zur Flussmündung. Der Liedermacher und bayrische Bluessänger Willy Michl schildert in seiner Hymne Isarflimmern die Schönheit des Alpenflusses: „(…) Sommersonne auf weißem Kies, daneben der smaragdgrüne Fluss, wenn dann noch die Zeit still steht – dann ist das Isarflimmern im Paradies.“ In der Hymne „Isarmärchen“ der Münchner Volkssängerin Bally Prell findet sich eine Liebeserklärung an die Isar, die prägend die bayerische Landeshauptstadt durchzieht. So lautet der Refrain: „… und wenn der blaue Himmel lacht … rauscht die Isar ihr uraltes Liedlein dazu, schön wie ein Märchen, mein München bist Du“. Der Münchner Komponist Quirin Amper Jr. beschreibt den Verlauf des Flusses in seiner Suite für großes Orchester, volkstümliche Gruppen und Erzähler Die Isar von der Quelle bis zur Mündung in die Donau. Mit der Buch- und Veranstaltungsreihe „Die neue Isar“ hat Ralf Sartori im Rahmen des „Nymphenspiegel Kulturforums“ ein umfassendes Isar-Kulturprojekt initiiert, das mittels der auf unbegrenzte Dauer angelegten Isarbuchreihe, die Isar ganzheitlich – literarisch und fachlich – durch Beiträge einer Vielzahl hochkarätiger und wechselnder Autoren reflektiert, in Form eines Buchflusses, der jährlich mit einem weiteren Isarband erscheint. Flankiert wird diese Reihe durch eine Vielzahl von Isarführungen, Isarfesten und Kunstprojekten am Fluss. Literatur Stadt Dingolfing (Hrsg.): Die Isar. Landschaft, Stadt, Kultur. Ausstellungskatalog, Dingolfing 2005. Christian Magerl, Detlev Rabe (Hrsg.): Die Isar. Wildfluss in der Kulturlandschaft. Kiebitz Buch, Vilsbiburg 1999, ISBN 3-9804048-5-4. Bernhard Setzwein: An den Ufern der Isar – Ein bayerischer Fluss und seine Geschichte. Koehler und Amelang, München/Berlin 1993, ISBN 3-7338-0174-1. Franz X. Bogner. Die Isar aus der Luft. Rosenheimer Verlag, Rosenheim 2008, ISBN 978-3-475-53969-5. Walter Binder: Flusslandschaft Isar im Wandel der Zeit. Bayerisches Landesamt für Umwelt, 2011. Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft: Flusslandschaft Isar von der Landesgrenze bis Landshut – Leitbilder, Entwicklungsziele, Maßnahmenhinweise. 2001, ISBN 3-930253-85-2. Christine Rädlinger: Neues Leben für die Isar: von der Regulierung zur Renaturierung der Isar in München. Hrsg. Landeshauptstadt München, Baureferat, Franz Schiermeier Verlag, München 2012, ISBN 978-3-9814521-5-0. Christine Rädlinger (mit Beiträgen von Karl Hafner, Matthias Junge und Adele Nebel): Geschichte der Isar in München. Hrsg. Stadtarchiv München, Franz Schiermeier Verlag, München 2012, ISBN 978-3-943866-11-7. Christian Pehlemann: Isar-Aspekte. Von der Quelle, Oberen Isar über München zur Isar-Mündung. Druckerei & Verlag Steinmeier, ISBN 978-3-939777-66-3. Peter Klimesch: Münchner Isarbuch. 4. erweiterte Auflage 2020, ISBN 978-3-00-058337-7. GDT Gesellschaft für Naturfotografie: Wilde Isar. Naturschätze zwischen Hochgebirge, Stadt und Auenlandschaft. Knesebeck Verlag, München 2020, ISBN 978-3-95728-445-7. Weblinks Homepage des Isartalvereins Isargeschichten - Virtuelles Museum zur Geschichte der Isar Wasserwirtschaftsamt München Hochwassernachrichtendienst: Wasserstände der Isar Wasserwirtschaftsamt Landshut Zeitgenössischer Stummfilm über den Ausbau des Kraftwerkes der Mittleren Isar bei München Kleiner Fluss, große Geschichten Isar-Kaleidoskop auf BR.de Einzelnachweise Fluss in Europa Fluss in Bayern Fluss in Tirol Karwendel Fließgewässer im Landkreis Garmisch-Partenkirchen Fließgewässer im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen Fließgewässer im Landkreis München Fließgewässer im Landkreis Freising Gewässer im Landkreis Landshut Gewässer im Landkreis Dingolfing-Landau Gewässer im Landkreis Deggendorf
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https://de.wikipedia.org/wiki/Merkur%20%28Planet%29
Merkur (Planet)
Der Merkur ist mit einem Durchmesser von knapp 4880 Kilometern der kleinste, mit einer durchschnittlichen Sonnenentfernung von etwa 58 Millionen Kilometern der sonnennächste und somit auch schnellste Planet im Sonnensystem. Er hat mit einer maximalen Tagestemperatur von rund +430 °C und einer Nachttemperatur bis −170 °C die größten Oberflächen-Temperaturschwankungen aller Planeten. Aufgrund seiner Größe und seiner chemischen Zusammensetzung zählt er zu den erdähnlichen Planeten. Wegen seiner Sonnennähe ist er von der Erde aus schwer zu beobachten, da er nur einen maximalen Winkelabstand von etwa 28° von der Sonne erreicht. Freiäugig ist er nur maximal eine Stunde lang entweder am Abend- oder am Morgenhimmel zu sehen, teleskopisch hingegen auch tagsüber. Details auf seiner Oberfläche sind ab einer Fernrohröffnung von etwa 20 cm zu erkennen. In 46 % der Zeit ist Merkur der am nächsten bei der Erde befindliche Planet. Benannt ist der Merkur nach dem Götterboten Mercurius, dem römischen Gott der Händler und Diebe. Sein astronomisches Symbol ist ☿. Himmelsmechanik Umlaufbahn Als sonnennächster Planet hat Merkur auf einer Umlaufbahn mit der großen Halbachse von 0,387 AE (57,9 Mio. km) – bei einer mittleren Entfernung zum Sonnenzentrum von 0,403 AE (60,4 Mio. km) – mit knapp 88 Tagen auch die kürzeste Umlaufzeit. Mit einer numerischen Exzentrizität von 0,2056 ist die Umlaufbahn des Merkur stärker elliptisch als die aller anderen großen Planeten des Sonnensystems. So liegt sein sonnennächster Punkt, das Perihel, bei 0,307 AE (46,0 Mio. km) und sein sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 0,467 AE (69,8 Mio. km). Ebenso ist die Neigung seiner Bahnebene gegen die Erdbahnebene mit 7° größer als die aller anderen Planeten. Eine dermaßen hohe Exzentrizität und Bahnneigung sind ansonsten eher typisch für Zwergplaneten wie Pluto und Eris. Periheldrehung Für eine komplette Periheldrehung von 360° benötigt der Merkur rund 225.000 Jahre bzw. rund 930.000 Umläufe und erfährt so je Umlauf ein um rund 1,4″ gedrehtes Perihel. Bereits die newtonsche Mechanik sagt voraus, dass der gravitative Einfluss der anderen Planeten das Zweikörpersystem Sonne-Merkur stört. Durch diese Störung führt die große Bahnachse der Merkurbahn eine langsame rechtläufige Drehung in der Bahnebene aus. Der Merkur durchläuft also streng genommen keine Ellipsen-, sondern eine Rosettenbahn. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Astronomen in der Lage, diese Veränderungen, insbesondere die Lage des Merkurperihels, mit großer Genauigkeit zu messen. Urbain Le Verrier, der damalige Direktor des Pariser Observatoriums, bemerkte, dass die Präzession (Drehung) des Perihels für Merkur 5,74″ (Bogensekunden) pro Jahr beträgt. Dieser Wert konnte allerdings nicht völlig mit der klassischen Mechanik von Isaac Newton erklärt werden. Laut der newtonschen Himmelsmechanik dürfte er nur 5,32″ betragen, der gemessene Wert ist also um 0,43″ pro Jahr zu groß, der Fehler beträgt also 0,1″ (bzw. 29 km) pro Umlauf. Darum vermutete man neben einer verursachenden Abplattung der Sonne noch einen Asteroidengürtel zwischen dem Merkur und der Sonne oder einen weiteren Planeten, der für diese Störungen verantwortlich sein sollte. Die Existenz dieses weiteren Planeten galt als so wahrscheinlich, dass mit Vulkan bereits ein Name festgelegt wurde. Dennoch konnte trotz intensiver Suche kein entsprechendes Objekt innerhalb der Merkurbahn gefunden werden. Dies wurde zunächst auf die große Nähe zur Sonne zurückgeführt, die eine visuelle Entdeckung des Planeten erschwerte, da die Sonne ihn überstrahlte. Die Suche nach Vulkan erübrigte sich erst dann vollständig, als die Allgemeine Relativitätstheorie die systematische Abweichung zwischen der berechneten und der beobachteten Bahn nicht mit einem zusätzlichen Massenkörper erklärte, sondern mit relativistischer Verzerrung der Raumzeit in Sonnennähe. Der anhand der ART berechnete Überschuss von 43,03″ (Unsicherheit: 0,03″) je Jahrhundert stimmt gut mit der beobachteten Differenz von 42,96″ (Unsicherheit: 0,94″) überein. Schwarzschildradius der Sonne Halbparameter der Merkurbahn große Halbachse der Merkurbahn numerische Exzentrizität der Merkurbahn Mögliche zukünftige Entwicklung Konstantin Batygin und Gregory Laughlin von der University of California, Santa Cruz sowie davon unabhängig Jacques Laskar vom Pariser Observatorium haben durch Computersimulationen festgestellt, dass das innere Sonnensystem auf lange Sicht nicht stabil ist. In ferner Zukunft – in einer Milliarde Jahren oder mehr – könnte Jupiters Anziehungskraft Merkur aus seiner jetzigen Umlaufbahn herausreißen, indem ihr Einfluss nach und nach Merkurs große Bahnexzentrizität weiter vergrößert, bis der Planet in seinem sonnenfernsten Punkt die Umlaufbahn der Venus kreuzt. Daraufhin könnte es vier Szenarien geben: Merkur stürzt in die Sonne; er wird aus dem Sonnensystem geschleudert; er kollidiert mit der Venus oder mit der Erde. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Möglichkeiten eintrifft, bevor sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen wird, liegt jedoch nur bei rund 1 %. Rotation Die Achse von Merkurs rechtläufiger Rotation steht fast senkrecht auf seiner Bahnebene. Deswegen gibt es auf dem Merkur keine Jahreszeiten mit unterschiedlicher Tageslänge. Allerdings variiert die Sonneneinstrahlung aufgrund der Exzentrizität der Bahn beträchtlich: Im Perihel trifft etwa 2,3-mal so viel Energie von der Sonne auf die Merkuroberfläche wie im Aphel. Dieser Effekt, der beispielsweise auf der Erde wegen der geringen Exzentrizität der Bahn klein ist (7 %), führt zu Jahreszeiten auf dem Merkur. Radarbeobachtungen zeigten 1965, dass der Planet nicht, wie ursprünglich von Giovanni Schiaparelli 1889 angenommen, eine einfache gebundene Rotation besitzt, das heißt, der Sonne immer dieselbe Seite zuwendet (so, wie der Erdmond der Erde immer dieselbe Seite zeigt). Vielmehr besitzt er als Besonderheit eine gebrochen gebundene Rotation und dreht sich während zweier Umläufe exakt dreimal um seine Achse. Seine siderische Rotationsperiode beträgt zwar 58,646 Tage, aber aufgrund der 2:3-Kopplung an die schnelle Umlaufbewegung mit demselben Drehsinn entspricht der Merkurtag – der zeitliche Abstand zwischen zwei Sonnenaufgängen an einem beliebigen Punkt – auf dem Planeten mit 175,938 Tagen auch genau dem Zeitraum von zwei Sonnenumläufen. Nach einem weiteren Umlauf geht die Sonne dementsprechend am Antipodenort auf. Durchläuft der Merkur den sonnennächsten Punkt seiner ziemlich stark exzentrischen Bahn, das Perihel, steht das Zentralgestirn zum Beispiel immer abwechselnd über dem Calorisbecken am 180. Längengrad oder über dessen chaotischem Antipodengebiet am Nullmeridian im Zenit. Während des Merkurs höchsten Bahngeschwindigkeiten im Perihelbereich ist die Winkelgeschwindigkeit seiner Bahnbewegung größer als die seiner Rotation, sodass die Sonne am Merkurhimmel eine rückläufige Schleifenbewegung vollführt. Zur Erklärung der Kopplung von Rotation und Umlauf wird unter Caloris Planitia (der „heißen“ Tiefebene) eine Massekonzentration ähnlich den sogenannten Mascons der großen, annähernd kreisförmigen Maria des Erdmondes, angenommen, an der die Gezeitenkräfte der Sonne die vermutlich einst schnellere Eigendrehung des Merkurs zu dieser ungewöhnlichen Resonanz heruntergebremst haben. Planet ohne Mond Der Merkur hat keinen Mond. Die Existenz eines solchen wurde auch niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Es besteht jedoch seit Mitte der 1960er Jahre von verschiedenen Wissenschaftlern die Hypothese, dass der Merkur selbst einmal ein Mond der Venus war. Anlass zu der Annahme gaben anfangs nur einige Besonderheiten seiner Umlaufbahn. Später kamen seine spezielle Rotation sowie die zum Erdmond analoge Oberflächengestalt von zwei auffallend unterschiedlichen Hemisphären hinzu. Mit dieser Annahme lässt sich auch erklären, warum die beiden Planeten als einzige im Sonnensystem mondlos sind. Am 27. März 1974 glaubte man, einen Mond um den Merkur entdeckt zu haben. Zwei Tage, bevor Mariner 10 den Merkur passierte, fing die Sonde an, starke UV-Emissionen zu messen, die kurz darauf aber wieder verschwanden. Drei Tage später tauchten die Emissionen wieder auf, schienen sich aber vom Merkur fortzubewegen. Einige Astronomen vermuteten einen neu entdeckten Stern, andere wiederum einen Mond. Die Geschwindigkeit des Objekts wurde mit 4 km/s berechnet, was etwa dem erwarteten Wert eines Merkurmondes entsprach. Einige Zeit später konnte das Objekt schließlich als Stern 31 Crateris identifiziert werden. Aufbau Merkur gleicht äußerlich dem planetologisch-geologisch inaktiven Erdmond, doch das Innere entspricht anscheinend viel mehr dem der geologisch sehr dynamischen Erde. Atmosphäre Der Merkur hat keine Atmosphäre im herkömmlichen Sinn, denn sie ist dünner als ein labortechnisch erreichbares Vakuum, ähnlich wie die Atmosphäre des Mondes. Die „atmosphärischen“ Bestandteile Wasserstoff H2 (22 %) und Helium (6 %) stammen sehr wahrscheinlich aus dem Sonnenwind, wohingegen Sauerstoff O2 (42 %), Natrium (29 %) und Kalium (0,5 %) vermutlich aus dem Material der Oberfläche freigesetzt wurden (die Prozentangaben sind ungenaue Schätzungen für die Volumenanteile der Gase). Der Druck der Gashülle beträgt nur etwa 10−15 Bar am Boden von Merkur und die Gesamtmasse der Merkuratmosphäre damit nur etwa 1000 Kilogramm. Aufgrund der hohen Temperaturen und der geringen Anziehungskraft kann der Merkur die Gasmoleküle nicht lange halten, sie entweichen durch Photoevaporation stets schnell ins All. Bezogen auf die Erde wird jener Bereich, für den dies zutrifft, Exosphäre genannt; es ist die Austauschzone zum interplanetaren Raum. Eine ursprüngliche Atmosphäre als Entgasungsprodukt des Planeteninnern ist dem Merkur längst verloren gegangen; es gibt auch keine Spuren einer früheren Erosion durch Wind und Wasser. Allerdings enthält die Exosphäre geringe Anteile von Wasserdampf, wie Messungen der Merkur-Sonde Messenger zwischen 2011 und 2015 ergaben. Er könnte entweder aus den Schweifen vorbeiziehender Kometen oder aus den Wassereisvorkommen auf den Böden von Kratern in den Polarregionen des Planeten stammen. Das Fehlen einer richtigen Gashülle, welche für einen gewissen Ausgleich der Oberflächentemperaturen sorgen würde, bedingt in dieser Sonnennähe extreme Temperaturschwankungen zwischen der Tag- und der Nachtseite. Gegenüber den Nachttemperaturen, die bis auf −173 °C sinken, wird die während des geringsten Sonnenabstands beschienene Planetenseite bis auf +427 °C aufgeheizt. Während des größten Sonnenabstands beträgt die höchste Bodentemperatur bei der großen Bahnexzentrizität des Merkur noch rund +250 °C. Oberfläche Wegen der schwierigen Erreichbarkeit auf der sonnennahen Umlaufbahn und der damit verbundenen Gefahr durch den intensiveren Sonnenwind haben bislang erst zwei Raumsonden, Mariner 10 und Messenger, den Planeten besucht und eingehender studiert. Bei drei Vorbeiflügen in den 1970er Jahren konnte Mariner 10 lediglich etwa 45 % seiner Oberfläche kartieren. Die Merkursonde Messenger hatte gleich bei ihrem ersten Vorbeiflug im Januar 2008 auch einige von Mariner 10 nicht erfasste Gebiete fotografiert und konnte die Abdeckung auf etwa 66 % erhöhen. Mit ihrem zweiten Swing-by im Oktober 2008 stieg die Abdeckung auf rund 95 %. Die mondähnliche, von Kratern durchsetzte Oberfläche aus rauem, porösem, dunklem Gestein reflektiert das Sonnenlicht nur schwach. Die mittlere sphärische Albedo beträgt 0,06, das heißt, die Oberfläche streut im Durchschnitt 6 % des von der Sonne praktisch parallel eintreffenden Lichtes zurück. Damit ist der Merkur im Mittel noch etwas dunkler als der Mond (0,07). Anhand der zerstörerischen Beeinträchtigung der Oberflächenstrukturen untereinander ist, wie auch bei Mond und Mars, eine Rekonstruktion der zeitlichen Reihenfolge der prägenden Ereignisse möglich. Es gibt in den abgelichteten Gebieten des Planeten keine Anzeichen von Plattentektonik; Messenger hat aber zahlreiche Hinweise auf vulkanische Eruptionen gefunden. Krater Die Oberfläche des Merkur ist mit Kratern übersät. Die Verteilung der Einschlagstrukturen ist gleichmäßiger als auf dem Mond und dem Mars; demnach ist das Alter seiner Oberfläche gleichmäßig sehr hoch. Mit ein Grund für die hohe Kraterdichte ist die äußerst dünne Atmosphäre, die ein ungehindertes Eindringen von Kleinkörpern gestattet. Die große Anzahl der Krater je Fläche – ein Maß für das Alter der Kruste – spricht für eine sehr alte, das heißt, seit der Bildung und Verfestigung des Merkurs von vor etwa 4,5 bis vor ungefähr 4 Milliarden Jahren sonst wenig veränderte Oberfläche. Wie auch beim Mond zeigen die Krater des Merkurs ein weiteres Merkmal, das für eine durch Impakt entstandene Struktur als typisch gilt: Das hinausgeschleuderte und zurückgefallene Material, das sich um den Krater herum anhäuft; manchmal in Form von radialen Strahlen, wie man sie auch als Strahlensysteme auf dem Mond kennt. Sowohl diese speichenartigen Strahlen als auch die Zentralkrater, von denen sie jeweils ausgehen, sind aufgrund des relativ geringen Alters heller als die Umgebung. Die ersten Beobachtungen der Strahlen des Merkurs machte man mit den Radioteleskopen Arecibo und Goldstone und mithilfe des Very Large Array (VLA) des nationalen Radioobservatoriums der Vereinigten Staaten (siehe auch Astrogeologie). Der erste Krater, der durch die Raumsonde Mariner 10 während ihrer ersten Annäherung erkannt wurde, war der 40 km breite, aber sehr helle Strahlenkrater Kuiper (siehe Bild rechts). Der Krater wurde nach dem niederländisch-US-amerikanischen Mond- und Planetenforscher Gerard Kuiper benannt, der dem Mariner-10-Team angehörte und noch vor der Ankunft der Sonde verstarb. Nördlich des Äquators liegt Caloris Planitia, ein riesiges, kreisförmiges, aber ziemlich flaches Becken. Mit einem Durchmesser von etwa 1550 km ist es das größte bekannte Gebilde auf dem Merkur. Es wurde vermutlich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren von einem über 100 km großen Einschlagkörper erzeugt. Der Impakt war so heftig, dass durch die seismischen Schwingungen um den Ort des Einschlags mehrere konzentrische Ringwälle aufgeworfen wurden und aus dem Innern des Planeten Lava austrat. Die von Messenger neu entdeckten vulkanischen Strukturen finden sich insbesondere im Umfeld und auch im Inneren des Beckens. Das Beckeninnere ist von dem Magma aus der Tiefe anscheinend aufgefüllt worden, ähnlich wie die Marebecken des Mondes. Den Boden des Beckens prägen viele konzentrische Furchen und Grate, die an eine Zielscheibe erinnern und ihm Ähnlichkeit mit dem annähernd vergleichbar großen Multiringsystem auf dem Mond geben, in dessen Beckenzentrum das Mare Orientale liegt. Das ziemlich flache Caloris-Becken wird von den Caloris Montes begrenzt, einem unregelmäßigen Kettengebirge, dessen Gipfelhöhen lediglich etwa 1 km erreichen. Ebenen Auch andere flache Tiefebenen ähneln den Maria des Mondes. Mare (Mehrzahl: Maria, deutsch ‚Meere‘) ist in der Selenologie – der „Geologie“ des Erdtrabanten – der lateinische Gattungsname für die glatten und dunklen Basaltflächen, die zahlreiche Krater und Becken des Mondes infolge von aus Bodenspalten emporgestiegener und erstarrter Lava ausfüllen. Die glatten Ebenen des Merkurs sind aber nicht dunkel wie die „Mondmeere“. Insgesamt sind sie anscheinend auch kleiner und weniger zahlreich. Sie liegen alle auf der Nordhalbkugel im Umkreis des Caloris-Beckens. Ihre Gattungsbezeichnung ist Planitia, lateinisch für Tiefebene. Dass sich die mareähnlichen Ebenen auf dem Merkur nicht wie die Maria des Mondes mit einer dunkleren Farbe von der Umgebung abheben, wird mit einem geringeren Gehalt an Eisen und Titan erklärt. Damit ergibt sich jedoch ein gewisser Widerspruch zu der hohen mittleren Dichte des Planeten, die für einen verhältnismäßig sehr großen Metallkern spricht, der vor allem aus Eisen besteht. Dunkle Böden wurden durch Messenger im Caloris-Becken nur als Füllung kleinerer Krater gefunden, und obwohl für deren Material ein vulkanischer Ursprung vermutet wird, zeigen die Messdaten, anders als bei solchem Gestein zu erwarten ist, ebenfalls nur einen sehr geringen Anteil an Eisen. Das Metall ist in Merkurs Oberfläche zu höchstens 6 Prozent enthalten. Besonderheiten Zwei Formationen findet man ausschließlich auf der Merkuroberfläche: Erstens ein eigentümlich chaotisch wirkendes Gelände unregelmäßig geformter, bis etwa 1 km hoher Hügel, das von Tälern zerschnitten ist, das sich dem Caloris-Becken genau gegenüber befindet. Als Entstehungsursache wird eine Bündelung der seismischen Schwingungen des großen Einschlages angenommen, durch die das ursprüngliche Relief des Antipodengebietes zerstört wurde. Das betroffene Gebiet ist etwa fünfmal so groß wie Deutschland und ist demnach mindestens von gleicher Größe wie das nur zu rund einem Drittel erkundete Caloris-Becken. Zweitens bis zu mehrere hundert Kilometer lange Steilstufen, die die größten Höhenunterschiede (2 km) auf dem Merkur aufweisen. Diese Strukturen werden in der Astrogeologie als Rupes (lat. Böschung, Steilwand) bezeichnet. Sie ziehen sich in sanften Windungen quer durch Ebenen und Krater. Es handelt sich um Überschiebungen der Kruste. Die dadurch seitlich versetzten Kraterteile zeigen an, dass sie auch horizontal gegeneinander verschoben wurden. Diese Überschiebungen sind vermutlich durch ein Schrumpfen des gesamten Planeten entstanden. Der in der Planetengeologie profilierte amerikanische Geologe Robert G. Strom hat den Umfang der Schrumpfung der Merkuroberfläche auf etwa 100.000 km² abgeschätzt. Das entspricht einer Verringerung des Planetenradius um bis zu etwa 2 km. Neuere Schätzungen, die wesentlich auf den Messungen der Raumsonde Messenger beruhen, kommen auf einen deutlich höheren Wert von etwa 7 km Kontraktion. Als Ursache der Kontraktion wird die Abkühlung des Planeten im Anschluss an eine heiße Phase seiner Entstehung gesehen, in der er ähnlich wie die Erde und der Mond von vielen großen Asteroideneinschlägen bis zur Glutflüssigkeit aufgeheizt worden sein soll. Dieser Abschnitt der Entwicklung nahm demnach erst vor etwa 3,8 Milliarden Jahren mit dem „Letzten Schweren Bombardement“ seinen Ausklang, während dessen Nachlassens die Kruste langsam auskühlen und erstarren konnte. Einige der gelappten Böschungen wurden offenbar durch die ausklingende Bombardierung wieder teilweise zerstört. Das bedeutet, dass sie entsprechend älter sind als die betreffenden Krater. Der Zeitpunkt der Merkurschrumpfung wird anhand des Grades der Weltraum-Erosion – durch viele kleinere, nachfolgende Einschläge – vor ungefähr 4 Milliarden Jahren angenommen, also während der Entstehung der mareähnlichen Ebenen. Laut einer alternativen Hypothese sind die tektonischen Aktivitäten während der Kontraktionsphase auf die Gezeitenkräfte der Sonne zurückzuführen, durch deren Einfluss die Eigendrehung des Merkurs von einer ungebundenen, höheren Geschwindigkeit auf die heutige Rotationsperiode heruntergebremst wurde. Dafür spricht, dass sich diese Strukturen wie auch eine ganze Reihe von Rinnen und Bergrücken mehr in meridionale als in Ost-West-Richtung erstrecken. Nach der Kontraktion und der dementsprechenden Verfestigung des Planeten entstanden kleine Risse auf der Oberfläche, die sich mit anderen Strukturen, wie Kratern und den flachen Tiefebenen überlagerten – ein klares Indiz dafür, dass die Risse im Vergleich zu den anderen Strukturen jüngeren Ursprungs sind. Die Zeit des Vulkanismus auf dem Merkur endete, als die Kompression der Hülle sich einstellte, sodass dadurch die Ausgänge der Lava an der Oberfläche verschlossen wurden. Vermutlich passierte das während einer Periode, die man zwischen die ersten 700 bis 800 Millionen Jahre der Geschichte des Merkurs einordnet. Seither gab es nur noch vereinzelte Einschläge von Kometen und Asteroiden. Eine weitere Besonderheit gegenüber dem Relief des Mondes sind auf dem Merkur die sogenannten Zwischenkraterebenen. Im Unterschied zu der auch mit größeren Kratern gesättigten Mondoberfläche kommen auf dem Merkur zwischen den großen Kratern relativ glatte Ebenen mit Hochlandcharakter vor, die nur von verhältnismäßig wenigen Kratern mit Durchmessern von unter 20 km geprägt sind. Dieser Geländetyp ist auf dem Merkur am häufigsten verbreitet. Manche Forscher sehen darin die ursprüngliche, verhältnismäßig unveränderte Merkuroberfläche. Andere glauben, dass ein sehr früher und großräumiger Vulkanismus die Regionen einst geglättet hat. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich in diesen Ebenen die Reste größerer und auch vieler doppelter Ringwälle gleich solchen des Mondes noch schwach abzeichnen. Möglichkeit des Vorhandenseins von Eis und kleinen organischen Molekülen Für die Polregionen des Merkurs lassen die Ergebnisse von Radaruntersuchungen die Möglichkeit zu, dass dort kleine Mengen von Wassereis existieren könnten. Da des Merkurs Rotationsachse mit 0,01° praktisch senkrecht auf der Bahnebene steht, liegt das Innere einiger polnaher Krater stets im Schatten. In diesen Gebieten ewiger Nacht sind dauerhafte Temperaturen von −160 °C möglich. Solche Bedingungen können Eis konservieren, das z. B. durch eingeschlagene Kometen eingebracht wurde. Die hohen Radar-Reflexionen können jedoch auch durch Metallsulfide oder durch die in der Atmosphäre nachgewiesenen Alkalimetalle oder andere Materialien verursacht werden. Im November 2012 veröffentlichte Messungen der Raumsonde Messenger weisen auf Wassereis im Inneren von Kratern am Merkurnordpol hin, die ständig im Schatten liegen. Außerdem wurden Spuren von organischen Molekülen (einfache Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen) gefunden. Da diese Moleküle als Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Leben gelten, rief diese Entdeckung einiges Erstaunen hervor, da dies auf dem atmosphärelosen und durch die Sonne intensiv aufgeheizten Planeten nicht für möglich gehalten worden war. Es wird vermutet, dass diese Spuren an Wasser und organischer Materie durch Kometen, die auf dem Merkur eingeschlagen sind, eingebracht wurden. Indizien im Detail Die Radiowellen, die vom Goldstone-Radioteleskop des NASA Deep Space Network ausgesandt wurden, hatten eine Leistung von 450 Kilowatt bei 8,51 Gigahertz; die vom VLA mit 26 Antennen empfangenen Radiowellen ließen helle Punkte auf dem Radarschirm erscheinen, Punkte, die auf depolarisierte Reflexionen von Wellen vom Nordpol des Merkurs schließen lassen. Die Studien, die mit dem Radioteleskop von Arecibo gemacht wurden, das Wellen im S-Band (2,4 GHz) mit einer Leistung von 420 kW ausstrahlte, gestatteten es, eine Karte von der Oberfläche des Merkurs anzufertigen, die eine Auflösung von 15 km hat. Bei diesen Studien konnte nicht nur die Existenz der bereits gefundenen Zonen hoher Reflexion und Depolarisation nachgewiesen werden, sondern insgesamt 20 Zonen an beiden Polen. Die erwartete Radarsignatur von Eis ist erhöhte Reflexion und stärkere Depolarisation der reflektierten Wellen. Silikatgestein, das den größten Anteil der Oberfläche ausmacht, zeigt dieses nicht. Andere Untersuchungsmethoden der zur Erde zurückgeworfenen Strahlen legen nahe, dass die Form dieser Zonen kreisförmig sind, und dass es sich deshalb um Krater handeln könnte. Am Südpol des Merkurs scheinen sich Zonen hoher Reflexion mit dem Chao Meng-Fu Krater und kleinen Gebieten zu decken, in denen ebenfalls bereits Krater identifiziert wurden. Am Nordpol gestaltet sich die Situation etwas schwieriger, weil sich die Radarbilder mit denen von Mariner 10 offenbar nicht decken lassen. Es liegt deshalb nahe, dass es Zonen hoher Reflexion geben kann, die sich nicht mit der Existenz von Kratern erklären lassen. Die Reflexionen der Radarwellen, die das Eis auf der Oberfläche des Merkurs erzeugt, sind geringer als die Reflexionen, die sich mit reinem Eis erzeugen ließen; eventuell liegt es am Vorhandensein von Staub, der die Oberfläche des Kraters teilweise überdeckt. Nomenklatur der Oberflächenstrukturen In der planetaren Nomenklatur der Internationalen Astronomischen Union (IAU) sind für die Bezeichnung von Oberflächenstrukturen auf dem Merkur folgende Konventionen festgelegt: Ferner wurde die einzige Hochebene (Catuilla Planum) nach dem quechuanischen Wort für (den Planet) Merkur benannt. Für die 32 benannten Albedomerkmale – Gebiete mit besonderem Rückstrahlvermögen – wurde ein Großteil der Namen aus der Merkurkartierung von Eugène Michel Antoniadi übernommen. Innerer Aufbau Der Merkur ist ein Gesteinsplanet wie die Venus, die Erde und der Mars und ist von allen der kleinste Planet im Sonnensystem. Sein Durchmesser beträgt mit 4878 km nur knapp 40 Prozent des Erddurchmessers. Er ist damit sogar kleiner als der Jupitermond Ganymed und der Saturnmond Titan, dafür aber jeweils mehr als doppelt so massereich wie diese sehr eisreichen Trabanten. Das Diagramm zeigt, wie stark die mittlere Dichte der erdähnlichen Planeten einschließlich des Erdmondes bei ähnlicher chemischer Zusammensetzung mit dem Durchmesser im Allgemeinen ansteigt. Der Merkur allerdings hat mit 5,427 g/cm³ fast die Dichte der weit größeren Erde und liegt damit für seine Größe weit über dem Durchmesser-Dichte-Verhältnis der anderen. Das zeigt, dass er eine „schwerere“ chemische Zusammensetzung haben muss: Sein sehr großer Eisen-Nickel-Kern soll zu 65 Prozent aus Eisen bestehen, etwa 70 Prozent der Masse des Planeten ausmachen und einen Durchmesser von etwa 3600 km haben. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen sogar einen Kerndurchmesser von 4100 km, rund 84 Prozent des Planetendurchmessers, womit der Kern größer als der Erdmond wäre. Auf den wohl nur 600 km dünnen Mantel aus Silikaten entfallen rund 30 Prozent der Masse, bei der Erde sind es 62 Prozent. Die Kruste ist mit einigen 10 km relativ dick und besteht überwiegend aus Feldspat und Mineralien der Pyroxengruppe, ist also dem irdischen Basalt sehr ähnlich. Die dennoch etwas höhere Gesamtdichte der Erde resultiert aus der kompressiveren Wirkung ihrer starken Gravitation. Ursache des hohen Eisengehalts Des Merkurs relativer Gehalt an Eisen ist größer als der jedes anderen großen Objektes im Sonnensystem. Als Erklärung werden verschiedene Hypothesen ins Feld geführt, die alle von einem ehemals ausgeglicheneren Schalenaufbau und einem entsprechend dickeren, metallarmen Mantel ausgehen: So geht eine Theorie davon aus, dass der Merkur ursprünglich ein Metall-Silikat-Verhältnis ähnlich dem der Chondrite, der meistverbreiteten Klasse von Meteoriten im Sonnensystem, aufwies. Seine Ausgangsmasse müsste demnach etwa das 2,25-fache seiner heutigen Masse gewesen sein. In der Frühzeit des Sonnensystems, vor etwa 4,5 Milliarden Jahren, wurde der Merkur jedoch – so wird gemutmaßt – von einem sehr großen Asteroiden mit etwa einem Sechstel dieser Masse getroffen. Ein Aufschlag dieser Größenordnung hätte einen Großteil der Planetenkruste und des Mantels weggerissen und lediglich den metallreichen Kern übrig gelassen. Eine ähnliche Erklärung wurde zur Entstehung des Erdmondes im Rahmen der Kollisionstheorie vorgeschlagen. Beim Merkur blieb jedoch unklar, weshalb nur ein so geringer Teil des zersprengten Materials auf den Planeten zurückfiel. Nach Computersimulationen von 2006 wird das mit der Wirkung des Sonnenwindes erklärt, durch den sehr viele Teilchen verweht wurden. Von diesen Partikeln und Meteoriten, die nicht in die Sonne fielen, sind demnach die meisten in den interstellaren Raum entwichen und 1 bis 2 Prozent auf die Venus sowie etwa 0,02 Prozent auf die Erde gelangt. Eine andere Theorie schlägt vor, dass der Merkur sehr früh in der Entwicklung des Sonnensystems entstanden sei, noch bevor sich die Energieabstrahlung der jungen Sonne stabilisiert hat. Auch diese Theorie geht von einer etwa doppelt so großen Ursprungsmasse des innersten Planeten aus. Als der Protostern sich zusammenzuziehen begann, könnten auf dem Merkur Temperaturen zwischen 2500 und 3500 K (Kelvin), möglicherweise sogar bis zu 10.000 K geherrscht haben. Ein Teil seiner Materie wäre bei diesen Temperaturen verdampft und hätte eine Atmosphäre gebildet, die im Laufe der Zeit vom Sonnenwind fortgerissen worden sei. Eine dritte Theorie argumentiert ähnlich und geht von einer langanhaltenden Erosion der äußeren Schichten des Planeten durch den Sonnenwind aus. Nach einer vierten Theorie wurde der Merkur kurz nach seiner Bildung von einem oder mehreren Protoplaneten gestreift, die doppelt bis viermal so schwer waren wie er – wobei er große Teile seines Gesteinsmantels verlor. Magnetfeld Trotz seiner langsamen Rotation besitzt der Merkur eine Magnetosphäre, deren Volumen etwa 5 Prozent der Magnetosphäre der Erde beträgt. Es hat mit einer mittleren Feldintensität von 450 Nanotesla an der Oberfläche des Planeten ungefähr 1 Prozent der Stärke des Erdmagnetfeldes. Die Neigung des Dipolfeldes gegen die Rotationsachse beträgt rund 7°. Die Ausrichtung der Magnetpole entspricht der Situation der Erde, das heißt, dass beispielsweise der magnetische Nordpol des Merkurs im Umkreis seiner südlichen Rotationsachse liegt. Die Grenze der Magnetosphäre befindet sich in Richtung der Sonne lediglich in einer Höhe von etwa 1000 Kilometern, wodurch energiereiche Teilchen des Sonnenwinds ungehindert die Oberfläche erreichen können. Es gibt keine Strahlungsgürtel. Insgesamt ist Merkurs Magnetfeld asymmetrisch. Es ist auf der Nordhalbkugel stärker als auf der Südhalbkugel, sodass der magnetische Äquator gegenüber dem geografischen Äquator rund 500 Kilometer nördlich liegt. Dadurch ist die Südhalbkugel für den Sonnenwind leichter erreichbar. Möglicherweise wird Merkurs Dipolfeld ganz ähnlich dem der Erde durch den Dynamo-Effekt zirkulierender Schmelzen im Metallkern erzeugt; dann müsste seine Feldstärke aber 30-mal stärker sein, als von Mariner 10 gemessen. Einer Modellrechnung zufolge (Ulrich Christensen 2007 im Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung Katlenburg-Lindau) werden große Teile eines im Inneren entstehenden, fluktuierenden Feldes durch elektrisch leitende und stabile Schichtungen des äußeren, flüssigen Kerns stark gedämpft, sodass an der Oberfläche nur ein relativ schwaches Feld übrig bleibt. Eigentlich sollte der Merkur aufgrund seiner geringen Größe – ebenso wie der wesentlich größere und bereits erstarrte Mars – seit seiner Entstehung schon längst zu stark abgekühlt sein, um in seinem Kern Eisen oder ein Eisen-Nickel-Gemisch noch flüssig halten zu können. Aus diesem Grund wurde eine Hypothese aufgestellt, welche die Existenz des Magnetfeldes als Überbleibsel eines früheren, mittlerweile aber erloschenen Dynamo-Effektes erklärt; es wäre dann das Ergebnis erstarrter Ferromagnetite. Es ist aber möglich, dass sich zum Beispiel durch Mischungen mit Schwefel eine eutektische Legierung mit niedrigerem Schmelzpunkt bilden konnte. Durch ein spezielles Auswertungsverfahren konnte bis 2007 ein Team amerikanischer und russischer Planetenforscher um Jean-Luc Margot von der Cornell-Universität anhand von Radarwellen die Rotation des Merkurs von der Erde aus genauer untersuchen und ausgeprägte Schwankungen feststellen, die mit einer Größe von 0,03 Prozent deutlich für ein teilweise aufgeschmolzenes Inneres sprechen. Entwicklungsetappen Nach der herkömmlichen Theorie zur Entstehung des Planetensystems der Sonne ist der Merkur wie alle Planeten aus einer allmählichen Zusammenballung von Planetesimalen hervorgegangen, die sich zu immer größeren Körpern vereinten. In der letzten Phase der Akkretion schluckten die größeren Körper die kleineren und in dem Bereich des heutigen Merkurorbits bildete sich binnen etwa 10 Millionen Jahren der sonnennächste Planet. Mit der Aufheizung des Protoplaneten, also des „Rohplaneten“, durch den Zerfall der radioaktiven Elemente und durch die Energie vieler großer und andauernder Einschläge während des Aufsammelns der kleineren Brocken begann das, was man mangels eines merkurspezifischen Begriffes als geologische Entwicklung bezeichnen kann. Der bis zur Glut erhitzte Körper differenzierte sich durch seine innere Gravitation chemisch in Kern, Mantel und Kruste. Mit dem Ausklingen des Dauerbombardements konnte der entstandene Planet beginnen, sich abzukühlen, und es bildete sich aus der äußeren Schicht eine feste Gesteinskruste. In der folgenden Etappe sind anscheinend alle Krater und andere Spuren der ausklingenden Akkretion überdeckt worden. Die Ursache könnte eine Periode von frühem Vulkanismus gewesen sein. Dieser Zeit wird die Entstehung der Zwischenkraterebenen zugeordnet sowie die Bildung der gelappten Böschungen durch ein Schrumpfen des Merkurs zugeschrieben. Das Ende des Schweren Bombardements schlug sich in der Entstehung des Caloris-Beckens und den damit verbundenen Landschaftsformen im Relief als Beginn der dritten Epoche eindrucksvoll nieder. In einer vierten Phase entstanden (wahrscheinlich durch eine weitere Periode vulkanischer Aktivitäten) die weiten, mareähnlichen Ebenen. Die fünfte und seit etwa 3 Milliarden Jahren noch immer andauernde Phase der Oberflächengestaltung zeichnet sich lediglich durch eine Zunahme der Einschlagkrater aus. Dieser Zeit werden die Zentralkrater der Strahlensysteme zugeordnet, deren auffällige Helligkeit als ein Zeichen der Frische angesehen werden. Die Abfolge der Ereignisse hat im Allgemeinen eine überraschend große Ähnlichkeit mit der Geschichte der Oberfläche des Mondes; in Anbetracht der ungleichen Größe, der sehr verschiedenen Orte im Sonnensystem und den damit verbundenen unterschiedlichen Bedingungen war das nicht zu erwarten. Erforschung Der Merkur ist mindestens seit der Zeit der Sumerer (3. Jahrtausend v. Chr.) bekannt. Die Griechen der Antike gaben ihm zwei Namen, Apollo, wenn er am Morgenhimmel die Sonne ankündigte, und Hermes, wenn er am Abendhimmel der Sonne hinterherjagte. Die griechischen Astronomen wussten allerdings, dass es sich um denselben Himmelskörper handelte. Nach nicht eindeutigen Quellen hat Herakleides Pontikos möglicherweise sogar schon geglaubt, dass der Merkur und auch die Venus um die Sonne kreisen und nicht um die Erde. 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein Werk De revolutionibus orbium coelestium (lat.: Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), indem er die Planeten ihrer Geschwindigkeit nach in kreisförmigen Bahnen um die Sonne anordnete, womit der Merkur der Sonne am nächsten war. Die Römer benannten den Planeten wegen seiner schnellen Bewegung am Himmel nach dem geflügelten Götterboten Mercurius. Erdgebundene Erforschung Die Umlaufbahn des Merkurs bereitete den Astronomen lange Zeit Probleme. Kopernikus etwa schrieb dazu in De revolutionibus: „Der Planet hat uns mit vielen Rätseln und großer Mühsal gequält als wir seine Wanderungen erkundeten“. 1629 gelang es Johannes Kepler mithilfe von Beobachtungsdaten seines Vorgängers Tycho Brahe erstmals einen sogenannten Merkurtransit für den 7. November 1631 (auf etwa einen halben Tag genau) vorherzusagen. Als Pierre Gassendi diesen Durchgang vor der Sonne beobachten konnte, stellte er feste, dass der Merkur nicht wie von Ptolemäus im 2. Jahrhundert geschätzt ein Fünfzehntel des Sonnendurchmessers maß, sondern um ein Vielfaches kleiner war. Nach der Erfindung des Fernrohrs entdeckte Giovanni Battista Zupi im Jahre 1639, dass der Merkur Phasen zeigt wie der Mond, und bewies damit seinen Umlauf um die Sonne. Als Sir Isaac Newton 1687 die Principia Mathematica veröffentlichte und damit die Gravitation beschrieb, konnten die Planetenbahnen nun exakt berechnet werden. Der Merkur jedoch wich immer von diesen Berechnungen ab, was Urbain Le Verrier (der Entdecker des Planeten Neptun) 1859 dazu veranlasste, einen weiteren noch schnelleren sonnennäheren Planeten zu postulieren: Vulcanus. Erst Albert Einsteins Relativitätstheorie konnte diese Abweichungen in Merkurs Umlaufbahn richtig erklären. Die ersten, nur sehr vagen Merkurkarten wurden von Johann Hieronymus Schroeter skizziert. Die ersten detaillierteren Karten wurden im späten 19. Jahrhundert, etwa 1881 von Giovanni Schiaparelli und danach von Percival Lowell angefertigt. Lowell meinte, ähnlich wie Schiaparelli bei seinen Marsbeobachtungen auf dem Merkur Kanäle erkennen zu können. Besser, wenn auch immer noch sehr ungenau, war die Merkurkarte von Eugène Michel Antoniadi aus dem Jahr 1934. Antoniadi ging dabei von der geläufigen, aber irrigen Annahme aus, dass der Merkur eine gebundene Rotation von 1:1 um die Sonne aufweist. Für seine Nomenklatur der Albedomerkmale bezog er sich auf die Hermes-Mythologie. Audouin Dollfus übernahm sie großteils für seine genauere Karte von 1972. Die Internationale Astronomische Union (IAU) billigte diese Nomenklatur für heutige Merkurkarten auf der Grundlage der Naherkundung. Für die topografischen Strukturen wurde ein anderes Schema gewählt. So bekamen die den Maria des Mondes ähnlichen Tiefebenen den Namen des Gottes Merkur in verschiedenen Sprachen. Im Koordinatensystem des Merkurs werden die Längengrade von Ost nach West zwischen 0 und 360° gemessen. Der Nullmeridian wird durch den Punkt definiert, der am ersten Merkurperihel nach dem 1. Januar 1950 die Sonne im Zenit hatte. Die Breitengrade zwischen 0° und 90° werden nach Norden positiv und nach Süden negativ gezählt. Gesteinsbrocken des Merkurs, die durch den Einschlag größerer Asteroiden ins All geschleudert wurden, können als Meteoriten im Laufe der Zeit auch die Erde erreichen. Als mögliche Merkurmeteoriten werden der Enstatit-Chondrit Abee und der Achondrit NWA 7325 diskutiert. Erforschung mit Raumsonden Der Merkur gehört zu den am wenigsten erforschten Planeten des Sonnensystems. Dies liegt vor allem an den für Raumsonden sehr unwirtlichen Bedingungen in der Nähe der Sonne, wie der hohen Temperatur und intensiven Strahlung, sowie an zahlreichen technischen Schwierigkeiten, die bei einem Flug zum Merkur in Kauf genommen werden müssen. Selbst von einem Erdorbit aus sind die Beobachtungsbedingungen zu ungünstig, um den Planeten mit Teleskopen zu beobachten. Der Spiegel des Hubble-Weltraumteleskops nähme durch die Strahlung der Sonne großen Schaden, wenn er auf einen dermaßen sonnennahen Bereich ausgerichtet würde. Der mittlere Sonnenabstand des Merkurs beträgt ein Drittel desjenigen der Erde, sodass eine Raumsonde über 91 Millionen Kilometer in den Gravitationspotentialtopf der Sonne fliegen muss, um den Planeten zu erreichen. Von einem stationären Startpunkt bräuchte die Raumsonde keine Energie, um in Richtung Sonne zu fallen. Da der Start aber von der Erde erfolgt, die sich mit einer Orbitalgeschwindigkeit von 30 km/s um die Sonne bewegt, verhindert der hohe Bahndrehimpuls der Sonde eine Bewegung Richtung Sonne. Daher muss die Raumsonde eine beträchtliche Geschwindigkeitsänderung aufbringen, um in eine Hohmannbahn einzutreten, die in die Nähe des Merkurs führt. Zusätzlich führt die Abnahme der potenziellen Energie der Raumsonde bei einem Flug in den Gravitationspotentialtopf der Sonne zur Erhöhung ihrer kinetischen Energie, also zu einer Erhöhung ihrer Fluggeschwindigkeit. Wenn man dies nicht korrigiert, ist die Sonde beim Erreichen des Merkurs bereits so schnell, dass ein sicherer Eintritt in den Merkurorbit oder gar eine Landung erheblich erschwert werden. Für einen Vorbeiflug ist die hohe Fluggeschwindigkeit allerdings von geringerer Bedeutung. Ein weiteres Hindernis ist das Fehlen einer Atmosphäre; dies macht es unmöglich, treibstoffsparende Aerobraking-Manöver zum Erreichen des gewünschten Orbits um den Planeten einzusetzen. Stattdessen muss der gesamte Bremsimpuls für einen Eintritt in den Merkurorbit mittels der bordeigenen Triebwerke durch eine Extramenge an mitgeführtem Treibstoff aufgebracht werden. Diese Einschränkungen sind mit ein Grund dafür, dass der Merkur vor Messenger nur mit der einen Raumsonde Mariner 10 erforscht wurde. Eine dritte Merkursonde BepiColombo wurde am 20. Oktober 2018 gestartet. Mariner 10 Die Flugbahn von Mariner 10 wurde so gewählt, dass die Sonde zunächst die Venus anflog, dann in deren Anziehungsbereich durch ein Swing-by-Manöver Kurs auf den Merkur nahm. So gelangte sie auf eine merkurnahe Umlaufbahn um die Sonne, die mit einer Trägerrakete vom Typ Atlas-Centaur nur auf diese Weise erreicht werden konnte; ohne den Swing-by an der Venus hätte Mariner 10 eine deutlich größere und teurere Titan IIIC benötigt. Der schon lange an der Erforschung des innersten Planeten interessierte Mathematiker Giuseppe Colombo hatte diese Flugbahn entworfen, auf welcher der Merkur gleich mehrmals passiert werden konnte, und zwar immer in der Nähe seines sonnenfernsten Bahnpunktes – bei dem die Beeinträchtigung durch den Sonnenwind am geringsten ist – und am zugleich sonnennächsten Bahnpunkt von Mariner 10. Die anfänglich dabei nicht vorhergesehene Folge dieser himmelsmechanischen Drei-Körper-Wechselwirkung war, dass die Umlaufperiode von Mariner 10 genau zweimal so lang geriet wie die vom Merkur. Bei dieser Bahneigenschaft bekam die Raumsonde während jeder Begegnung ein und dieselbe Hemisphäre unter den gleichen Beleuchtungsverhältnissen vor die Kamera und erbrachte so den eindringlichen Beweis für die genaue 2:3-Kopplung von Merkurs Rotation an seine Umlaufbewegung, die nach den ersten, ungefähren Radarmessungen Colombo selbst schon vermutet hatte. Durch dieses seltsame Zusammentreffen konnten trotz der wiederholten Vorbeiflüge nur 45 Prozent der Merkuroberfläche kartiert werden. Mariner 10 flog im betriebstüchtigen Zustand von 1974 bis 1975 dreimal am Merkur vorbei: Am 29. März 1974 in einer Entfernung von 705 km, am 21. September in rund 50.000 km und am 16. März 1975 in einer Entfernung von 327 km. Zusätzlich zu den herkömmlichen Aufnahmen wurde der Planet im infraroten sowie im UV-Licht untersucht, und über seiner den störenden Sonnenwind abschirmenden Nachtseite liefen während des ersten und dritten Vorbeifluges Messungen des durch die Sonde entdeckten Magnetfeldes und geladener Partikel. Messenger Eine weitere Raumsonde der NASA, Messenger, startete am 3. August 2004 und schwenkte im März 2011 als erste Raumsonde in einen Merkurorbit ein, um den Planeten mit ihren zahlreichen Instrumenten eingehend zu studieren und erstmals vollständig zu kartografieren. Die Raumsonde widmete sich dabei der Untersuchung der geologischen und tektonischen Geschichte Merkurs sowie seiner Zusammensetzung. Weiterhin suchte die Sonde nach dem Ursprung des Magnetfeldes, bestimmte die Größe und den Zustand des Planetenkerns, untersuchte die Polarkappen des Planeten und erforschte die Exosphäre sowie die Magnetosphäre. Um sein Ziel zu erreichen, flog Messenger eine sehr komplexe Route, die ihn in mehreren Fly-by-Manövern erst zurück zur Erde, dann zweimal an der Venus sowie dreimal am Merkur vorbeiführte. Der erste Vorbeiflug am Merkur fand am 14. Januar 2008 um 20:04 Uhr MEZ statt und der zweite am 6. Oktober 2008. Dabei wurden bereits Untersuchungen der Oberfläche durchgeführt und Fotos von bisher unbekannten Gebieten aufgenommen. Der dritte Vorbeiflug, durch den die Geschwindigkeit der Sonde verringert wurde, erfolgte am 30. September 2009. Da die Sonde kurz vor der Passage unerwartet in den abgesicherten Modus umschaltete, konnten für geraume Zeit keine Beobachtungsdaten gesammelt und übertragen werden. Die gesamte Reise nahm etwa 6,5 Jahre in Anspruch. Die darauf folgende Mission im Merkurorbit ist in Jahresabschnitte geteilt, welche jeweils am 18. März beginnen. Vom 18. März 2011 bis 18. März 2012 wurden während der sogenannten primären Mission die wichtigsten Forschungen vorgenommen; anschließend begann die erste erweiterte Mission, welche bis zum 18. März 2013 lief. Danach wurde die Mission noch einmal bis März 2015 verlängert. Gegen Ende der Mission wurde die Sonde in Umlaufbahnen um den Planeten gebracht, deren niedrigster Punkt nur 5,3 km über der Oberfläche lag. Der verbleibende Treibstoff für die Triebwerke der Sonde wurde genutzt, um dem bremsenden Effekt der schwachen, aber doch vorhandenen Atmosphäre entgegenzuwirken. Die letzte dieser Kurskorrekturen erfolgte am 25. März 2015. Am 30. April 2015 stürzte die Sonde dann auf die erdabgewandte Seite des Merkurs. BepiColombo Die europäische Raumfahrtorganisation ESA und die japanische Raumfahrtbehörde JAXA erforschen den sonnennächsten Planeten mit der kombinierten Merkursonde BepiColombo. Das gemeinsame Unternehmen ist nach dem Spitznamen des 1984 verstorbenen Giuseppe Colombo benannt und besteht aus zwei am Ziel getrennt eingesetzten Orbitern: einem Fernerkundungsorbiter für eine 400 km × 1500 km messende polare Umlaufbahn und einem Magnetosphärenorbiter für einen polaren Merkurumlauf von 400 km × 12.000 km. Die Komponenten werden sich jeweils der Untersuchung des Magnetfeldes sowie der geologischen Zusammensetzung in Hinsicht der Geschichte des Merkurs widmen. Die Sonde startete am 20. Oktober 2018, ihre Reise zum Merkur wird mit Ionentriebwerken und Vorbeiflügen an den inneren Planeten unterstützt und soll 2025 in eine Umlaufbahn eintreten. Am Ziel wird die Sonde Temperaturen von bis zu 250 °C ausgesetzt sein und soll mindestens ein Jahr lang (d. h. über vier Merkurjahre) Daten liefern. Beobachtung Immer nur nahe der Sonne Der Merkur kann sich als innerster Planet des Sonnensystems nur bis zu einem Winkel von maximal 28 Grad (größte Elongation) von der Sonne entfernen und ist daher schwierig zu beobachten. Dem in Frauenburg tätigen Nikolaus Kopernikus war es beispielsweise nie gelungen, den Merkur zu beobachten. Der Merkur kann in der Abend- oder Morgendämmerung als orangefarbener Lichtpunkt mit einer scheinbaren Helligkeit von etwa 1 mag bis maximal −1,9 mag in der Nähe des Horizonts mit bloßem Auge wahrgenommen werden. Bei Tagbeobachtungen ist er – je nach Sichtverhältnissen – ab einer Fernrohröffnung von etwa 10 bis 20 cm gut zu erkennen. Durch die Horizontnähe wird seine Beobachtung mit Teleskopen sehr erschwert, da sein Licht eine größere Strecke durch die Erdatmosphäre zurücklegen muss und durch Turbulenzen, Lichtbrechung und Absorption gestört wird. Der Planet erscheint meist als verwaschenes, halbmondförmiges Scheibchen im Teleskop. Auch mit leistungsfähigen Teleskopen sind kaum markante Merkmale auf seiner Oberfläche auszumachen. Da die Merkurbahn stark elliptisch ist, schwanken die Werte seiner größten Elongation zwischen den einzelnen Umläufen von 18 bis 28 Grad. Bei der Beobachtung des Merkurs sind – bei gleicher geographischer nördlicher oder südlicher Breite – die Beobachter der Nordhalbkugel im Nachteil, denn die Merkur-Elongationen mit den größten Werten finden zu Zeiten statt, bei denen für einen Beobachter auf der Nordhalbkugel die Ekliptik flach über dem Horizont verläuft und der Merkur in der hellen Dämmerung auf- oder untergeht. In den Breiten Mitteleuropas ist er dann mit bloßem Auge nicht zu sehen. Die beste Sichtbarkeit verspricht eine maximale westliche Elongation (Morgensichtbarkeit) im Herbst, sowie eine maximale östliche Elongation (Abendsichtbarkeit) im Frühling. In großer Höhe über dem Horizont kann der Merkur mit bloßem Auge nur während einer totalen Sonnenfinsternis gesehen werden. Wegen der großen Bahnneigung zieht der Planet nur alle paar Jahre vor der Sonnenscheibe vorbei (siehe nächster Abschnitt). Hingegen kann er gerade deshalb manchmal doppelsichtig werden, indem er mit freiem Auge sowohl in der hellen Morgen- wie in der hellen Abenddämmerung beobachtbar sein kann. Dies ist in den Tagen um die Untere Konjunktion möglich, wenn er nicht knapp an der Sonne vorbeizieht, sondern bis zu 8° nördlich von ihr. Merkurtransit Aufgrund der Bahneigenschaften des Merkurs und der Erde wiederholen sich alle 13 Jahre ähnliche Merkursichtbarkeiten. In diesem Zeitraum finden im Allgemeinen auch zwei sogenannte Transits oder Durchgänge statt, bei denen der Merkur von der Erde aus gesehen direkt vor der Sonnenscheibe als schwarzes Scheibchen zu sehen ist. Ein solcher Transit des Merkurs ist sichtbar, wenn er bei der unteren Konjunktion – während er die Erde beim Umlauf um die Sonne auf seiner Innenbahn überholt – in der Nähe eines seiner beiden Bahnknoten steht, also die Erdbahnebene kreuzt. Ein solches Ereignis ist aufgrund der entsprechenden Geometrie nur zwischen dem 6. und dem 11. Mai oder zwischen dem 6. und dem 15. November möglich, da die beiden Bahnknoten am 9. Mai oder am 11. November von der Erde aus gesehen vor der Sonne stehen. Der letzte Merkurdurchgang fand am 11. November 2019 statt, der nächste folgt am 13. November 2032. Sichtbarkeit In der folgenden Tabelle sind die speziellen Konstellationen des Merkurs für das Jahr 2021 angegeben. Östliche Elongation bietet Abendsichtbarkeit, westliche Elongation Morgensichtbarkeit: Kulturgeschichte In der altägyptischen Mythologie und Astronomie galt der Merkur hauptsächlich als Stern des Seth. Sein Name Sebeg (auch Sebgu) stand für eine weitere Erscheinungsform der altägyptischen Götter Seth und Thot. Im antiken Griechenland bezog man den Planeten auf den Gott und Götterboten Hermes, assoziierte ihn aber auch mit den Titanen Metis und Koios. Der zumeist nur in der Dämmerung und dann auch nur schwer zu entdeckende, besonders rastlose Planet wurde auch als Symbol für Hermes als Schutzpatron der Händler, Wegelagerer und Diebe gesehen. Bei den Römern entsprach Hermes spätestens in der nachantiken Zeit dem Mercurius, abgeleitet von mercari (lat. für Handel treiben). Der von ihnen nach dem Merkur benannte Wochentag dies Mercurii ist im Deutschen der Mittwoch. In der Zuordnung der Wochentage besteht die namentliche Verbindung des Merkurs mit dem Mittwoch noch im Französischen (mercredi), im Italienischen (mercoledì), im Spanischen (miércoles), im Rumänischen (miercuri) und im Albanischen (e mërkurë). Den Germanen wird als Entsprechung des Gestirns der Gott Odin bzw. Wotan zugeschrieben, dem ebenso der Mittwoch (im Englischen wednesday, im Niederländischen woensdag) zugeordnet wurde. Im Altertum und in der Welt der mittelalterlichen Alchemisten hat man dem eiligen Wandelstern als Planetenmetall das bewegliche Quecksilber zugeordnet. In vielen Sprachen basiert der Name des Metalls heute noch auf diesem Wortstamm (englisch mercury, französisch mercure). Rezeption in Literatur, Film und Musik In der Musik hat Gustav Holst dem Merkur in seiner Orchestersuite The Planets (Die Planeten, 1914–1916) den dritten Satz gewidmet: Mercury, the Winged Messenger (Merkur, der geflügelte Bote). Die 43. Sinfonie (Hob I:43) von Joseph Haydn trägt den Beinamen "Merkur". Der Beiname "Merkur" stammt nicht von Haydn, sondern taucht erstmals erst im Jahre 1839 auf. Der Ursprung ist unbekannt. In der Unterhaltungsliteratur schrieb Isaac Asimov im Jahr 1956 für seine Lucky-Starr-Reihe den Science-Fiction-Roman Lucky Starr and the Big Sun of Mercury. Darin startet auf dem Planeten der lebensfeindlichen Temperaturextreme ein Projekt neuer Energiegewinnungs- und -transportmethoden für den wachsenden Energiebedarf der Erde, das jedoch von Sabotage betroffen ist. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1974 unter dem Titel Im Licht der Merkur-Sonne. In dem Film Sunshine, von Regisseur Danny Boyle im Jahr 2007 in die Kinos gebracht, dient eine Umlaufbahn um den Merkur als Zwischenstation für ein Raumschiff, dessen Fracht die Sonne vor dem Erlöschen bewahren soll. Der im Jahr 2012 erschienene Roman 2312 von Kim Stanley Robinson handelt in eben jenem Jahr 2312, unter anderem in Merkurs Hauptstadt Terminator, die sich ständig auf Schienen entlang des Äquators bewegt und plötzlich mit gezielten Meteoroiden angegriffen wird. Siehe auch Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde Literatur Lexikon der Astronomie. 2 Bände. Herder, Freiburg / Basel / Wien 1989, ISBN 3-451-21632-9. ABC-Lexikon Astronomie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin / Oxford 1995, ISBN 3-86025-688-2. David Morrison: Planetenwelten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1999, ISBN 3-8274-0527-0. Planeten und ihre Monde. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1997, ISBN 3-8274-0218-2. Der NASA-Atlas des Sonnensystems. Knaur, München 2002, ISBN 3-426-66454-2. Holger Heuseler, Ralf Jaumann, Gerhard Neukum: Zwischen Sonne und Pluto. BLV, München / Wien / Zürich 1999, ISBN 3-405-15726-9. Edward J. Tarbuck, Frederick K. Lutgens: Ciencias de la Tierra. Una Introducción a la Geología Física. Prentice Hall, Madrid 2000, ISBN 84-8322-180-2. Hielo en Mercurio. In: Joan Pericay: El Universo. Enciclopedia de la Astronomía y el Espacio. Band 5. Editorial Planeta-De Agostini, Barcelona 1997, S. 141–145. Stardate, Guide to the Solar System. Publication der University of Texas at Austin McDonald Observatory, . Our Solar System, A Geologic Snapshot. NASA (NP-157). Mai 1992. Weblinks NASA: Mariner 10 Bilder von Mercury (englisch) NASA: Merkuratlas (englisch) Solarviews: Merkur J. A. Dunne, E. Burgess: The voyage of Mariner 10: Missions to Venus and Mercury, Prepared by Jet Propulsion Laboratory, California Institute of Technology, 1978, (NASA-SP-424) (englisch) Merton E. Davies, Stephen E. Dwornik, Donald E. Gault, Robert G. Strom: Atlas of Mercury, Prepared for the Office of Space Sciences, National Aeronautics and Space Administration Scientific and Technical Information Office, 1978, (NASA-SP-423) (englisch) Raumfahrer.net: Messenger entdeckt Wassereis auf dem Merkur scinexx.de: Innerer Kern ist doch fest 18. April 2019 Medien Einzelnachweise Planet des Sonnensystems
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https://de.wikipedia.org/wiki/Primaten
Primaten
Die Primaten (Primates) oder Herrentiere sind eine zu der Überordnung der Euarchontoglires gehörige Ordnung innerhalb der Unterklasse der Höheren Säugetiere. Ihre Erforschung ist Gegenstand der Primatologie. Der Ausdruck „Affen“ wird bisweilen für diese Ordnung verwendet, ist aber missverständlich, da Affen nur eine Untergruppe darstellen. Primaten werden in die beiden Unterordnungen der Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten (Haplorrhini) eingeteilt, wobei letztere auch die Menschenaffen (Hominidae) inklusive des Menschen (Homo sapiens) mit einschließen. Die Bezeichnung stammt vom lateinischen primus (der Erste) und bezieht sich auf den Menschen als „Krone der Schöpfung“. Verbreitung Mit Ausnahme des Menschen, der eine weltweite Verbreitung erreicht hat, sind die Verbreitungsgebiete anderer Primaten größtenteils auf die Tropen und Subtropen Amerikas, Afrikas und Asiens beschränkt. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent reicht ihr heutiges Verbreitungsgebiet vom südlichen Mexiko bis ins nördliche Argentinien. Die Arten auf den Karibischen Inseln, die Antillenaffen (Xenotrichini), sind ausgestorben, heute gibt es dort nur vom Menschen eingeschleppte Tiere. In Afrika sind sie weit verbreitet, die größte Artendichte erreichen sie in den Regionen südlich der Sahara. Auf der Insel Madagaskar hat sich eine eigene Primatenfauna (ausschließlich Feuchtnasenprimaten) entwickelt, die Lemuren. In Asien umfassen die Verbreitungsgebiete der Primaten die Arabische Halbinsel (der dort lebende Mantelpavian wurde jedoch möglicherweise vom Menschen eingeschleppt), den indischen Subkontinent, die Volksrepublik China, Japan und Südostasien. Die östliche Grenze ihres Vorkommens bilden die Inseln Sulawesi und Timor. In Europa kommt frei lebend eine einzige Art vor, der Berberaffe in Gibraltar, doch ist auch diese Population wahrscheinlich vom Menschen eingeführt. Nicht-menschliche Primaten fehlen im mittleren und nördlichen Nordamerika, dem größten Teil Europas, den nördlichen und zentralen Teilen Asiens, dem australisch-ozeanischen Raum sowie auf abgelegenen Inseln und in den Polarregionen. Anders als andere Säugetiergruppen sind Primaten nicht im großen Ausmaß vom Menschen in anderen Regionen sesshaft gemacht worden, außer den bereits erwähnten Mantelpavianen auf der Arabischen Halbinsel und den Berberaffen in Gibraltar betrifft das nur kleine Gruppen, beispielsweise eine Population der Grünen Meerkatze, die von afrikanischen Sklaven auf die Karibikinsel Saint Kitts mitgebracht wurde, oder eine Gruppe Rhesusaffen in Florida. Merkmale Obwohl die Primaten eine relativ klar definierte Säugetierordnung sind, gibt es relativ wenig Merkmale, die bei allen Tieren dieser Ordnung und sonst bei keinem anderen Säugetier zu finden sind. Dennoch lassen sich laut dem Biologen Robert Martin neun Merkmale der Primatenordnung festhalten: Der große Zeh ist opponierbar (Ausnahme: Mensch) und die Hände sind zum Greifen geeignet. Die Nägel an den Händen und Füßen der meisten Arten sind flach (keine Krallen). Zudem haben Primaten Fingerabdrücke. Die Fortbewegung ist von den Hinterbeinen dominiert, der Schwerpunkt liegt näher an den hinteren Gliedmaßen. Die olfaktorische Wahrnehmung ist unspezialisiert und bei tagaktiven Primaten reduziert. Die visuelle Wahrnehmung ist hochentwickelt. Die Augen sind groß und nach vorn gerichtet (Stereoskopie). Die Weibchen haben geringe Wurfgrößen. Schwangerschaft und Abstillen dauern länger als bei anderen Säugetieren vergleichbarer Größe. Die Gehirne sind verhältnismäßig größer als bei anderen Säugetieren und weisen einige einzigartige anatomische Merkmale auf. Die Backenzähne sind relativ unspezialisiert und es gibt maximal drei; sowie maximal zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, und drei Prämolare. Es gibt weitere (für Systematiker nützliche) subtile anatomische Besonderheiten, die sich jedoch nur schwer funktionell einordnen lassen. Körpergröße Die kleinste Primatenart ist der Berthe-Mausmaki mit weniger als 10 Zentimetern Kopfrumpflänge und maximal 38 g Gewicht. Am größten sind die bis zu 275 kg schweren Gorillas. Generell sind Feuchtnasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht um 500 g kleiner als die Trockennasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht von 5 kg. Dies gründet auch auf den unterschiedlichen Aktivitätszeiten (siehe unten). Einige Arten haben einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus, wobei die Männchen mancher Arten doppelt so schwer wie die Weibchen sein können und sich auch in der Fellfarbe unterscheiden können (zum Beispiel beim Mantelpavian). Behaarung Der Körper der meisten Primaten ist mit Fell bedeckt, dessen Färbung von weiß über grau bis zu braun und schwarz variieren kann. Die Handflächen und Fußsohlen sind meistens unbehaart, bei manchen Arten auch das Gesicht oder der ganze Kopf (zum Beispiel Uakaris). Am wenigsten behaart ist der Mensch. Gesicht Die größten Augen aller Primaten haben die Koboldmakis. Bei den größtenteils nachtaktiven Feuchtnasenprimaten ist zusätzlich eine lichtreflektierende Schicht hinter der Netzhaut, das Tapetum lucidum vorhanden. Namensgebender Unterschied der beiden Unterordnungen ist der Nasenspiegel (Rhinarium), der bei den Feuchtnasenprimaten feucht und drüsenreich ist und sich in einem gut entwickelten Geruchssinn widerspiegelt. Die Trockennasenprimaten hingegen besitzen einfache, trockene Nüstern und ihr Geruchssinn ist weit weniger gut entwickelt. Zähne Die ältesten gefundenen fossilen Primaten besaßen eine Zahnformel von 2-1-4-3, das bedeutet pro Kieferhälfte zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren, insgesamt also 40 Zähne. Die maximale Zahnformel der rezenten Primaten lautet jedoch 2-1-3-3, die beispielsweise bei den Gewöhnlichen Makis und Kapuzinerartigen auftritt. Manche Gattungen haben ernährungsbedingt weitere Zähne eingebüßt, so besitzen die Wieselmakis keine Schneidezähne im Oberkiefer. Die wenigsten Zähne aller lebenden Arten hat mit 18 das Fingertier, das keine Eckzähne und nur mehr einen Schneidezahn pro Kieferhälfte besitzt. Die Altweltaffen, einschließlich des Menschen, haben die Zahnformel 2-1-2-3, also 32 Zähne. Die Form insbesondere der Backenzähne gibt Aufschluss über die Ernährung. Vorwiegend fruchtfressende Arten haben abgerundete, insektenfressende Arten haben auffallend spitze Molaren. Bei Blätterfressern haben die Backenzähne scharfe Kanten, die zur Zerkleinerung der harten Blätter dienen. Gliedmaßen Da die meisten Primatenarten Baumbewohner sind, sind ihre Gliedmaßen an die Lebensweise angepasst. Die Hinterbeine sind fast immer länger und stärker als die Vorderbeine (Ausnahmen sind die Gibbons und die nicht-menschlichen Menschenaffen) und tragen den größeren Anteil der Bewegung. Besonders ausgeprägt ist das bei den springenden Primaten und beim Menschen. Bei Arten, die sich hangelnd durch die Äste bewegen, ist der Daumen zurückgebildet (beispielsweise bei den Klammeraffen und Stummelaffen). Feuchtnasenprimaten haben an der zweiten Zehe eine Putz- oder Toilettenkralle, die der Fellpflege dient. Die Unterseite der Hände und Füße ist unbehaart und mit sensiblen Tastfeldern versehen. Schwanz Für viele baumbewohnende Säugetiere ist ein langer Schwanz ein wichtiges Gleichgewichts- und Balanceorgan, so auch bei den meisten Primaten. Jedoch kann der Schwanz rückgebildet sein oder ganz fehlen. Mit Ausnahme der Menschenartigen, die generell schwanzlos sind, ist die Schwanzlänge kein Verwandtschaftsmerkmal, da Stummelschwänze bei zahlreichen Arten unabhängig von der Entwicklung vorkommen. Sogar innerhalb einer Gattung, der Makaken, gibt es schwanzlose Arten (zum Beispiel der Berberaffe) und Arten, deren Schwanz länger als der Körper ist (zum Beispiel der Javaneraffe). Einen Greifschwanz haben nur einige Gattungen der Neuweltaffen ausgebildet (die Klammerschwanzaffen und die Brüllaffen). Dieser ist an der Unterseite unbehaart und mit sensiblen Nervenzellen ausgestattet. Lebensweise Lebensraum Man vermutet, dass sich die Primaten aus baumbewohnenden Tieren entwickelt haben und noch heute sind viele Arten reine Baumbewohner, die kaum jemals auf den Boden kommen. Andere Arten sind zum Teil terrestrisch (auf dem Boden lebend), dazu zählen beispielsweise Paviane und Husarenaffen. Nur wenige Arten sind reine Bodenbewohner, darunter der Dschelada und der Mensch. Primaten finden sich in den verschiedensten Waldformen, darunter tropische Regenwälder, Mangrovenwälder, aber auch Gebirgswälder bis über 3000 m Höhe. Obwohl man diesen Tieren generell nachsagt, wasserscheu zu sein, finden sich Arten, die gut und gerne schwimmen, darunter der Nasenaffe oder die Sumpfmeerkatze, die sogar kleine Schwimmhäute zwischen den Fingern entwickelt hat. Für einige hemerophile Arten (Kulturfolger) sind auch Städte und Dörfer Heimat geworden, zum Beispiel den Rhesusaffen und den Hanuman-Langur. Aktivitätszeiten Vereinfacht gesagt sind Feuchtnasenprimaten meist nachtaktiv (Ausnahmen: Indri, Sifakas und Varis), während Trockennasenprimaten meist tagaktiv sind (Ausnahmen: Koboldmakis und Nachtaffen). Die unterschiedlichen Aktivitätszeiten haben sich auch im Körperbau niedergeschlagen, so sind in beiden Untergruppen nachtaktive Tiere durchschnittlich kleiner als tagaktive. Eine weitere Anpassung an die Nachtaktivität stellt der bessere Geruchssinn der Feuchtnasenprimaten dar. Vergleichbar mit anderen Säugetieren ist die Tatsache, dass Arten, die sich vorwiegend von Blättern ernähren, längere Ruhezeiten einlegen, um den niedrigen Nährwert ihrer Nahrung zu kompensieren. Fortbewegung Primaten verwenden unterschiedliche Arten der Fortbewegung, die sich in verschiedenen Anpassungen im Körperbau widerspiegeln und auch vom Lebensraum abhängig sind. Es lassen sich folgende Formen unterscheiden: Klettern und Springen: Hierfür werden vorwiegend die senkrechten Stämme genutzt. Springfähige Primaten haben besonders starke hintere Gliedmaßen. Langsames Klettern: Diese Form ist insbesondere für Loris typisch, die behäbig durch die Äste klettern und sich mit festem Klammergriff halten. Schwinghangeln: Bei dieser Methode wird der Körper mit Hilfe kräftiger Arme durch das Geäst geschwungen. Schwinghangeln lässt sich beispielsweise bei Spinnenaffen und Orang-Utans beobachten, perfektioniert bei Gibbons (Brachiation). Vierbeiniges Gehen in den Bäumen: Bei dieser Form der Fortbewegung werden vorwiegend waagrechte Äste benutzt. Vierbeiniges Gehen am Boden: Während Paviane Zehen und Finger plantar bzw. palmar am Boden aufsetzen, stützen sich Gorillas und Schimpansen auf die Rückseite der zweiten Fingerglieder (sogenannter Knöchelgang). Bipedie: Den zweibeinigen, aufrechten Gang auf dem Boden praktizieren mehrere Primatenarten zeitweise, in Reinform kommt diese Methode nur beim Menschen und dessen Vorfahren (Hominini) vor. Sozialverhalten Primaten haben in den meisten Fällen ein komplexes Sozialverhalten entwickelt. Reine Einzelgänger sind selten, auch bei Arten, die vorwiegend einzeln leben (zum Beispiel der Orang-Utan), überlappen sich die Reviere von Männchen und Weibchen, und bei der Fortpflanzung werden Tiere aus solchen überlappenden Territorien bevorzugt. Andere Arten leben in langjährigen monogamen Beziehungen (zum Beispiel Indriartige oder Gibbons). Vielfach leben Primaten jedoch in Gruppen. Diese können entweder Harems- oder Einzelmännchengruppen sein, wo ein Männchen zahlreiche Weibchen um sich schart, oder gemischte Gruppen, in denen mehrere geschlechtsreife Männchen und Weibchen zusammenleben. In Gruppen etabliert sich meist eine Rangordnung, die durch Alter, Verwandtschaft, Kämpfe und andere Faktoren bestimmt ist. Vermutlich im Zusammenhang mit dem zunehmenden Gehirnvolumen ist die elterliche Fürsorge relativ hoch entwickelt. Auch die Kommunikation und Interaktion spielt eine bedeutende Rolle. Etliche Arten haben eine Vielzahl von Lauten, die zur Markierung des Territoriums, zur Suche nach Gruppenmitgliedern, zur Drohung oder zur Warnung vor Fressfeinden dienen kann. Besonders bekannt sind die Urwaldkonzerte der Brüllaffen und die Duettgesänge der Gibbonpärchen. Der Mensch ist der einzige, der wirklich ein hochkomplexes Lautsystem (Sprache) benutzt. Auch Körperhaltungen und Grimassen können eine Kommunikationsform darstellen, eine weitere wichtige Form der Interaktion ist die gegenseitige Fellpflege. Bei den Feuchtnasenprimaten spielt der Geruchssinn eine bedeutendere Rolle, oft wird das Revier mit Duftdrüsen oder Urin markiert. Mit der Soziologie der Primaten befasste sich im 20. Jahrhundert insbesondere der deutsche Psychiater Detlev Ploog. Ernährung Unter den Primaten besteht eine erhebliche Variabilität in der Ernährungsweise. Folgende Verallgemeinerungen lassen sich dennoch treffen: Alle Primaten greifen auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Proteingehalt und auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Kohlenhydratgehalt zurück. Insekten bzw. Pflanzengummi und Früchte sind die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle von Halbaffen. Insekten und junge Blätter bzw. Früchte sind meist die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle der Affen und Menschenartigen. Die meisten Primaten ernähren sich stärker von bestimmten Nahrungsmitteln als von anderen. Wissenschaftler verwenden die Begriffe Frugivoren, Folivoren, Insektivoren und Gumnivoren, um Arten zu bezeichnen, die sich vorrangig von Früchten, Blättern, Insekten bzw. Pflanzengummi ernähren. Insektivoren sind meist kleiner als Frugivoren, und Frugivoren sind kleiner als Folivoren. Dies liegt daran, dass kleinere Tiere relativ mehr Energie benötigen als größere. Sie brauchen schnell verfügbare, qualitativ hochwertige Nahrung, während größere Tiere nicht so eingeschränkt sind, da sie es sich erlauben können, qualitativ minderwertige Nahrung langsamer aufzunehmen. Vermutlich waren die Vorfahren der Primaten Insektenfresser, die Mehrzahl der Arten ist heute jedoch vorrangig Pflanzenfresser. Früchte stellen für viele Arten den Hauptbestandteil der Nahrung dar, ergänzt werden sie durch Blätter, Blüten, Knollen, Pilze, Samen, Nüsse, Baumsäfte und andere Pflanzenteile. Viele Arten sind jedoch Allesfresser, die neben pflanzlicher auch tierische Nahrung zu sich nehmen, insbesondere Insekten, Spinnen, Vogeleier und kleine Wirbeltiere. Zu den Gattungen, die gelegentlich Jagd auf größere Säugetiere (Hasen, kleine Primaten, junge Paarhufer) machen, gehören Paviane und Schimpansen. Primaten gehören zu den wenigen Wirbeltieren, die das wichtige Vitamin C nicht selbst produzieren können. Sie müssen es deshalb mit der Nahrung aufnehmen. Folivore Arten weisen besondere Anpassungen auf: so haben die Stummelaffen einen mehrkammerigen Magen, in welchem Mikroorganismen die Zellulose abbauen. Dieses Konzept ähnelt dem der Wiederkäuer oder mancher Känguruarten. Andere, wie die Brüllaffen oder die Gorillas, haben einen vergrößerten Dickdarm, der demselben Zweck dient. Reine Fleischfresser sind selten unter den Primaten, dazu gehören beispielsweise die insektenfressenden Koboldmakis und Bärenmakis. Da das Nahrungsangebot für Folivoren dazu tendiert, zeitlich und räumlich uniform und vorhersehbar zu sein, sind ihre Aktionsräume meist kleiner als die von Frugivoren und Insektivoren. Fortpflanzung Generell zeichnen sich Primaten durch eine lange Trächtigkeitsdauer, eine lange Entwicklungszeit der Jungen und eine eher hohe Lebenserwartung aus. Die Jungtiere werden in der Regel von der Mutter umhergetragen und halten sich hierzu als aktive Traglinge in deren Fell fest. Die Strategie dieser Tiere liegt darin, viel Zeit in die Aufzucht der Jungtiere zu investieren, dafür ist die Fortpflanzungsrate gering. Die kürzeste Tragzeit haben Katzenmakis mit rund 60 Tagen, bei den meisten Arten liegt sie zwischen vier und sieben Monaten. Die längste Trächtigkeitsdauer haben der Mensch und die Gorillas mit rund neun Monaten. Bei den meisten Arten überwiegen Einzelgeburten, und auch bei den Arten, die üblicherweise Mehrfachgeburten aufweisen (darunter Katzenmakis, Galagos und Krallenaffen) liegt die Wurfgröße selten über zwei oder drei Neugeborenen. Systematik und Stammesgeschichte Äußere Systematik Die Primaten gehören innerhalb der Plazentatiere zu den Euarchontoglires, einer aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen festgelegten Überordnung. Ihre nächsten Verwandten sind die Riesengleiter (Dermoptera). Die Spitzhörnchen (Scandentia), die früher manchmal den Primaten zugerechnet wurden, zeigen zwar im Schädelbau und im Verhalten Ähnlichkeiten, diese sind aber entweder generelle Merkmale der Säuger oder konvergente Entwicklungen, sodass sie heute in eine eigene Ordnung, Scandentia, gestellt werden. Das nachfolgende Diagramm gibt die vermuteten Entwicklungsverhältnisse innerhalb dieser Überordnung wieder: Innere Systematik Die Primaten umfassen mehr als 500 Arten, man teilt sie heute in zwei Unterordnungen, die Trockennasenprimaten (Haplorrhini) und die Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini). Die Feuchtnasenprimaten teilen sich in die Lemuren (Lemuriformes), die ausschließlich auf Madagaskar leben, und die Loriartigen (Lorisiformes), zu denen Loris und Galagos gehören. Bei den Trockennasenprimaten stehen die Koboldmakis den anderen Arten gegenüber, die als Affen (Anthropoidea oder Simiae) bezeichnet werden und sich wiederum in die Neuweltaffen und die Altweltaffen teilen. Früher wurden die Feuchtnasenprimaten und die Koboldmakis als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst (teilweise inklusive der Riesengleiter und der Spitzhörnchen); diese wurden den „Echten“ Affen gegenübergestellt. Stammesgeschichte Die ältesten zweifelsfrei den Primaten zuzuordnenden Fossil­funde stammen aus dem frühen Eozän (vor rund 55 Millionen Jahren). Diese Funde, wie diejenigen des Trockennasenprimaten Teilhardina, dokumentieren jedoch bereits die Aufspaltung in die beiden Unterordnungen, daher liegt der Ursprung der Primaten vermutlich in der Oberkreide­zeit vor rund 80 bis 90 Millionen Jahren. Es existieren einige Funde aus der Oberkreide und dem Paläozän wie Purgatorius oder die Plesiadapiformes, die manchmal als früheste bekannte Primaten bezeichnet werden. Ihre Stellung ist jedoch umstritten, viele Autoren sehen in ihnen eine gänzlich eigene Säugetierordnung. Die Funde aus dem Eozän werden den Adapiformes und den Omomyidae, einer den Koboldmakis ähnlichen Familie zugeordnet und sind aus Afrika, Asien, Europa und Nordamerika bekannt. Während die Primaten in Nordamerika im Oligozän ausstarben, entwickelten sie sich auf den anderen Kontinenten weiter. Die heutigen Primaten Amerikas, die Neuweltaffen, sind seit rund 35 Millionen Jahren fossil belegt, älteste bekannte Gattung ist Perupithecus. Aus dem Miozän sind Vorfahren der meisten heutigen Familien bekannt, eine Ausnahme bilden die Primaten Madagaskars, was aber wohl auf eine schlechte Fossilienfundrate zurückzuführen ist. In Europa starben die nichtmenschlichen Primaten – aus der Familie der Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) – im Pleistozän aus. In beispielloser Weise hat sich der Mensch (Homo sapiens) innerhalb der letzten 100.000 Jahre über die gesamte Welt ausgebreitet, sodass heute – mit Ausnahme des antarktischen Kontinents, wo dauerhafte Wohnsiedlungen fehlen – überall auf der Erde Primaten zu finden sind. Primaten und Menschen Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Menschen und anderen Primaten, wobei der Mensch selbst weitestgehend unbeachtet bleibt. Forschungsgeschichte Zu den frühesten im Mittelmeerraum bekannten Primaten zählten der Berberaffe Nordafrikas und der Mantelpavian Ägyptens. Der karthagische Seefahrer Hanno († 440 v. Chr.) brachte von seiner Afrikareise die Felle von drei „wilden Frauen“ mit, vermutlich Schimpansen. Aristoteles schreibt über Tiere, die sowohl Eigenschaften des Menschen als auch Eigenschaften der „Vierfüßer“ teilen und unterteilt sie in (Menschen-)Affen, „Affen mit Schwanz“ ( kēboi, vermutlich Meerkatzen oder Makaken) und Paviane ( kynokephaloi). Den Pavianen attestierte er eine hundeähnliche Schnauze und Zähne und prägte so den Begriff der Hundsaffen. Im 2. Jahrhundert nach Christus sezierte Galenos von Pergamon Berberaffen und schlussfolgerte daraus die menschliche Anatomie; bis ins 16. Jahrhundert hinein waren seine Forschungen für die Medizin bestimmend. Die Vorstellungen von Primaten im Mittelalter waren überlagert von Fabelwesen wie behaarten, geschwänzten Menschen und Halbwesen ähnlich dem Satyr. Pan, der Gattungsname der Schimpansen, abgeleitet vom bocksfüßigen Hirtengott Pan, geht auf solche Vorstellungen zurück. 1641 kam erstmals ein lebendiger Schimpanse nach Holland und wurde vom niederländischen Arzt Nicolaes Tulpius (1593–1674), der durch seine Verewigung in Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp berühmt wurde, untersucht und unter dem Titel „Indischer Satyr“ veröffentlicht. Als Begründer der Primatologie gilt der englische Arzt und Zoologe Edward Tyson (1650–1708), der 1699 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem von ihm untersuchten „Orang-Utan oder Homo sylvestris“ – in Wahrheit einem Schimpansen aus Angola – und dem Menschen feststellte. Carl von Linné schuf die grundsätzlich heute noch gültige Systematik der Tiere, er teilte in der zehnten Auflage seiner Systema Naturae (1758) die Primaten in vier Gattungen: Homo (Mensch), Simia (Menschenaffen und andere Affen), Lemur (Lemuren und andere „niedere“ Affen) und Vespertilio (Fledermäuse) – in früheren Auflagen hatte er auch noch die Faultiere zu den Primaten gerechnet. Ganz mochte man sich mit der Einordnung der Menschen unter die Primaten nicht abfinden, so teilte Johann Friedrich Blumenbach diese Gruppe in die „Bimana“ (Zweihänder, also Menschen) und „Quadrumana“ (Vierhänder, also nicht-menschliche Primaten). Diese Einteilung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass Menschenaffen in jener Zeit oft mit einem Stock dargestellt wurden, da das zweifüßige Gehen ohne Hilfe dem Menschen vorbehalten war. Im 19. Jahrhundert wurde die Evolutionstheorie entwickelt und Thomas Henry Huxley band mit seinem Werk Evidence as to Man’s Place in Nature (1863) den Menschen konsequent in die Evolutionsvorgänge ein, was noch jahrzehntelange Diskussionen anheizen sollte, ob der Mensch denn wirklich vom Affen abstamme. Der britische Zoologe St. George Mivart (1827–1900), ein konservativer Katholik und Autodidakt, versuchte einerseits, Darwins und Huxleys Thesen zu widerlegen, unter anderem mit der Behauptung, die Erde existiere für die beschriebenen Evolutionsprozesse noch nicht lang genug, andererseits aber modifizierte er die Einteilung Linnés, indem er die Fledermäuse von den Primaten abtrennte und die bis vor kurzem gültige Einteilung in Halbaffen und Affen durchführte. Mivart etablierte auch eine Merkmalsliste der Primaten, in der er unter anderem ausgebildete Schlüsselbeine, einen Greiffuß mit gegenüberstellbarer Großzehe und einen freihängenden Penis mit dahinterliegendem Skrotum anführte. Ab dem 20. Jahrhundert spaltete sich die Forschungsgeschichte in zahlreiche Bereiche auf, die hier stichwortartig wiedergegeben werden: Paläontologie: Mit Hilfe von Fossilien wurde versucht, die genauen Abstammungsverhältnisse innerhalb der Primaten zu ermitteln. Besonders intensiv wurde versucht, die Stammesgeschichte des Menschen nachzuvollziehen und den lang gesuchten „Missing Link“ zu seinen direkten tierischen Vorfahren zu finden. Systematik: Mit Hilfe von DNA-Vergleichen und anderer Vergleichsmethoden wurden die stammesgeschichtlichen Beziehungen der verschiedenen Primatengruppen genauer analysiert. Kladistische Systematiken wurden entwickelt, die dem früheren „Fortschrittsvorurteil“ der klassischen Systematik gegenüberstehen. Zwei grundlegende Korrekturen in der Systematik sind dadurch entstanden: Die traditionelle Einteilung in Halbaffen und Affen wurde zugunsten der Gruppierung in Feuchtnasenprimaten und Trockennasenprimaten aufgegeben. Die zweite Änderung betrifft den Menschen, der früher – vielleicht als letztes Überbleibsel einer traditionell zugestandenen Sonderrolle – in einer eigenen Familie (Hominidae) den Menschenaffen (Pongidae) gegenübergestellt wurde, heute allerdings zweifelsfrei als Mitglied der Menschenaffen (Hominidae) eingeordnet wird. Verhaltensforschung: Anstatt rein äußerlicher Beschreibungen rückte das Verhalten der Tiere in den Mittelpunkt. Verhaltensweisen und Sozialformen wurden exakter analysiert, viele Forscher verbrachten mehrere Jahre in der Nähe der Tiere, um genaue Freilandstudien durchführen zu können. Zu den bekanntesten Forscherinnen zählen Dian Fossey und Jane Goodall. In diesen Bereich gehört auch die Intelligenz- und Lernforschung. Anhand ihrer Fähigkeiten, Aufgabenstellungen zu lösen (zum Beispiel eine Frucht aus einer mit Schnallen verschlossenen Schachtel zu holen) oder mittels Symbolkärtchen oder Gebärdensprache in eine Kommunikation mit Menschen zu treten, soll die Intelligenz und das Lernverhalten der Tiere ermittelt werden. In jüngster Zeit untersucht zudem die Primatenarchäologie die Geschichte der frühesten belegbaren materiellen Kultur bei Primaten, das heißt deren Werkzeuggebrauch. Erhaltungsbiologie: Angesichts der zum Teil drastisch zurückgehenden natürlichen Lebensräume vieler Arten werden Fragen des Naturschutzes und der Errichtung geeigneter Schutzgebiete immer brennender. Generell lässt sich in den letzten Jahrzehnten ein Rückgang der Forschung mit anatomischen und physiologischen Fragestellungen und ein Aufschwung in Freilandforschung und Verhaltensbiologie erkennen. In Japan besteht seit 1956 das Japanische Affenzentrum und seit 1967 das Primate Research Institute in Kyoto. Kulturelle Bedeutung Die Menschenähnlichkeit im Körperbau und mehrere Angewohnheiten haben oft zu mythischen Vorstellungen beigetragen. Zu diesen Angewohnheiten zählen das morgendliche Aalen in der Sonne, das als religiöse Sonnenverehrung gedeutet wurde, die Schreie und Gesänge und die vermutete eheliche Treue mancher Arten. In verschiedenen Religionen wurden manche Arten zu heiligen Tieren erklärt. Der altägyptische Gott Thot wurde manchmal in Gestalt eines Pavians dargestellt. Im ägyptischen Totenbuch wird von den Pavianen berichtet, sie sitzen am Bug der Todesbarke und der Tote kann sich an sie wenden und beim Totengericht um Gerechtigkeit im Totenreich bitten. Paviane genossen deshalb Schutz und wurden sogar mumifiziert. In Indien gelten Rhesusaffen und Hanuman-Languren als heilig. Im Epos Ramayana helfen Affen, geführt von Hanuman, dem Prinzen Rama bei der Befreiung seiner Gattin aus den Fängen des Dämonenfürsten Ravana. Der affengestaltige Gott Hanuman gehört heute zu den populärsten Göttern des Hinduismus. In verschiedenen Regionen der Erde genossen gewisse Primaten aufgrund mythischer Vorstellungen Schutz vor der Bejagung, so zum Beispiel der Indri auf Madagaskar. In der chinesischen Kultur wurden die Duettgesänge der Gibbons mit der angeblichen Melancholie dieser Tiere in Verbindung gebracht, was sich in Gedichten und Gemälden niedergeschlagen hat. Bekannt ist das buddhistische Symbol der drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Primaten als Haustiere Die ältesten Belege über Primaten als Haustiere stammen aus dem Alten Ägypten, wo Bilder zeigen, wie Paviane an der Leine geführt wurden und mit Kindern spielten. Aus dem alten China sind Gibbons als Haustiere bekannt. Über Jahrtausende hinweg wurden Primaten als Haustiere gehalten, auch heute ist dies noch mancherorts üblich. Gehalten werden vor allem Menschenaffen und kleinere Arten wie Totenkopfaffen – bekannt war der Schimpanse Michael Jacksons. Problematisch ist dabei, dass diese Tiere selten gezüchtet, sondern meistens als Jungtiere gefangen werden, was oft mit der Tötung der Mutter einhergeht. Unter dem Aspekt des Tierschutzes werden Primaten als Haustiere generell abgelehnt, da eine artgerechte Haltung kaum möglich ist und es auch zur Übertragung von Krankheiten – in beide Richtungen – kommen kann. Primaten als Nutztiere Unter den Primaten finden sich keine klassischen Nutztiere. Im Bereich der medizinischen Forschung und der Erprobung von Kosmetika werden Primaten vielfach für Tierversuche benutzt. Am bekanntesten ist wohl der Rhesusfaktor, der 1940 am Rhesusaffen entdeckt wurde. Früher hat die Suche nach Versuchstieren die Populationen zum Teil drastisch dezimiert; heute stammen die Tiere für diese Zwecke meist aus eigener Züchtung. Ein weiteres Einsatzgebiet von Primaten war die Raumfahrt. Der erste war 1958 „Gordo“, ein Totenkopfaffe, der an Bord einer Redstone-Rakete ins All befördert wurde. Es folgten weitere Totenkopfaffen, Rhesusaffen und Schimpansen in den Raumfahrtprogrammen der USA, Frankreichs und der Sowjetunion. In den USA gab es Projekte, bei denen Kapuzineraffen als Hilfen für körperlich behinderte Menschen ausgebildet wurden. Bedrohung Das größte Artensterben in jüngerer Vergangenheit hat auf Madagaskar stattgefunden. Die Insel, die erst vor rund 1500 Jahren von Menschen besiedelt wurde, ist Heimat zahlreicher endemischer Tierarten, darunter fünf Primatenfamilien. Mindestens acht Gattungen und fünfzehn Arten sind seither dort ausgestorben, höchstwahrscheinlich aufgrund der Bejagung, möglicherweise gekoppelt mit klimatischen Veränderungen. Zu den dort ausgerotteten Primaten zählen vorrangig größere, bodenlebende Arten, darunter die Riesenlemuren Megaladapis und der gorillagroße Archaeoindris sowie die Palaeopropithecidae („Faultierlemuren“) und Archaeolemuridae („Pavianlemuren“). Global betrachtet ist die Situation vieler Primatenarten besorgniserregend. Als vorrangig waldbewohnende Tiere sind sie den Gefahren, die mit den großflächigen Abholzungen der Wälder einhergehen, drastisch ausgeliefert. Die Verbreitungsgebiete vieler Arten machen nur mehr einen Bruchteil ihres historischen Vorkommens aus. Die Jagd tut ein Übriges: Gründe für die Bejagung sind unter anderem ihr Fleisch, das verzehrt wird, und ihr Fell. Hinzu kommt die Tatsache, dass sie Plantagen und Felder verwüsten, sowie die – weitgehend illegale – Suche nach Haustieren. Dabei werden meist die Mütter erlegt, um halbwüchsige Tiere einfangen zu können. Obwohl die International Union for Conservation of Nature keine Primatenart als in den letzten 200 Jahren ausgestorben listet, gilt eine Reihe als stark gefährdet. Zu den bedrohtesten Primaten zählen beispielsweise die Spinnenaffen und die Löwenäffchen Südamerikas, der auf Java endemische Silbergibbon, mehrere Stumpfnasenarten und der Sumatra-Orang-Utan. Einer im Juni 2019 veröffentlichten Untersuchung zufolge geht der Bestand von 75 % der Primaten-Arten zurück und 60 % sind vom Aussterben bedroht. Zu den Hauptgründen gehört die zunehmende Entwaldung. Zwischen 2001 und 2015 wurde 47 % der Waldfläche in Südostasien abgeholzt, in Süd- und Mittelamerika und in Südasien liegt dieser Wert bei 26 % und in Afrika verschwand 7 % der Waldfläche. Durch den vom Menschen verursachten Klimawandel bedingte Änderungen des Ausmaßes und der Intensität von Extremwetterereignissen – darunter Wirbelstürme und Dürren – wirken sich negativ auf die weltweite Primatenpopulation aus. So zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2019, dass 16 % der Primaten-Taxa für Wirbelstürme anfällig sind (insbesondere in Madagaskar) und 22 % für Dürren (vor allem auf der malaysischen Halbinsel, in Nordborneo, auf Sumatra und in den tropischen Feuchtwäldern Westafrikas). Weblinks Primate Info Net (englisch) The Primata – Fakten und Links zu zahlreichen Arten (englisch) EUPRIM-Net: European Primate Network (englisch) Literatur Louis de Bonis: Vom Affen zum Menschen 1 & 2. Spektrum Compact 2004,1. Verlag Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 2004, ISBN 3-936278-70-9. Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-43645-6. Colin Groves: Primate Taxonomy. Smithsonian Institution Press, Washington 2001, ISBN 1-56098-872-X. Andreas Paul: Von Affen und Menschen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13869-4. Detlev Ploog: Soziologie der Primaten. In: Psychiatrie der Gegenwart. Band I.2. Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 379–544. Daris Swindler: Introduction to the Primates. University of Washington Press, Washington 1998, ISBN 0-295-97704-3. Thomas S. Kemp: The Origin and Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-850761-5. Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Quedlinburg
Quedlinburg
Quedlinburg ([], plattdeutsch Queddelnborg, offizieller Beiname auch Welterbestadt Quedlinburg) ist eine Stadt an der Bode nördlich des Harzes im Landkreis Harz (Sachsen-Anhalt). 922 urkundlich zum ersten Mal erwähnt und 994 mit dem Stadtrecht versehen, war die Stadt vom 10. bis zum 12. Jahrhundert Sitz der zu Ostern besuchten Königspfalz weltlicher Herrscher und fast 900 Jahre lang eines (zunächst geistlichen, nach der Reformation freiweltlichen) Damenstifts. Quedlinburgs architektonisches Erbe steht seit 1994 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes und macht die Stadt zu einem der größten Flächendenkmale in Deutschland. In der historischen Altstadt mit ihren kopfsteingepflasterten Straßen, verwinkelten Gassen und kleinen Plätzen befinden sich über 2100 Fachwerkhäuser aus acht Jahrhunderten. Am Markt liegt das Renaissance-Rathaus mit der Roland-Statue, südlich davon der Schlossberg mit der romanischen Stiftskirche und dem Domschatz als Zeugnissen des Quedlinburger Damenstifts. Auch der Münzenberg mit der romanischen Klosterkirche St. Marien und im Tal dazwischen die romanische Kirche St. Wiperti, der sich anschließende Abteigarten und der Brühl-Park gehören zum Weltkulturerbe. Geographie Lage Die Stadt liegt im nördlichen Harzvorland durchschnittlich , 50 km südwestlich der Landeshauptstadt Magdeburg. Die unmittelbar angrenzenden Höhen erreichen etwa . Die Stadt liegt im Flussbett der Bode, mit dem größeren Teil westlich des Flusses. Das Stadtgebiet hat eine Fläche von 78,14 Quadratkilometern. Geologie Quedlinburg liegt inmitten des Quedlinburger Sattels, einem Schmalsattel, der das Stadtgebiet von Nordwesten nach Südosten durchquert. Dazu gehört der Quedlinburger Schlossberg mit seiner Verlängerung über den Münzenberg-Strohberg, die nördlich gelegene Hamwarte und die südlicher gelegene Altenburg. Weiter im Süden liegt die Harznordrandstörung. Parallel zum Nordrand des herausgehobenen Harzes sind die mesozoischen Gesteinsschichten daran aufgebogen und teilweise abgebrochen. Die wechselnden Lagen von unterschiedlich widerständigen mesozoischen Gesteinen (Jura, Kreide, Muschelkalk) bilden teilweise freipräparierte Schichtrippen, die als markante Höhenzüge von der Bode quer durchschnitten werden. Der markanteste Höhenzug ist die Teufelsmauer. Während der Elster- und der Weichsel-Kaltzeit hatte das Eis den Harzrand erreicht, während die Region in der letzten Kaltzeit (Saale-Kaltzeit) nicht mit Eis bedeckt war. Während der Hochglazialphasen bildeten sich äolische Decken. Diese großflächig aufgewehten Lössschichten überlagerten die älteren Fest- und Lockergesteine und wurden später zu Schwarzerdeböden hoher Güte umgewandelt. Es sind dies die südlichen Ausläufer der fruchtbaren Magdeburger Börde. Klima Die Stadt befindet sich in der gemäßigten Klimazone. Die durchschnittliche Jahrestemperatur in Quedlinburg beträgt 8,8 °C. Die wärmsten Monate sind Juli und August mit durchschnittlich 17,8 beziehungsweise 17,2 °C und die kältesten Januar und Februar mit 0,1 beziehungsweise 0,4 °C im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt im Juni mit durchschnittlich 57 Millimeter, der geringste im Februar mit durchschnittlich 23 Millimeter. Der Harz liegt als Hindernis in der von Südwesten kommenden Westwinddrift. Durch die Höhe (Brocken mit ) werden die Luftmassen zum Aufsteigen gezwungen und regnen sich dabei ab. Die nordöstliche Seite liegt im Regenschatten des Harzes. In diesem Gebiet befindet sich Quedlinburg mit einem der geringsten Jahresniederschläge in Deutschland von nur 438 Millimetern (zum Vergleich: Köln annähernd 798 Millimeter). Da die Monate Dezember, Januar und Februar absolut die niedrigsten Niederschlagswerte besitzen und die stark abnehmende Tendenz bereits im Spätherbst beginnt, kann von einer Quedlinburger „Wintertrockenheit“ gesprochen werden. Bei der 2010 erstmals durchgeführten Gesamtauswertung der 2100 Messstationen des Deutschen Wetterdienstes wurde festgestellt, dass Quedlinburg im August 2010 mit 72,4 Liter je Quadratmeter (= mm) der trockenste Ort in Deutschland war. Frostfreie Tage gibt es pro Jahr 177, während an 30 Tagen Dauerfrost herrscht. Eine geschlossene Schneedecke ist an weniger als 50 Tagen vorhanden und die Sonnenscheindauer liegt bei 1422 Stunden jährlich. Daten der Klimastation Quedlinburg Stadtgliederung Die historische Kernstadt gliedert sich in den ehemaligen Königsbesitz mit dem Westendorf, dem Burgberg, der St.-Wiperti-Kirche sowie dem Münzenberg. Nördlich davon liegt die 994 gegründete Altstadt und östlich die im 12. Jahrhundert gegründete Neustadt. Dazwischen wurde im 13./14. Jahrhundert die Steinbrücke angelegt und die Word trockengelegt. Nördlich der Altstadt befindet sich das mittelalterliche Vorstadtviertel Gröpern. Um diesen mittelalterlichen Kern wurde am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Gürtel aus Villen im Jugendstil gebaut. Im Zuge der Industrialisierung entstanden außerhalb dieses Gürtels neue Ortsteile, so die Kleysiedlung, das Neubaugebiet in der Süderstadt (19./20. Jahrhundert) und das auf dem Kleers (1980er Jahre). Neben dieser Kernstadt gehören zu Quedlinburg noch die Ortsteile Münchenhof (vier Kilometer nördlich), Gersdorfer Burg (drei Kilometer südöstlich), Morgenrot (vier Kilometer östlich) und Quarmbeck (vier Kilometer südlich) sowie seit dem 1. Januar 2014 wieder Bad Suderode und Gernrode mit den Ortsteilen Haferfeld und dem Forsthaus Sternhaus. Am 1. Juli 2014 ist das neue Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in Kraft getreten. In dessen § 14 (2) wird den Gemeinden die Möglichkeit gegeben, den Ortsteilen, die vor der Eingemeindung Städte waren, diese Bezeichnung zuzuerkennen. Die Stadt Quedlinburg hat von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Ihre geänderte Hauptsatzung stammt vom 12. März 2015. Im § 1 (3) werden die Ortsteile und Ortschaften mit ihren amtlichen Namen aufgeführt. Nachbargemeinden Quedlinburg ist eine Stadt im Landkreis Harz und grenzt an acht sachsen-anhaltische Städte und Gemeinden (im Uhrzeigersinn, im Nordosten beginnend): Gemeinde Harsleben, Stadt Wegeleben, Gemeinden Ditfurt und Selke-Aue, Städte Ballenstedt und Thale. Geschichte Frühe Besiedlungen Die ersten Siedlungsspuren reichen bis in die Altsteinzeit zurück. Die Gegend war fast durchgehend besiedelt. Die ertragreichen Böden machten die Gegend für Siedler während des Neolithikums besonders interessant, was sich durch über 55 Siedlungsreste dieser Epoche allein in der Stadt und der näheren Umgebung nachweisen lässt. So befinden sich auf den markanten Bergspitzen wie dem Moorberg, der Bockshornschanze oder dem Brüggeberg, die an den Seitenwänden des Bodetals aufgereiht wie auf einer Kette aufragen, neolithische Begräbnishügel. Etwa zwei Kilometer nordwestlich von Quedlinburg, westlich der Wüstung Marsleben, konnte 2005 eine Kreisgrabenanlage der Stichbandkeramik untersucht werden, die der Kreisgrabenanlage von Goseck in Alter, Ausdehnung und Form nicht nachsteht. Am Ende des 8. Jahrhunderts häufen sich urkundliche Nachrichten über Ortschaften in der Umgebung Quedlinburgs: Marsleben, Groß Orden, Ballersleben (alle wüst), Ditfurt und Weddersleben. Die Wipertikirche als Filiale der Abtei Hersfeld ist wahrscheinlich um 835/863 gegründet worden. Königliche Osterpfalz vom 10. bis 12. Jahrhundert Bedeutung erlangte Quedlinburg, als es im 10. Jahrhundert die Königspfalz wurde, in der die ottonischen Herrscher das Osterfest feierten. Erstmals wurde es als villa quae dicitur Quitilingaburg in einer Urkunde König Heinrichs I. vom 22. April 922 erwähnt. Später bestimmte Heinrich den Ort zu seiner Grablege. Nach seinem Tod im Jahr 936 in Memleben wurde sein Leichnam nach Quedlinburg überführt und in der Pfalzkapelle auf dem Schlossberg bestattet. Seine Witwe Königin Mathilde ließ sich von Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I. die Gründung eines Damenstiftes mit der Aufgabe der Totenmemorie bestätigen. Dreißig Jahre lang stand sie ihrer Stiftsgründung selbst als Leiterin vor, ohne Äbtissin geworden zu sein. Otto I. besuchte Quedlinburg in unregelmäßigen Abständen zur Feier des Osterfestes und zu den Gedenktagen seines Vaters. Im Jahr 941 entging er dabei nur knapp einem Mordanschlag durch seinen jüngeren Bruder Heinrich. Auf dem Oster-Hoftag 966 wurde Ottos Tochter Mathilde als Äbtissin mit der Leitung des Damenstiftes betraut. Zwei Jahre später, am 14. März 968, starb ihre Großmutter und wurde an der Seite ihres Gemahls bestattet. Ihr Grab und ihr steinerner Sarkophag sind erhalten geblieben, während Heinrichs Grablege leer ist. Der größte und glanzvollste Hoftag Ottos des Großen fand 973 statt. Unter den internationalen Teilnehmern befanden sich Boleslav I., Herzog von Böhmen, und Mieszko I., Herzog der Polanen, die dem Kaiser den Treueeid leisteten. Kurz darauf starb Otto I. Sein Sohn Otto II. besuchte in seiner zehnjährigen Regentschaft nur zweimal Quedlinburg. Nach dessen Tod 983 war Otto III. erst drei Jahre alt. Sein Onkel Heinrich der Zänker wollte sich in Quedlinburg selbst zum König erheben und entführte den jungen König. Vor allem das Eingreifen von Ottos Großmutter Adelheid, der zweiten Gemahlin Ottos I., und seiner Mutter Theophanu, der Gemahlin Ottos II., zwang Heinrich zwei Jahre später, dem jungen Otto III. in Quedlinburg zu huldigen. Otto III. verlieh 994 dem Stift das Markt-, Münz- und Zollrecht, noch unter dem Vorstand seiner Tante, der Äbtissin Mathilde. Damit war eine wichtige Bedingung für die weitere städtische Entwicklung Quedlinburgs geschaffen. Von der weiteren reichspolitischen Bedeutung Quedlinburgs im 11. und 12. Jahrhundert zeugen die vor Ort verfassten, später so genannten Quedlinburger Annalen. Diese verzeichnen im Jahre 1009 erstmals in schriftlichen Quellen Litua, den Namen Litauens. Für die Zeit vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, als Quedlinburg die Osterpfalz der ostfränkisch/deutschen Herrscherhäuser war, sind 69 urkundlich nachweisbare Aufenthalte eines Königs oder Kaisers gezählt worden. In den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung erhielt das Damenstift auch weit entfernte Orte, wie das 170 km entfernte Soltau, die Kirche St. Michael des Volkmarskellers (956), Duderstadt (974), Potsdam (993) und Gera (999), aber auch andere Schätze. Zu den 48 von Otto I. geschenkten Orten kamen unter Otto II. elf, unter Otto III. zehn und unter späteren Herrschern noch weitere 150 Orte hinzu. Aufstrebende Stadt im Spätmittelalter und der Frühneuzeit 1326 schloss sich die Stadt mit Halberstadt und Aschersleben zum Halberstädter Dreistädtebund zusammen, der 150 Jahre andauerte. In den folgenden vier Jahrhunderten nahm Quedlinburg einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wie in anderen Städten (Braunschweig, Halberstadt) der Region waren das Gewandschneider- und das Kaufmannswesen besonders intensiv. Um 1330 wurde die Altstadt mit der im 12. Jahrhundert gegründeten Neustadt belehnt; beide agierten fortan immer geschlossen als Stadt Quedlinburg. Zum wirtschaftlichen Erfolg gesellte sich 1336 ein politischer, als die Stadt in einem regionalen Konflikt zwischen dem Halberstädter Bischof und dem Grafen von Regenstein letzteren gefangen setzen konnte. Die Stadt erlangte größere Unabhängigkeit von der Stadtherrin, der Äbtissin des Damenstiftes, und durfte in der Folge ihre Verteidigungsanlagen massiv ausbauen. Das neue Selbstbewusstsein wurde in Form von vielen Städtebündnissen nach außen hin demonstriert. Der Plan des Stadtrates, sich von den Befugnissen der Äbtissin Hedwig von Sachsen zu befreien, mündete 1477 in einen gewaltsamen Konflikt. Die Quedlinburger versuchten, Hedwig mit Waffengewalt aus der Stadt zu vertreiben. Daraufhin bat diese ihre Brüder, die Wettiner Herzöge Ernst und Albrecht, um Hilfe. Die entsandten Truppen stürmten die Stadt ohne eigene Verluste, während 80 Quedlinburger fielen. Die Bürgerschaft unterwarf sich daraufhin und schied aus sämtlichen Bündnissen aus. Der um 1435 vor dem Haus der Gewandschneider auf dem Marktplatz aufgestellte Roland, Symbol der Marktfreiheit und Zeichen städtischer Unabhängigkeit, wurde gestürzt und zerschlagen. 1569 ließ der Rat diese Rolandsfigur im Hof des Ratskellers wieder neu aufstellen und 1869 wurden die Bruchstücke der Rolandstatue vor dem Rathaus aufgestellt. 2013 wurde die Figur gesäubert und komplettiert. Während des Bauernkriegs wurden vier Klöster der Stadt, das Prämonstratenserkloster St. Wiperti, das Benediktinerinnenkloster St. Marien, das Franziskanerkloster in der Altstadt und das Augustinerkloster in der Neustadt, zerstört. Die Reformation wurde in Quedlinburg im Jahr 1539 durchgesetzt und das Stift in ein evangelisches Freies weltliches Stift umgewandelt. Den größten städtebaulichen Aufschwung nahm die Stadt ab dem Dreißigjährigen Krieg. Die meisten der 2159 erhaltenen Fachwerkhäuser sind in dieser Zeit entstanden. Zwei Stadtbrände verwüsteten 1676 und 1797 große Teile der Stadt. 1698 besetzten brandenburgische Truppen die Stadt, womit fortan Preußen Schutzmacht war. 1802 wurde das seit 936 bestehende Damenstift aufgelöst. Die Stiftsgebäude auf dem Schlossberg gingen in den Besitz des preußischen Staates über. Aufstrebendes Pflanzenzuchtzentrum vom 18. bis 20. Jahrhundert Im Laufe des 18. und besonders des 19. Jahrhunderts entwickelte sich durch die Pflanzenzucht und Saatgutvermehrung ein beachtlicher Wohlstand, der städtebaulich auch in einer Reihe von Jugendstil-Villen seinen Ausdruck fand. Als die erste Zuckerfabrik des Regierungsbezirks Magdeburg 1834 von G. Chr. Hanewald in Quedlinburg eingerichtet wurde, führte dies zur raschen Entwicklung landwirtschaftlicher Zuliefer- und Großbetriebe. Die Entwicklung von Zuchtverfahren, der Anschluss an das Eisenbahnnetz und die Separation (1834–1858) sind Stationen zu einer weltwirtschaftlichen Bedeutung im Saatzuchtbereich. Neben der Zucht von Zier- und landwirtschaftlichen Pflanzen wuchs seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Gemüsezucht. Von 1815 bis 1938 war Quedlinburg eine Garnisonsstadt. Von 1865 bis 1888 wurden Fragmente der ältesten bekannten illustrierten biblischen Handschrift (Quedlinburger Itala) aus dem 5. Jahrhundert in Quedlinburg gefunden. 20. Jahrhundert Im beginnenden 20. Jahrhundert waren die Saatzuchtfirmen die größten Arbeitgeber. 1907 sprach Rosa Luxemburg vor 800 Quedlinburger Saatzucht-Arbeitern. 1911 wurde Quedlinburg, das bis dahin Sitz des Kreises Quedlinburg war, kreisfreie Stadt. Während des Ersten Weltkrieges wurden bis zu 17.000 Kriegsgefangene zur Arbeit in der Landwirtschaft gezwungen und in einem Kriegsgefangenenlager auf dem Ritteranger nordöstlich der Stadt untergebracht. Dieses Lager wurde seit September 1914 eingerichtet und bestand über den Krieg hinaus als Notunterkunft zaristischer Soldaten, bis es im Juni 1922 niedergebrannt wurde. Im selben Jahr fand in Quedlinburg eine Feier zum tausendsten Jahrestag der ersten urkundlichen Erwähnung (922) statt. Ein verheerendes Hochwasser der Bode zerstörte 1926 alle Brücken und legte die Infrastruktur lahm. Immer wieder behinderten spätere Hochwasser die Wiederaufbauarbeiten. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Tausendjahrfeier (936–1936) des Todestages König Heinrichs I. von den Nationalsozialisten in Gestalt der SS als ein propagandistisches Geschenk angesehen. Heinrich Himmler entwickelte ab 1936 einen Kult um den König und wurde selbst als eine Reinkarnation Heinrichs angesehen, was ihm geschmeichelt haben soll, wie sein Leibarzt Felix Kersten berichtet. In Quedlinburg wurden die Wipertikrypta und die Kirche St. Servatii beschlagnahmt und zu Weihestätten der SS umfunktioniert. Himmlers persönliches Erscheinen (bis 1939) zu den jährlichen Feierlichkeiten am 2. Juli, die bis 1944 stattfanden, wurde zum Beispiel 1937 propagandistisch mit Nachrichten über das Auffinden der verlorenen Gebeine Heinrichs I. aufgewertet. Nach dem Krieg wurden bei einer Öffnung des (neuen) Sarkophags die von der SS vorgezeigten „Funde“ als plumpe Fälschungen entlarvt. Am Morgen nach den Zerstörungen der „Reichspogromnacht“ legte der Ladenbesitzer Sommerfeld seine Eisernen Kreuze aus dem Ersten Weltkrieg (EK 1 und 2) in sein zerstörtes Schaufenster und ein Schild: „Der Dank des Vaterlandes ist Dir gewiss.“ Bald darauf begann die Verschleppung jüdischer Bewohner. Im Stadtgebiet befanden sich drei Außenstellen von Konzentrationslagern: das Kreisgerichtsgefängnis und je ein Gefangenenlager in der Kleersturnhalle und im Fliegerhorst in Quarmbeck. Seit 1943/1944 wurden in Quedlinburg über 8000 Verwundete in den Sporthallen und Notlazaretten versorgt. In der Woche, bevor am 19. April 1945 amerikanische Truppenverbände (RCT 18) die Stadt fast kampflos einnehmen konnten, gelang es, Teile der V 2, die auf dem Quedlinburger Bahnhof auf Waggons lagerten, aus der Stadt zu bringen. Dies verhinderte eine Bombardierung; so beschränkten sich die Kriegszerstörungen auf Artillerietreffer. Nach sechs Wochen übergaben die amerikanischen Truppen die Stadt an britische. Die nach weiteren zwei Wochen erfolgte Übergabe an die Sowjetarmee, begründet sich nicht, wie vor Ort immer wieder vermutet, mit der Aufteilung Berlins, sondern mit dem erst 2020 bekannt gewordenen Gebietstausch 1945 im Harz, bei dem die Stromversorgung Niedersachsens eine zentrale Rolle spielte. Die Informationen darüber wurden 1945 von englischer wie sowjetischer Seite verheimlicht, um weitere Massenfluchten zu verhindern. Nach dem Krieg war Quedlinburg Teil des 1945 gegründeten Landes Sachsen-Anhalt, seit 1952 des Bezirkes Halle in der DDR. Die Demonstrationen vom 17. Juni 1953 konnten in Quedlinburg und Thale nur durch den Einsatz von Streitkräften der Sowjetarmee unterbunden werden. Obwohl es kaum nennenswerte Kriegszerstörungen gab, reichten die Bemühungen durch die DDR bei weitem nicht aus, den drohenden natürlichen Verfall der Altstadt zu stoppen. Durch den Einsatz erfahrener polnischer Restauratoren aus Toruń () konnten nur punktuell Häuser wiederhergestellt werden. Seit 1957 wurde St. Wiperti restauriert und 1959 neugeweiht. Die ursprünglichen Planungen der DDR in den 1960er Jahren, die historische Altstadt vollständig niederzureißen und durch einen zentralen Platz und sozialistische Plattenbauten zu ersetzen, scheiterten an Geldmangel. Versuche, die Plattenbauweise den historischen Verhältnissen anzupassen, sind im Bereich des Marschlinger Hofes, in Neuendorf und in der Schmalen Straße nördlich des Marktes zu sehen. Dafür wurde die sogenannte Hallesche Monolithbauweise (HMB) modifiziert und als Hallesche Monolithbauweise Typ Quedlinburg (HMBQ) umgesetzt. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 wurden zielstrebig Fachwerkbauwerke restauriert. Im Herbst 1989 demonstrierten in kaum einer anderen Stadt, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Menschen wie in Quedlinburg. Gewaltlose Demonstrationen während der „Wende“ fanden in Quedlinburg immer am Donnerstag statt. Die Demonstration am 2. November 1989 mit 15.000 Teilnehmern war trotz provozierenden Verhaltens der SED-Größen vor Ort ein Beispiel der Gewaltlosigkeit. Die größte Demonstration mit über 30.000 Teilnehmern fand am 9. November 1989 statt. Keiner der Teilnehmer ahnte, dass zur gleichen Zeit die Mauer geöffnet wurde. Die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit wurde am 12. Dezember 1989 aufgelöst, nachdem die Klarnamendatei und die brisantesten Akten (beispielsweise zu Kirchenangelegenheiten) in den Tagen vorher vernichtet worden waren. Am 6. Januar 1990 fand zum Dank für den überwältigenden Empfang beim Überschreiten der Grenze ein großes Stadtfest mit zahlreichen Würdenträgern und 50.000 Gästen statt. Bei einem Spontanbesuch sagte Helmut Kohl im Januar 1990 der Stadt Hilfsgelder zur Sicherung der extrem gefährdeten Bausubstanz zu, und das Bundesland Niedersachsen spendete im Frühjahr 100.000 Dachziegel für Sofortmaßnahmen. Ein gesellschaftlicher Tiefpunkt waren im Herbst 1992 ausländerfeindliche Übergriffe in der Quedlinburger Neustadt. Eine Antwort von Quedlinburger Einwohnern war die Gründung der noch aktiven Präventionsmaßnahme „Altstadtprojekt“. Eine geplante NPD-Demonstration 15 Jahre später wurde durch eine betont bunte Demonstration engagierter Quedlinburger verhindert. Von den 1945 geraubten zwölf Teilen des Domschatzes kehrten 1993 zehn aus den USA zurück in die Quedlinburger Domschatzkammer. Zwei Beutestücke bleiben weiterhin verschollen. Zur Tausendjahrfeier der Verleihung des Markt-, Münz- und Zollrechtes wurden große Teile der Quedlinburger Altstadt und der Königshofkomplex am 17. Dezember 1994 auf Antrag Deutschlands auf die Liste der Welterbestätten der UNESCO gesetzt, als ein Ensemble, das die Ansprüche gemäß dem Kriterium IV erfüllt, „ein herausragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden oder architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die bedeutsame Abschnitte in der menschlichen Geschichte darstellen“. (IV). Gerhard Schröder besuchte 1999 mit dem französischen Premierminister Lionel Jospin und 2001 mit dem spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar die Stadt. Seit 2000 Das schwedische Königspaar, Carl XVI. Gustaf und seine Frau Silvia, besuchte 2005 die Quedlinburger Stiftskirche. Seit 2006 ist der Bahnhof Quedlinburg an das Netz der Selketalbahn angeschlossen. Nach mehrjährigen Restaurierungen ist die Krypta der Stiftskirche seit März 2009 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit Alles Klara spielte von 2011 bis 2017 erstmals eine Vorabendserie der ARD in Quedlinburg und Umgebung. Von 2011 bis 2014 wurden umfassende Neugestaltungsarbeiten am Marktplatz, im Bereich der Breiten Straße und der Steinbrücke vorgenommen. Im Vorfeld dieser Arbeiten wurden bei archäologischen Grabungen Pflasterreste eines Marktes entdeckt, die in das 10. Jahrhundert datiert werden. Im Jahr 2014 wurde seitens des Stadtrates beschlossen, dem einzigartigen Stadtnamen die allgemeine Bezeichnung Welterbestadt voranzustellen. Nach Genehmigung durch den zuständigen Landkreis und die UNESCO Deutschland gilt seit 29. März 2015 die Bezeichnung Welterbestadt Quedlinburg. Seit dem Frühjahr 2015 ist die ehemalige Krypta der St.-Marien-Kirche auf dem Münzenberg nach fast 500 Jahren wieder zugänglich. Erstmals wurden am 26. Mai 2017 vor dem Haus Steinweg 81 Stolpersteine für Berta und Bruno Sommerfeld verlegt, die hier zeitweise lebten und nach ihrer Deportierung 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden. Derzeit sind drei Stolpersteine in Quedlinburg verlegt. Während des Bundestagswahlkampf 2017 sprach Angela Merkel auf dem Quedlinburger Marktplatz. Im Juni 2018 fand die Frühjahrskonferenz der Innenminister unter Bundesinnenminister Horst Seehofer in Quedlinburg statt. Einwohnerentwicklung Da Quedlinburg lange Zeit nicht über seine mittelalterlichen (Stadtmauer)-Grenzen hinauswuchs, blieb die Einwohnerzahl vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert bei maximal 8.000 bis 10.000 Personen. Erst mit der Industrialisierung begann die Zahl zu wachsen und erreichte den höchsten Wert 1950 mit 35.426/35.555 Einwohnern. Danach sank sie von 1950 bis 1990 um 21 Prozent (7459) kontinuierlich ab und lag bereits 1975 wieder unter 30.000. Seit der gewaltlosen Revolution und der Grenzöffnung 1989/1990 verlor die Stadt wegen hoher Arbeitslosigkeit, des Wegzugs vieler Einwohner in das Umland und des Geburtenrückgangs erneut 20 Prozent ihrer Bewohner (5.500 Personen). Am 30. Juni 2006 betrug die amtliche Einwohnerzahl für Quedlinburg nach Fortschreibung des Statistischen Landesamtes Sachsen-Anhalt 22.481 (nur Hauptwohnsitze und nach Abgleich mit den anderen Landesämtern). Zum 1. Januar 2011 vergrößerte sich die Stadt zunächst durch die Eingemeindung der Stadt Gernrode sowie der Gemeinden Bad Suderode und Rieder von 78,14 km² auf 141,82 km²; die Bevölkerungszahl stieg von etwas über 21.000 auf über 28.000. Diese Eingliederung musste jedoch wegen eines Formfehlers am 19. Februar 2013 aufgrund einer Gerichtsentscheidung wieder rückgängig gemacht werden. Bad Suderode und Gernrode gehören seit dem 1. Januar 2014 wieder zu Quedlinburg. Bevölkerungsprognose Die Bertelsmann-Stiftung, Wegweiser Demographischer Wandel, liefert Daten zur Entwicklung der Einwohnerzahl von 2959 Kommunen in Deutschland (Publikation Januar 2006). Für Quedlinburg wird ein Absinken der Bevölkerung zwischen 2003 und 2020 um 14,1 % (3281 Personen) vorausgesagt. Prognose der absoluten Bevölkerungsentwicklung von 2003 bis 2020 für Quedlinburg (Hauptwohnsitze): Im Rahmen der Fortschreibung des WelterbeManagementPlans wurde 2011 eine eigene Prognose aufgestellt. Zum Stichtag 31. Dezember 2010 wohnten 21.016 Einwohner mit Hauptwohnsitz in Quedlinburg (mit Gebietsstand zu diesem Stichtag). Im Jahressaldo verlor die Stadt im Laufe 2011 insgesamt 69 Einwohner. Unter Einschluss der Zu- und Abwanderungen wurde damit seit 2001 ein durchschnittlicher Negativsaldo von 150 bis 180 Einwohnern jährlich konstatiert. Die Prognose für 2025 liegt nach dieser Erhebung bei 16.200 bis 17.300 Einwohner (in den Grenzen von 2010). Altersstruktur Die folgende Übersicht zeigt die Altersstruktur vom 31. Dezember 2007. Einige Zahlen spiegeln 6, andere über 20 Jahrgänge wider. Religionen Christentum Der überwiegende Teil der Quedlinburger Bevölkerung gehört keiner Religionsgemeinschaft an. Die ehemals fünf protestantischen Gemeinden umfassen rund 16 % der Stadtbevölkerung; sie haben sich in der Evangelischen Kirchengemeinde Quedlinburg zusammengeschlossen, die zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland gehört. Etwa vier Prozent der Stadtbevölkerung gehören zur katholischen St.-Mathildis-Gemeinde, einer Pfarrei im Bistum Magdeburg. Weitere christliche Gemeinden gehören zu den Siebenten-Tags-Adventisten, der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) oder anderen evangelischen Freikirchen sowie zur Neuapostolischen Kirche. Darüber hinaus leben in der Stadt Mitglieder der Blankenburger Gemeinde der alt-katholischen Kirche. Judentum Bereits im 11./12. Jahrhundert sollen sich jüdische Kaufleute in Quedlinburg angesiedelt haben. Seit dem frühen 13. Jahrhundert sind sie urkundlich fassbar. Sie fungierten als unabhängige Kreditgeber der Quedlinburger Äbtissin und anderer lokaler Magnaten. Im Jahr 1514 mussten alle Juden Quedlinburg verlassen. Zwar waren im 18. Jahrhundert drei Schutzjuden erlaubt, aber erst nach der Auflösung des Stiftes 1802 siedelten sie sich wieder in Quedlinburg an. Von 1933 bis 1945 lebten weniger als 100 „Nichtarier“ in Quedlinburg. Von diesen kamen mindestens 13 gewaltsam zu Tode, 14 gelang die Emigration und 34, überwiegend „Halbjuden“, überlebten und starben eines natürlichen Todes. Die anderen Schicksale sind unbekannt. Eine jüdische Gemeinde gibt es seit der NS-Zeit nicht mehr in Quedlinburg. Politik Liste der (Ober-)Bürgermeister seit 1800 Stadtrat An der Spitze der Stadt stand seit dem 13. Jahrhundert der Rat mit zunächst zwölf, später dreimal zwölf Ratsherren (abwechselnd zwölf pro Jahr). Den Vorsitz hatte ein Bürgermeisterpaar, bestehend aus einem Bürgermeister der Alt- und einem der Neustadt. Bis zum 19. Jahrhundert gab es also drei Altstädter und drei Neustädter Bürgermeister, die sich abwechselten. Dann wurde das Amt auf eine Person beschränkt. Von 1890 bis 2000 trugen die Bürgermeister den Titel Oberbürgermeister. Als Vertretung der Bürger gibt es eine Stadtvertretung, die in Quedlinburg die Bezeichnung Stadtrat trägt. Die Mitglieder der Bürgerschaft werden von den Bürgern der Stadt auf fünf Jahre gewählt. Die Mehrheitsverhältnisse in der Quedlinburger Bürgerschaft sind sehr unübersichtlich. 2009 wurde der Stadtrat noch für die Kernstadt Quedlinburg allein gewählt. Durch die Eingemeindung der Ortschaften Rieder (2011–2013) sowie Gernrode und Bad Suderode (2011–2013 sowie seit 2014) vergrößerte sich der Stadtrat zeitweilig auf bis zu 45 Sitze. Bei der Kommunalwahl am 25. Mai 2014 wurde der erste Stadtrat gewählt, bei dem Kandidaten auch aus den neuen Ortsteilen direkt antraten. Zusätzlich wurde für Gernrode und Bad Suderode ein Ortschaftsrat gewählt. Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte zu folgendem Ergebnis: Das Wahlergebnis der vorangegangenen Wahlen war (sortiert nach prozentualer Reihenfolge der letzten Wahl): Die Wahlbeteiligung 2014 von 40,0 % zählt zu den niedrigsten Werten in Deutschland. Wappen Quedlinburg führte seit Jahrhunderten ein Wappen, doch liegen keine Zeugnisse dafür vor, dass dieses Hoheitszeichen rechtmäßig verliehen wurde. Das Wappenbuch des Heraldikers Johann Siebmacher führt im Jahr 1605 die Wappen der Reichsstädte und anderer Städte vor; ein Quedlinburger Wappen nennt er nicht. Auch finden sich in den Archiven keine historiografischen Hinweise auf eine Wappenverleihung. Es ist darum anzunehmen, dass Quedlinburg im Laufe seiner Stadtgeschichte aus dem ursprünglichen Siegelbild ein in Gewohnheitsrecht getragenes Wappen entwickelte. Das erklärt auch die Tatsache, dass das Wappenbild im Laufe der Jahrhunderte häufig wechselte und von einem verbindlichen Erscheinungsbild nicht die Rede sein kann. Das bis 1998 gebräuchliche Wappenbild fand bei der Landesregierung keine Zustimmung und wurde deshalb in seiner Gestaltung verändert. Diese Änderungen betrafen allerdings lediglich Details und kaum die heraldische Erscheinung. Begründet wurde die gestalterische Modifizierung damit, dass es gerade die veränderten Details seien, die aus einem Bild ein korrektes Wappenbild machen würden. Vorbild des Adlers war das 1882 von Adolf Matthias Hildebrandt gestaltete Wappenbild aus dem „Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg“. Der innere Schild wurde in seiner Grafik den aktuellen heraldischen Gepflogenheiten und überlieferten stilistischen Formen angepasst. Die grafische Ausführung und Dokumentation erfolgte durch den Heraldiker Jörg Mantzsch. Blasonierung: Die Farben der Stadt sind Schwarz-Gelb. Flagge Die Flagge der Stadt besteht aus den Farben der Stadt in Streifen mit einem aufgesetzten Stadtwappen. Städtepartnerschaften Quedlinburg hat seit 1961 eine Städtepartnerschaft mit dem kleinen Ort Aulnoye-Aymeries in Nordostfrankreich und seit 1991 eine Städteunion mit den vier historisch bedeutsamen Städten Herford in Nordrhein-Westfalen sowie Celle, Hann. Münden und Hameln in Niedersachsen. Gemeinsam mit diesen wurde ein sogenanntes Städteunionshaus (Hohe Straße 8) eingerichtet, in dem regelmäßig Treffen stattfinden. Seit 2000 gibt es einen Städtekontakt mit Torbay in Großbritannien. Kultur und Sehenswürdigkeiten Museen, Galerien und Archive Städtische Museen Quedlinburg Die Ausstellung des Schlossmuseums zeigt die Entwicklung des Burgberges mit dem Damenstift und Facetten der Stadtgeschichte. Herausragende Exponate sind der bronzezeitliche Hortfund vom Lehof, die Goldscheibenfibel aus Groß Orden (wüst), der sogenannte Raubgrafenkasten und eine mittelalterliche Balliste. Seit 2002 wird im sogenannten Ottonenkeller eine Ausstellung zur Rezeption der ottonischen Zeit während des Nationalsozialismus gezeigt. Im 1570 erbauten Klopstockhaus wurde 1724 der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock geboren. Klopstock wurde durch sein Wirken zu einem Begründer der klassischen deutschen Literatur und war weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt. An das Museum im Klopstockhaus angeschlossen sind eine Bibliothek und ein Archiv. Das Fachwerkmuseum Ständerbau zählt zu den ältesten Fachwerkhäusern in Quedlinburg. Neuere Untersuchungen ergaben als Datierung das Fällungsjahr 1325. Älter sind Gebäudeteile von Klink 6/7 von 1289 (d), Hölle 11 von 1301 (d), Breite Str. 12/13 1330 (d). Die Ausstellung zeigt die Geschichte des Ständer- und Fachwerkbaus vom 14. bis zum 20. Jahrhundert und einzelne Stile des Quedlinburger Fachwerkbaus anhand von Modellen. Andere Museen und Galerien Die 1986 eröffnete Lyonel-Feininger-Galerie zeigt Werke des New Yorker Bauhaus-Künstlers Lyonel Feininger (1871–1956), die vom Quedlinburger Hermann Klumpp, einem Schüler des Bauhauses, vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten bewahrt worden waren. Die Sammlung, eine der umfangreichsten geschlossenen Bestände von Grafiken, Radierungen, Lithographien und Holzschnitten des Künstlers, dokumentiert seine Schaffensperioden von 1906 bis 1937. Daneben befinden sich drei weitere Galerien in der Stadt: Galerie Weißer Engel, Galerie im Kunsthoken und die „Galerie im kleinen Kunsthaus“. Im Mitteldeutschen Eisenbahn- und Spielzeugmuseum befinden sich über 3.000 Ausstellungsobjekte zum Thema Historisches Spielzeug aus der Zeit um 1900 und eine Sammlung historischer Modelleisenbahnen der Spuren I, 0, S und H0, vor allem von Märklin, aber auch ausländische Modelleisenbahnen. Das „Museum für Glasmalerei und Kunsthandwerk“, untergebracht im restaurierten Wordspeicher, einem Speichergebäude des 17. Jahrhunderts, bietet eine Ausstellung zur Bedeutung und Geschichte der Quedlinburger Glasmalerei sowie eine Schauwerkstatt und einen interaktiven Erlebnisraum. Das „Münzenbergmuseum“ zeigt die Geschichte des mittelalterlichen Marienklosters auf dem Münzenberg und die Siedlungs- und Sozialgeschichte dieses Viertels in der Frühen Neuzeit. Kirchen Romanische Kirchen Die Stiftskirche St. Servatii thront weithin sichtbar auf dem Schlossberg über der Stadt. Der jetzige, vierte Kirchenbau an gleicher Stelle wurde nach einem Brand im Jahr 1070 begonnen und im Jahr 1129 geweiht. Der romanische Kirchenraum ist durch den niedersächsischen Stützenwechsel und einen imposanten, innen und außen verlaufenden Relieffries gekennzeichnet. Der Hohe Chor wurde unter der Äbtissin Jutta von Kranichfeld bis 1320 im gotischen Stil umgebaut. Bei der umfassenden Restaurierung unter Ferdinand von Quast 1863 bis 1882 erhielt die Kirche zwei romanische Türme mit stilwidrigen rheinischen Helmen. In der Zeit von 1936 bis 1945 war die Kirche durch die SS unter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler besetzt und profaniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die beschädigten Turmhelme durch stilistisch besser passende Pyramidendächer ersetzt. In den beiden Schatzkammern ist der Quedlinburger Domschatz mit den 1945 gestohlenen und 1992 aus Texas zurückgekehrten Teilen zu sehen. Gezeigt werden unter anderem das Servatiusreliquiar, das Katharinenreliquiar, Fragmente der Quedlinburger Itala, der mit Goldblech beschlagene Servatius- oder Äbtissinnenstab und der Knüpfteppich aus dem 12. Jahrhundert. Die St.-Wiperti-Kirche wurde als katholische Filialkirche 1959 neugeweiht. Reste des Altarraums reichen bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts zurück. In diesen Bau wurde in der Zeit um das Jahr 1020 die romanische Krypta eingefügt. 1146 wurde der gesamte Kanonikerkonvent (seit 961/964) in einen Prämonstratenserkonvent umgewandelt. Dieses Kloster überstand in vier Jahrhunderten mehrere Zerstörungen (1336, 1525), bevor es im Zuge der Reformation spätestens 1546 aufgehoben wurde. Die Kirche wurde als evangelische Pfarrkirche der Münzenberg- und Westendorfgemeinde genutzt. Mit der Auflösung des Damenstiftes 1802 wurde die Wipertikirche zunächst verpachtet, später verkauft und als Scheune genutzt. Von 1936 bis 1945 wurde sie ebenfalls als nationalsozialistische Weihestätte profaniert. In den Jahren 1954 bis 1958 wiederhergerichtet, wird sie seit 1959 in den Sommermonaten für das sonntägliche Hochamt genutzt. 1995 wurde ein Förderverein gegründet, der die bauliche und historische Substanz betreut. Die Reste der St.-Marien-Kirche auf dem Münzenberg werden nicht als Sakralraum genutzt. Sie sind aber durch eine private Initiative von Siegfried Behrens und seiner Ehefrau wieder zugänglich gemacht worden. Die 1525 aufgegebene romanische Kirche ist 986 auf Intervention der Äbtissin Mathilde als Klosterkirche eines Benediktinerinnenklosters gegründet worden. 1017 wurde sie nach einem Brand in Gegenwart Heinrichs II. neu geweiht. Nach den Zerstörungen im Bauernkrieg war das Kloster verlassen worden, und seit den 1550er-Jahren siedelten sich einfache Leute (Musikanten etc.) auf dem Münzenberg an. Diese zersiedelten das ehemalige Klostergelände mit vielen kleinen Häusern, sodass der Kirchenraum in 17 einzelne Gebäude aufgeteilt war. Ein Großteil der Kirche wurde wieder in der ursprünglichen Form zugänglich gemacht und der weiteren Verantwortung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz übergeben. Die Stiftskirche, die Wipertikirche und die Marienkirche sind die Quedlinburger Stationen auf der südlichen Route der Straße der Romanik. Gotische Kirchen St. Aegidii im Norden der Altstadt, eine spätgotische dreischiffige Kirche mit ihren wuchtigen, festungsartigen Türmen, wurde erstmals 1179 erwähnt. Die evangelische Kirchengemeinde Quedlinburg nutzt sie aus denkmaltechnischen Gründen zurzeit nur selten. Aus dem gleichen Grund sind die Besuchsmöglichkeiten eingeschränkt. Die Marktkirche St. Benedikti mit der angeschlossenen Kalandskapelle ist auf romanischen Resten errichtet und wurde 1233 erstmals erwähnt. Sie wird von der evangelischen Kirchengemeinde als Pfarrkirche genutzt. Der Bau ist eine Hallenkirche mit achteckigen Pfeilern, einem spätgotischen Chor aus dem 14. Jahrhundert und einem Taufstein aus dem Jahr 1648. Dach und Dachstuhl der Kirche sind als Fauna-Flora-Habitat (FFH) für die Große-Mausohr-Fledermäuse ausgewiesen. St. Nikolai in der Neustadt wurde 1222 erstmals erwähnt und ist mit ihren 72 Meter hohen Türmen und ihrem hohen dreischiffigen Bau ein imposantes Beispiel für einen frühgotischen Kirchenraum. Ob der romanische Vorgängerbau auf eingerammten Ellernpfählen errichtet wurde, um in dem morastigen Untergrund Halt zu finden, konnten archäologische Untersuchungen bisher weder bestätigen noch widerlegen. Nach chronikalischen Nachrichten des 13. Jahrhunderts hüteten zwei Schäfer auf der so genannten Pfannenwiese ihre Herden und fanden dabei einen Schatz, den sie zum Bau der Kirche stifteten. Deshalb sind zwei Ecken des Turmes mit Figuren eines Schäfers und seines Hundes geschmückt. Die Hallenkirche besitzt verschiedenartig gegliederte Pfeiler, einen einschiffigen Chor und Doppeltürme. St. Blasii in der Altstadt, von der nur noch die gotischen Türme (mit Spolien eines romanischen Vorgängerbaus) stehen, während das Kirchenschiff aus dem Barock stammt, wurde wegen fehlender Nutzung durch eine eigene Kirchengemeinde der Stadt übergeben und wird vor allem als Konzert- und Ausstellungsraum genutzt. Komplett erhalten sind die hölzernen Bankeinbauten des 16./17. Jahrhunderts. Neugotische Kirchen St. Mathilde im Neuendorf wurde von 1856 bis 1858 nach Plänen des Mitarbeiters der Kölner Dombauhütte Friedrich von Schmidt errichtet. 1858 von Bischof Konrad Martin (Paderborn) konsekriert und Mathilde, der Ehefrau König Heinrichs I. geweiht, ist sie die Pfarrkirche der katholischen Gemeinde. In der Süderstadt wurde 1906 St. Johannis errichtet, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Hospitals mit der alten St.-Johannes-Kapelle befindet. Die bereits im 13. Jahrhundert erwähnte St.-Johannis-Kapelle ist in den Jakobsweg eingebunden. Sie war einst die Kirche eines weit vor der Stadt Quedlinburg gelegenen Hospitals. Historische Bauwerke und Plätze Quedlinburger Fachwerkbau Der größte Teil des Hausbestandes im historischen Stadtkern sind Fachwerkhäuser, die in besonderer Weise dem städtebaulichen Denkmalschutz unterstehen. Sie wurden aufgrund ihrer Formen in fünf große Bereiche unterteilt. Danach wurden mindestens 11 (1 Prozent) Fachwerkhäuser vor 1530 errichtet, weitere 70 (5 Prozent) zwischen 1531 und 1620, mehr als 439 (33 Prozent) zwischen 1621 und 1700, mehr als 552 (42 Prozent) zwischen 1700 und 1800 und 255 (19 Prozent) im 19. und 20. Jahrhundert erbaut. Insgesamt sind das mehr als 1327 Fachwerkhäuser in Quedlinburg. Zum Vergleich haben sich in Wernigerode 624, in Stolberg 354 und in Osterwieck 353 Fachwerkbauten erhalten. In den vergangenen Jahren konnte die Bauforschung mit Hilfe von Dendrochronologie über zwanzig bisher bauzeitlich unbekannte Häuser und Dachstühle aus der Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert identifizieren. Von 1989 bis 2005 gelang durch verschiedene Förderprogramme die Sanierung von etwa 650 der insgesamt 1200 denkmalgeschützten Quedlinburger Fachwerkhäuser. Besonders um die Förderung verdient gemacht hat sich die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Ein Denkmalpflegeplan, der 2012 veröffentlicht wurde, spricht von 2119 Fachwerkbauten, von denen 1689 als Baudenkmale eingestuft sind. Insgesamt gelten 2050 der 3562 Gebäude als ortsbildprägend. Von 1990 bis 2010 hat Quedlinburg über 120 Millionen Euro Fördermittel aus Landes-, Bundes- und EU-Töpfen erhalten. Die Finanzlage der Stadt gilt als angespannt. Einzeldenkmale Das 1989 veröffentlichte Denkmalverzeichnis der Stadt Quedlinburg führt über 1200 Einzeldenkmale auf. Bei den folgenden besonders markanten Bauwerken handelt es sich infolgedessen nur um eine geringe Auswahl: Fachwerkbauten Auf etwa 400 Fachwerkhäusern sind Inschriften angebracht, die meist die Bauherren und – als Quedlinburger Besonderheit – die ausführenden Handwerker nennen. Gildehaus Zur Rose, Breite Straße 39 (farbenreiches Fachwerkhaus von 1612) So genannte Börse, Steinweg 23 (repräsentatives Fachwerkhaus von 1683) Ehemaliger Gast- und Kaufmannshof Weißer Engel, Lange Gasse 33, Eckfachwerkbau von 1623, im Fachwerkoberstock einzigartige Decke mit elf Stuckreliefs (Szenen aus dem Alten Testament) Um 1660 entstand der Kaufmannshof in der Breiten Straße 34. Das Lohgerberhaus an der Westseite des Markts entstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1701 entstand das Haus Grünhagen auf der Ostseite des Marktplatzes. Mittelalterliche Fachwerkbauten: Klink 6/7 (1289 d), Breite Straße 12/13 (1330 d) Das Wohnhaus Schmale Straße 47 entstand im Stil der Spätgotik bereits um 1485, die Gebäude Schmale Straße 33 und 7 entstanden im Barock. Die Schlossmühle Quedlinburg (erster urkundlicher Nachweis 1412, seit 1997 Hotel) Steinbauten Steinerner Rathausbau (13./14. Jahrhundert) mit Rolandstatue und weiterem plastischen Schmuck Hagensches Freihaus – Quedlinburger Stadtschloss, Bockstraße 6 / Klink 11 (Steinbau, erbaut 1564–1566) Salfeldtsches Palais, Kornmarkt 5 (im Besitz der Deutschen Stiftung Denkmalschutz) Höllenhof, Hölle 11 (Profanbau erbaut 1215/1301 d, 3. Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege 2008) Jugendstilbauten Ambitionierter Jugendstilbau Steinbrücke 11 von 1903 vom Architekten Max Schneck Mittelalterliche Wehrbauten Der Ring der mittelalterlichen Stadtmauer mit seinen Stadttürmen ist in weiten Teilen noch zu sehen. Von den mittelalterlichen Stadttoren, dem Hohen Tor, dem Gröperntor, dem Öringertor und dem Pölkentor hat sich dagegen keines erhalten, wogegen das ehemalige Kaiser-Tor als Stadtturm erhalten ist. Der Schreckensturm ist der größte erhaltene Turm. Der durch sein grünes Dach leicht erkennbare Lindenbeinsche Turm ist mit einer Galerie versehen und für Besucher geöffnet. Zwei Türme sind zu Wohnungen ausgebaut, darunter der Kaiserturm. Einige Türme sind in Privathand, zum Teil in schlechtem baulichen Zustand. Dazu zählen unter anderen der Gänsehirtenturm, der Kuhhirtenturm, der Schweinehirtenturm, der Kruschitzkyturm, der Pulverturm, der Mertensturm und der Spiegelsturm. Von den im Felde um die Stadt befindlichen ehemals elf Wachtürmen, die entlang des Landgrabens oder der Landwehr an wichtigen strategischen Positionen erbaut waren, sind sechs, hier Feldwarten genannte Türme erhalten: die Bicklingswarte, die Lethwarte, die Altenburgwarte, die Gaterslebener Warte, die Steinholzwarte und die Seweckenwarte. Durch Steinraub weitgehend verschwunden sind die Warte auf dem Lehof, die Aholzwarte, die Heidbergwarte, die Anamberger Warte und die Sültenwarte. Sie waren umgeben von befestigten Höfen, die den auf den Feldern arbeitenden Bauern und Hirten als Fliehburg dienten. Die Warttürme wurden auf Bergen an der Gemarkungsgrenze als Frühwarnsystem errichtet und meldeten Gefahren mittels Rauch- und Feuerzeichen an den Turm der Marktkirche in der Stadt. Parks und Naturdenkmäler Der größte Park ist der Brühl, ein altes Waldstück, das bereits um 1179 als broil genannt und im 16./17. Jahrhundert planmäßig angelegt wurde. Der Brühlpark ist Bestandteil des 40 Gartenanlagen umfassenden Projektes Gartenträume Sachsen-Anhalt. Zwischen Brühl und Schlossberg wurde 2006 der Historische Abteigarten wieder neu gestaltet und mit einem Demeter-Garten versehen. Als weiterer Park steht der Worthgarten im unmittelbaren Stadtbereich Spaziergängern offen. In der Süderstadt wurde der ehemalige Johannisfriedhof im 19. Jahrhundert zur Parkanlage Johannishain umgestaltet. Als Ausflugsziele in der Nähe sind die Altenburg, der Lehof, das Steinholz, der 1913 erworbene Eselstall und die Hamwarte zu nennen. Die dort im 19. Jahrhundert befindlichen Ausflugslokale sind vollständig verschwunden. Theater und Musik Das Nordharzer Städtebundtheater ist mit je zwei Spielstätten in Halberstadt und in den Städtischen Bühnen Quedlinburg sowie mit Sommerbespielung im Bergtheater Thale aktiv. Weitere Theaterbesuche sind in der Waldbühne Altenbrak, der Seebühne Magdeburg und der Schlossbühne Wolfenbüttel möglich. Der 1981 von Kirchenmusikdirektor Gottfried Biller gegründete Quedlinburger Musiksommer bietet in den Sommermonaten wöchentlich ein Konzert innerhalb einer thematischen Konzertreihe in der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg an. Von den verschiedenen Chören seien genannt: der Fritz-Prieß-Chor, der Quedlinburger Oratorienchor und der Ökumenische Jugendchor. Regelmäßige Veranstaltungen Mittlerweile weist Quedlinburg ein zunehmend angenommenes Veranstaltungsprogramm auf. Als größtes Ereignis kristallisiert sich zur Zeit der Advent in den Höfen heraus, bei dem 2006 an jedem Wochenende über 50.000 Besucher und 2007 zum Besuch von Gotthilf Fischer 75.000 in die Stadt kamen. Traditionell am zweiten und dritten Adventswochenende laden bis zu 24 sonst größtenteils geschlossene Höfe zum Geschenkekaufen, Essen, Glühweintrinken und Verweilen ein. Die Reihe der Veranstaltungen beginnt im Frühjahr mit dem sogenannten Kaiserfrühling zu Ostern und Pfingsten, einem mittelalterlichen Spektakel in der historischen Altstadt. Mitte Mai folgt die in ganz Deutschland verbreitete Lange Nacht der Museen. Das Programm Zauber der Bäume, eine Kunst- und Musikinstallationen im Brühlpark findet am ersten Samstag des Monats Juli statt. Über den Sommer verteilt, von Juni bis September, finden die verschiedenen Aufführungen des Quedlinburger Musiksommers statt. Meist im August findet das Gildefest der Quedlinburger Kaufmannsschaft statt. Am zweiten Wochenende im September wird der Tag des offenen Denkmals für Deutschland in Quedlinburg eröffnet. In der Stadt sind über 70 Quedlinburger Denkmäler für Besucher kostenlos geöffnet, die sonst meist verschlossen sind, und es wird eine Quedlinburger Blumenmesse am Mathildenbrunnen in der Neustadt veranstaltet. Daneben laden alle drei Monate die Quedlinburger Dixieland- und Swingtage ein, bei denen von einem Konzertort zu nächsten gefahren wird, um die Musik zu hören; weiterhin findet monatlich eine so genannte Milonga, ein Tanzabend mit argentinischem Tango statt, der von Braunschweiger Milongueras ausgerichtet wird. Im Sommer 2009 fand erstmals das weltweit ausgetragene kostenlose Musikfestival Fête de la Musique statt. Sport 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Tansania ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Infrastruktur Verkehr Straßenverkehr Die Stadt liegt am Knotenpunkt der Bundesstraßen 79 und 6 sowie an der A 36 (Braunschweig – Bernburg (Saale)). Der nördliche Anschluss (Quedlinburg-Zentrum) zur A 36 über der mittelalterlichen Siedlung Marsleben (wüst) ist seit 2006 unter Verkehr; der Lückenschluss zwischen Quedlinburg-Zentrum und Quedlinburg-Ost wurde am 1. Dezember 2007 unter Verkehr gestellt. Die Autobahn A 14 ist 40 Kilometer in östlicher, die A 2 50 Kilometer in nördlicher und die A 7 75 Kilometer in westlicher Richtung von der Stadt entfernt. Schienenverkehr Die 1863 als Durchgangsbahnhof gebaute Station Quedlinburg ist seit 2006 Verknüpfungspunkt zwischen der Eisenbahnstrecke Halberstadt–Thale und den Harzer Schmalspurbahnen, die auf der Trasse der umgespurten Bahnstrecke Quedlinburg–Frose bis Gernrode und weiter über die Selketalbahn und Harzquerbahn zur Brockenbahn verkehren. Quedlinburg war seit 1863 Durchgangsbahnhof des Nordharzer Eisenbahnnetzes an der Verbindung von Halberstadt zum Harzrand bei Thale. Auf dieser Verbindung verkehrt stündlich der Regional-Express der Abellio Rail Mitteldeutschland von Magdeburg über Halberstadt nach Thale. Freitags, samstags und sonntags werden einzelne Züge als Harz-Berlin-Express nach Berlin verlängert. Der frühere Verkehr auf der Nebenstrecke über Quarmbeck, Gernrode, Ballenstedt, Ermsleben nach Aschersleben, der ältesten regelspurigen Nebenbahn des Harzes, des sogenannten Balkans wurde 2004 eingestellt. 2006 wurde der Abschnitt Gernrode–Quedlinburg als Schmalspurbahn reaktiviert. Diese Stichstrecke Frose–Ballenstedt war 1868 von den Magdeburg-Halberstädter Eisenbahnen (MHE) auf Drängen des Herzogs von Anhalt errichtet worden, der sein Schloss in Ballenstedt erreichen wollte. Nachdem die Deutsche Bahn AG den normalspurigen Streckenabschnitt nach Aschersleben über Gernrode stillgelegt hatte, wurde am 18. April 2005 mit den Arbeiten zur Verlängerung der Selketalbahn von Gernrode nach Quedlinburg begonnen. Dafür wurde zunächst der Endbahnhof Gernrode zu einem Durchgangsbahnhof umgebaut. Die Selketalbahn der HSB wurde bis Ende Dezember 2005 um 8,5 Kilometer von Gernrode nach Quedlinburg verlängert. Am 4. März 2006 fuhr der erste Schmalspurzug der Harzer Schmalspurbahnen in den Bahnhof Quedlinburg ein, und seit dem 26. Juni 2006 gibt es einen planmäßigen Zugbetrieb der Harzer Schmalspurbahnen bis Quedlinburg mit mindestens zwei Dampfzugpaaren am Tag. Busverkehr Der öffentliche Personennahverkehr wird unter anderem durch den PlusBus und TaktBus des Landesnetzes Sachsen-Anhalt erbracht. Folgende Verbindungen führen ab Quedlinburg: Linie 140: Quedlinburg ↔ Hoym ↔ Reinstedt ↔ Aschersleben Linie 230: Quedlinburg ↔ Westerhausen ↔ Blankenburg ↔ Wernigerode Linie 240: Quedlinburg ↔ Gernrode ↔ Ballenstedt ↔ Meisdorf ↔ Aschersleben Die Harzer Verkehrsbetriebe (HVB) betreibt weitere Linien ab Quedlinburg sowie den Stadtverkehr in Quedlinburg. Der Bahnhofsvorplatz ist die zentrale Haltestelle für Fernbuslinien des Unternehmens Flixbus. Flugverkehr In den 1920er Jahren wurde im zwei Kilometer südlich gelegenen Quarmbeck ein Regionalflughafen eröffnet, der in den 1930er Jahren zum Militärflugplatz ausgebaut und in Römergraben umbenannt wurde. Während der DDR-Zeit bestand dort ein sowjetischer Truppenstützpunkt. Der Flugbetrieb wurde eingestellt. Südwestlich in vier Kilometer Entfernung befindet sich der Flugplatz Ballenstedt, der über eine 800 Meter lange Asphaltbahn verfügt und zum Nachtflugbetrieb zugelassen ist. Als kleiner Sonderlandeplatz (für Flugzeuge bis 5700 Kilogramm zugelassen) befindet sich drei Kilometer nördlich von Aschersleben der Flugplatz Aschersleben. Etwa 22 Kilometer nordöstlich von Quedlinburg befindet sich der seit dem 1. September 2006 wieder aktivierte Flughafen Magdeburg-Cochstedt. Die nächstgelegenen internationalen Flughäfen sind 90 Kilometer südöstlich der Flughafen Leipzig/Halle und 120 Kilometer nordwestlich der Flughafen Hannover. Bildungswesen Historische Entwicklung Die ersten Nachweise einer Lateinschule der Benediktikirche und der Nikolaikirche reichen bis 1303 zurück. Seit den 1530er-Jahren sind die Rektoren bekannt. Die Lateinschule der Altstadt führte seit 1623 den Namen Gymnasium illustre und seit 1776 die Bezeichnung Fürstliches Gymnasium. Daneben gab es bis 1787 auch acht sogenannte deutsche Schulen, die Elementarkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelten. Auch eine Mädchenschule wurde bereits 1539 genannt. Im 19. Jahrhundert wurden eine katholische Privatschule, mehrere höhere Mädchenschulen und eine jüdische Privatschule gegründet. Neben dem altsprachlichen Gymnasium und der Oberrealschule entwickelte sich ein neusprachliches Lyceum. Zu DDR-Zeiten wurden die Schulen zu zehn sogenannten Polytechnischen Oberschulen vereinheitlicht, die in zehn Klassen die mittlere Reife vermittelten. Das Abitur konnte in zwei weiteren Jahren auf der Erweiterten Oberschule (EOS) im Konvent („GutsMuths-Gymnasium“) erworben werden. Grundausbildung Im Jahr 2022 gab es in Quedlinburg fünf Grundschulen, zwei Förderschulen (Sine-Cura-Schule für Geistigbehinderte und David-Sachs-Schule für Lernbehinderte), zwei Sekundarschulen (Bosse- und Bansischule), ein Gymnasium und die Kreismusikschule. Die Kleersgrundschule (ab dem Schuljahr 2008/2009: Integrationsschule Am Kleers) ist im Rahmen der Errichtung des Neubaugebietes Kleers in den 1980er-Jahren entstanden und führt seit 1991 ihren Namen. Seit 2004 ist sie eine integrative Schule mit Kooperationsklassen, integrativen Klassen und einer umfangreichen Nachmittagsbetreuung, die bei mehreren Landeswettbewerben in den Bereichen Schülerzeitung und Schülertheater siegte. Die Bosseschule (von 1983 bis 1991: Maxim-Gorki-Oberschule) liegt als Sekundarschule inmitten der Altstadt und ist seit 1955 nach dem deutschen Politiker Robert Bosse benannt. Die Schule nimmt seit 2005 an einem Modellversuch Produktives Lernen teil, der eine Verknüpfung von Unterricht und betrieblicher Praxis erreichen soll. Durch die Schließung der Carl-Ritter-Sekundarschule im Jahr 2004 musste die Bosseschule räumlich umgebaut werden, um einen Teil der zusätzlichen Schüler aufnehmen zu können. Die Schule nutzt Teile des ehemaligen Franziskanerklosters. In der Sekundarschule Ernst Bansi werden vor allem Schüler aus dem südlichen Teil Quedlinburgs und den umliegenden Orten beschult. Das GutsMuths-Gymnasium besteht aus zwei Gebäuden: dem 1903 gebauten denkmalgeschützten Hauptgebäude im Konvent und dem Erxleben-Haus in der Süderstadt, welches von 1991 bis 1998 als Süderstadt-Gymnasium und bis 2004 als Dorothea-Erxleben-Gymnasium bezeichnet wurde. Beide Schulen fusionierten im Jahre 2004. In der Süderstadt sind die Klassen 5 bis 9 und im Konvent die Oberstufenklassen 10 bis 12 untergebracht. Seit 2006 trägt die Schule den Titel Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage. Seit 2007 ist sie eine Ganztagsreferenzschule in Sachsen-Anhalt. Die Musikschule Johann Heinrich Rolle, Außenstelle der Kreismusikschule Harz und Mitglied im Verband deutscher Musikschulen (VdM), ist 1952 aus dem seit 1945 bestehenden Landeskonservatorium hervorgegangen. Die musikalische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen ist ihr Hauptziel. Dafür werden in Quedlinburg und an den betreuten Außenstellen Thale, Ballenstedt und Harzgerode ungefähr 560 Schüler in 30 Fächern instrumental und vokal unterrichtet. Weiterführende Bildungsmöglichkeiten Weiterführende Bildung ermöglichen die Berufsbildende Schule, die Volkshochschule, die Landesfachschule für Gartenbau, das Deutsche Fachwerkzentrum und eine Reihe von Bildungswerken, wie das Regionale Kompetenzzentrum Harz des Europäischen Bildungswerkes für Beruf und Gesellschaft e. V., das Bildungszentrum für das Hotel- und Gaststättengewerbe Ostharz GmbH, das Bildungswerk der Wirtschaft Sachsen-Anhalt e. V. und die Kreishandwerkerschaft Harzland-Staßfurt. Die Berufsbildende Schule führt seit 2007 den Namen des Quedlinburger Firmengründers und Saatzüchters Johann Peter Christian Heinrich Mette (1735–1806). Die amerikanische Texas Tech University bietet in Quedlinburg (Deutsch-)Kurse für ihre Studenten an. Die Landesfachschule für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Fachbereich Gartenbau des Ministeriums für Landwirtschaft und Umwelt befindet sich in Quedlinburg. Sie bietet ein- und zweijährige Fachschulausbildungen (staatlich geprüfter Techniker, Wirtschafter, hauswirtschaftlicher Betriebsleiter) in den Bereichen Garten- und Landschaftsbau und Hauswirtschaft sowie Vorbereitungskurse auf die Meisterprüfung in den genannten Bereichen an. Wegen zu geringer Schülerzahlen wurde sie 2013 geschlossen. Seit 1999 bildet das IBB – Institut für Berufliche Bildung, A. Gesche an der Berufsfachschule für Kosmetik staatlich geprüfte Kosmetiker/-innen aus. Außerdem bietet das IBB pflegerische, kosmetische und kaufmännische Weiterbildungen sowie Berufsausbildungen an der Berufsfachschule Altenpflege und Altenpflegehilfe und der staatlich anerkannten Schule für Podologie (Podologe/Podologin) an. Das Deutsche Fachwerkzentrum Quedlinburg wurde 2002 als Trägerverein der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, des Landes Sachsen-Anhalt und der Stadt Quedlinburg unter Mithilfe der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gegründet. Das Zentrum betreut ökologische Sanierungen und Bauforschungen und ermöglicht Jugendlichen ein Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege in einer Jugendbauhütte. In der Kreisbibliothek Quedlinburg stehen 52.000 Medien zur Ausleihe. Freizeit- und Sportanlagen In der Stadt gibt es ein 1903 eröffnetes Hallenbad und eine 2004 eröffnete moderne Dreifelderhalle. Für den Schulsport stehen eine Reihe von Sporthallen zur Verfügung, die zum Teil schon älter sind, so wurde die Kleersturnhalle 1910 erbaut. Die größten öffentlichen Sportplätze befinden sich am Moorberg südlich der Stadt und an der Lindenstraße, nordöstlich der Stadt. Im Jahr 2001 wurde das in den 1950er Jahren gebaute Freibad unweit des letztgenannten Sportplatzes geschlossen und eingeebnet, es wird seit 2021 an gleicher Stelle wieder errichtet. Die Judo-Halle auf dem Gelände der Polizei ist teilweise für den Breitensport zugänglich. Gesundheitswesen Das Harzklinikum Dorothea Christiane Erxleben befindet sich am östlichen Stadtrand. Das 1907 eingeweihte Krankenhaus wurde in den 1990er-Jahren zum Haus der Schwerpunktversorgung ausgebaut, es ist zudem Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Klinikum mit 481 stationären und 50 teilstationären Betten besitzt zwölf stationäre Fachbereiche und drei tagesklinische Einrichtungen. Das Hauttumorzentrum des Klinikums ist neben dem Dessauer das einzige zertifizierte in Sachsen-Anhalt. Jährlich werden ca. 20.000 stationäre und 20.000 ambulante Patienten betreut. Friedhöfe Größter kommunaler Friedhof ist der 1906 eingerichtete Städtische Zentralfriedhof am Badeborner Weg. Er befindet sich im Südosten der Stadt und sein Wegenetz ist sternförmig auf die Kapelle ausgerichtet. Während des Ersten Weltkrieges wurden hier über 700 verstorbene kriegsgefangene Soldaten und ein Großteil der über 160 gefallenen Quedlinburger begraben. Das Gleiche geschah im Zweiten Weltkrieg mit mindestens 110 Kriegsgefangenen und einer unbekannten Zahl Quedlinburger. In dieser Zeit wurde das Krematorium (gebaut 1928) auch zur Verbrennung von mindestens 912 Opfern des KZ Langenstein-Zwieberge benutzt. Die historischen kirchlichen Friedhöfe befanden sich im unmittelbaren Umfeld der jeweiligen Kirche. Sie lagen innerhalb der Stadtmauern an folgenden Stellen: St.-Aegidii-Friedhof nordöstlich der Kirche, er ist bis auf einzelne späte Grabsteine fast vollständig verschwunden der St.-Benedikti-Kirchhof liegt unter der neuzeitlichen Pflasterung und wird zum Teil als Parkplatz genutzt (ein Mausoleum ist erhalten) der St.-Nikolai-Kirchhof ist eine Grünanlage ein weiterer Friedhof der St.-Nikolai-Gemeinde lag zwischen der östlichen Bebauung (im nördlichen Teil) der Ballstraße und der Stadtmauer (diese Grünanlage ist als privates Gartengelände erhalten). Alle innerhalb der Stadtmauern gelegenen Friedhöfe wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgelassen. Nach Landrecht legten die aus hygienischen Gründen in der Folge neue Friedhöfe vor den Toren der Stadt an. Friedhof der Marktkirchgemeinde in der Weststraße (seit 1843, Kapelle 1915) Friedhof der Blasiikirchgemeinde an der Zwergkuhle (neuerrichtet 1841 bis 1843) Friedhof der Aegidiigemeinde am Ziegelhohlweg (Mitte 19. Jahrhundert) Friedhof der Katholischen Gemeinde Weststraße (seit 1868) Wiperti- und Servatiikirchhof links und rechts der Wipertistraße (Kapelle 1934/1935). An dieser Stelle befindet sich eine Quedlinburger Besonderheit: die in den Felsen des Kapellenberges eingehauene dreistöckige terrassenförmige Gruftanlage mit über zwanzig Grüften auf jeder Etage und Seite des Berges. Darüber hinaus wurde der Friedhof der jüdischen Gemeinde Quedlinburgs im 19. Jahrhundert von der Straße Weingarten an die Stelle der heutigen Anlage des Jüdischen Friedhof Quedlinburgs an der Zwergkuhle verlegt. Wirtschaft Ortsansässige Unternehmen Zu Zeiten der Industrialisierung wuchs auch in Quedlinburg die wirtschaftliche Kraft. Im Süden der Stadt siedelten sich zahlreiche Betriebe, Unternehmen und Firmen an, die besonders in den Bereichen Metallverarbeitung oder landwirtschaftliche Samenzucht zu Hause waren. Der Zuwachs der Beschäftigten in dieser Zeit kam in dem neu gebauten Wohngebiet der Süderstadt unter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle diese Werke zwangsenteignet und in staatliche Formen wie Volkseigener Betrieb oder Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft überführt. Größter Arbeitgeber wurde das Werk Mertik, der Nachfolgebetrieb von Hartmann & Söhne, in dem zwischenzeitlich mehr als 3000 Menschen beschäftigt waren. Als weiterer ehemaliger Betrieb ist der VEB Union zu nennen, in dem Schnellkochtöpfe (auch für den Export) und Essgeschirre für die Nationale Volksarmee hergestellt wurden. Das ehemalige volkseigene Gut August Bebel erzeugte Saatgut für den landwirtschaftlichen Bedarf und Spezial-Kulturen. Die 1874 gegründete Farbenfabrik Wilhelm Brauns, seit 1959 VEB Farb-Chemie Quedlinburg, produzierte bis 2004 Farb- und Klebstoffe. Viele dieser Betriebe, deren Produktion fast ausschließlich auf die Mitgliedsstaaten des sozialistischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausgerichtet war, gingen nach der Wiedervereinigung 1990 in die Insolvenz. Die leeren Betriebs- und Lagerhallen stehen zum Teil noch. Am Beginn der Hölle, in der Nähe des Marktplatzes, befindet sich seit einiger Zeit die Pflanzenfärberei Rubia, die auf traditionelle Weise Stoffe aus Naturfasern mit Pflanzenfarbstoffen färbt. Eines der wenigen Unternehmen, das die Marktanpassung geschafft hat, ist die Walzengießerei & Hartgusswerk Quedlinburg GmbH, die 1865 gegründet wurde und eine der wenigen Gießereien in Sachsen-Anhalt ist. Die Nachfolgeeinrichtungen der 1945 enteigneten Saatzuchtbetriebe wurden nach 1990 zu Teilinstituten der Bundesanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen (BAZ), einer dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zugeordneten Forschungseinrichtung, umgewandelt. Von den neun Teilinstituten der BAZ befinden sich fünf in Quedlinburg. Es sind dies das Institut für gartenbauliche Kulturen, das Institut für Epidemiologie und Resistenzressourcen, das Institut für Resistenzforschung und Pathogendiagnostik, das Institut für Pflanzenanalytik und das Forschungs- und Koordinierungszentrum für pflanzengenetische Ressourcen. Seit Jahresbeginn 2008 hat das neu gegründete Julius Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen (JKI), entstanden aus der Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA), der BAZ und der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL), seinen Hauptsitz in Quedlinburg. Neben der Funktion des Hauptsitzes dieser Forschungseinrichtung, sind nun sechs Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie und Pathogendiagnostik, Ökologische Chemie, Pflanzenanalytik und Vorratsschutz, Resistenzforschung und Stresstoleranz, Sicherheit biotechnologischer Verfahren bei Pflanzen, Züchtungsforschung an gartenbaulichen Kulturen und Obst und Züchtungsforschung an landwirtschaftlichen Kulturen in Quedlinburg angesiedelt. Auch privatwirtschaftliche Unternehmen wie satimex Quedlinburg, Quedlinburger Saatgut oder International Seeds Processing (ISP) konnten sich etablieren. Wirtschaftsbereiche Die Wirtschaftsbereiche unterteilen sich in: 2 Prozent Landwirtschaft, 19,29 Prozent Industrie und 78,71 Prozent Dienstleistungsbereich. Die Landwirtschaft ist spezialisiert auf Saatzucht, die Industrie auf Baugewerbe mit Spezialleistungen für Restaurierung und Sanierung, Bauelementefertigung, Holzverarbeitung, Metallverarbeitung und Pharmazie sowie Druckerei, der Dienstleistungssektor vornehmlich auf Tourismus. Tourismus Der Tourismus stellt für Quedlinburg eine der wichtigsten wirtschaftlichen Größen dar, und so zählt die Schaffung einer modernen touristischen Infrastruktur zu den Hauptvorhaben. An Übernachtungskapazitäten in Quedlinburg stehen den auswärtigen Gästen 62 Beherbungsbetriebe (Pensionen, Hotels) mit über 10 Betten und eine Jugendherberge zur Verfügung. Die Anzahl der Übernachtungen ist stark saisonabhängig, mit Spitzenwerten um Ostern, von Mai bis Juli, von September bis Oktober und zum Advent/Jahreswechsel. Größte Schwächezeit ist von Januar bis März. In den Spitzenzeiten sind die Kapazitäten in Quedlinburg und im ganzen Vorharz sehr stark ausgelastet. Insgesamt stehen 3110 Betten zur Verfügung, die für 473.145 Übernachtungen genutzt wurden. Die meisten Hotels wurden nach 1994 neu gebaut oder vollständig saniert. Seit 1994 ist Quedlinburg Teil der südlichen Route der Straße der Romanik, einer touristischen Straße zu den romanischen Denkmälern Sachsen-Anhalts. Zudem ist es ein Standort der Frauenorte. Die St.-Johannes-Kapelle ist seit 2003 eine Station der deutschen Verlängerung des Jakobsweges. Ganz in der Nähe verlaufen die Deutsche Fachwerkstraße und die Deutsche Alleenstraße. Seit dem 12. November 2008 ist die Stadt staatlich anerkannter Erholungsort. Der Reiseführer 1000 places to see before you die nennt Quedlinburg „ein Märchen aus Fachwerk“; der Reiseführer Lonely Planet spricht von einem „ungeschliffenen Juwel“, und die Stadt selbst hat sich 2006 den Leitspruch „Quedlinburg – Wiege Deutschlands“ gegeben (bis 1990 „Blumenstadt Quedlinburg“, bis 2006 „Neugierig auf …?“). Um den Tourismus zu fördern, wird seit 2015 in der Stadt ein WLAN installiert, welches vor allem in den Einkaufsstraßen empfangbar ist. Es wird durch das Projekt Freifunk Harz realisiert. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Zu den bekannten Persönlichkeiten, die in Quedlinburg geboren wurden, zählen unter anderen Dorothea Erxleben (1715–1762), die als erste deutsche Frau in Medizin promovierte, Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), der Begründer der Erlebnisdichtung und des deutschen Irrationalismus, Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759–1839), der als Begründer des modernen Sportunterrichts und Vater der Gymnastik gilt, und auch der Begründer der wissenschaftlichen Erdkunde, Carl Ritter (1779–1859). Aus neuerer Zeit sind zu nennen: der Dichter und Maler Fritz Graßhoff (1913–1997), der Schriftsteller Volker von Törne (1934–1980), die ehemalige Präsidentin des Bundesrechnungshofes (1993–2001) Hedda von Wedel (* 1942), der Filmregisseur Leander Haußmann (* 1959, u. a. Sonnenallee, Stasikomödie) sowie die deutsch-israelische Übersetzerin Ruth Achlama (* 1945). Ehrenbürger Zahlreiche Persönlichkeiten wurden zu Ehrenbürgern der Stadt Quedlinburg ernannt, zum Teil abhängig von den politischen Verhältnissen. So wurden in der Zeit des Nationalsozialismus am 20. April 1933 Adolf Hitler (1889–1945) und am 1. Juni 1937 Heinrich Himmler (1900–1945) die Ehrenbürgerwürde verliehen und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sofort wieder aberkannt. Zu den bekanntesten Personen, die durch die Stadt Quedlinburg das Ehrenbürgerrecht erhielten, zählen: 1895 Otto von Bismarck (1815–1898), der erste deutsche Kanzler, 1910 Julius Wolff (1834–1910), ein Dichter und Schriftsteller, und 1998 Gottfried Kiesow (1931–2011), Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Medien, Literatur und Filme Die Mitteldeutsche Zeitung ist mit einer Lokalredaktion in Quedlinburg vertreten. Weiterhin die lokal erscheinenden Blätter SuperSonntag, Wochenspiegel und Harzer Kreisblatt. Regionalprogramm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) mit Regionalbüro in Halberstadt. Der Sender des Regionalfernsehens Harz (RFH) kann über das örtliche Kabelnetz hauptsächlich im Harzkreis empfangen werden. Die Handlung einiger Romane ist in Quedlinburg und Umgebung angesiedelt. So handelt Wilhelm Raabes Der Schüdderump (1869) auf der fruchtbaren Erde des geschichtsträchtigen Quedlinburger Landes. Weiterhin spielt der erste Teil von Theodor Fontanes Roman Cécile (1887) in Quedlinburg und Thale, ebenso die verschiedenen Romane zu Dorothea Christiane Erxleben und Julius Wolffs Roman Der Raubgraf. Eine Geschichte aus dem Harzgau (1884). Weiterhin von Gerhard Beutel Der Stadthauptmann von Quedlinburg (Berlin 1972), von Helga Glaesener Du süße sanfte Mörderin (München 2000) oder zehn Romane von Christian Amling (Quitilinga History Land, 2005 bis 2018) über den fiktiven Privatdetektiv Irenäus Moll. Aufgrund der historischen Bausubstanz bietet sich Quedlinburg als Hintergrund für verschiedene Film- und Fernsehprojekte an. Mehrere Folgen (64, 67–70, 76) der Serie Ärger im Revier auf RTL II stammen aus Quedlinburg. Von 2012 bis 2017 wurde die ARD-Vorabendserie Heiter bis tödlich: Alles Klara in der Stadt und ihrer Umgebung gedreht, mit 48 Folgen in drei Staffeln. Die folgende Liste zeigt eine Auswahl von teilweise in Quedlinburg gedrehten Filmen: Sonstiges An lokal produzierten kulinarischen Spezialitäten sind Imkererzeugnisse, wie reiner Rapshonig, Senfprodukte und Edelbrand aus regionalen Früchten, und das einzige noch in Quedlinburg gebraute Bier Pubarschknall der Brauerei Lüdde zu nennen. Das Hochseeschiff (Typ XD) MS Quedlinburg war im August 1967 auf der Warnow-Werft in Rostock vom Stapel gelaufen und fuhr bis Februar 1991 für den VEB Deutsche Seereederei Rostock. Am 4. Mai 2004 wurde im Hauptbahnhof Magdeburg der ICE Nr. 242 (Baureihe 402/ICE 2) auf den Namen Quedlinburg getauft und am 24. September 2008 auf dem Flughafen Frankfurt Main ein Flugzeug (Bombardier CRJ700) der Lufthansa CityLine. Ein Airbus A320 der Lufthansa ist ebenfalls auf den Namen Quedlinburg getauft worden. Eine 126 Tonnen schwere Diesellok (Bauart Voith Maxima 40 CC) erhielt am 27. Mai 2011 den Namen Quedlinburg, da sie für den Transport vom neugebauten Verladebahnhof bei Quedlinburg aus vorgesehen ist. Im Jahr 2018 erschien das von dem österreichischen Spieleautor Wolfgang Warsch entwickelte Spiel Die Quacksalber von Quedlinburg bei Schmidt Spiele, das zum Kennerspiel des Jahres 2018 gewählt wurde. Panoramen Quellen-, Literatur- und Kartenverzeichnis Quelleneditionen Codex diplomaticus Quedlinburgensis, bearb. von Anton Ulrich von Erath. Frankfurt am Main 1764. Quellen zur städtischen Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte von Quedlinburg vom 15. Jh. bis zur Zeit Friedrichs d. Grossen, 1. Teil, bearb. von Hermann Lorenz (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen; 42). Halle/Saale 1916. Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg, bearbeitet von Karl Janicke (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete, Band 2), Abt. 1 und 2, Halle/Saale 1873 und 1882. Hermann Lorenz: Die urkundlichen Eintragungen in die Ratsrechnungen der Stadt Quedlinburg von 1454 bis 1509. In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 39 (1906), S. 194–255. Karlheinz Wauer: Häuserbuch der Stadt Quedlinburg von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1950 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye; 57–59), Marburg 2014. Literatur Zu einer ausführlichen Bibliographie vgl. Brigitte Schröder, Heinz Stoob: Bibliografie zur deutschen historischen Städteforschung Band 1. Köln 1986, S. 352–354, Nr. 4359–4381. Adolf Brinkmann: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Stadt Quedlinburg, Band 1 und 2, Berlin 1922 und 1923. Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt Band 7.1.: Landkreis Quedlinburg Stadt Quedlinburg, erarbeitet von Falko Grubitzsch et al., Halle/Saale 1998, ISBN 3-910147-67-4. Johann Heinrich Fritsch: Geschichte des vormaligen Reichsstifts und der Stadt Quedlinburg, Band 1 und 2, Quedlinburg 1828. Selmar Kleemann: Kulturgeschichtliche Bilder aus Quedlinburgs Vergangenheit. Quedlinburg 1922. Digitalisat Hermann Lorenz: Werdegang von Stift und Stadt Quedlinburg. Quedlinburg 1922. Hans-Hartmut Schauer: Das städtebauliche Denkmal Quedlinburg und seine Fachwerkbauten. Berlin 1990, ISBN 3-345-00233-7. Hans-Hartmut Schauer: Quedlinburg Fachwerkstadt Weltkulturerbe. Berlin 1999, ISBN 3-345-00676-6. Thomas Wozniak: Quedlinburg im 14. und 16. Jahrhundert – Ein sozialtopographischer Vergleich (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Bd. 11). Akademie-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-05-006049-1. Thomas Wozniak: Quedlinburg. Kleine Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2014, ISBN 3-7917-2605-6. Thomas Wozniak, Clemens Bley (Hrsg.): 1100 Jahre Quedlinburg. Geschichte – Kultur – Welterbe. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2023, ISBN 978-3-7319-1225-5. Förderverein Historische Sammlungen Quedlinburg e. V. (Hrsg.): Quedlinburger Annalen. Heimatkundliches Jahrbuch für Stadt und Region Quedlinburg, 1. Jahrgang (1998) ff. Peter Kasper: Das Reichsstift Quedlinburg (936–1810) Konzept-Zeitbezug-Systemwechsel; V&R unipress, Göttingen, 2014; ISBN 978-3-8471-0209-0. Karten Quedlinburg, östlich am Harz, an der Bode, Regierungsbezirk Magdeburg, in: Meyers Gazetteer, mit Eintrag aus Meyers Orts- und Verkehrslexikon, Ausgabe 1912, sowie einer historischen Landkarte der Umgebung von Quedlinburg (meyersgaz.org). Gustav Brecht: Das Gebiet des vormaligen Reichsstiftes Quedlinburg mit Angabe der Wüstungen, des Landgrabens und der wichtigsten Flurnamen, Beilage UB Stadt Quedlinburg, Band 2, Halle 1882, S. XCIX. Ulrich Reuling, Daniel Stracke: Deutscher Historischer Städteatlas (DHStA) Nr. 1 Quedlinburg (Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte – Münster). Hrsg. von Wilfried Ehbrecht, Peter Johanek, Jürgen Lafrenz. Kartographie von Thomas Kaling, Dieter Overhageböck. Münster 2006, ISBN 3-87023-272-2. Topografische Karten des Landesamtes für Landesvermessung und Datenverarbeitung Sachsen-Anhalt, TK 25 Blätter 4132 (Halberstadt), 4232 (Quedlinburg), 4133 (Wegeleben) und 4233 (Ballenstedt), 2. Auflage, 1997; TK 50 Blätter L 4332 (Quedlinburg) und 4132 (Halberstadt), 2. Auflage, 1998. Geologische Karte der Preußischen Geologischen Landesanstalt, Lieferung 240 Blatt 2307 (Halberstadt) Berlin 1928 und Blatt 2381 (Quedlinburg), Berlin 1927. Weblinks Offizielle Website der Stadt Welterbestadt Quedlinburg Video-Weblinks (RealVideo, 14 Min.). Einzelnachweise Ort im Landkreis Harz Ort an der Bode Hansestadt Ehemalige kreisfreie Stadt in Sachsen-Anhalt Staatlich anerkannter Erholungsort in Sachsen-Anhalt Ehemaliger Residenzort in Sachsen-Anhalt Ehemalige Kreisstadt in Sachsen-Anhalt Welterbestätte in Europa Welterbestätte in Deutschland Weltkulturerbestätte Archäologischer Fundplatz in Sachsen-Anhalt Stadt in Sachsen-Anhalt Ersterwähnung 922 Stadtrechtsverleihung 994
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https://de.wikipedia.org/wiki/Relativit%C3%A4tstheorie
Relativitätstheorie
Die Relativitätstheorie befasst sich mit der Struktur von Raum und Zeit sowie mit dem Wesen der Gravitation. Sie besteht aus zwei maßgeblich von Albert Einstein entwickelten physikalischen Theorien: der 1905 veröffentlichten speziellen Relativitätstheorie und der 1916 abgeschlossenen allgemeinen Relativitätstheorie. Die spezielle Relativitätstheorie beschreibt das Verhalten von Raum und Zeit aus der Sicht von Beobachtern, die sich relativ zueinander bewegen, und die damit verbundenen Phänomene. Darauf aufbauend führt die allgemeine Relativitätstheorie die Gravitation auf eine Krümmung von Raum und Zeit zurück, die unter anderem durch die beteiligten Massen verursacht wird. Der in der physikalischen Fachsprache häufige Ausdruck relativistisch bedeutet üblicherweise, dass eine Geschwindigkeit nicht vernachlässigbar klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit ist; die Grenze wird oft bei zehn Prozent gezogen. Bei relativistischen Geschwindigkeiten gewinnen die von der speziellen Relativitätstheorie beschriebenen Effekte zunehmende Bedeutung, die Abweichungen von der klassischen Mechanik können dann nicht mehr vernachlässigt werden. In diesem Artikel werden die grundlegenden Strukturen und Phänomene lediglich zusammenfassend aufgeführt. Für Erläuterungen und Details siehe die Artikel Spezielle Relativitätstheorie und Allgemeine Relativitätstheorie sowie die Verweise im Text. Zum Begriff der Relativität als solcher siehe Relativität. Bedeutung Die Relativitätstheorie hat das Verständnis von Raum und Zeit revolutioniert und Zusammenhänge aufgedeckt, die sich der anschaulichen Vorstellung entziehen. Diese lassen sich jedoch mathematisch präzise in Formeln fassen und durch Experimente bestätigen. Die Relativitätstheorie enthält die newtonsche Physik als Grenzfall. Sie erfüllt damit das Korrespondenzprinzip. Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf der Vereinigung der speziellen Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu einer relativistischen Quantenfeldtheorie. Die allgemeine Relativitätstheorie ist neben der Quantenphysik eine der beiden Säulen des Theoriengebäudes Physik. Es wird allgemein angenommen, dass eine Vereinigung dieser beiden Säulen zu einer Theory of Everything (Theorie von allem) im Prinzip möglich ist. Trotz großer Anstrengungen ist solch eine Vereinigung jedoch noch nicht vollständig gelungen. Sie zählt zu den großen Herausforderungen der physikalischen Grundlagenforschung. Die spezielle Relativitätstheorie Das Relativitätsprinzip Die beiden folgenden Feststellungen lassen sich als Axiome der Relativitätstheorie interpretieren, aus denen alles Weitere hergeleitet werden kann: Messen verschiedene Beobachter die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls relativ zu ihrem Standort, so kommen sie unabhängig von ihrem eigenen Bewegungszustand zum selben Ergebnis. Dies ist das sogenannte Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die physikalischen Gesetze haben für alle Beobachter, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, also keiner Beschleunigung unterliegen, dieselbe Gestalt. Diesen Umstand nennt man Relativitätsprinzip. Das Relativitätsprinzip an sich ist wenig spektakulär, denn es gilt auch für die newtonsche Mechanik. Aus ihm folgt unmittelbar, dass es keine Möglichkeit gibt, eine absolute Geschwindigkeit eines Beobachters im Raum zu ermitteln und damit ein absolut ruhendes Bezugssystem zu definieren. Ein solches Ruhesystem müsste sich in irgendeiner Form von allen anderen unterscheiden – es würde damit aber im Widerspruch zum Relativitätsprinzip stehen, wonach die Gesetze der Physik in allen Bezugssystemen dieselbe Gestalt haben. Nun beruhte vor der Entwicklung der Relativitätstheorie die Elektrodynamik auf der Annahme des Äthers als Träger elektromagnetischer Wellen. Würde ein solcher Äther als starres Gebilde den Raum füllen, dann würde er ein Bezugssystem definieren, in dem im Widerspruch zum Relativitätsprinzip die physikalischen Gesetze eine besonders einfache Form hätten und welches überdies das einzige System wäre, in dem die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Jedoch scheiterten alle Versuche, die Existenz des Äthers nachzuweisen, wie beispielsweise das berühmte Michelson-Morley-Experiment von 1887. Durch die Aufgabe der konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit und die Verwerfung der Ätherhypothese gelang es Einstein, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Relativitätsprinzip und der aus der Elektrodynamik folgenden Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aufzulösen. Nicht zufällig waren es Experimente und Überlegungen zur Elektrodynamik, die zur Entdeckung der Relativitätstheorie führten. So lautete der unscheinbare Titel der einsteinschen Publikation von 1905, die die spezielle Relativitätstheorie begründete, Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Relativität von Raum und Zeit Raum- und Zeitangaben sind in der Relativitätstheorie keine universell gültigen Ordnungsstrukturen. Vielmehr werden der räumliche und zeitliche Abstand zweier Ereignisse oder auch deren Gleichzeitigkeit von Beobachtern mit verschiedenen Bewegungszuständen unterschiedlich beurteilt. Bewegte Objekte erweisen sich im Vergleich zum Ruhezustand in Bewegungsrichtung als verkürzt und bewegte Uhren als verlangsamt. Da jedoch alle relativ zueinander gleichförmig bewegten Beobachter gleichermaßen den Standpunkt vertreten können, sich in Ruhe zu befinden, beruhen diese Beobachtungen auf Gegenseitigkeit, das heißt, zwei relativ zueinander bewegte Beobachter sehen die Uhren des jeweils anderen langsamer gehen. Außerdem sind aus ihrer Sicht die Meterstäbe des jeweils anderen kürzer als ein Meter, wenn sie längs der Bewegungsrichtung ausgerichtet sind. Die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, ist hierbei prinzipiell nicht zu beantworten und daher sinnlos. Diese Längenkontraktion und Zeitdilatation lassen sich vergleichsweise anschaulich anhand von Minkowski-Diagrammen nachvollziehen. In der mathematischen Formulierung ergeben sie sich aus der Lorentz-Transformation, die den Zusammenhang zwischen den Raum- und Zeitkoordinaten der verschiedenen Beobachter beschreibt. Diese Transformation lässt sich direkt aus den beiden obigen Axiomen und der Annahme, dass sie linear ist, herleiten. Die meisten dieser relativistisch erklärbaren Phänomene machen sich erst bei Geschwindigkeiten bemerkbar, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit nennenswert groß sind. Solche Geschwindigkeiten werden von massebehafteten Körpern im Alltag nicht annähernd erreicht. Lichtgeschwindigkeit als Grenze Kein Objekt und keine Information kann sich schneller bewegen als das Licht im Vakuum. Nähert sich die Geschwindigkeit eines materiellen Objektes der Lichtgeschwindigkeit, so strebt der Energieaufwand für eine weitere Beschleunigung über alle Grenzen, weil die kinetische Energie mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit immer steiler ansteigt. Zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit müsste unendlich viel Energie aufgebracht werden. Dieser Umstand ist eine Folge der Struktur von Raum und Zeit und keine Eigenschaft des Objekts, wie beispielsweise eines lediglich unvollkommenen Raumschiffes. Würde sich ein Objekt mit Überlichtgeschwindigkeit von A nach B bewegen, so gäbe es immer einen relativ zu ihm bewegten Beobachter, der eine Bewegung von B nach A wahrnehmen würde, wiederum ohne dass die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, einen Sinn gäbe. Das Kausalitätsprinzip wäre dann verletzt, da die Reihenfolge von Ursache und Wirkung nicht mehr definiert wäre. Ein solches Objekt würde sich übrigens für jeden Beobachter mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen. Vereinigung von Raum und Zeit zur Raumzeit Raum und Zeit erscheinen in den Grundgleichungen der Relativitätstheorie formal fast gleichwertig nebeneinander und lassen sich daher zu einer vierdimensionalen Raumzeit vereinigen. Dass Raum und Zeit auf verschiedene Weise in Erscheinung treten, ist eine Eigenheit der menschlichen Wahrnehmung. Mathematisch lässt der Unterschied sich auf ein einziges Vorzeichen zurückführen, durch das sich die Definition eines Abstandes im euklidischen Raum von der Definition des Abstands in der vierdimensionalen Raumzeit unterscheidet. Aus gewöhnlichen Vektoren im dreidimensionalen Raum werden dabei sogenannte Vierervektoren. In der Raumzeit gibt es aufgrund der Relativität von Längen und Zeitspannen drei klar unterscheidbare Bereiche für jeden Beobachter: Im Zukunftslichtkegel liegen alle Punkte, die der Beobachter mittels eines Signals mit maximal Lichtgeschwindigkeit erreichen kann. Der Vergangenheitslichtkegel umfasst alle Punkte, von denen aus ein Signal mit maximal Lichtgeschwindigkeit den Beobachter erreichen kann. Alle restlichen Punkte heißen „vom Beobachter raumartig getrennt“. In diesem Bereich kann der gewählte Beobachter Zukunft und Vergangenheit nicht definieren. Praktische Anwendung finden die Raumzeit-Vierervektoren beispielsweise in Berechnungen der Kinematik schneller Teilchen. Äquivalenz von Masse und Energie Einem System mit der Masse m lässt sich auch im unbewegten Zustand eine Energie E zuordnen, und zwar nach , wobei c die Geschwindigkeit des Lichtes ist. Diese Formel ist eine der berühmtesten in der Physik. Oft wird irreführend behauptet, sie habe die Entwicklung der Atombombe ermöglicht. Die Wirkungsweise der Atombombe kann jedoch mit ihr nicht erklärt werden. Allerdings konnte schon 1939 kurz nach der Entdeckung der Kernspaltung mit dieser Formel und den schon bekannten Massen der Atome durch Lise Meitner die enorme Freisetzung von Energie abgeschätzt werden. Diese Massenabnahme tritt auch schon bei chemischen Reaktionen auf, war jedoch dort wegen ihrer Kleinheit mit den damaligen Messmethoden nicht bestimmbar, anders als im Fall von Kernreaktionen. Magnetfelder in der Relativitätstheorie Die Existenz magnetischer Kräfte ist untrennbar mit der Relativitätstheorie verknüpft. Eine isolierte Existenz des coulombschen Gesetzes für elektrische Kräfte wäre nicht mit der Struktur von Raum und Zeit verträglich. So sieht ein Beobachter, der relativ zu einem System statischer elektrischer Ladungen ruht, kein Magnetfeld, anders als ein Beobachter, der sich relativ zu ihm bewegt. Übersetzt man die Beobachtungen des ruhenden Beobachters über eine Lorentz-Transformation in die des Bewegten, so stellt sich heraus, dass dieser neben der elektrischen Kraft eine weitere, magnetische Kraft wahrnimmt. Die Existenz des Magnetfeldes in diesem Beispiel lässt sich daher auf die Struktur von Raum und Zeit zurückführen. Unter diesem Gesichtspunkt wirkt auch die im Vergleich zum Coulombgesetz komplizierte und auf den ersten Blick wenig plausible Struktur des vergleichbaren biot-savartschen Gesetzes für Magnetfelder weniger verwunderlich. Im mathematischen Formalismus der Relativitätstheorie werden das elektrische und das magnetische Feld zu einer Einheit, dem vierdimensionalen elektromagnetischen Feldstärketensor, zusammengefasst, ganz analog zur Vereinigung von Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit. Die allgemeine Relativitätstheorie Gravitation und die Krümmung der Raumzeit Die allgemeine Relativitätstheorie führt die Gravitation auf das geometrische Phänomen der gekrümmten Raumzeit zurück, indem sie feststellt: Energie krümmt die Raumzeit in ihrer Umgebung. Ein Gegenstand, auf den nur gravitative Kräfte wirken, bewegt sich zwischen zwei Punkten in der Raumzeit stets auf einer sogenannten Geodäte. Entzieht sich bereits die vierdimensionale Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie einer anschaulichen Vorstellbarkeit, so gilt das für eine zusätzlich gekrümmte Raumzeit erst recht. Zur Veranschaulichung kann man jedoch Situationen mit reduzierter Anzahl von Dimensionen betrachten. So entspricht im Fall einer zweidimensionalen gekrümmten Landschaft eine Geodäte dem Weg, den ein Fahrzeug mit geradeaus fixierter Lenkung nehmen würde. Würden zwei solche Fahrzeuge am Äquator einer Kugel nebeneinander exakt parallel Richtung Norden starten, dann würden sie sich am Nordpol treffen. Ein Beobachter, dem die Kugelgestalt der Erde verborgen bliebe, würde daraus auf eine Anziehungskraft zwischen den beiden Fahrzeugen schließen. Es handelt sich aber um ein rein geometrisches Phänomen. Gravitationskräfte werden daher in der allgemeinen Relativitätstheorie gelegentlich auch als Scheinkräfte bezeichnet. Da der geodätische Weg durch die Raumzeit von ihrer Geometrie und nicht von der Masse oder sonstigen Eigenschaften des fallenden Körpers abhängt, fallen alle Körper im Gravitationsfeld gleich schnell, wie bereits Galilei feststellte. Dieser Umstand wird in der newtonschen Mechanik durch die Äquivalenz von träger und schwerer Masse beschrieben, die auch der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt. Die mathematische Struktur der allgemeinen Relativitätstheorie Während viele Aspekte der speziellen Relativitätstheorie in ihrer einfachsten Formulierung auch mit geringen mathematischen Kenntnissen nachvollziehbar sind, ist die Mathematik der allgemeinen Relativitätstheorie deutlich anspruchsvoller. Die Beschreibung einer gekrümmten Raumzeit erfolgt mit den Methoden der Differentialgeometrie, die die euklidische Geometrie des uns vertrauten flachen Raumes beinhaltet und erweitert. Zur Beschreibung von Krümmung wird zur Anschauung meist ein gekrümmtes Objekt in einen höherdimensionalen Raum eingebettet. Zum Beispiel stellt man sich eine zweidimensionale Kugeloberfläche üblicherweise in einem dreidimensionalen Raum vor. Krümmung kann jedoch ohne die Annahme eines solchen Einbettungsraumes beschrieben werden, was in der allgemeinen Relativitätstheorie auch geschieht. Es ist beispielsweise möglich, Krümmung dadurch zu beschreiben, dass die Winkelsumme von Dreiecken nicht 180° entspricht. Die Entstehung der Krümmung wird durch die einsteinschen Feldgleichungen beschrieben. Dabei handelt es sich um Differentialgleichungen eines Tensorfeldes mit zehn Komponenten, die nur in speziellen Fällen analytisch, das heißt in Form einer mathematischen Gleichung, lösbar sind. Für komplexe Systeme wird daher üblicherweise mit Näherungsmechanismen gearbeitet. Uhren im Gravitationsfeld In der allgemeinen Relativitätstheorie hängt der Gang von Uhren nicht nur von ihrer relativen Geschwindigkeit ab, sondern auch von ihrem Ort im Gravitationsfeld. Eine Uhr auf einem Berg geht schneller als eine im Tal. Dieser Effekt ist zwar im irdischen Gravitationsfeld nur gering, er wird jedoch beim GPS-Navigationssystem zur Vermeidung von Fehlern bei der Positionsbestimmung über eine entsprechende Frequenzkorrektur der Funksignale berücksichtigt. Kosmologie Während die spezielle Relativitätstheorie bei Anwesenheit von Massen nur in Gebieten der Raumzeit gilt, die so klein sind, dass die Krümmung vernachlässigt werden kann, kommt die allgemeine Relativitätstheorie ohne diese Einschränkung aus. Sie kann somit auch auf das Universum als Ganzes angewandt werden und spielt daher in der Kosmologie eine zentrale Rolle. So wird die Expansion des Weltalls, die die Astronomen beobachten, durch die friedmannschen Lösungen der einsteinschen Feldgleichungen in Kombination mit einer sogenannten kosmologischen Konstanten angemessen beschrieben. Danach begann diese Expansion mit dem Urknall, der nach den jüngsten Untersuchungen vor 13,7 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Er kann auch als der Beginn von Raum und Zeit angesehen werden, bei dem das gesamte Universum auf einem Raumgebiet vom Durchmesser der Planck-Länge konzentriert war. Schwarze Löcher Eine weitere Vorhersage der allgemeinen Relativitätstheorie sind Schwarze Löcher. Diese Objekte haben eine so starke Gravitation, dass sie sogar Licht „einfangen“ können, sodass es nicht wieder aus dem schwarzen Loch herauskommen kann. Einstein konnte sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden und meinte, es müsse einen Mechanismus geben, der die Entstehung solcher Objekte verhindert. Heutige Beobachtungen aber belegen, dass es solche Schwarzen Löcher im Universum tatsächlich gibt, und zwar als Endstadium der Sternentwicklung bei sehr massereichen Sternen und in den Zentren von Galaxien. Gravitationswellen Die allgemeine Relativitätstheorie erlaubt die Existenz von Gravitationswellen, lokalen Deformationen der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Sie entstehen bei der Beschleunigung von Massen, allerdings sind sie nur sehr klein. Daher konnten Gravitationswellen lange Zeit nur indirekt bestätigt werden, etwa durch Beobachtungen an Doppelsternsystemen mit Pulsaren. Russell Hulse und Joseph Taylor erhielten dafür 1993 den Nobelpreis für Physik. Erst beim LIGO-Experiment, am 14. September 2015 um 11:51 MESZ, gelang der direkte Nachweis, was im Jahr 2017 ebenfalls durch einen Nobelpreis für Physik gewürdigt wurde. Entstehungsgeschichte Spezielle Relativitätstheorie Ausgehend von den Problemen der verschiedenen Äthertheorien des 19. Jahrhunderts und der maxwellschen Gleichungen setzte eine kontinuierliche Entwicklung mit folgenden Hauptstationen ein: dem Michelson-Morley-Experiment (1887), das keine Relativbewegung zwischen Erde und Äther (Ätherdrift) aufzeigen konnte; der Kontraktionshypothese von George FitzGerald (1889) und Hendrik Antoon Lorentz (1892), mit der das Michelson-Morley-Experiment erklärt werden sollte; der Lorentz-Transformation von Lorentz (1892, 1899) und Joseph Larmor (1897), die eine Veränderung der Zeitvariablen beinhaltete, und mit der generell die negativen Ätherdriftexperimente erklärt werden sollten; dem Relativitätsprinzip (1900, 1904), der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (1898, 1904), und der Relativität der Gleichzeitigkeit (1898, 1900) durch Henri Poincaré, der jedoch am Äthergedanken festhielt; sowie dem Erreichen der vollen Kovarianz der elektrodynamischen Grundgleichungen durch Lorentz (1904) und Poincaré (1905) in der lorentzschen Äthertheorie. Dies kulminierte in der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins (1905) durch eine durchsichtige Ableitung der gesamten Theorie aus den Postulaten des Relativitätsprinzips und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, und der endgültigen Überwindung des Ätherbegriffs durch Reformulierung der Begriffe von Raum und Zeit. Die dynamische Betrachtungsweise von Lorentz und Poincaré wurde durch die kinematische Einsteins ersetzt. Schließlich folgte die mathematische Reformulierung der Theorie durch Einbeziehung der Zeit als vierte Dimension durch Hermann Minkowski (1907). Allgemeine Relativitätstheorie Während an der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie eine Reihe von Wissenschaftlern beteiligt war – wobei Einsteins Arbeit von 1905 sowohl ein Ende als auch einen Neuanfang darstellte –, war die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, was ihre grundlegenden physikalischen Aussagen betraf, praktisch die alleinige Errungenschaft Einsteins. Diese Entwicklung begann 1907 mit dem Äquivalenzprinzip, wonach träge und schwere Masse äquivalent sind. Daraus leitete er die gravitative Rotverschiebung ab und stellte fest, dass Licht im Gravitationsfeld abgelenkt wird, wobei er die dabei entstehende Verzögerung, die sogenannte Shapiro-Verzögerung, bedachte. 1911 führte er mit verfeinerten Methoden diese Grundgedanken weiter. Diesmal vermutete er auch, dass die Lichtablenkung im Gravitationsfeld messbar ist. Der von ihm zu dieser Zeit vorhergesagte Wert war jedoch noch um einen Faktor 2 zu klein. Im weiteren Verlauf erkannte Einstein, dass Minkowskis vierdimensionaler Raumzeitformalismus, welchem Einstein bislang skeptisch gegenüberstand, eine sehr wichtige Bedeutung bei der neuen Theorie zukam. Auch wurde ihm nun klar, dass die Mittel der euklidischen Geometrie nicht ausreichten, um seine Arbeit fortsetzen zu können. 1913 konnte er mit der mathematischen Unterstützung Marcel Grossmanns die im 19. Jahrhundert entwickelte nichteuklidische Geometrie in seine Theorie integrieren, ohne jedoch die vollständige Kovarianz, d. h. die Übereinstimmung aller Naturgesetze in den Bezugssystemen, zu erreichen. 1915 waren diese Probleme nach einigen Fehlschlägen überwunden, und Einstein konnte schließlich die korrekten Feldgleichungen der Gravitation ableiten. Nahezu gleichzeitig gelang dies auch David Hilbert. Einstein errechnete den korrekten Wert für die Periheldrehung des Merkurs, und für die Lichtablenkung das Doppelte des 1911 erhaltenen Wertes. 1919 wurde dieser Wert erstmals bestätigt, was den Siegeszug der Theorie in Physikerkreisen und auch in der Öffentlichkeit einleitete. Danach versuchten sich viele Physiker an exakten Lösungen der Feldgleichungen, was in der Aufstellung diverser kosmologischer Modelle und in Theorien wie die der Schwarzen Löcher mündete. Weitere geometrische Theorien Nach der Erklärung der Gravitation als geometrisches Phänomen lag es nahe, auch die anderen damals bekannten Grundkräfte, die elektrische und die magnetische, auf geometrische Effekte zurückzuführen. Theodor Kaluza (1921) und Oskar Klein (1926) nahmen dazu eine zusätzliche in sich geschlossene Dimension des Raumes mit so kleiner, nämlich subatomarer Länge an, dass diese Dimension uns verborgen bleibt. Sie blieben jedoch mit ihrer Theorie erfolglos. Auch Einstein arbeitete lange vergeblich daran, eine solche einheitliche Feldtheorie zu schaffen. Nach der Entdeckung weiterer Grundkräfte der Natur erlebten diese sogenannten Kaluza-Klein-Theorien eine Renaissance – allerdings auf der Basis der Quantentheorie. Die heute aussichtsreichste Theorie zur Vereinigung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie dieser Art, die Stringtheorie, geht von sechs oder sieben verborgenen Dimensionen von der Größe der Planck-Länge und damit von einer zehn- beziehungsweise elfdimensionalen Raumzeit aus. Experimentelle Bestätigungen Der erste Erfolg der speziellen Relativitätstheorie war die Auflösung des Widerspruches, der als Anlass für ihre Entdeckung angesehen werden kann: der Widerspruch zwischen dem Ergebnis des Michelson-Morley-Experiments und der Theorie der Elektrodynamik. Seither hat sich die spezielle Relativitätstheorie in der Interpretation unzähliger Experimente bewährt. Ein überzeugendes Beispiel ist der Nachweis von Myonen in der Höhenstrahlung, die auf Grund ihrer kurzen Lebensdauer nicht die Erdoberfläche erreichen könnten, wenn nicht aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit die Zeit für sie langsamer ginge, beziehungsweise sie die Flugstrecke längenkontrahiert erführen. Dieser Nachweis gelang zum Teil bei den Ballonflügen in die Stratosphäre des Schweizer Physikers Auguste Piccard in den Jahren 1931 und 1932, die unter Mitwirkung von Einstein vorbereitet wurden. Hingegen gab es zur Zeit der Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie nur einen einzigen Hinweis für ihre Richtigkeit, die Periheldrehung des Merkurs. 1919 stellte Arthur Stanley Eddington bei einer Sonnenfinsternis eine Verschiebung der scheinbaren Position der Sterne nahe der Sonne fest und lieferte mit diesem sehr direkten Hinweis auf eine Krümmung des Raums eine weitere Bestätigung der Theorie. Weitere experimentelle Tests sind im Artikel zur allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben. Die Relativitätstheorie hat sich bis heute in der von Einstein vorgegebenen Form gegen alle Alternativen, die insbesondere zu seiner Theorie der Gravitation vorgeschlagen wurden, behaupten können. Die bedeutendste war die Jordan-Brans-Dicke-Theorie, die jedoch aufwändiger war. Ihre Gültigkeit ist bisher nicht widerlegt worden. Der Bereich, den der entscheidende Parameter nach heutigem experimentellem Stand einnehmen kann, ist jedoch stark eingeschränkt. Rezeption und Interpretation Wahrnehmung in der Öffentlichkeit Die neue Sichtweise der Relativitätstheorie bezüglich Raum und Zeit erregte nach ihrer Entdeckung auch in der Allgemeinheit Aufsehen. Einstein wurde zur Berühmtheit und die Relativitätstheorie erfuhr ein erhebliches Medienecho. Verkürzt auf das geflügelte Wort Alles ist relativ wurde sie zuweilen in die Nähe eines philosophischen Relativismus gerückt. Im April 1922 wurde ein Film mit dem Titel Die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie uraufgeführt, in dem Einsteins spezielle Relativitätstheorie mit vielen Animationen dem Publikum verständlich gemacht werden sollte. Kritik an der Relativitätstheorie speiste sich aus verschiedenen Quellen, wie Unverständnis, Ablehnung der fortschreitenden Mathematisierung der Physik und teilweise auch Ressentiments gegen Einsteins jüdische Abstammung. Ab den 1920er Jahren versuchten in Deutschland einige wenige offen antisemitische Physiker, namentlich die Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark, der Relativitätstheorie eine deutsche Physik entgegenzusetzen. Wenige Jahre nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ ging Stark mit einem Artikel in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps vom 15. Juli 1937 gegen die im Land verbliebenen Anhänger der Relativitäts- und Quantentheorie in die Offensive. Unter anderem denunzierte er Werner Heisenberg und Max Planck als weiße Juden. Heisenberg wandte sich direkt an Himmler und erreichte seine volle Rehabilitierung; nicht zuletzt mit Blick auf die Bedürfnisse der Rüstungsentwicklung blieb die Relativitätstheorie erlaubt. Auch viele führende Vertreter der hergebrachten klassischen Physik lehnten Einsteins Relativitätstheorie ab, darunter Lorentz und Poincaré selbst und auch Experimentalphysiker wie Michelson. Wissenschaftliche Anerkennung Die Bedeutung der Relativitätstheorien war anfänglich umstritten. Der Nobelpreis für Physik 1921 wurde Einstein im Jahr 1922 für seine Deutung des photoelektrischen Effekts zugesprochen. Allerdings sprach er in seiner Preisrede dann über die Relativitätstheorien. Literatur und Film Physikalische Einführungen und Diskussion Max Born: Die Relativitätstheorie Einsteins. Bearbeitet von Jürgen Ehlers und Markus Pössel. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-67904-9. Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Springer Verlag 2009, 24. Auflage (1. Auflage 1916). Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik. Zsolnay, Hamburg 1950, Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-18342-0. Albert Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie. Vieweg 1963; Neuausgabe: Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-43512-3 (Originaltitel Meaning of relativity). Jürgen Freund: Relativitätstheorie für Studienanfänger – ein Lehrbuch. vdf Hochschulverlag, Zürich 2004, ISBN 3-7281-2993-3. Hubert Goenner: Spezielle Relativitätstheorie und die klassische Feldtheorie. Elsevier – Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-1434-2. Holger Müller, Achim Peters: Einsteins Theorie auf dem optischen Prüfstand – Spezielle Relativitätstheorie. In: Physik in unserer Zeit 35, Nr. 2, 2004, , S. 70–75. Wolfgang Nolting: Grundkurs Theoretische Physik. Band 4. Spezielle Relativitätstheorie, Thermodynamik. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-42116-5. Hans Stephani: Allgemeine Relativitätstheorie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, ISBN 3-326-00083-9. Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1685-X. 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Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Meiner, Hamburg 2001, ISBN 3-7873-1410-5. John Earman: World Enough and Space-Time. Absolute versus relational theories of space and time. MIT, Cambridge, Mass. 1989, ISBN 0-262-05040-4. John Earman (Hrsg.): Foundations of space-time theories. University of Minnesota Press, Minneapolis, Minn. 1977, ISBN 0-8166-0807-5. Lawrence Sklar: Space, Time, and Spacetime. University of California Press, 1977, ISBN 0-520-03174-1. R. Torretti: Relativity and Geometry. Pergamon, Oxford 1983, ISBN 0-08-026773-4. M. Friedman: Foundations of Space-Time Theories. Relativistic physics and philosophy of science. Princeton University Press, Princeton, NJ 1983, ISBN 0-691-07239-6. John Earman: Bangs, Crunches, Whimpers and Shrieks. Singularities and acausalities in relativistic spacetimes. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-509591-X. H. Brown: Physical Relativity. 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(Das Drehbuch basiert auf dem Bestseller Bis Einstein kam von David Bodanis.) Weblinks Tempolimit Lichtgeschwindigkeit – Visualisierung der Phänomene der Relativitätstheorie Einstein Online (deutsche Version) E. F. Taylor and J. A. Wheeler: Spacetime Physics 2nd Edition, New York, W. H. Freeman and Co., 1992. ISBN 0-7167-2327-1. Standardwerk zur Speziellen Relativitätstheorie (englisch) Zur technischen Anwendung der Relativitätstheorie in GPS-Systemen Online-Kurs „Spezielle Relativitätstheorie“ (mit GeoGebra, ausgezeichnet mit dem österreichischen Bildungssoftware-Preis L@rnie 2005) J. R. Lucas: Homepage mit zahlreichen Publikationen zur Philosophie der Zeit, Raumzeit und Relativität, darunter der Volltext von Reason and Reality, 2006 Andrew Hamilton: Yuri Balashov: , Rice University, Houston, Texas 1999 Einzelnachweise Albert Einstein Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sirius
Sirius
Sirius, Bayer-Bezeichnung α Canis Majoris (Alpha Canis Majoris, α CMa), auch Hundsstern, früher auch Aschere oder Canicula genannt, ist ein Doppelsternsystem des Sternbildes „Großer Hund“. Er ist der hellste Stern am Nachthimmel, beinahe doppelt so hell wie der zweithellste Stern Canopus. Von allen Himmelsobjekten erscheinen nur Sonne, Mond sowie die Planeten Venus, Jupiter, Mars und Merkur heller. Im Wintersechseck markiert Sirius die südlichste Ecke. Seine hellere Komponente besitzt eine scheinbare Helligkeit von −1,46 mag. Die Helligkeit seines Begleiters, des Weißen Zwerges Sirius B, beträgt hingegen nur 8,5 mag. Mit 8,6 Lichtjahren Entfernung ist Sirius eines der nächsten Gestirne. Das geschätzte Alter beträgt zwischen 225 und 250 Millionen Jahre. Physikalische Eigenschaften Sirius A Sirius A ist ein Hauptreihenstern vom Spektraltyp A1 mit der Leuchtkraftklasse V und dem Zusatz m für „metallreich“. Seine Masse ist etwa 2,1-mal so groß wie die der Sonne. Interferometrische Messungen zeigen, dass sein Durchmesser das 1,7fache des Sonnendurchmessers beträgt. Sirius’ Leuchtkraft ist 25-mal so groß wie die der Sonne. Die Oberflächentemperatur beträgt knapp 10.000 K (Sonne: 5.778 K). Die durch die Rotation des Sterns verursachte Dopplerverbreiterung der Spektrallinien erlaubt es, eine Untergrenze für die Rotationsgeschwindigkeit am Äquator zu bestimmen. Sie liegt bei 16 km/s, woraus eine Rotationsdauer von etwa 5,5 Tagen oder weniger folgt. Diese niedrige Geschwindigkeit lässt keine messbare Abplattung der Pole erwarten. Im Gegensatz dazu rotiert die ähnlich große Wega mit 274 km/s sehr viel schneller, was eine erhebliche Ausbuchtung am Äquator zur Folge hat. Das Lichtspektrum von Sirius A zeigt ausgeprägte metallische Linien. Dies deutet auf eine Anreicherung von schwereren Elementen als Helium hin, wie etwa das spektroskopisch besonders leicht beobachtbare Eisen. Das Verhältnis von Eisen zu Wasserstoff ist in der Atmosphäre etwa dreimal so groß wie in der Atmosphäre der Sonne (entsprechend einer Metallizität von [Fe/H] = 0,5). Es wird vermutet, dass der in der Sternatmosphäre beobachtete hohe Anteil von schwereren Elementen nicht repräsentativ für das gesamte Sterninnere ist, sondern durch Anreicherung der schwereren Elemente auf der dünnen äußeren Konvektionszone des Sterns zustande kommt. Die Gas- und Staubwolke, aus der Sirius A gemeinsam mit Sirius B entstand, hatte laut gängigen Sternmodellen nach etwa 4,2 Millionen Jahren das Stadium erreicht, in dem die Energiegewinnung durch die langsam anlaufende Kernfusion die Energiefreisetzung infolge Kontraktion um die Hälfte übertraf. Nach zehn Millionen Jahren schließlich stammte die gesamte erzeugte Energie aus der Kernfusion. Sirius A ist seither ein gewöhnlicher, Wasserstoff verbrennender Hauptreihenstern. Er gewinnt bei einer Kerntemperatur von etwa 22 Millionen Kelvin seine Energie hauptsächlich über den Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Wegen der starken Temperaturabhängigkeit dieses Fusionsmechanismus wird die erzeugte Energie im Kern größtenteils durch Konvektion transportiert. Außerhalb des Kerns geschieht der Energietransport durch Strahlung, lediglich knapp unterhalb der Sternoberfläche setzt wieder konvektiver Transport ein (siehe auch Sternaufbau). Sirius A wird seinen Vorrat an Wasserstoff innerhalb der nächsten knappen Jahrmilliarde verbrauchen, danach den Zustand eines Roten Riesen erreichen und schließlich als Weißer Zwerg von etwa 0,6 Sonnenmassen enden. Sirius B Sirius B, der lichtschwache Begleiter von Sirius A, ist der dem Sonnensystem nächstgelegene Weiße Zwerg. Er ist nur etwa so groß wie die Erde und wegen seiner Nähe einer der bestuntersuchten Weißen Zwerge überhaupt. Er spielte bei der Entdeckung und Beschreibung Weißer Zwerge eine wichtige Rolle. Die Beobachtung wird dadurch erschwert, dass er durch die große Helligkeit von Sirius A überstrahlt wird. Sirius B hat 98 % der Masse der Sonne, aber nur 2,7 % ihrer Leuchtkraft. Entdeckung Friedrich Bessel bemerkte 1844 bei der Auswertung langjähriger Beobachtungsreihen eine Unregelmäßigkeit in der Eigenbewegung des Sirius, welche er als den Einfluss eines Doppelsternpartners mit einer Umlaufdauer von etwa einem halben Jahrhundert deutete. Zwar war vier Jahrzehnte zuvor von William Herschel die Existenz von physisch zusammengehörigen Doppelsternen gezeigt worden, aber alle bisher bekannten hatten zwei oder mehr sichtbare Komponenten. Dass der vermutete Begleiter von Sirius bisher von niemandem gesehen worden war, schreckte Bessel nicht ab: „Dass zahllose Sterne sichtbar sind, beweiset offenbar nichts gegen das Dasein zahlloser unsichtbarer“. Christian Peters konnte 1851 in seiner Habilitationsschrift die Umlaufperiode des Begleiters zu 50,093 Jahren und seine Masse zu mehr als sechs Jupitermassen bestimmen, eine starke Exzentrizität der Umlaufbahn feststellen und eine Ephemeride seiner erwarteten Positionen geben. Trotz dieser Hilfestellung gelang niemandem die Beobachtung, bis am 31. Januar 1862 Alvan Graham Clark, ein Sohn des Bostoner Instrumentenbauers Alvan Clark, eine gerade fertiggestellte Objektivlinse an Sirius prüfte und feststellte: „Vater, Sirius hat einen Begleiter.“ Peters bestritt zunächst die Identität des von Clark entdeckten Sterns mit dem von ihm berechneten Begleiter des Sirius. Da Sirius B sich auf seiner Umlaufbahn damals zunehmend von Sirius A entfernte, konnte er nunmehr auch von zahlreichen anderen Beobachtern ausfindig gemacht und vermessen werden. Weißer Zwerg Nach mehrjährigen Positionsmessungen, aus denen sich auch die Abstände der beiden Sterne vom gemeinsamen Schwerpunkt und damit ihr Massenverhältnis ergaben, stellte Otto von Struve 1866 fest, dass der Begleiter etwa halb so schwer war wie Sirius selbst. Bei gleichem Aufbau wie Sirius hätte der Begleiter damit immerhin 80 % von dessen Durchmesser und deshalb eine nur wenig geringere Helligkeit haben müssen. Weil der Begleiter aber nur die achte Größenklasse erreichte, also 10.000-mal leuchtschwächer als Sirius war, schloss Struve, „dass die beiden Körper von sehr unterschiedlicher physischer Beschaffenheit sind“. Über Jahrzehnte hinweg blieb Sirius B eine bloße Kuriosität. Nachdem die Anwendung der Spektralanalyse auf das Sternenlicht die Einteilung der Sterne in Spektralklassen erlaubt hatte, konnten Ejnar Hertzsprung und Henry Russell ab etwa 1910 systematische Zusammenhänge zwischen der Spektralklasse eines Sterns und seiner Leuchtkraft aufdecken. Im Hertzsprung-Russell-Diagramm bildeten die (damals untersuchten) Sterne zwei Gruppen: „Zwerge“ und „Riesen“. Nicht in das Schema passte jedoch schon damals der Stern 40 Eridani B, ein schwacher Begleiter von 40 Eridani: Er war gemessen an seiner Spektralklasse viel zu lichtschwach. 1915 konnte ein Spektrum von Sirius B aufgenommen werden, das ihn im HR-Diagramm in die Nähe von 40 Eridani B rückte und zeigte, dass die beiden offenbar Angehörige einer neuen Sternklasse waren. Ihre geringe Leuchtkraft trotz hoher Temperatur zeugte von einer geringen abstrahlenden Oberfläche, also einem kleinen Radius und damit einer immensen Dichte. Arthur Eddington hatte ab den 1920er Jahren detaillierte und erfolgreiche Sternmodelle erarbeitet, indem er Gaskugeln betrachtete, in denen der Gravitationsdruck der Gasmassen im Gleichgewicht mit dem Gasdruck und dem Strahlungsdruck stand. Die sogenannten „Weißen Zwerge“ konnte er mit seinen Modellen jedoch nur teilweise beschreiben, bis Ralph Fowler 1926 das erst kurz zuvor entdeckte Pauli-Prinzip mit einbezog. Im Inneren eines Weißen Zwerges ist das Gas vollständig ionisiert, besteht also aus Atomkernen und freien Elektronen. Da die Elektronen dem Pauli-Prinzip unterliegen, können keine zwei Elektronen in allen Quantenzahlen übereinstimmen. Dies bedeutet insbesondere, dass Elektronen in einem bereits stark komprimierten Elektronengas sich bei Erhöhung des äußeren Drucks nur dann weiter einander annähern können, wenn ein Teil der Elektronen auf höhere Energieniveaus ausweicht. Bei der Kompression muss also wegen dieses als Entartungsdruck bezeichneten Widerstands zusätzliche Energie aufgewendet werden. Während die Atomkerne den Hauptanteil der Sternmasse liefern, tragen die Elektronen mit dem quantenmechanisch bedingten Entartungsdruck zur Stabilisierung des Sterns bei. Eine Konsequenz daraus ist, dass der Radius eines Weißen Zwerges mit steigender Masse abnimmt, während der Radius eines gewöhnlichen Sternes mit wachsender Masse zunimmt. Subrahmanyan Chandrasekhar zeigte 1931, dass ein Weißer Zwerg oberhalb einer Grenzmasse von etwa 1,4 Sonnenmassen („Chandrasekhar-Grenze“) nicht mehr stabil sein kann. Gravitative Rotverschiebung Albert Einstein hatte im Zuge seiner Vorarbeiten zur allgemeinen Relativitätstheorie bereits 1908 vorhergesagt, dass Photonen, die mit der Wellenlänge λo von einem massereichen Körper ausgesandt werden, bei einem höher im Gravitationsfeld befindlichen Beobachter mit einer größeren, also rotverschobenen Wellenlänge eintreffen. Einige Versuche, diesen Effekt an Spektrallinien der Sonne zu beobachten, scheiterten zunächst wegen seiner Geringfügigkeit. Die Wellenlängenverschiebung, ausgedrückt als eine Geschwindigkeit in km/s (so als ob es sich um einen Dopplereffekt aufgrund einer Relativbewegung handeln würde), beträgt 0,6·M/R, wobei M und R die Masse und der Radius des Körpers sind, ausgedrückt als Vielfache der Sonnenmasse und des Sonnenradius. Da sich das Verhältnis M/R auch bei sehr massereichen Sternen wenig gegenüber der Sonne ändert, schien ein Nachweis des Effekts bis in die 1920er Jahre hinein aussichtslos zu sein. Bei Weißen Zwergen jedoch nimmt der Radius mit wachsender Masse ab. Es handelt sich daher um massereiche Objekte mit kleinem Radius, die eine deutliche Rotverschiebung zeigen sollten. Eddington, der bereits 1919 die relativistische Lichtablenkung im Gravitationsfeld der Sonne nachgewiesen hatte, sah darin eine Chance, die von ihm vermutete außerordentliche Dichte Weißer Zwerge zu bestätigen. Die Wahl fiel auf Sirius B, weil er Bestandteil eines Doppelsternsystems war. Daher war seine Masse bekannt, und durch Vergleich mit dem Spektrum von Sirius A war es außerdem möglich, den gravitativen Anteil der Rotverschiebung von der durch die Radialgeschwindigkeit des Systems erzeugten Dopplerverschiebung zu unterscheiden. Ausgehend von den damals angenommenen Werten für Temperatur und Radius erwartete Eddington eine Rotverschiebung von etwa +20 km/s. Walter Adams konnte im Jahre 1925 Spektren von Sirius B aufnehmen, die vermeintlich nur wenig durch Licht von Sirius A überlagert waren, und erhielt eine Verschiebung von +21 km/s. J. H. Moore bestätigte 1928 die Messung mit einem Wert von (21 ± 5) km/s. In den folgenden Jahrzehnten konnten die theoretischen Modelle Weißer Zwerge erheblich verbessert werden. Es stellte sich heraus, dass Eddington die Temperatur von Sirius B stark unterschätzt und den Radius daher überschätzt hatte. Die Theorie verlangte nun das Vierfache der von Eddington berechneten Rotverschiebung. Erneute Messungen ergaben in der Tat im Jahre 1971 eine Rotverschiebung von (+89 ± 16) km/s. Die Autoren erklärten Adams’ Ergebnis damit, dass damals wegen der starken Lichteinstreuung von Sirius A auch Spektrallinien vermessen worden waren, von denen mittlerweile bekannt war, dass sie zu Sirius A gehören. Der aktuelle Wert für die gravitative Rotverschiebung von Sirius B beträgt (80,42 ± 4,83) km/s; das Auflösungsvermögen des Hubble-Weltraumteleskops hatte es im Jahre 2004 ermöglicht, ein hochaufgelöstes Spektrum von Sirius B ohne nennenswerte Einstreuungen von Sirius A aufzunehmen. Entwicklung Nach den aktuellen Szenarien zur Sternentwicklung entstanden Sirius A und B vor etwa 240 Millionen Jahren gemeinsam als Doppelsternsystem. Sirius B war ursprünglich mit fünf Sonnenmassen und der 630-fachen Leuchtkraft der Sonne viel schwerer und leuchtkräftiger als Sirius A mit nur zwei Sonnenmassen. Wegen seiner großen Masse und der damit einhergehenden hohen Fusionsrate hatte Sirius B nach etwa 100 Millionen Jahren den Großteil des Wasserstoffs in seinem Kern zu Helium verbrannt (Wasserstoffbrennen). Die Fusionszone verlagerte sich in eine Schale um den ausgebrannten Kern und Sirius B blähte sich zu einem Roten Riesen auf. Schließlich versiegte auch diese Energiequelle, so dass Sirius B begann, das erzeugte Helium zu Kohlenstoff und Sauerstoff zu fusionieren (Heliumbrennen). Er verlor seine nur noch schwach gebundenen äußeren Schichten wegen des starken einsetzenden Sternwindes und büßte so etwa vier Fünftel seiner ursprünglichen Masse ein. Übrig blieb der hauptsächlich aus Kohlenstoff und Sauerstoff bestehende ausgebrannte Kern, in dem praktisch keine Energieerzeugung mehr stattfand. Da die Kernmaterie nun vollständig ionisiert war und der innere Druck zur Stabilisation fehlte, brauchten die Atomkerne und freien Elektronen wesentlich weniger Platz. Der Kern konnte daher auf enorme Dichte zusammenschrumpfen, bis der Entartungsdruck der Elektronen ein weiteres Komprimieren verhinderte. Sirius B befindet sich nun seit etwa 124 Millionen Jahren in diesem Stadium und kühlt langsam aus. Eigenschaften Gegenüber der wesentlich helleren Komponente Sirius A hat der Begleitstern Sirius B nur eine scheinbare Helligkeit von 8,5 mag. Er besitzt knapp eine Sonnenmasse und ist damit einer der massereichsten bekannten Weißen Zwerge (die meisten Weißen Zwerge konzentrieren sich in einem engen Bereich um 0,58 Sonnenmassen, nur geschätzte 2 % oder weniger überschreiten eine Sonnenmasse). Mit einer Oberflächentemperatur von rund 25.000 K ist Sirius B viel heißer als die Sonne oder Sirius A. Trotz dieser hohen Temperatur beträgt seine Helligkeit nur ein Zehntausendstel derjenigen von Sirius A. Die Kombination der beobachteten Temperatur und Helligkeit mit Modellrechnungen ergibt einen Durchmesser von 0,00864 Sonnendurchmessern (ca. 12.020 km). Sirius B ist also sogar etwas kleiner als die Erde (mittlerer Durchmesser 12.742 km). Die Schwerkraft auf der Oberfläche von Sirius B ist knapp 400.000-mal so hoch wie auf der Erde (log g = 8,556), seine mittlere Dichte beträgt 2,38 Tonnen/cm3, die Dichte in seinem Zentrum 32,36 Tonnen/cm3. Sirius B besteht aus einer vollständig ionisierten Mischung aus Kohlenstoff und Sauerstoff, umgeben von einer dünnen Atmosphäre ionisierten Wasserstoffs. Wegen der starken Oberflächenschwerkraft sind fast alle schwereren Verunreinigungen der Atmosphäre in den Kern abgesunken, so dass das Spektrum von Sirius B praktisch ausschließlich Wasserstofflinien aufweist. Da die heiße Wasserstoffatmosphäre für Röntgenstrahlung durchsichtig ist, können Röntgenemissionen beobachtet werden, die aus tieferen, heißeren Schichten stammen. Sirius B besitzt praktisch kein Magnetfeld. Sirius C In den 1920er Jahren beobachteten mehrere Astronomen wiederholt einen schwachen Stern etwa der 12. Größenklasse in unmittelbarer Nähe von Sirius A, verloren diesen möglichen neuen Begleiter dann aber wieder. Französische Astronomen konnten 1999 auf einer Aufnahme mit abgeblendetem Sirius A dessen Umgebung näher auf schwache Sterne untersuchen. Sie fanden einen Hintergrundstern passender Helligkeit, an dem Sirius in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbeigezogen war und der offenbar von den damaligen Beobachtern gesehen worden war. Beim Vergleich mit einer früheren Aufnahme konnten die Astronomen außerdem bis in eine Nähe von 30 Bogensekunden keinen Begleitstern finden, der sich durch eine mit Sirius A gemeinsame Eigenbewegung verraten hätte. Eine Untersuchung von Unregelmäßigkeiten in der Umlaufbewegung von Sirius A und B deutet darauf hin, dass sich im Sirius-System eine dritte Komponente, deren Masse auf nur etwa 0,06 Sonnenmassen eingeschätzt wird, mit einer Umlaufdauer von etwa 6 Jahren befinden könnte. Da es um Sirius B keine stabile Umlaufbahn mit einer Umlaufzeit von mehr als 4 Jahren gibt, kann der potenzielle Sirius C nur um Sirius A kreisen. Sirius A und B als Doppelsternsystem Das Sternensystem Sirius besteht aus den zwei oben beschriebenen Sternen, die sich mit einer Periode von 50,052 Jahren um ihren gemeinsamen Massenschwerpunkt bewegen. Wie bei allen Doppelsternen bewegt sich jeder der beiden Sterne jeweils auf einer Ellipse um diesen Schwerpunkt; für jede der beiden Ellipsen fällt einer ihrer Brennpunkte mit dem Schwerpunkt zusammen. Da Sirius A mehr als doppelt so schwer ist wie Sirius B, liegt der Schwerpunkt des Systems näher an Sirius A. Aus praktischen Gründen wird üblicherweise nur die relative Bahn von Sirius B bezüglich Sirius A dargestellt, der daher einen festen Punkt im Diagramm einnimmt. Diese relative Bahn ist ebenfalls eine Ellipse, nun aber mit Sirius A in einem ihrer Brennpunkte. Könnte ein irdischer Beobachter senkrecht auf die Bahnebene des Doppelsternsystems blicken, so sähe er diese Ellipse mit einer 7,501″ langen großen Halbachse und einer Exzentrizität von 0,5923. Unter Berücksichtigung der Entfernung von Sirius folgen daraus für die große Halbachse eine Länge von knapp 20 Astronomischen Einheiten (AE) oder knapp drei Milliarden Kilometern, ein kleinster Abstand von 8 AE und ein größter Abstand von 31,5 AE. Der kleinste bzw. größte Abstand würde diesem Beobachter unter einem Winkel von 3,1″ bzw. 11,9″ erscheinen. Da die Bahn jedoch um 136,62° gegen die Sichtlinie geneigt ist, sieht der Beobachter die Bahn in Schrägansicht, die sich wiederum als Ellipse, aber mit etwas größerer Exzentrizität darstellt. Die Abbildung zeigt diese scheinbare Bahn, wie sie von der Erde aus gesehen erscheint. Obwohl Sirius A in einem Brennpunkt der relativen Umlaufbahn von Sirius B liegt, befindet er sich wegen der Schrägansicht nicht in einem Brennpunkt der im Diagramm dargestellten perspektivisch verkürzten Ellipse. Aufgrund der Schrägansicht erscheinen dem Beobachter die größtmöglichen und kleinstmöglichen Winkelabstände, die Sirius B auf dieser scheinbaren Bahn durchläuft, etwas kleiner als die oben angegebenen unverzerrten Werte. Sirius B passierte auf seiner wahren Bahn den geringsten Abstand zu Sirius A (das Periastron) das letzte Mal im Jahre 1994, erreichte auf der scheinbaren Bahn den verkürzungsbedingt geringsten Abstand jedoch bereits 1993. Während sich Sirius B im Zustand des roten Riesen befand, könnte sich durch Massenübertritt die Metallizität seines Begleiters Sirius A erhöht haben. Dies wäre eine Erklärung, warum Sirius A mehr Metalle (Elemente schwerer als Helium) in seiner Hülle enthält, als dies für einen Hauptreihenstern zu erwarten wäre. So liegt der Gehalt an Eisen z. B. 7,4-mal über dem der Sonne. Vom Infrarot-Satelliten IRAS gemessene Werte zeigen für das Sirius-System eine höhere infrarote Strahlung als erwartet. Das könnte auf Staub in diesem System hinweisen und wird als ungewöhnlich in einem Doppelsternsystem betrachtet. Umgebung: Der nächste Nachbarstern Prokyon ist von Sirius A+B 5,24 Lichtjahre entfernt. Die weiteren größeren Nachbarsternsysteme sind mit Entfernungen von 7,8 Lj Epsilon Eridani, 8,6 Lj die Sonne und 9,5 Lj Alpha Centauri. Bewegung Eigenbewegung Sirius weist eine relativ große Eigenbewegung von 1,3″ im Jahr auf. Davon entfallen etwa 1,2″ auf die südliche und 0,55″ auf die westliche Richtung. Sirius und Arktur waren die ersten Sterne, an denen eine Eigenbewegung festgestellt wurde, nachdem sie über Jahrtausende hinweg als unbeweglich („Fixsterne“) galten. Im Jahre 1717 bemerkte Edmond Halley beim Vergleich der von ihm selbst gemessenen Sternpositionen mit den im Almagest überlieferten antiken Koordinaten, dass Sirius sich seit der Zeit des Ptolemäus um etwa ein halbes Grad (einen Vollmonddurchmesser) nach Süden verschoben hatte. Sirius-Supercluster Im Jahre 1909 machte Hertzsprung darauf aufmerksam, dass auch Sirius aufgrund seiner Eigenbewegung wohl als ein Mitglied des Ursa-Major-Stroms anzusehen sei. Dieser Sternstrom besteht aus etwa 100 bis 200 Sternen, die eine gemeinsame Bewegung durch den Raum zeigen und vermutlich zusammen als Mitglieder eines offenen Sternhaufens entstanden, dann aber weit auseinanderdrifteten. Untersuchungen aus den Jahren 2003 und 2005 ließen jedoch Zweifel aufkommen, ob Sirius ein Mitglied dieser Gruppe sein kann. Das Alter der Ursa-Major-Gruppe musste auf etwa 500 (± 100) Millionen Jahre heraufgesetzt werden, während Sirius nur etwa halb so alt ist. Damit wäre er zu jung, um zu dieser Gruppe zu gehören. In der Umgebung der Sonne lassen sich neben dem Ursa-Major-Strom noch andere Bewegungshaufen unterscheiden, unter anderem der Hyaden-Supercluster sowie der Sirius-Supercluster. Letzterer umfasst neben Sirius und der Ursa-Major-Gruppe auch weit verstreut liegende Sterne wie Beta Aurigae, Alpha Coronae Borealis, Zeta Crateris, Beta Eridani und Beta Serpentis. Die Bezeichnung „Supercluster“ beruht auf der Vorstellung, dass auch diese großen Sterngruppen jeweils gemeinsam entstanden sind und – obwohl inzwischen weit auseinandergedriftet – eine erkennbare gemeinsame Bewegung beibehalten haben. Sirius wäre dann, wenn nicht Mitglied der Ursa-Major-Gruppe, so doch des umfassenderen Sirius-Superclusters. Das Szenario eines gemeinsamen Ursprungs der Sterne in einem solchen Supercluster ist jedoch nicht unumstritten; insbesondere kann es nicht erklären, warum es in einem Supercluster Sterne sehr unterschiedlichen Alters gibt. Eine alternative Deutung geht davon aus, dass der Hyaden- und der Siriusstrom nicht aus Sternen jeweils gemeinsamer Herkunft bestehen, sondern aus Sternen ohne Verwandtschaft, denen Unregelmäßigkeiten im Gravitationsfeld der Milchstraße ein gemeinsames Bewegungsmuster aufgeprägt haben. Es wäre dann nicht von „Superclustern“, sondern von „dynamischen Strömen“ zu sprechen. Vorbeiflug am Sonnensystem Sirius wird auf seinem Kurs, von einem gegenwärtigen Abstand von 8,6 Lj. aus, in etwa 64.000 Jahren mit ca. 7,86 Lichtjahren seine größte Annäherung zum Sonnensystem erreicht haben. Seine scheinbare Helligkeit wird dann bei −1,68 mag liegen (heute −1,46 mag). Sichtbarkeit Die scheinbare Position von Sirius am Himmel ist abhängig vom Beobachtungsort auf der Erde und wird von der Erdpräzession sowie der Eigenbewegung des Sirius zusätzlich beeinflusst. So ist beispielsweise in der heutigen Zeit Sirius vom Nordpol bis zum 68. nördlichen Breitengrad nicht zu sehen, während Sirius vom Südpol bis zum 67. südlichen Breitengrad ständig am Himmel steht und nicht untergeht. Damit verbunden nimmt vom 67. nördlichen Breitengrad ausgehend die maximal sichtbare Höhe über dem Horizont bis in die Region des Äquators je Breitengrad um einen Höhengrad auf etwa 83° zu, um sich bis zum Südpol wieder auf etwa 30° zu reduzieren. Zusätzlich ändert sich je Breitengrad der Aufgangsort von Sirius. Am 67. nördlichen Breitengrad taucht Sirius am Horizont in südöstlicher Lage (172°) auf, am Äquator dagegen fast im Osten (106°). Die unterschiedlichen Sichtbarkeitsverhältnisse wirken sich auf die Beobachtungsdauer am Himmel aus, die zwischen knapp sechs Stunden am 67. nördlichen Breitengrad und der ständigen Präsenz am Südpol je nach Ortslage veränderliche Werte aufweist. Ähnliche Bedingungen gelten hinsichtlich des Breitengrads für den Sonnenaufgang, der gegenüber dem Vor- und Folgetag zeitlich variiert. Die Region, in der Sirius nicht gesehen werden kann, wird sich in den folgenden Jahren weiter in südlicher Richtung ausdehnen. Im Jahr 7524 n. Chr. verlagert sich die Grenze der Nicht-Sichtbarkeit bis zum 52. Breitengrad auf die Höhe Berlins. In etwa 64.000 Jahren, wenn Sirius die größte Annäherung erreicht haben wird, kehrt sich dieser Trend um. In Deutschland wird er dann das ganze Jahr über sichtbar sein und nicht mehr untergehen. Sirius ist wegen seiner Helligkeit auch für den zufälligen Himmelsbetrachter ein auffälliger Stern. Sein grelles bläulich-weißes Licht neigt schon bei geringer Luftunruhe zu starkem und oft farbenfrohem Flackern. In gemäßigten nördlichen Breiten ist er ein Stern des Winterhimmels, den er wegen seiner Helligkeit dominiert. Während er den Sommer über am Tageshimmel steht und mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, wird er gegen Ende August erstmals in der Morgendämmerung sichtbar. Im Herbst ist er ein Stern der zweiten Nachthälfte, im Winter geht er schon am Abend auf. Um den Jahreswechsel kulminiert Sirius gegen Mitternacht und ist daher die ganze Nacht über zu sehen. Sein Aufgang fällt im Frühling bereits vor den Sonnenuntergang und kann nicht mehr beobachtet werden. Ab Mai hat sich auch sein Untergang in die helle Tageszeit verlagert, so dass er bis in den Spätsommer gar nicht mehr sichtbar ist. Ein Beobachter kann in großer Höhe Sirius auch am Tage mit bloßem Auge sehen, wenn die Sonne schon nahe am Horizont steht und sich der Stern an einem Standort mit sehr klarem Himmel hoch über dem Horizont befindet. Helligkeitsvergleich mit anderen Sternen Wega wird etwa 235.000 n. Chr. Sirius mit einer errechneten Helligkeit von −0,7 mag als hellsten Stern am Himmel ablösen, ehe dann 260.000 n. Chr. Canopus mit −0,46 mag wieder als zweithellster Stern Sirius auf Rang drei verdrängen wird. Die Entwicklung der Helligkeit von Sirius im Vergleich zu anderen hellen Sternen im Zeitraum zwischen 100.000 v. Chr. und 100.000 n. Chr. ist im folgenden Diagramm und der dazugehörigen Tabelle dargestellt: {| class="wikitable" style="text-align:center" |- ! width="16%"| Jahr ! width="12%"| Sirius ! width="12%"| Canopus ! width="12%"| Wega ! width="12%"| Arcturus ! width="12%"| Prokyon ! width="12%"| Altair ! width="12%"| α Cen |- | −100.000 | −0,66 | −0,82 | +0,33 | +0,88 | +0,88 | +1,69 | +2,27 |- | −75.000 | −0,86 | −0,80 | +0,24 | +0,58 | +0,73 | +1,49 | +1,84 |- | −50.000 | −1,06 | −0,77 | +0,17 | +0,30 | +0,58 | +1,27 | +1,30 |- | −25.000 | −1,22 | −0,75 | +0,08 | +0,08 | +0,46 | +1,03 | +0,63 |- | 0 | −1,43 | −0,72 | 0,00 | −0,02 | +0,37 | +0,78 | −0,21 |- | 25.000 | −1,58 | −0,69 | −0,08 | +0,02 | +0,33 | +0,49 | −0,90 |- | 50.000 | −1,66 | −0,67 | −0,16 | +0,19 | +0,32 | +0,22 | −0,56 |- | 75.000 | −1,66 | −0,65 | −0,25 | +0,45 | +0,37 | −0,06 | +0,30 |- | 100.000 | −1,61 | −0,62 | −0,32 | +0,74 | +0,46 | −0,31 | +1,05 |} Sirius in der Geschichte Namensherkunft Die früheste überlieferte Erwähnung von Sirius (, Seirios) findet sich im 7. Jahrhundert v. Chr. bei Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage. Die Herkunft des Namens unterliegt mehreren Deutungen: Leukosia (Die Weiße) ist in der griechischen Mythologie eine der Sirenen (Seirenes). Eine mögliche Verbindung zu Sirius mit der Benennung als Das gleißend weiße Licht ist ebenso Inhalt kontroverser Diskussionen wie auch die Anwendung der Begriffe gleißend heiß und sengend für Seirios. Schließlich wird eine weitere Gleichsetzung mit der indogermanischen Wurzel *tueis-ro für „erregt sein“ oder „funkeln“ angenommen. Einige Wissenschaftler bestreiten allerdings diese Ableitung. Sirius im Blickwinkel anderer Kulturen Die scheinbare Helligkeit des Sirius war im Altertum unwesentlich geringer und lag bei −1,41 mag. Die Entfernung betrug 8,8 Lichtjahre. Als besonders auffälliger Stern findet sich Sirius seit prähistorischen Zeiten in den Mythen, Religionen und Gebräuchen zahlreicher Kulturen, welche hier nur knapp angerissen werden können. Ägypten Ob die Bedeutung „die Spitze“ ausschließlich mit dem Sternbild Sopdet in Verbindung gebracht wurde, bleibt dabei unklar. Während sich die Verehrung auf Sirius konzentrierte, verblassten die beiden anderen Sterne in ihrer Bedeutung immer mehr. Bezüglich der Nilflut nahm Sirius im Verlauf der ägyptischen Geschichte einen wichtigen Rang ein. Herodot gibt die Zeit um den 22./23. Juni als Beginn der Nilflut an. Einträge in ägyptischen Verwaltungsdokumenten bestätigen Herodots Angaben. Historische und astronomische Rekonstruktionen belegen, dass die erste morgendliche Sichtbarkeit von Sirius im Nildelta um 2850 v. Chr. und im südlichsten Ort Assuan um 2000 v. Chr. mit dem 22./23. Juni zusammenfiel. Sirius galt deshalb im 3. Jahrtausend v. Chr. als Verkünder der Nilflut und genoss in der ägyptischen Religion eine noch größere Bedeutung. Im weiteren Verlauf der ägyptischen Geschichte erfolgten die heliakischen Aufgänge von Sirius erst nach dem Eintreffen der Nilflut. In der griechisch-römischen Zeit Ägyptens wurde den veränderten Bedingungen mythologisch Rechnung getragen. Nun war es Salet, die mit einem Pfeilschuss die Nilflut auslöste; ihre Tochter Anukket sorgte anschließend für die Abschwellung des Nils. Der heliakische Aufgang des Sirius erfolgt in der heutigen Zeit in Assuan am 1. August und im Nildelta am 7. August. Sumer und Mesopotamien Bei den Sumerern nahm Sirius im 3. Jahrtausend v. Chr. in der sumerischen Religion schon früh mehrere zentrale Rollen ein. Als Kalenderstern erfüllte er mit der Bezeichnung MULKAK.SI.SÁ eine wichtige Funktion im landwirtschaftlichen Zyklus. Als MULKAK.TAG.GA (Himmelspfeil) galt Sirius als eine Hauptgottheit der Sieben und unterstand dem herrschenden Gottesstern über die anderen Himmelsobjekte, der Venus, die als Göttin Inanna verehrt wurde. In den Akitu-Neujahrsprozessionen galt Sirius schließlich als Zieher über die Meere und erhielt entsprechende Opfergaben. Nahezu in unveränderter Form fungierte er auch später bei den Babyloniern und Assyrern, die Sirius zusätzlich gemäß der MUL.APIN-Tontafeln als Signalgeber für den Zeitpunkt der Schaltjahre bestimmten. Griechenland, Rom und Deutschland Bei den Griechen und Römern war Sirius mit Hitze, Feuer und Fieber verbunden. Die Römer nannten die heißeste Zeit des Jahres (üblicherweise vom frühen Juli bis Mitte August) die „Hundstage“ (lat. dies caniculares, Tage des Hundssterns). Im deutschen Volksglauben wurden die Hundstage ab dem 15. Jahrhundert als Unglückszeit angesehen. Sirius galt bei den Griechen als Wegbereiter der Tollwut. Nordamerika und China Auch bei vielen nordamerikanischen Volksstämmen wird Sirius mit Hunden oder Wölfen assoziiert. Bei den Cherokee beispielsweise sind Sirius und Antares die Hundssterne, welche die Enden des „Pfades der Seelen“ (der Milchstraße) bewachen: Sirius das östliche Ende am Winterhimmel, Antares das westliche Ende am Sommerhimmel. Eine aus der Welt scheidende Seele muss genug Futter mit sich tragen, um beide Hunde zu besänftigen, wenn sie nicht ewig auf dem Pfad der Seelen herumirren will. Die Pawnee bezeichnen Sirius als Wolfstern. Bei den Chinesen bildeten Sterne der heutigen Konstellationen Achterdeck und Großer Hund ein Pfeil und Bogen darstellendes Sternbild. Der Pfeil zielte direkt auf den „Himmelswolf“ (), nämlich Sirius. Südsee-Inseln In Polynesien und Mikronesien dienten die helleren Sterne des Südhimmels, insbesondere Sirius, seit prähistorischen Zeiten der Navigation bei den Überfahrten zwischen den verstreuten Inselgruppen. Nahe am Horizont konnten helle Sterne wie Sirius als Richtungsanzeiger verwendet werden (wobei sich mehrere Sterne im Laufe einer Nacht in dieser Rolle gegenseitig ablösten). Sterne konnten auch zur Feststellung der geographischen Breite benutzt werden. So zieht Sirius mit seiner Deklination von 17° Süd senkrecht über Fidschi mit der geographischen Breite 17° Süd hinweg und man musste nur so lange nach Süden oder Norden fahren, bis Sirius durch den Zenit ging. Sirius und die Dogon Der französische Ethnologe Marcel Griaule studierte ab 1931 zwei Jahrzehnte lang die Volksgruppe der Dogon im westafrikanischen Mali. Die umfangreichen Schöpfungsmythen der Dogon, die Griaule in hauptsächlich per Dolmetscher geführten Gesprächen mit vier hochrangigen Stammesangehörigen sammelte, enthalten angeblich Angaben über einen merkwürdigen Begleiter von Sirius: der Stern Sirius (sigu tolo) wird vom kleineren Begleiter po tolo umkreist. Po tolo hat seinen Namen von po, dem kleinsten den Dogon bekannten Getreidekorn (Digitaria exilis). Po tolo bewegt sich auf einer ovalen Bahn um Sirius; Sirius steht nicht im Zentrum dieser Bahn, sondern exzentrisch. Po tolo braucht 50 Jahre, um die Bahn einmal zu durchlaufen und dreht sich einmal im Jahr um sich selbst. Wenn po tolo nahe bei Sirius steht, wird Sirius heller. Wenn der Abstand am größten ist, flackert Sirius und kann als mehrere Sterne erscheinen. Po tolo ist der kleinste Stern und überhaupt das kleinste für die Dogon denkbare Ding. Er ist aber gleichzeitig so schwer, dass alle Menschen nicht ausreichen würden, ihn hochzuheben. Ein drittes Mitglied des Siriussystems ist der Stern emme ya tolo (benannt nach einer Sorghumhirse), der etwas größer als po tolo aber nur ein Viertel so schwer ist. Er umkreist Sirius auf einer größeren Bahn und ebenfalls einmal in 50 Jahren. Die Ähnlichkeit dieser Beschreibungen mit Sirius B und einem eventuellen Sirius C ist umso erstaunlicher, als nichts davon mit bloßem Auge erkennbar ist. Zahlreiche unterschiedliche Spekulationen versuchen die Herkunft dieser angeblichen Kenntnisse zu erklären. In der Populärliteratur finden sich zwei Hauptströmungen: Eine hauptsächlich in afrozentrischer Literatur vertretene Ansicht sieht die Dogon sogar als Überbleibsel einer einstigen hochentwickelten, wissenschaftlich geprägten afrikanischen Zivilisation. Robert Temple andererseits vertrat in seinem Buch Das Sirius-Rätsel (The Sirius Mystery) die Vermutung, außerirdische Besucher aus dem Sirius-System hätten vor etwa 5000 Jahren den Anstoß für den Aufstieg der ägyptischen und der sumerischen Zivilisation gegeben. Die in wissenschaftlichen Kreisen bevorzugte Erklärung geht von der Kontaminierung der Dogon-Mythologie mit modernen astronomischen Erkenntnissen aus. Die anthropologische Variante nimmt an, dass die Kontamination (wenn auch nicht absichtlich) durch Griaule selbst geschehen sei. Der niederländische Anthropologe Walter van Beek arbeitete selbst mit den Dogon und versuchte Teile des Materials von Griaule zu verifizieren. Er konnte jedoch große Teile der von Griaule wiedergegebenen Mythen nicht bestätigen, unter anderem Sirius als Doppelsternsystem. Van Beek vertritt die Ansicht, dass die von Griaule publizierten Mythen nicht einfach Wiedergaben von Erzählungen seiner Gewährsleute seien, sondern in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Griaule, seinen Informanten und den Übersetzern zustande gekommen sind. Ein Teil von ihnen sei das Ergebnis von Missverständnissen sowie Überinterpretation durch Griaule. Eine mögliche Erklärung bezieht sich auf angenommene Kontakte der Dogon mit europäischen Besuchern. Sie weist darauf hin, dass die Dogon-Erzählungen den astronomischen Kenntnisstand ab etwa 1926 widerspiegeln (während Griaule erst ab 1931 bei den Dogon zu arbeiten begann): die Umlaufperiode, der elliptische Orbit und die große Masse von Sirius B waren bereits im 19. Jahrhundert bekannt, sein geringer Durchmesser ab etwa 1910, ein möglicher dritter Begleiter wurde in den 1920er Jahren vermutet, die hohe Dichte von Sirius B wurde 1925 nachgewiesen. Die Beobachtung der gravitativen Rotverschiebung an Sirius B ging als Aufsehen erregende Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch die populäre Presse. Als Quellen kommen beispielsweise Missionare in Betracht, worauf auch biblische und christliche Motive in der Dogon-Mythologie hinweisen. Missionarische Aktivitäten bei den Dogon fanden ab 1931 statt, allerdings sind bisher keine Missionare nachweisbar, die konkret als Quelle in Frage kämen. Sirius als roter Stern Sirius erscheint dem Betrachter grell bläulichweiß. Im Sternkatalog des von Claudius Ptolemäus um 150 n. Chr. verfassten Almagest findet sich Sirius, der Hauptstern des Sternbilds Großer Hund, dennoch mit dem Eintrag: Während nach Beschreibung und Koordinaten eindeutig Sirius gemeint ist, stimmt die genannte rötliche Färbung nicht mit Sirius’ blau-weißer Farbe überein. Seit dem 18. Jahrhundert knüpfen sich daran Spekulationen, ob Sirius tatsächlich während der letzten 2000 Jahre seine Farbe geändert haben könnte. In diesem Fall würde Ptolemäus’ Bemerkung wertvolles Beobachtungsmaterial sowohl allgemein zur Sternentwicklung als auch speziell zu den Vorgängen in der Sonnenumgebung liefern. Es lässt sich auch unter Beziehung unabhängiger Quellen jedoch nicht eindeutig entscheiden, ob Sirius in der Antike als rot wahrgenommen wurde oder nicht. Ein assyrischer Text aus dem Jahre 1070 v. Chr. beschreibt Sirius als „rot wie geschmolzenes Kupfer.“ Sirius wird von Aratos in seinem Lehrgedicht Phainomena sowie von dessen späteren Bearbeitern als rötlich bezeichnet. Bei Plinius ist Sirius „feurig“ und bei Seneca sogar röter als Mars. Auch der frühmittelalterliche Bischof Gregor von Tours bezeichnet Sirius in seinem Werk De cursu stellarum ratio (ca. 580 n. Chr.) noch als roten Stern. Andererseits bezeichnet Manilius Sirius als „meerblau“, und vier antike chinesische Texte beschreiben die Farbe einiger Sterne als „so weiß wie [Sirius]“. Darüber hinaus wird Sirius oft als stark funkelnd beschrieben; ein eindrucksvolles Funkeln setzt aber die vollen Spektralfarben eines weißen Sterns voraus, während das mattere Funkeln eines roten Sterns kaum Aufmerksamkeit erregt hätte. Fünf andere von Ptolemäus als rot bezeichnete Sterne (u. a. Beteigeuze, Aldebaran) sind auch für den heutigen Betrachter rötlich. Nach heutigem Verständnis der Sternentwicklung ist ein Zeitraum von 2000 Jahren bei weitem nicht ausreichend, um bei den betreffenden Sterntypen sichtbare Veränderungen bewirken zu können. Demnach ist weder ein Aufheizen von Sirius A von einigen tausend Kelvin auf die heutigen knapp 10.000 K, noch eine Sichtung von Sirius B in seiner Phase als Roter Riese denkbar. Alternative Erklärungsversuche konnten bislang allerdings auch nicht vollständig überzeugen: Eine zwischen Sirius und der Erde durchziehende interstellare Staubwolke könnte eine erhebliche Rötung des Lichts durchscheinender Sterne verursacht haben. Eine solche Wolke hätte aber Sirius’ Licht auch so stark schwächen müssen, dass er allenfalls als unauffälliger Stern dritter Größenklasse erschienen wäre und seine Helligkeit nicht ausgereicht hätte, um im menschlichen Auge einen Farbeindruck hervorzurufen. Spuren einer solchen Wolke wurden nicht gefunden. Die irdische Atmosphäre rötet das Licht tiefstehender Gestirne ebenfalls, schwächt es aber nicht so stark ab. Da der heliakische Aufgang des Sirius für viele antike Kulturen ein wichtiger kalendarischer Fixpunkt war, könnte die Aufmerksamkeit besonders dem tiefstehenden und dann rötlich erscheinenden Sirius gegolten haben. Diese Farbe könnte Sirius dann als kennzeichnendes Attribut beibehalten haben. Theoretische Rechnungen deuten an, dass die Atmosphäre in der Tat das Licht eines Sterns ausreichend röten kann, ohne die Helligkeit unter die Farbwahrnehmungsschwelle zu drücken. Praktische Beobachtungen konnten bisher aber keinen ausgeprägten Rötungseffekt feststellen. „Rötlich“ könnte ein lediglich symbolisches Attribut sein, das Sirius mit der von seinem heliakischen Erscheinen angekündigten Sommerhitze in Verbindung bringt. Konjunktionen und Bedeckungen Da sich Sirius weit südlich der Ekliptik befindet, kann sich keiner der Planeten unseres Sonnensystems ihn auf einem Abstand von unter 30 Grad nähern. Allerdings gibt es einige Kleinplaneten mit stark geneigter Bahn, welche am Himmel in der Nachbarschaft von Sirius erscheinen und ihn sogar bedecken können. Am 19. Februar 2019 bedeckte der 16,7 mag helle Kleinplanet Jürgenstock Sirius für Beobachter im karibischen Raum und am 9. Oktober 2022 zog der 8,7m helle Asteroid Pallas 8,5 Bogenminuten nördlich an Sirius vorbei. Am 27. Februar 2023 zog Pallas in 2,6° nordwestlichem Abstand an Sirius vorbei. Am 19. Februar 2037 wird man den Kleinplaneten Aethra 3,2° südöstlich von Sirius finden. Trivia Friedrich Wilhelm Herschel definierte Anfang des 19. Jahrhunderts das Siriometer als die Entfernung von der Sonne zum Sirius. Die Einheit konnte sich jedoch nicht durchsetzen und wird heute nicht mehr verwendet. Siehe auch Sehungsbogen des Sirius im Alten Ägypten Bezugsorte der kalendarischen Sothis-Aufgänge im Alten Ägypten Liste von Sternen Mount Canicula Sirius Knoll Literatur chronologisch Noah Brosch: Sirius Matters (= Astrophysics and Space Science Library.Band 354). Springer, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-1-402-08319-8 (englisch), (Vorschau@books.google.de). Jay B. Holberg: Sirius – Brightest Diamond in the Night Sky. Springer, Berlin u. a. 2007, ISBN 978-0-387-48941-4. (englisch, kulturgeschichtlicher und astrophysikalischer Überblick) Erich Sams: Sirius – Der Wächter am Tor. Glanz und Elend des Fixsterns Sirius in den alten Religionen. Pro Literatur, Mering 2007, ISBN 978-3-86611-312-1. Michael Grant und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. dtv, München 2003, ISBN 3-423-32508-9. Mary Barnett: Götter und Mythen des alten Ägypten. Gondrom, Bindlach 1998, ISBN 3-8112-1646-5. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen – Die Götter- und Menschheitsgeschichten. dtv, München 1994, ISBN 3-423-30030-2. Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie – Quellen und Deutung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-499-55404-6. (17. Auflage 2007, nach der im Jahre 1955 erschienenen amerikanische Penguin-Ausgabe). Weblinks Astronews Hubblesite Größenvergleich mit anderen Himmelskörpern Sirius als Unglücksbote in Deutschland Anmerkungen Einzelnachweise Sumerische Mythologie Hauptreihenstern Weißer Zwerg Stern im Gliese-Jahreiß-Katalog Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schnabeltier
Schnabeltier
Das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus, ) ist ein eierlegendes Säugetier aus Australien. Es ist die einzige lebende Art der Familie der Schnabeltiere (Ornithorhynchidae). Zusammen mit den vier Arten der Ameisenigel bildet es das Taxon der Kloakentiere (Monotremata), die sich stark von allen anderen Säugetieren unterscheiden. Merkmale Allgemeines Der Körperbau des Schnabeltiers ist flachgedrückt und stromlinienförmig, es hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem flach gebauten Biber und hat auch einen vergleichsweise platten Schwanz. Der Körper und der Schwanz sind mit braunem, wasserabweisendem Fell bedeckt. Die Füße tragen Schwimmhäute. Die Körperlänge der Schnabeltiere beträgt rund 30 bis 40 Zentimeter, der Schwanz, der als Fettspeicher verwendet wird, ist 10 bis 15 Zentimeter lang. Schnabeltiere erreichen ein Gewicht von 0,5 bis 2,5 Kilogramm, wobei Männchen rund ein Drittel größer als Weibchen werden. Wie bei allen Kloakentieren münden bei ihnen beide Ausscheidungs- und die Geschlechtsorgane in einer gemeinsamen Öffnung, der „Kloake“. Im Vergleich mit anderen Säugetieren ist die Körpertemperatur des Schnabeltieres mit rund 32 Grad Celsius sehr niedrig. Ob dieses Faktum typisch für eierlegende Säugetiere war oder eine spezielle Anpassung an die Lebensweise darstellt, lässt sich aufgrund der wenigen überlebenden Arten der Kloakentiere kaum beantworten. Kopf und Schnabel Der deutsche Name des Tieres deutet sein auffälligstes Kennzeichen bereits an, den biegsamen Schnabel, der in der Form dem einer Ente ähnelt und dessen Oberfläche etwa die Beschaffenheit von glattem Rindsleder hat. Erwachsene Schnabeltiere haben keine Zähne, sondern lediglich Hornplatten am Ober- und Unterkiefer, die zum Zermahlen der Nahrung dienen. Bei der Geburt besitzen die Tiere noch dreispitzige Backenzähne, verlieren diese jedoch im Laufe ihrer Entwicklung. Um den Schnabel effektiv nutzen zu können, ist die Kaumuskulatur der Tiere modifiziert. Die Nasenlöcher liegen auf dem Oberschnabel ziemlich weit vorn; dies ermöglicht es dem Schnabeltier, in weitgehend untergetauchtem Zustand nach dem „Schnorchel“-Prinzip zu atmen. Der Bau des Unterkiefers zeigt Ähnlichkeiten mit reptilienartigen Vorfahren. Im Gegensatz zu diesen sind die drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die bei Reptilien Teile des Kiefers bilden, allerdings fix im Schädel integriert. Dabei handelt es sich um ein Merkmal, das alle Säugetiere gemeinsam haben. Die Ohröffnung befindet sich jedoch im Vergleich zu anderen Säugern sehr nahe am Unterkiefer. Auch haben Schnabeltiere im Unterschied zu allen anderen Säugetieren zusätzliche Knochen im Schultergürtel. Giftsporne Die männlichen Schnabeltiere gehören zu den wenigen giftigen Säugetieren. Sie haben rund 15 Millimeter lange Giftsporne in Knöchelhöhe an den Hinterbeinen. Diese scheiden ein Gift aus, das in Drüsen im Hinterleib produziert wird. Weibliche Tiere haben bei ihrer Geburt ebenfalls Spornanlagen, verlieren diese jedoch im ersten Lebensjahr. Da das Gift nur während der Paarungszeit produziert wird, nimmt man an, dass es in erster Linie bei Kämpfen um ein paarungsbereites Weibchen eingesetzt wird. Das Gift enthält ein Peptid, das aminoterminal dem C-type natriuretic peptide (CNP, ein vasodilatatives Peptid mit bloß indirekt natriuretischer Wirkung) homolog ist. Weitere fünf Proteine und Peptide wurden im Gift des Schnabeltieres identifiziert: defensin-like peptide (DLPs), Ornithorhynchus venom C-type natriuretic peptide (OvCNPs), Ornithorhynchus nerve growth factor, Hyaluronidase und l-to-d-peptide Isomerase. Das Gift ist für Menschen nicht tödlich, verursacht aber sehr schmerzhafte Schwellungen, die auch mit hohen Dosen an Morphium kaum zu lindern sind und mehrere Monate bestehen können. Aus der Zeit, als die Tiere noch wegen des Schnabeltierfells gejagt wurden, gibt es Berichte, wonach Hunde, die angeschossene Tiere fangen sollten, durch das Gift starben. Wie das Gift auf andere Schnabeltiere wirkt, ist nicht bekannt; da es aber nicht zur Verteidigung gegenüber Fressfeinden, sondern bei Rivalenkämpfen eingesetzt wird, ist seine Wirkungsweise vermutlich nicht auf den Tod, sondern auf Verletzung ausgelegt. Karyotyp und Genom Das Genom des Schnabeltiers ist innerhalb des Zellkerns in 21 Autosomen und 10 Geschlechtschromosomen sowie im Genom des Mitochondriums organisiert. 2004 wurde eine weitere Besonderheit des Schnabeltiers entdeckt: Es besitzt 10 Geschlechtschromosomen, die Weibchen 10 X-Chromosomen und die Männchen 5 X- und 5 Y-Chromosomen, während die meisten anderen Säugetierarten (einschließlich des Menschen) derer nur zwei haben (XX im weiblichen und XY im männlichen Individuum). In manchen Aspekten ähnelt das Chromosomensystem dieser Tiere dem der Vögel, die sich jedoch unabhängig von den Säugern entwickelten. Das vollständige Genom eines weiblichen Tiers aus New South Wales wurde erstmals 2007 analysiert; es besteht aus 1.995.607.322 Basenpaaren. Die genaue Anzahl der Gene (zunächst auf 18.600 geschätzt) ist noch unbekannt. Das Schnabeltier teilt unter anderem typische Proteine der Milchproduktion mit anderen Säugetieren, besitzt jedoch auch spezielle, mit der Fortpflanzung durch Eier assoziierte Gene. Die Giftproteine des Schnabeltieres entwickelten sich unabhängig vom Giftsystem der Reptilien (Toxicofera). Auffallend ist ein großer Anteil von Genen, die für Rezeptor-Proteine zur geruchlichen Wahrnehmung unter Wasser codieren. Das Genom eines männlichen Tieres (mit den bis dato noch nicht sequenzierten Y-Chromosomen) wurde 2021 veröffentlicht. Die 5 X- und 5 Y-Chromosomen (X1Y1 bis X5Y5) sind in einem Ring organisiert, der im Laufe der Monotrematen-Evolution in Stücke auseinandergebrochen zu sein scheint. Keines ist homolog zu einem der Geschlechtschromosomen der Plazentalier (wie Mensch und Maus). Bei Ameisenigeln wurden nur 9 Geschlechtschromosomen gefunden. Die bisherigen Befunde zu den Genen für die Dotter- und Milchproduktion wurden bestätigt und erweitert: Neben den Casein-Genen, die denen der Plazentalier (wie Mensch und Rind) entsprechen, gibt es offenbar weitere, deren Funktion bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht geklärt werden konnte. Von den drei Genen, die bei Reptilien inklusive Vögeln für die Dotterproduktion verantwortlich sind (den Vitellogenin-Genen), gibt es bei Schnabeltieren nur noch eines, das funktional ist. Vier für die Zahnentwicklung nötige Gene fehlen, schließlich hat das Schnabeltier keine Zähne. Das Gen für das Gift der Männchen scheint homolog zu Genen des Immunsystems anderer Säuger zu sein; bei den Ameisenigeln ging es im Laufe ihrer Entwicklung offenbar verloren.<ref >Yang Zhou, Linda Shearwin-Whyatt, Guojie Zhang et al.: Platypus and echidna genomes reveal mammalian biology and evolution, in: Nature, 6. Januar 2021, doi:10.1038/s41586-020-03039-0. Dazu: Carly Cassella: Now We Know Why Platypus Are So Weird – Their Genes Are Part Bird, Reptile, And Mammal, auf: sciencealert, 8. Januar 2021 Extraordinary Diversity: Unusual Sex Chromosomes of Platypus, Emu and Duck, auf SciTechDaily, 7. Januar 2021. Quelle: Universität Wien Researchers Sequence Platypus and Echidna Genomes, auf: sci-news, 7. Januar 2021 Doug Gimesy: Wie das Schnabeltier zu zehn Sex-Chromosomen kam, auf: orf.at, 7. Januar 2021</ref> Verbreitung Schnabeltiere bewohnen Süßwassersysteme des östlichen und südöstlichen Australien. Sie bevorzugen saubere, stehende oder fließende Gewässer. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich über die Bundesstaaten Queensland, New South Wales, Victoria und die Insel Tasmanien. Auf der Känguru-Insel wurden sie erfolgreich angesiedelt. Lebensweise Allgemeines Schnabeltiere sind nachtaktive Einzelgänger. Sie können ausgezeichnet schwimmen und verbringen den Großteil ihres Lebens im Wasser. Unter Wasser werden sowohl die Augen als auch die Ohröffnungen geschlossen. Zur Vorwärtsbewegung unter Wasser paddeln sie mit den Vorderbeinen, während die Hinterbeine und der flache Schwanz zur Steuerung dienen. Wenn sie sich nicht im Wasser befinden, ziehen sie sich in Erdbaue zurück. Diese sind meist an Uferböschungen gelegen, der Eingang befindet sich knapp über der Wasseroberfläche und ist durch Pflanzen verborgen. Schnabeltiere graben ihre Baue mit den kräftigen Vorderpfoten, wobei sie die Schwimmhäute nach oben klappen können. Eine Besonderheit stellt hierbei auch der Einsatz ihres breiten Schwanzes als Transportmedium dar, unter dem Schnabeltiere Baumaterial wie Zweige klemmen können und diese so eingerollt zum Bau befördern, wobei der Schnabel auf dem Weg für andere Aufgaben frei bleibt. Sie haben meist mehrere Baue, die sie abwechselnd benutzen. Bei kaltem Wetter fallen Schnabeltiere manchmal für mehrere Tage in eine Kältestarre, den so genannten Torpor. Falls erforderlich, können sich Schnabeltiere an Land unerwartet zügig fortbewegen. Dabei sind jeweils das linke Vorder- und rechte Hinterbein bzw. das rechte Vorder- und linke Hinterbein in der Bewegung exakt synchron; dieser Kreuzgang ist auch von vielen Echsen bekannt. Ernährung Schnabeltiere sind Fleischfresser, ihre Nahrung besteht vorwiegend aus Krabben, Insektenlarven und Würmern. Sie suchen ihre Nahrung unter Wasser. Dazu holen sie tief Luft und tauchen unter; auf diese Weise können sie rund zwei Minuten unter Wasser bleiben. Sie finden ihre Nahrung im Wasser schwimmend oder indem sie mit ihrem Schnabel im Schlamm wühlen oder Steine damit umdrehen. Während die Augen unter Wasser geschlossen sind, verwenden Schnabeltiere Elektrorezeptoren und Mechanorezeptoren am Schnabel, um Beute zu finden. Diese Sensoren zählen zu den wirksamsten unter allen Säugetieren. Mit Hilfe ihrer Elektrorezeptoren können sie die schwachen elektrischen Felder fühlen, die bei der Muskelbewegung der Beutetiere entstehen; die Tastkörperchen reagieren auf feinste Wellenbewegungen. Da beide Wahrnehmungsfunktionen eng miteinander gekoppelt sind, können Schnabeltiere anhand des Zeitunterschieds zwischen elektrischem und taktilem Impuls den Aufenthaltsort und die Entfernung der Beutetiere genau bestimmen und zielgenau zuschnappen. Drei Variablen sind von essentieller Bedeutung für das Ausmachen der Beute: die Stärke der elektrischen Ausgangssignale, die Ausbreitung der Signale im Wasser und die Sensibilität des Schnabeltiers. Eine Amplituden- und Frequenzanalyse ergab, dass sich die jeweiligen Werte nach Beutetieren stark unterscheiden: So wird der Wurm Lubricus ssp. bei einer Amplitude von 3 μV/cm bei gleichwertiger Frequenz von (3 Hz) und Riesenwanzen (Belostomatidae) bei einer Amplitude von 800 μV/cm und einer Frequenz von 20 Hz gejagt. Damit haben Schnabeltiere ein effizientes Suchsystem entwickelt, dessen genaue Einzelheiten allerdings bis heute nicht völlig geklärt sind. Haben sie Nahrung gefunden, wird diese in Backentaschen verstaut und erst gefressen, nachdem die Tiere zur Oberfläche zurückgekehrt sind. Fortpflanzung Außerhalb der Paarungszeit leben Schnabeltiere einzelgängerisch. Zur Paarung, die im australischen Spätwinter oder Frühling (Juli bis Oktober) erfolgt, nähert sich das Weibchen dem Männchen und streift immer wieder sein Fell, danach packt das Männchen mit seinem Schnabel den Schwanz des Weibchens und sie schwimmen im Kreis. Die Paarung erfolgt ebenfalls im Wasser, indem das Männchen seinen Penis in die weibliche Kloake einführt. Zur Aufzucht der Jungen gräbt das Weibchen größere, manchmal bis zu 20 Meter lange Erdbaue. Den „Kessel“ am Ende polstert es mit weichen Pflanzenteilen aus. Zum Transport wird das Nistmaterial mit dem unter den Rumpf geklappten Schwanz eingeklemmt. Rund 12 bis 14 Tage nach der Begattung legt das Weibchen meist drei weiße, weiche Eier. Mit ihrem großen Dotter und der pergamentartigen Schale ähneln diese mehr Reptilien- als Vogeleiern. Die Eier werden rund 10 Tage lang bebrütet; die Jungtiere kommen nackt und mit geschlossenen Augen aus dem Ei und sind rund 25 Millimeter groß. Nach dem Schlüpfen werden sie mit Muttermilch ernährt, die von Drüsen im Brustbereich (umgebildete Schweißdrüsen), dem Milchfeld, abgesondert wird. Da die Weibchen keine Zitzen haben, lecken die Jungen die Milch aus dem Fell der Mutter. Das Männchen beteiligt sich nicht an der Aufzucht. Die Jungtiere bleiben etwa fünf Monate im mütterlichen Bau, werden jedoch auch danach noch von der Mutter ernährt. Schnabeltiere erreichen die Geschlechtsreife mit rund zwei Jahren. Das höchste bekannte Alter eines Exemplars in Gefangenschaft betrug 17 Jahre, die Lebenserwartung in der freien Natur ist nicht bekannt; Schätzungen belaufen sich auf fünf bis acht Jahre. Natürliche Feinde Zu den natürlichen Feinden der Schnabeltiere gehören der Murray-Dorsch, große Greifvögel, der Buntwaran und Rautenpythons; auch eingeschleppte Raubtiere wie Rotfüchse machen gelegentlich Jagd auf Schnabeltiere. Die Goldbauch-Schwimmratte, die in Körperbau und Lebensweise dem Schnabeltier ähnelt, bezieht manchmal deren Baue und verzehrt Jungtiere. Schnabeltiere und Menschen Nach einer Legende der Aborigines sind Schnabeltiere die Nachkommen eines Entenweibchens und eines Schwimmrattenmännchens. Von der Mutter haben sie demnach den Schnabel und die Schwimmhäute an den Füßen, vom Vater das braune Fell. Forschungsgeschichte Im späten 18. Jahrhundert sahen die ersten europäischen Siedler diese Tiere. Als sie ein Fell nach London schickten, hielt man es dort zunächst für einen Scherz, für das Werk eines geschickten Präparators. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Tiere wurde im Jahr 1799 von George Shaw in London vorgenommen. Er stützte seine Untersuchung auf einen Balg und ein paar Zeichnungen, die ihm vermutlich von Captain John Hunter von der Königlichen Marine nach England geschickt wurden, der als Gouverneur der Strafkolonie in New South Wales lebte. Dennoch war Shaws Erstbeschreibung erstaunlich zutreffend. Später begannen sich Biologen für das Tier zu interessieren. Die Erforschung der Schnabeltiere war aufgrund der Tatsache, dass sie sich nur äußerst schwer in menschlicher Gefangenschaft halten ließen, erschwert, und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Details über ihre Fortpflanzung bekannt. Bedrohungsstatus Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Schnabeltiere wegen ihres Felles gejagt. In manchen Regionen Australiens, zum Beispiel in South Australia, sind sie verschwunden, in anderen durch menschliche Besiedlung und Flussregulierungen selten geworden. Wie auch für andere Tierarten stellen scharfsehnige Fangnetze und blockierende Köcher für Schnabeltiere eine besondere Gefahr dar, da sie sich darin verfangen und verletzen können und diesen Hindernissen beim Durchqueren ihres natürlichen Lebensraumes oft nicht ausweichen können. Diese Risiken können durch den Einsatz tier- und umweltverträglicher Fischereimethoden reduziert werden. Schnabeltiere bevorzugen sauberes Wasser und meiden menschliche Nähe generell; dennoch findet man sie manchmal bei menschlichen Siedlungen, während sie in Gewässern, die ihnen eigentlich behagen müssten, nicht vorkommen. Schnabeltiere sind heute vollständig geschützt; aufgrund ihrer Ansprüche an den Lebensraum werden sie in Australien als „häufig, aber gefährdet“ (common, but vulnerable) eingestuft. Haltung Privatpersonen dürfen keine Schnabeltiere halten, Tiergärten brauchen eine Sondergenehmigung. Die Haltung dieser Tiere wird aufgrund der hohen Ansprüche an den Lebensraum als schwierig eingestuft; im 19. Jahrhundert gingen noch fast alle in menschlicher Gefangenschaft gehaltenen Tiere ein. Erst in jüngerer Zeit gelang es, die notwendigen Erkenntnisse für eine artgerechte und erfolgreiche Haltung zu gewinnen. Von diesen Schwierigkeiten zeugt auch die Tatsache, dass es – von einem Einzelfall und Erstzucht 1943 im Zoo Victoria abgesehen – erst ab 1998 öfter möglich wurde, die Tiere in Gefangenschaft zu züchten. Das Privileg der Haltung ist heute nur wenigen Institutionen, darunter dem Zoo Victoria und Sydney, vorbehalten. Aufgrund des hohen Nahrungsbedarfs sind besonders die Kosten für das Futter enorm hoch. Die speziell für die Haltung von elektrischen Wellen isolierten Anlagen gewähren den Besuchern oft einen Unterwassereinblick. Der Export lebender Tiere aus Australien ist gänzlich verboten. In Europa kommen lediglich Rotterdam und Leipzig als potenzielle ehemalige Halter in Betracht. Schnabeltiere in der Kultur Das Schnabeltier gilt als Inbegriff des biologischen Kuriosums, was zum Beispiel im Buchtitel Kant und das Schnabeltier von Umberto Eco zum Ausdruck kommt. Bekannt wurde auch Robert Gernhardts gleichnamiges Gedicht, veröffentlicht u. a. in Reim und Zeit, Reclam, Stuttgart 2001. In der Einleitung zum Film Dogma aus dem Jahr 1999 wird das Schnabeltier als Beispiel dafür angeführt, dass Gott Humor haben muss. Die Gattung des Schnabeltiers wurde einem jüngeren Publikum durch die Disney Sendung Phineas und Ferb näher gebracht. Die Sendung geht in manchen Episoden auf die Kuriositäten der Schnabeltiere ein. 2022 veröffentliche das französische Instrumental Metal Projekt Orbital Platypus ihr gleichnamige Debütalbum bei welchem das Schnabeltier nicht nur im Namen steckt (engl. platypus) sondern auch auf dem Albumcover zu sehen ist. Systematik und Entwicklungsgeschichte Das Schnabeltier gilt als ein lebendes Fossil. Anders als die modernen Säugetiere und die Beutelsäuger legen die Kloakentiere Eier, eines der als urtümlich betrachteten Merkmale, das ihnen die Bezeichnung „Ursäuger“ eingebracht hat. Schnabeltiere und ihre Verwandten, die Ameisenigel, teilen drei charakteristische Säugetiermerkmale: die drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), das Vorhandensein von Haaren und die Ernährung der Jungtiere mit Milch. Obwohl die frühesten Säugetiere wahrscheinlich eierlegend waren, sind die Schnabeltiere nicht die Vorfahren der Beutel- oder Plazentatiere, sondern stellen einen spezialisierten Seitenzweig dar. Die fossile Geschichte der Schnabeltierverwandten ist dürftig belegt. Die ältesten bekannten Fossilien stammen aus der Kreidezeit und wurden im südöstlichen Australien gefunden. Es handelt sich um Kieferknochen der Gattungen Steropodon und Teinolophos, die wohl nahe Verwandte des rezenten Schnabeltiers darstellen. Die Kieferknochen trugen noch Backenzähne, waren aber von der Größe her mit denen der heutigen Tiere vergleichbar. Auch eine Gattung aus dem Miozän, Obdurodon, hatte noch Zähne. In Argentinien wurden Zähne aus der Periode des Paläozän gefunden, die denen Obdurodons ähneln und sehr eindeutig als Zähne einer nahe verwandten Art erkennbar sind; sie waren allerdings doppelt so groß. Das zugehörige Tier wurde Monotrematum sudamericanum genannt, es ist bislang der einzige außeraustralische Fund eines Schnabeltierverwandten. Von der Gattung Ornithorhynchus sind die ältesten Funde rund 4,5 Millionen Jahre alt, vom heutigen Schnabeltier fand man bis jetzt keine Hinweise, die älter als 100.000 Jahre alt sind. Der jüngste Fund eines 70 Millionen Jahre alten Kiefers in Südamerika dagegen belegt, dass die Schnabeltiere bereits in der Kreidezeit in Gondwana lebten. Das hier beschriebene Material besteht aus einem fragmentarischen rechten Kiefer, der den unteren Backenzahn 2 bewahrt und das für Kloakentiere charakteristische Dilambdodon-Muster zeigt. Der Backenzahn wurde aus Schichten der Chorrillo-Formation (obere Kreidezeit, frühes Maastrichtium) gesammelt, die in der südwestlichen Provinz Santa Cruz, Patagonien, Argentinien, anstehen. Das Exemplar wurde Patagorhynchus pascuali genannt. Literatur M. L. Augee: Platypus and Echidnas. The Royal Zoological Society, New South Wales 1992, ISBN 0-9599951-6-1. Ronald Strahan: Mammals of Australia. Smithsonian Press, Washington DC 1996, ISBN 1-56098-673-5. N. G. Taylor, P. R. Manger, J. D. Pettigrew, L. S. Hall: Electromagnetic potentials of a variety of platypus prey items: an amplitude and frequency analysis. In: L. M. Augee: Platypus and Echidnas. 1992, ISBN 0-9599951-6-1, S. 216–224. T. R. Grant: Fauna of Australia. 16. Ornithorhynchidae Walter Fiedler (Hrsg.): Säugetiere. In: Grzimeks Tierleben. Band 10, Droemer Knaur, München 1967 (Bechtermünz, Augsburg 2000, ISBN 3-8289-1603-1). Ann Moyal: Platypus. The Extraordinary Story of How a Curious Creature Baffled the World. Smithsonian Press, Washington DC 2001, ISBN 1-56098-977-7. Ulrich Zeller: Die Entwicklung und Morphologie des Schädels von Ornithorhynchus anatinus. (Mammalia: Prototheria: Monotremata), In: Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft: Abhandlungen der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. Band 545, Kramer, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-7829-2548-3 (zugleich Habilitationsschrift an der Georg-August-Universität Göttingen). Weblinks Fauna of Australia – Ornithorhynchidae. Von T. R. Grant. In: Australian Biological Resources Study (ABRS). Monografie (englisch) als PDF-Datei Bericht über die Geschlechtschromosomen (englisch) Schematische Darstellung der Giftsporne Artikel in der FAZ-Sonntagszeitung zur Entdeckungsgeschichte des Schnabeltiers Schnabeltier-Genom offengelegt (Pressemitteilung der Uni Münster) Margarete Blümel: Das Schnabeltier – Säuger, Vogel, Reptil Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 8. Januar 2021 (Podcast) Einzelnachweise Kloakentiere Organismus mit sequenziertem Genom Lebendes Fossil
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https://de.wikipedia.org/wiki/Man%20Ray
Man Ray
Man Ray [] (* 27. August 1890 in Philadelphia, Pennsylvania; USA; † 18. November 1976 in Paris; eigentlich Emmanuel Rudnitzky oder Emmanuel Radnitzky) war ein US-amerikanischer Fotograf, Filmregisseur, Maler und Objektkünstler. Man Ray zählt zu den bedeutenden Künstlern des Dadaismus und Surrealismus, wird aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werkes allgemein der Moderne zugeordnet und gilt als wichtiger Impulsgeber für die moderne Fotografie und Filmgeschichte bis hin zum Experimentalfilm. Seine zahlreichen Porträtfotografien zeitgenössischer Künstler dokumentieren die Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er Jahre. Leben Kindheit und frühe Jahre Man Ray wurde als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Eltern, Melech (Max) Rudnitzky und Manya geb. Luria, in Philadelphia geboren. Auf seiner Geburtsurkunde wurde der Junge als „Michael Rudnitzky“ eingetragen, doch nach Aussage seiner Schwester Dorothy wurde er von der Familie „Emmanuel“ bzw. „Manny“ genannt. Die Familie nannte sich später „Ray“, um ihren Namen zu amerikanisieren. Auch Man Ray selbst zeigte sich in späteren Jahren sehr bedeckt, was seine Herkunft betraf. Zusammen mit seinen Geschwistern erhielt der junge Emmanuel eine strenge Erziehung. Der Vater arbeitete zu Hause als Schneider und die Kinder wurden in die Arbeit mit einbezogen; schon früh lernten sie nähen und sticken und das Zusammenfügen unterschiedlichster Stoffe in Patchwork-Technik. Diese Erfahrung sollte sich später in Man Rays Werk widerspiegeln: Der spielerische Umgang mit verschiedenen Materialien findet sich in vielen seiner Assemblagen, Collagen und anderen Bilder, überdies zitierte er gern Utensilien aus dem Schneiderhandwerk, zum Beispiel Nadeln oder Garnspulen, in seiner Bildsprache. 1897 zog Man Rays Familie nach Williamsburg, Brooklyn. Dort begann der eigensinnige Junge mit sieben Jahren erste Buntstiftzeichnungen anzufertigen, was von den Eltern nicht für gut befunden wurde, so dass er seine künstlerischen Neigungen lange geheim halten musste. „Ich werde von nun an die Dinge tun, die ich nicht tun soll“ wurde sein früher Leitsatz, dem er lebenslang folgen sollte. Im höheren Schulalter durfte er jedoch Kurse in Kunst und Technischem Zeichnen belegen und beschaffte sich bald das Rüstzeug für seine Künstlerlaufbahn. Nach dem Abschluss der High-School wurde Emmanuel ein Stipendium für ein Architekturstudium angeboten, das er allerdings trotz Zuredens seiner Eltern ablehnte, da eine technische Ausbildung seinem festen Entschluss, Künstler zu werden, zuwiderlief. Zunächst versuchte er sich, eher unbefriedigend, in Porträt- und Landschaftsmalereien; schließlich schrieb er sich 1908 an der National Academy of Design und der Art Students League in Manhattan, New York, ein. Wie er später einmal sagte, belegte er die Kurse für Aktmalerei eigentlich nur, weil er „eine nackte Frau sehen wollte“. Der didaktisch konservative, zeitintensive und ermüdende Unterricht war nichts für den ungeduldigen Studenten. Auf Anraten seiner Lehrer gab er das Studium alsbald auf und versuchte selbstständig zu arbeiten. New York 1911–1921 Im Herbst 1911 trug sich Man Ray an der Modern School of New Yorks Ferrer Center, einer liberal-anarchisch orientierten Schule, ein; dort wurde er im Folgejahr aufgenommen und besuchte Abendkurse im Kunstbereich. Am Ferrer Center konnte er dank der unkonventionellen Lehrmethoden endlich frei und spontan arbeiten. Die teilweise radikalen, von freiheitlichen Idealen geprägten Überzeugungen seiner Lehrer sollten entscheidenden Einfluss auf seinen späteren künstlerischen Werdegang, u. a. seine Zuwendung zum Dada, haben. In der Folgezeit arbeitete der Künstler – er hatte mittlerweile seinen Vor- und Nachnamen auf „Man Ray“ simplifiziert – als Kalligraf und Landkartenzeichner für einen Verlag in Manhattan. In Alfred Stieglitz’ bekannter „Galerie 291“ kam er zum ersten Mal mit Werken von Rodin, Cézanne, Brâncuși sowie Zeichnungen und Collagen von Picasso in Berührung und fühlte sich diesen europäischen Künstlern auf Anhieb stärker verbunden als ihren amerikanischen Zeitgenossen. Über Alfred Stieglitz fand Man Ray schnell Zugang zu dem völlig neuen Kunstgedanken der europäischen Avantgarde. Er erprobte in kürzester Abfolge wie besessen verschiedene Malstile: Beginnend mit den Impressionisten, gelangte er bald zu expressiven Landschaften, die einem Kandinsky ähnelten (kurz bevor dieser den Schritt zur Abstraktion vollzog), um schließlich zu einer eigenen futuristisch-kubistischen Figuration zu finden, die er abgewandelt sein Leben lang beibehielt. Einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließ die Armory Show, eine umfangreiche Kunstausstellung, die Anfang 1913 in New York stattfand. Schon allein die Größe der europäischen Gemälde überwältigte ihn. Man Ray sagte später dazu: „Ich habe sechs Monate nichts getan – so lange habe ich gebraucht, um zu verdauen, was ich gesehen hatte.“ Bei der in seinen Augen „zweidimensionalen“ Kunst seines Geburtslandes hingegen „[…] habe er geradezu eine Abneigung gegenüber Gemälden gehabt, bei denen kein Raum für eigene Überlegungen blieb.“ Ebenfalls im Frühjahr 1913 verließ Man Ray sein Elternhaus und zog in eine Künstlerkolonie in Ridgefield, New Jersey, wo er der belgischen Dichterin Adon Lacroix, bürgerlich Donna Lecoeur, begegnete; im Mai 1913 heirateten die beiden. Etwa 1914/15 kaufte sich Man Ray einen Fotoapparat, um seine eigenen Werke reproduzieren zu können. Am 31. März 1915 veröffentlichte er eine Ausgabe von The Ridgefield Gazook, einem von ihm selbst entworfenen anarchisch-satirischen Pamphlet, das bereits Grundzüge der späteren Dadazeitschriften aufwies, sowie A Book of Diverse Writings mit Texten von Donna und Illustrationen von ihm. Im Herbst 1915 hatte Man Ray seine erste Einzelausstellung in der New Yorker Daniel Gallery, bei der er sechs Gemälde verkaufte. Vermutlich traf er dort auf Marcel Duchamp, der in Amerika gerade durch sein Aufsehen erregendes Bild Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2, das er in der Armory Show gezeigt hatte, bekannt geworden war. Es waren vor allem Duchamps revolutionäre Ideen und Theorien, die Man Ray unvermittelt, aber nachhaltig beeindruckten. Duchamp und Man Ray wurden bald gute Freunde. Entwicklung des eigenen Stils Man Ray war fasziniert von Duchamps Werk, insbesondere von dessen Darstellungen simpler, technisch „absurder“, unlogischer Maschinen mit ihren pseudomechanischen Formen, die eine scheinbare „geheimnisvolle“ Funktion vortäuschten, ebenso wie von Duchamps Manier, einfache Alltagsgegenstände als objet trouvés zu Kunstobjekten zu erklären, die er Readymades nannte. Ein weiterer wichtiger Impulsgeber war Francis Picabia mit seinem Gedankengang zur „Überhöhung der Maschine“: „Die Maschine ist zu mehr geworden als nur zu einer Beigabe des Lebens […] sie ist wirklich ein Teil des menschlichen Lebens – vielleicht sogar seine Seele.“ Vermutlich gegen Ende des Jahres 1915 begann auch Man Ray, mit solchen Objekten zu experimentieren und vollzog langsam den Schritt von der zweidimensionalen zur dreidimensionalen Kunst. Alsbald schuf Man Ray erste Assemblagen aus Fundstücken, so z. B. das Self Portrait von 1916, das aus zwei Klingeln, einem Handabdruck und einem Klingelknopf ein Gesicht bildete. Nun begann Man Ray sich auch regelmäßig an Ausstellungen zu beteiligen; so wurde der Sammler Ferdinand Howald auf den Nachwuchskünstler aufmerksam und begann ihn mehrere Jahre als Mäzen zu fördern. Auf Marcel Duchamps Anregung hin befasste sich Man Ray sehr bald auch intensiv mit Fotografie und Film. Gemeinsam mit Duchamp, dessen Werk Man Ray in etlichen Fotografien dokumentierte, entstanden in New York zahlreiche Foto- und Filmexperimente. Um 1920 erfanden Marcel Duchamp und Man Ray das Kunstgeschöpf Rose Sélavy. Der Name war ein Wortspiel aus „Eros c’est la vie“, Eros ist das Leben. Rose Sélavy war der als Frau verkleidete Duchamp selbst, der unter diesem Namen Werke signierte, während ihn Man Ray dabei fotografierte. Zunehmend interessierte sich der Künstler für das Unbewusste, Scheinbare und das angedeutet Mystische, welches hinter dem Dargestellten und „Nicht-Dargestellten“ verborgen schien. Im Verlauf des Jahres 1917 experimentierte er mit allen verfügbaren Materialien und Techniken und entdeckte neben dem Glasklischeedruck (Cliché verre) die Aerographie, eine frühe Airbrushtechnik, für sich, indem er Fotopapier mit Farbe, respektive mit Fotochemikalien, besprühte. Eine frühe Aerographie nannte er Suicide (1917), eine Thematik, mit der sich Man Ray – wie viele andere Dadaisten und Surrealisten aus seinem Bekanntenkreis auch – oft beschäftigte (vgl. Jacques Rigaut). Man Ray machte sich schnell mit den Techniken in der Dunkelkammer vertraut. Geschah dies anfangs noch aus dem einfachen Beweggrund, seine Gemälde zu reproduzieren, fand er im fotografischen Vergrößerungsprozess bald eine Ähnlichkeit zur Aerographie und entdeckte die kreativen Möglichkeiten dieser „Lichtmalerei“. Die Rayographie Einhergehend mit der Arbeit in der Dunkelkammer, experimentierte Man Ray um 1919/20 mit Fotogrammen. Wie er sagte, habe er bei der Entdeckung der Technik „vollkommen mechanisch und intuitiv“ gehandelt. Das „Fotografieren ohne Kamera“ entsprach ganz seinem Wunsch, die Metaphysik, die er bereits in seinen Malereien und Objekten suchte, „automatisch und wie eine Maschine einfangen und reproduzieren zu können“. In einem Brief an Katherine Dreier schrieb er: „Ich versuche meine Fotografie zu automatisieren, meine Kamera so zu benutzen, wie ich eine Schreibmaschine benützen würde – mit der Zeit werde ich das erreichen.“ Dieser Gedanke geht mit der Methode des „Automatischen Schreibens“, die André Breton für den Surrealismus adaptierte, einher. Obwohl die Idee, Gegenstände auf lichtempfindlichem Papier zu arrangieren und zu belichten, so alt ist wie die Geschichte der Fotografie selbst – bereits Fox Talbot hatte 1835 erste Fotogramme geschaffen –, belegte Man Ray das von ihm weiterentwickelte Verfahren sofort mit dem Begriff Rayographie. In der Folgezeit produzierte er etliche solcher „Rayographien“ wie am Fließband: Fast die Hälfte seines gesamten Œuvres an Rayographien beziehungsweise „Rayogrammen“ entstand in den ersten drei Jahren nach der Entdeckung „seiner Erfindung“. Bereits Anfang 1922 hatte er alle technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit am Fotogramm ausprobiert. Später, in Paris, veröffentlichte er Ende 1922 eine limitierte Auflage mit zwölf Rayographien unter dem Titel Les Champs délicieux (Die köstlichen Felder); das Vorwort dazu schrieb Tristan Tzara, der darin noch einmal deutlich auf den Neologismus „Rayographie“ hinwies. Die Zeitschrift Vanity Fair griff diese „neue“ Art der Fotokunst in einem ganzseitigen Beitrag auf. Von diesem Moment an sollten Man Rays fotografische Arbeiten die Runde in sämtlichen europäischen Avantgarde-Zeitschriften machen. So kam es zu zahlreichen Reproduktionen der Cliché verre – Arbeiten Man Rays aus dessen New Yorker Zeit (die Originale hatte Man Ray auf 18 × 24 cm großen Glasnegativen angefertigt). Man Ray legte sich in seiner gesamten Künstlerlaufbahn nie auf ein bestimmtes Medium fest: „Ich fotografiere, was ich nicht malen möchte, und ich male, was ich nicht fotografieren kann“, sagte er einmal. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der Fotografie hatte die Malerei zwar vorerst ihren künstlerischen Zweck für ihn erfüllt. Er zog damit seinem Vorbild Duchamp gleich, der bereits 1918 sein letztes Gemälde anfertigte; letztlich durchzog aber das ewige Vexierspiel aus Malerei und Fotografie Man Rays Gesamtwerk. Er selbst erklärte dazu widersprüchlich: „Vielleicht war ich nicht so sehr an der Malerei interessiert, wie an der Entwicklung von Ideen.“ Vom „Foto-Objekt“ zum „Objekt-Foto“ In den Jahren 1918–1921 entdeckte Man Ray, dass ihm Foto- und Objektkunst vorläufig als beste Mittel dienten, seine Ideen zu formulieren. Tatsächlich hatte Man Ray 1921 die traditionelle Malerei vorübergehend ganz aufgegeben und experimentierte ausschließlich mit den Möglichkeiten des Arrangierens und „De-Arrangierens“ von Gegenständen. Im Unterschied zu Duchamp tat er dies durch die bewusste „Zweckentfremdung“ von Gegenständen oder durch die Darstellung eines bekannten Gegenstands in einem anderen Zusammenhang. Meistens fotografierte er diese Objekte und versah sie mit Titeln, die bewusst andere Assoziationen hervorriefen; so beispielsweise die kontrastreiche Fotografie eines Schneebesens mit dem Titel Man und analog dazu Woman (beide 1918), bestehend aus zwei Reflektoren, die als Brüste gesehen werden können und einer mit sechs Wäscheklammern versehenen Glasscheibe als „Rückgrat“. Eines der bekanntesten Objekte in Anlehnung an Duchamps Ready-mades war das spätere Cadeau (1921): Ein mit Reißnägeln gespicktes Bügeleisen, das als humorvolles „Geschenk“ für den Musiker Erik Satie gedacht war, den Man Ray bei einer Ausstellung in Paris in der Buchhandlung und Galerie Librairie Six kennenlernen sollte. Auch wenn die Ehe mit Adon Lacroix, die ihn mit französischer Literatur und Werken von Baudelaire, Rimbaud oder Apollinaire bekannt gemacht hatte, nur von kurzer Dauer war – die Ehe wurde 1919 geschieden –, befasste sich der Künstler weiterhin mit französischer Literatur. Der Einfluss wird in Man Rays Fotografie The Riddle oder The Enigma of Isidore Ducasse von 1920 besonders deutlich, die ein mit Sackleinen verschnürtes Paket zeigt, dessen Inhalt dem Betrachter jedoch verborgen bleibt. Die Lösung des Rätsels konnte nur über die Kenntnis der Schriften des französischen Autors Isidore Ducasse, der auch als Comte de Lautréamont bekannt war, erfolgen. Man Ray nahm jene berühmt gewordene Stelle aus dem 6. Gesang der „Gesänge des Maldoror“ als Ausgangspunkt, in der Lautréamont als Metapher für die Schönheit eines Jünglings „das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ beschrieben hatte. Das Interesse der Dadaisten an dem 50 Jahre zuvor verstorbenen Ducasse war durch André Breton geweckt worden, der in den Schriften frühes dadaistisch-surreales Gedankengut sah. Das Sujet des in Stoff gehüllten Gegenstandes kann indes auch als Reflexion Man Rays auf seine Kindheit in der Schneiderwerkstatt des Vaters interpretiert werden; das Objekt „an sich“ hatte Man Ray nur zum Zweck der Fotografie geschaffen. Société Anonyme Inc. & New York Dada Am 29. April 1920 gründete Man Ray zusammen mit Marcel Duchamp und der Künstlerin Katherine Dreier die Société Anonyme Inc. als Vereinigung zur Förderung moderner Kunst in Amerika. Im April 1921 erfolgte die Veröffentlichung von New York Dada zusammen mit Duchamp. In New York galt Man Ray mittlerweile als Hauptvertreter des wenig beachteten amerikanischen Dadaismus; wann genau er mit der europäischen Dada-Bewegung in Berührung gekommen war, ist unbekannt, vermutlich entstand um 1919/20 ein brieflicher „Dreiecks-Kontakt“ zwischen Marcel Duchamp, der allerdings nie aktiv im Dada tätig war, und Tristan Tzara, dem Wortführer und Mitbegründer der Bewegung. In einem Brief an Tzara klagte Man Ray über die Ignoranz der New Yorker Kunstszene: „… Dada kann nicht in New York leben. New York ist Dada und wird keinen Rivalen dulden […] es ist wahr: Alle Anstrengungen es publik zu machen wurden getan, aber da ist niemand der uns unterstützt.“. Man Ray konstatierte später, „es habe nie so etwas wie New York-Dada gegeben, weil die Idee des Skandals und der Provokation als eines der Prinzipien von Dada dem amerikanischen Geist völlig fremd gewesen sei.“ Man Rays Ambivalenz zu Amerika und seine Begeisterung für Frankreich sowie der drängende Wunsch, endlich der progressiven europäischen Kunstwelt anzugehören, gipfelten schließlich im Juli 1921 in dem Entschluss des Künstlers, seinen Freunden Marcel Duchamp und Francis Picabia nach Frankreich zu folgen. Die Pariser Jahre 1921–1940 Man Ray kam am 22. Juli 1921 in Frankreich an. Duchamp machte ihn in Paris im beliebten Dadaistentreff Café Certa in der Passage de l’Opéra sogleich mit André Breton, Louis Aragon, Paul Éluard und dessen Frau Gala (die spätere Muse und Ehefrau des spanischen Künstlers Salvador Dalí) und Jacques Rigaut bekannt. Die Europäer akzeptierten Man Ray, der bald fließend französisch sprach, schnell als einen der Ihren. Man Ray verbrachte anfangs viel Zeit damit, die Metropole Paris zu erkunden, konzentrierte sich aber schon bald auf das Zentrum der Pariser Kunstszene: Montparnasse. In den Cafés der Rive Gauche, am Boulevard du Montparnasse, traf er auf die unterschiedlichsten Künstler: Matisse, Diego Rivera, Piet Mondrian, Salvador Dalí, Max Ernst, Yves Tanguy, Joan Miró und viele andere mehr. Die meisten von ihnen fanden später als Porträts Einzug in Man Rays fotografisches Werk. Gegen Ende des Jahres zog Man Ray in das berühmte Künstlerhotel Hôtel des Ecoles am Montparnasse. Anfang November nahm Man Ray zusammen mit Max Ernst, Hans Arp und Marcel Duchamp an einer Sammelausstellung in der Galerie des Kunsthändlers Alfred Flechtheim in Berlin teil. Man Ray, der nicht selbst nach Berlin reiste, schickte dafür ein Bild von Tristan Tzara mit einer Axt über dem Kopf und auf einer Leiter sitzend, neben ihm das übergroße Bildnis eines Frauenaktes (Porträt Tristan Tzara / Tzara und die Axt, 1921). Auf Bestreben Tzaras, der den neuen Dada-Künstler aus Amerika für „seine Bewegung“ etablieren wollte, fand noch im Dezember des Jahres in der Librairie Six die erste Ausstellung Man Rays in Paris statt. Um die gleiche Zeit entstand Man Rays „offizielle Photographie“ der mittlerweile untereinander zerstrittenen Dadaisten. In der von Egozentrikern durchsetzten Dada-Gruppe, die sich in exzessiven Ausschweifungen erging, fand Man Ray längst nicht die Unterstützung, die er sich erhoffte, zumal bildende Künstler in dieser von Literaten beherrschten Szene wenig Beachtung fanden. Die Dadaisten hatten Dada in ihrer Absurdität bereits lakonisch-scherzhaft für tot erklärt: „Man liest überall in den Zeitschriften, dass Dada schon lange tot ist […] es wird sich zeigen ob Dada wahrhaftig tot ist oder nur die Taktik geändert hat;“ und so wurde Man Rays erste Ausstellung mit den Dadaisten eher zu einer Farce; auch der Mangel an Verkäufen machten dem Künstler insgeheim zu schaffen. Verursacht durch eine Kontroverse, die der rebellische André Breton in Vorbereitung seiner „Surrealistischen Manifeste“ entfacht hatte, und einem damit verbundenen Disput Bretons mit Tzara, Satie, Eluard und weiteren Dadaisten kam es am 17. Februar 1922 mit einem Zensurbeschluss gegen Breton zur Spaltung zwischen Dadaisten und Surrealisten. Unter den 40 Unterzeichnern des Beschlusses befand sich auch Man Ray. Dies war das erste und letzte Mal, dass Man Ray Stellung zu einer künstlerischen Doktrin bezog. Die Fotografie Erfolglos in der Malerei fasste Man Ray Anfang 1922 den Entschluss, sich ernsthaft der Fotografie zu widmen. Obwohl er seit seiner Ankunft in Paris schon zahlreiche Porträts von Picabia, Tzara, Cocteau und vielen anderen Protagonisten der Pariser Kunstszene angefertigt hatte, wollte er sich nun die Porträtfotografie als Einnahmequelle sichern und gezielt Auftraggeber suchen. „Ich habe jetzt meine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, ein Atelier zu mieten und es einzurichten, damit ich effizienter arbeiten kann. Ich wollte ja Geld machen – nicht auf Anerkennung warten, die vielleicht kommt oder sich vielleicht nie einstellt.“ Dieser Entschluss ging mit dem drängenden Wunsch einher, sich von der bisherigen belastenden Situation „im Wettkampf mit den anderen Malern“ zu befreien. Seine ersten Auftragsarbeiten kamen selbstverständlich aus der Kunstszene: Picasso, Georges Braque, Juan Gris, Henri Matisse und viele andere ließen sich im Frühjahr/Sommer 1922 von ihm ablichten. Noch immer lebte und arbeitete Man Ray in einem Hotelzimmer und so beklagte er in einem Brief an seinen Freund und Förderer Ferdinand Howald: „Ich lebe und arbeite immer noch in einem Hotelzimmer, das sehr eng und teuer ist. Aber die Ateliers hier sind unmöglich – ohne Wasser oder Licht für die Nacht, wenn man nicht einen sehr hohen Preis zahlen kann, und auch dann muss man erst eines finden.“ Im Juli 1922 fand Man Ray schließlich ein geeignetes Wohnatelier mit Küche und Bad in der Rue Campagne Première 31. Schnell wurde sein neues Studio zu einem beliebten Treffpunkt der Maler und Schriftsteller. Eine weitere wichtige Auftragsquelle wurden die angloamerikanischen Emigranten und so entstanden im Laufe der Zeit zahlreiche Porträts durchreisender Künstler, vornehmlich Schriftsteller wie James Joyce oder Hemingway, die sich u. a. in literarischen Salons, wie dem von Gertrude Stein und Alice B. Toklas, oder in Sylvia Beachs renommierter Buchhandlung Shakespeare and Company trafen. Zwar war dies die etablierte Pariser Literaturszene, jedoch hat Man Ray mit Ausnahme von Marcel Proust auf dem Totenbett, den er auf ausdrücklichen Wunsch Cocteaus fotografierte, keinen der führenden französischen Schriftsteller verewigt. Bald wurden auch die Pariser Aristokraten auf den ungewöhnlichen Amerikaner aufmerksam: Das verwackelte Porträt der exzentrischen Marquise Casati, einer früheren Geliebten des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio, das die Marquise mit drei Augenpaaren zeigt, wurde trotz der Bewegungsunschärfe zu einer der signifikantesten Fotografien Man Rays. Die Marquise war ob des verwackelten Fotos so begeistert, dass sie gleich Dutzende von Abzügen bestellte, die sie an ihren Bekanntenkreis verschickte. Zu dieser Zeit entdeckte Man Ray die Aktfotografie für sich und fand in Kiki de Montparnasse, bürgerlich Alice Prin, einem beliebten Modell der Pariser Maler, seine Muse und Geliebte. Kiki, die Man Ray im Dezember 1922 in einem Café kennengelernt hatte und die bis 1926 seine Lebensgefährtin war, avancierte schnell zum Lieblingsmodell des Fotografen; in den 1920er Jahren entstanden unzählige Fotografien von ihr, darunter eine der berühmtesten von Man Ray: Das surrealistisch-humorvolle Foto Le Violon d’Ingres (1924), das den nackten Rücken einer Frau (Kiki) mit Turban zeigt, auf dem sich die beiden aufgemalten f-förmigen Öffnungen eines Violoncellos befinden. Die Fotografie wurde zu einer der am meisten publizierten und reproduzierten Arbeiten Man Rays. Den Titel Le Violon d’Ingres (Die Violine von Ingres) als französisches Idiom für „Hobby“ oder „Steckenpferd“ wählte Man Ray mutmaßlich in doppeldeutiger Anspielung auf den Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres, der sich bevorzugt dem Violinenspiel und der Aktmalerei gewidmet hatte. Ingres’ Gemälde La Grande Baigneuse (Das Türkische Bad) war offenkundig Vorlage für Man Rays geistreiches Fotorätsel. Der Film Man Ray hatte bereits in New York zusammen mit Marcel Duchamp einige experimentelle Kurzfilme gedreht; so zeigte der „anrüchigste“ Streifen eine Schamhaarrasur der exzentrischen Dadakünstlerin Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Später in Paris brachte ihn Tristan Tzara sofort mit diesem Film in Verbindung und stellte Man Ray bei einem Dada-Ereignis, das sich sinnigerweise Soirée du cœur à barbe (Der Abend des Bartherzens) nannte, prahlerisch als „prominenten amerikanischen Filmemacher“ vor. An diesem Abend im Juli 1923 führte Man Ray seinen ersten 35-mm-Film in „Spielfilmlänge“ vor: den dreiminütigen schwarzweißen Stummfilm Retour à la raison (Rückkehr zum Grund), eine Auftragsarbeit von Tzara. Der Film zeigt stakkatoartig animierte Rayographien: Tanzende Nadeln, Salzkörner, eine Reißzwecke und andere Gegenstände, die Man Ray auf dem Filmstreifen verteilt und dann belichtet hatte, und schließlich Schriftfragmente, sich drehende Papierrollen und Eierkartons. Der Film endet mit dem sich drehenden Torso von Kiki de Montparnasse, auf dem sich ein Fensterkreuz als Lichterspiel abzeichnet. Der Experimentalfilm fand viel Beachtung und Man Rays Studio in der Rue Campagne Première 31 wurde bald Anlaufstelle für viele Filmenthusiasten und Rat suchende Jungfilmer. 1924 trat Man Ray selbst als „Darsteller“ auf: In den Filmen Entr’acte und Cinè-sketch von René Clair spielte er an der Seite von Duchamp, Picabia, Eric Satie und Bronia Perlmutter, Clairs späterer Frau. 1926 kam endlich ein finanzieller Erfolg für Man Ray: Der amerikanische Börsenspekulant Arthur S. Wheeler und dessen Frau Rose traten mit der Absicht, ins Filmgeschäft einzusteigen, an den Künstler heran. Die Wheelers wollten Man Rays Filmprojekte „ohne Auflagen“ fördern, nur sollte ein Film innerhalb eines Jahres fertiggestellt sein. Arthur Wheeler sicherte Man Ray eine Summe von 10.000 Dollar zu. Kurzum übergab Man Ray alle kommerziellen Aufträge an seine neue Assistentin Berenice Abbott und konzentrierte sich ob der neugewonnenen künstlerischen Freiheit völlig auf das neue Filmprojekt. Im Mai 1926 begann Man Ray mit den Dreharbeiten in Biarritz. Im Herbst kam schließlich der fast zwanzigminütige mit Jazzmusik von Django Reinhardt unterlegte Film Emak Bakia in Paris zur Aufführung; die Premiere in New York fand im darauf folgenden Frühjahr statt. Man Ray skizzierte sein Werk als „Pause für Reflexionen über den gegenwärtigen Zustand des Kinos.“ Emak Bakia basierte ohne bestimmte Handlung auf Improvisationen, die mit Rhythmik, Geschwindigkeit und Licht spielen und somit auf das Medium Film an sich reflektieren. Der Film sollte ein cinepoeme, eine „visuelle Poesie“ sein, wie Man Ray auch im Untertitel betonte. Der Film wurde ambivalent aufgenommen. Man Ray, der zumeist alles genau einplante, hatte für mögliche Kritiker bereits eine passende Erklärung: „Man kann sich auch mit der Übersetzung des Titels ‚Emak Bakia‘ befassen: Das ist ein hübscher alter baskischer Ausdruck und bedeutet: Gib uns eine Pause.“ Die Kritiker gewährten Man Ray diese Pause und ignorierten den Film. Das Medium Film galt zu der Zeit nicht als Kunst und so blieb Emak Bakia außerhalb der New Yorker Avantgarde unbekannt. Etwa einen Monat nach seinem enttäuschenden New Yorker Filmdebüt kehrte Man Ray nach Paris zurück. Mit seinem Assistenten Jacques-André Boiffard produzierte er noch zwei weitere surreale Filme ähnlicher Art: L’Étoile de mer (1928) und Le Mystère du château de dés (1929). Mit Einführung des Tonfilms und des Aufsehen erregenden Erfolges von Buñuels und Salvador Dalís L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter) verlor Man Ray jedoch weitgehend das Interesse an dem Medium. 1932 verkaufte er seine Filmkamera. Während seiner „Exilzeit“ in Hollywood Anfang der 1940er sollte er sich noch ein letztes Mal kurz dem Film zuwenden. Anfang der 1930er Jahre widmete sich Man Ray fast ausschließlich der Fotokunst, nachdem er der Malerei wieder einmal eine klare Absage erteilt hatte: „Malerei ist tot, vorbei […] ich male nur noch manchmal um mich gänzlich von der Nichtigkeit der Malerei zu überzeugen.“. Die Rayographie – er verwandte den Begriff mittlerweile für sein gesamtes fotografisches Œuvre – kam für Man Ray mittlerweile der Malerei gleich. Vergleichsweise ähnlich arbeiteten zu der Zeit nur Raoul Hausmann, El Lissitzky, Moholy-Nagy und Christian Schad. Modefotografie, Solarisation, Farbe Neben progressiven Publikationen wie VU oder Life, die sich vornehmlich der künstlerischen Fotografie widmeten und große Bildstrecken veröffentlichten, wurden bald auch Modezeitschriften wie Vogue oder Harper’s Bazaar auf den erfindungsreichen Fotokünstler aufmerksam. Bereits 1922 hatte Man Ray Modefotografien für den Modeschöpfer Paul Poiret angefertigt. Ab 1930 machte er schließlich regelmäßig Modeaufnahmen für Vogue und Harper’s. Bekannte Aufnahmen aus der Zeit zeigen beispielsweise die Modeschöpferinnen Coco Chanel oder Elsa Schiaparelli (ca. 1934/35). Im Zuge der „realen“ Modefotografie verließ Man Ray dabei den rein abstrakten Fotogramm-Stil und konzentrierte sich auf surreal-traumhafte Arrangements, die er mit experimentellen Techniken mischte: so arbeitete er in der Zeit oft mit Spiegelungen und Doppelbelichtungen. Eine bekannte Serie war das Portfolio electricité (1931) als edle Werbepublikation für die Pariser Elektrizitätswerke CPDE. Die Mappe entstand in Zusammenarbeit mit Lee Miller, einer jungen, gut aussehenden ambitionierten und ehrgeizigen Amerikanerin, die fest entschlossen war, Man Rays Schülerin zu werden. Miller war im Februar 1929 auf ein Empfehlungsschreiben von Edward Steichen nach Paris gekommen und arbeitete bald mit Man Ray vor und hinter der Kamera zusammen. Mit ihr perfektionierte Man Ray seine bis dato streng geheim gehaltene Technik der Solarisation und Pseudo-Solarisation (Sabattier-Effekt) und erreichte durch die scharfe kontrastreiche Trennung des Effektes völlig neue Möglichkeiten in der Bildsprache. Lee Miller überzeugte auch als Modell vor der Kamera: Die eleganten Akte und Modefotos mit der schönen, unterkühlt wirkenden Blondine glichen durch die neue akzentuierende, aber nicht völlig abstrahierende Solarisationstechnik anatomischen Studien. Zu dieser Zeit experimentierte Man Ray auch mit der Farbfotografie, dabei entdeckte er eines der ersten Verfahren, um druckfähige Papierabzüge von Farbnegativen herzustellen. 1933/34 veröffentlichte das surrealistische Künstlermagazin Minotaure ein Farbbild Man Rays, zwei Jahre bevor der erste Kodachrome-Film auf den Markt kam. In Minotaure hatte Man Ray zuvor Les Larmes als schwarzweiße Bildstrecke veröffentlicht. Lee Miller Die Zusammenarbeit mit Lee Miller hatte eine irritierende Wirkung auf Man Ray. Im Gegensatz zu seinen früheren Modellen und Geliebten, wie der unbefangenen Kiki, war Miller sexuell unabhängig, intelligent und sehr kreativ. Aus der Faszination für Lee entwickelte sich bald eine merkwürdig obsessiv-destruktive Liebesbeziehung, die sich auch in Man Rays Werk niederschlug. Seine Sujets drehten sich zunehmend um sadomasochistische Phantasien, bekamen sexualfetischistischen Charakter und spielten mit dem Gedanken der weiblichen Unterwerfung, angedeutet bereits in seinem berühmten Object of Destruction (1932), einem Metronom, das in seiner bekanntesten Version mit einer Fotografie von Lee Millers Auge versehen war und im Original in Stücke geschlagen wurde, bis hin zu seinem bekanntesten Ölbild A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux (Die Sternwartenstunde – Die Liebenden, 1932–1934), das mutmaßlich Lees Lippen zeigt, aber die Assoziation mit einer überdimensionalen Vagina weckt, die über einer Landschaft schwebt. Der Künstler zerstört „sein“ Modell, reduziert oder idealisiert es, wie schon in früheren Arbeiten, zum Objekt seiner Begierde. Man Ray war zunehmend fasziniert von den Schriften des Marquis de Sade; einige seiner Arbeiten weisen direkt auf de Sades Gedankengut hin, so z. B. ein Porträt von Lee Miller mit einem Drahtkäfig über dem Kopf, ein Frauenkopf unter einer Glasglocke oder Fotografien mit gefesselten, entpersonalisierten Frauenkörpern. Letztlich scheiterte die künstlerische wie private Beziehung zwischen Man Ray und Lee Miller, 1932 kehrte Miller nach New York zurück. Sie wurde später eine berühmte Kriegsfotografin. Das Ende der Pariser Jahre Mit dem Weggang Lee Millers vollzog sich ein kreativer Einbruch in Man Rays Schaffen. In den Folgejahren bis zu seiner Flucht nach Amerika 1940 machte er eher durch Ausstellungen, die sein internationales Renommee als Künstler festigten, als durch stilistische Innovationen auf sich aufmerksam. Seine kommerziellen Modefotografien waren zwar perfekt und routiniert in Szene gesetzt, dennoch lieferten sie keine wirklichen neuen kreativen Impulse. Neben dem aufkommenden modernen Fotojournalismus mit seinen „neuen“ innovativen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Chim und Robert Capa in ihrer politischen Emotionalität wirkten Man Rays kühle Studioproduktionen mittlerweile „statisch“ und überkommen. Bald verdrängten lebendige Straßenreportagen, wie die des sehr viel jüngeren Robert Doisneau oder die eines Brassaï, der anfangs ebenso surrealistische Ansätze verfolgt hatte, Man Rays Kunstfotografie aus den Magazinen. Der Surrealist Louis Aragon zog auf einem Pariser Kultursymposium 1936 einen direkten Vergleich zwischen dem „Schnappschußfotografen“ Henri Cartier-Bressons und dem Studiofotografen Man Ray: „… er (Man Ray) verkörpert das Klassische in der Fotografie […] eine Atelierkunst mit allem was dieser Begriff bedeutet: vor allem der statische Charakter der Fotografie […] im Unterschied dazu die Fotografien meines Freundes Cartier, die im Gegensatz zu der friedlichen Nachkriegszeit steht und wirklich durch ihren beschleunigten Rhythmus zu dieser Zeit der Kriege und Revolutionen gehört.“ Man Ray beobachtete diese Entwicklung ebenso wie Aragon, schloss sich aber dem „neuen“ Trend der schnelllebigen realistischen Fotografie letztlich nicht an; vielmehr zog er sich noch mehr in seine eigene Traumwelt zurück. Zeitweise gab er die Fotografie – mit Ausnahme einiger kommerzieller Modefotos – sogar völlig auf und wandte sich wieder der Malerei zu. Er fühlte sich in der Entscheidung bestätigt, als A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux bei einer großen Retrospektive surrealistischer Kunst im New Yorker Museum of Modern Art großen Anklang fand. Das Gemälde war Man Ray so wichtig, dass er es immer wieder in zahlreichen Fotografien einbrachte: Modefotos, Selbstporträts und Aktaufnahmen. Der Bildhauer Alberto Giacometti machte Man Ray um 1934 mit der jungen Künstlerin Meret Oppenheim bekannt. Oppenheim stand ihm Modell in der Fotoserie Érotique voilée (1934). Die berühmteste Aufnahme zeigt Oppenheim nackt, mit von Druckerschwärze beschmierter Hand vor einer Kupferstichpresse. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden auch zwei weitere wichtige Arbeiten: Die Bücher Facile (1935) und La Photographie n’est pas l’art (1937). Facile entstand mit Man Rays altem Freund Paul Éluard und dessen zweiter Frau Nusch. Das Buch bestach durch feinste, teils solarisierte teils invertierte oder doppelbelichtete Aktfotografien von Nusch Eluard und ein neuartiges Layout, welches, ausgewogen zwischen Text und Bild, viel meditative Weißfläche ließ, um das Gefühl von Unendlichkeit zu evozieren. Neben Nusch Eluard ist nur ein Paar Handschuhe abgebildet. Das andere Werk La Photographie n’est pas l’art war eher eine Mappe, die in der Zusammenarbeit mit Breton entstand. Es sollte eine fotografische Antithese zu Man Rays Fotografien der 1920er Jahre werden: Zeichneten sich diese durch die Abbildung „schöner“ Dinge aus, so lieferte La Photographie n’est pas l’art mit harten, teilweise abstoßenden und verstörenden Sujets eine sarkastische Antwort auf die durch Krieg und Zerfall bedrohte Gesellschaft der ausgehenden 1930er Jahre. Die fatalen Auswirkungen des Nationalsozialismus zeigten sich bald in Paris. Spätestens ab 1938 hatte sich die Situation in der einstmals gastfreundlichen Metropole drastisch verändert; die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung eskalierte in Gewalttaten gegenüber allem „Ausländischen“. Für Man Ray, den Einwanderer mit jüdischen Vorfahren, war dies nicht mehr der Ort, an dem er noch vor fast zwanzig Jahren so freundlich empfangen wurde. Das Ende seiner Pariser Zeit war gekommen. Den letzten großen Auftritt, bevor er nach Amerika ging, hatte er 1938 bei der Exposition Internationale du Surréalisme in Georges Wildensteins Galerie Beaux-Arts in Paris, die für ihn den ganz persönlichen Höhepunkt des Surrealismus markierte. Von nun an wurde Man Rays Bildsprache zunehmend düsterer und pessimistischer. Ein wichtiges malerisches Resümee auf seine „schönen Pariser Zeiten“ sollte das Gemälde Le Beau Temps werden, das 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und seiner Abreise nach Amerika entstand. Es ist sowohl autobiografische Bilanz wie künstlerische Situationsbeschreibung. Das Bild hat einen ähnlichen Aufbau wie viele Werke der Pittura metafisica: Das Bild ist nicht nur eine Bilanz seines bisherigen Œuvres, sondern es weist auch zugleich etliche autobiografische Elemente auf; der Minotaurus ist beispielsweise ein stilistischer Fingerzeig auf Picasso, mit dem Man Ray befreundet war und den er zeitlebens bewunderte. Mit Picasso, Dora Maar, den Eluards, sowie Lee Miller und Roland Penrose hatte Man Ray zusammen mit seiner damaligen Geliebten Adrienne viele glückliche Stunden im Süden Frankreichs verbracht. Die Tür schließlich ist eine Anspielung auf André Breton, der Auseinandersetzung mit dem Surrealismus und dessen Verklausulierung einer „Tür zur Realität“. Für Man Ray schien sie den schmerzhaften Eintritt in eine neue Realität zu bedeuten oder ein Symbol für „Die Tür hinter sich schließen“. Sehr bald nach Fertigstellung des Werkes sollte eine Odyssee quer durch Europa beginnen. Nach einer fehlgeschlagenen Flucht aus Paris per Flugzeug gelangte er schließlich per Zug über Spanien nach Portugal. Am 8. August 1940 schiffte er sich in Lissabon an Bord der Excambion nach New York ein. Im Exil in Amerika 1940–1951 Im Spätsommer 1940 kam Man Ray im Hafen von New York an. Obwohl noch amerikanischer Staatsbürger, war er in seinem Geburtsland ein Fremder. Er ließ nicht nur seine Freunde und seinen Status als Künstler in Paris zurück, sondern auch seine wichtigsten Werke der letzten zwanzig Jahre: Fotografien, Negative, Objekte und zahlreiche Gemälde, einschließlich seines Meisterwerkes A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux. Die meisten Arbeiten hatte er wohl bei Freunden versteckt, dennoch sind zahlreiche Arbeiten im Krieg zerstört worden oder verschollen. Bei seiner Ankunft wurde Man Ray von einer tiefen Depression erfasst. Überdies erregte sein Reisegefährte und Freund, der exaltierte Salvador Dalí, sofort die Aufmerksamkeit der Fotoreporter, während er in Bedeutungslosigkeit versank. Dalí hatte es die ganzen Jahre zuvor verstanden, seinen Namen und seine Kunst auch in Übersee publik zu machen, wohingegen sich Man Ray fast ausschließlich in Europa aufgehalten hatte; so war es nicht verwunderlich, dass die Amerikaner so gut wie nichts über ihn wussten. Bei einer Ausstellungsbeteiligung im Museum of Modern Art im Dezember 1940 wurden lediglich drei alte Fotoarbeiten aus den 1920er Jahren von ihm gezeigt, die neben einer Vielzahl neuerer Arbeiten der „Daheimgebliebenen“ Edward Weston und Alfred Stieglitz wenig Beachtung fanden. Ungeachtet des fehlenden künstlerischen Ruhms fand Man Ray zwar schnell Aufträge als kommerzieller Fotograf, der Kampf indes, als Künstler jemals wieder Anerkennung zu finden, sollte Man Ray für den Rest seines Lebens beschäftigen. Ohne Förderer oder respektable Galerie sah die Situation für ihn als Künstler in New York schlecht aus und so hielt ihn dort nichts. Hatte der frankophile Man Ray zunächst New Orleans in Erwägung gezogen, folgte er wohl dem allgemeinen Ruf, dem damals viele Europäer folgten, nach Hollywood zu gehen. Während des Krieges unterstützte Los Angeles, vor allem die ansässigen Filmstudios, mehr als jede andere US-amerikanische Stadt die Kunstszene. Bereits im November 1940 traf Man Ray in Hollywood ein. Da dort bereits einstige Kollegen von ihm wie Luis Buñuel und Fritz Lang erfolgreich arbeiteten, hoffte auch er wieder im Filmgeschäft Fuß zu fassen; doch dies sollte sich als Irrtum erweisen: An „Kunst“ in Man Rays Sinne waren die kommerziell orientierten Studiobosse nicht interessiert. Seine Karriere beim Film sah er damit bald beendet. Enttäuscht rekapitulierte Man Ray später in seiner Autobiografie, dass er „… die Kamera in dem Wissen beiseite legte, dass sein Ansatz beim Filmen ein vollkommen anderer war als das, was die Industrie und die Öffentlichkeit von ihm erwartete“. Dennoch blieb er elf Jahre in Hollywood und arbeitete als inoffizieller Berater bei Filmprojekten mit oder steuerte Objekte oder Gemälde als Requisiten bei. Sein einziger erwähnenswerter Beitrag blieb Ruth, Roses and Revolvers (1945), eine Drehbuch-Episode für den zwei Jahre später fertiggestellten Film Dreams That Money Can’t Buy von Hans Richter, an dem auch Alexander Calder, Marcel Duchamp, Max Ernst und Fernand Léger mitwirkten. Man Ray widmete sich in diesen Jahren wieder verstärkt der Malerei, nur gelegentlich griff er noch zum Fotoapparat und wenn, dann war seine zweite Frau Juliet das Hauptmotiv. Juliet Browner, die Man Ray 1940 in Hollywood kennengelernt hatte, war jung und lebendig und inspirierte ihn stets zu neuen Ideen. Von Juliet entstanden zahlreiche Porträtserien, die er sein Leben lang ergänzte. Einen ähnlich starken Einfluss auf den Künstler hatten zuvor nur seine erste Frau Adon Lacroix, Kiki de Montparnasse und Lee Miller. Mitte der 1940er Jahre begann Man Ray vereinzelt Vorlesungen über Dadaismus und Surrealismus zu halten. In der Zeit entstanden zahlreiche Objekte, die Man Ray Objects Of My Affection nannte. Zehn dieser Objekte stellte er 1946 bei der Ausstellung Pioneers of Modern Art in America im New Yorker Whitney-Museum aus. Die neuen Arbeiten zeugten von Humor und einer gewissen Selbstironie, so bezeichnete Man Ray das Object Silent Harp (1944), das aus einem Geigenhals bestand, als „Violon d’Ingres eines frustrierten Musikers. Er kann Farbe so selbstverständlich hören, wie er Töne sehen kann.“. Am 24. Oktober 1946 heirateten er und Juliet Browner in einer Doppelhochzeit zusammen mit Max Ernst und Dorothea Tanning in Beverly Hills. Um 1947 erhielt Man Ray die frohe Botschaft aus Paris, dass sein Haus in Saint-Germain-en-Laye und zahlreiche seiner Arbeiten vom Krieg verschont worden waren. Zusammen mit Juliet machte er sich im Sommer auf den Weg nach Paris, um den Fundus zu sichten. Bis auf das Gemälde Le Beau Temps verschiffte Man Ray alle Arbeiten nach Hollywood. Im Herbst desselben Jahres kehrte er nach Amerika zurück. 1948 kombinierte er die aus Paris überführten Arbeiten mit dem neuen abstrakt-geometrischen Gemäldezyklus Equations for Shakespeare für eine Ausstellung unter dem Titel Paintings Repatriated from Paris in der William Copley Gallery in Los Angeles. Genau genommen waren die Equations for Shakespeare eine Neuaufnahme einer bereits vor zehn Jahren in Paris begonnenen Serie. Für die Ausstellung in der Copley Gallery entstand der aufwendige Katalog To Be Continued Unnoticed der als ungebundene Mappe nebst Ausstellungsverzeichnis auch zahlreiche Reproduktionen von Werkzeichnungen, Objekten und Fotoarbeiten sowie Ausstellungskritiken früherer Jahre im charakteristischen Nonsens-Stil der damaligen Dada-Zeitschriften in einem konzeptionellen Kontext zusammenfasste. Die Ausstellungseröffnung am 13. Dezember 1948 war ein großes Ereignis und erinnerte noch einmal an die „guten“ Pariser Jahre. Zahlreiche internationale bildende Künstler, Schriftsteller und Filmemacher zählten zu den Gästen des Café Man Ray, wie die Vernissage in Anspielung auf die Pariser Kaffeehäuser genannt wurde. Man Rays Ausstellung war zugleich Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens in Los Angeles. Ungeachtet des respektablen Erfolgs an der Westküste empfand Man Ray die Resonanz des Publikums in den USA als zu gering und so lag es nahe, dass er 1951 wieder nach Paris zurückkehrte. Rückkehr nach Paris 1951–1976 Im Mai 1951 bezog Man Ray mit seiner Frau Juliet eine Pariser Studiowohnung in der Rue Férou, die er bis zu seinem Lebensende bewohnte. In den Folgejahren wurde es trotz intensiver Ausstellungsbeteiligungen in Europa und Übersee ruhiger um den Künstler, der sich nun bevorzugt der abstrakten Variationen respektive der Reproduktion früherer Arbeiten (unter anderem Cadeau, Reproduktion 1974) widmete und gelegentlich mit der Farbfotografie experimentierte. Auch die Porträtfotografie verfolgte er weiterhin; so entstanden in den 1950er/1960er Jahren u. a. Fotografien von Juliette Gréco, Catherine Deneuve und anderen Künstlerkollegen. Zu dieser Zeit entstanden auch Arbeiten in Acryl, wie die so genannten Natural Paintings zwischen 1957 und 1965, in denen er mit zufälligen Anordnungen pastoser Acrylaufstriche experimentierte (Decembre ou le clown, Othello II, 1963). 1958 nahm er an der Ausstellung Dada, Dokumente einer Bewegung im Kunstverein Düsseldorf und an einer Dada-Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam teil. Im Folgejahr 1959 arbeitete er als kinematografischer Berater an der kurzen filmischen Dokumentation Paris la belle von Pierre Prévert mit. 1960 war er auf der Photokina in Köln vertreten; auf der Biennale von Venedig erhielt er 1961 die Goldmedaille für Fotografie. 1963 legte Man Ray in London seine Autobiografie Self-Portrait vor. Zum fünfzigsten Jubiläum des Dadaismus 1966 nahm Man Ray an einer großen Dada-Retrospektive teil, die in Paris im Musée National d’Art Moderne, im Kunsthaus Zürich und im Civico Museo d’Arte Contemporanea in Mailand gezeigt wurde. 1966 erhielt Man Ray seine erste große Retrospektive im Los Angeles County Museum of Art. Anlässlich seines 85. Geburtstages fand 1974 eine von Roland Penrose und Mario Amaya organisierte Einzelausstellung mit 224 Werken unter dem Motto Man Ray Inventor-Painter-Poet im New York Cultural Center statt, die anschließend 1975 im Institute of Contemporary Arts in London, der Alexander Iolas Gallery in Athen und schließlich im Palazzo delle Esposizioni in Rom gezeigt wurde. Man Ray starb am 18. November 1976 in Paris. Er wurde auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteins lautet: “unconcerned, but not indifferent” (unbekümmert, aber nicht gleichgültig). Im Jahr 1984 widmete der Kunstverein Ingolstadt Man Ray eine Ausstellung. Seine Frau Juliet Browner Man Ray kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1991 um den Nachlass von Man Ray und spendete zahlreiche seiner Arbeiten an Museen. Sie gründete die Stiftung „Man Ray Trust“. Die Stiftung besitzt eine große Sammlung von Originalarbeiten und hält die Urheberrechte des Künstlers. Juliet wurde neben Man Ray beigesetzt. Werke Fotografien Man – Woman, 1918 Dust Raising, 1920 The Enigma of Isidore Ducasse (The Riddle), 1920 Larmes (Glass Tears), versch. Versionen, 1920–1933 KEEP SMILING – dadaphoto, 1921 Marquise Casati, 1922 Kiki im Café, etwa 1923 Le Violon d’Ingres, 1924 Noire et blanche, 1926 Mr and Mrs Woodman, 1927–1945 La Prière, 1930 L’œuf et le coquillage, 1931 Nature Morte, Silbergelatineabzug, 1933; ex: Ambroise Vollard Érotique voilée, 1934 Dora Maar, 1936 Space Writings, 1937 Selfportrait, 1963 La Télévision, 1975 Ferner: Diverse Porträtfotografien (-serien) berühmter Personen aus Kunst und Kultur, die größtenteils in den 1920er Jahren entstanden sind Zahlreiche, teilweise unbetitelte Fotoserien, die das Bild A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux im Hintergrund zeigen Malerei Ramapo Hills, 1914/15 Arrangement of Forms, No. 1, 1915 The Revolving Doors, 1916/17, zehn Serigrafien La Volière (Aviary), 1919 Une nuit à Saint-Jean-de-Luz, 1929 A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux, 1932–1934 La Fortune, 1938 Le Rebus, 1938 Imaginary Portrait of D.A.F. de Sade 1938 Le Beau Temps, 1939 Juliet 1943 Objekte Lampshade, 1919 Obstruction, 1920 Schachspiel (Chessboard), 1920 (Neufassung 1945) The Object to be Destroyed, 1921 (Object of Destruction, 1932, Lost Object 1945; Indestructible Object, 1958; Last Object, 1966; Perpetual Motif, 1972) Catherine Barometer, 1920 Cadeau, 1921, Bügeleisen mit Reißnägeln (Neufassung 1971) Table for Two, 1944, Holztisch Silent Harp, 1944, Geigenhals, Spiegel und Gitter mit Pferdehaaren Optical Hopes and Illusions, 1945, hölzerner Banjorahmen mit Ball und Spiegel Viele Objekte Man Rays entstanden einzig zu dem Zweck fotografiert zu werden und wurden anschließend zerstört Filmografie 1923: Le retour à la raison 1923: Rue Campagne-Première 1924: À quoi rêvent les jeunes films 1927: Emak Bakia 1928: L’Étoile de mer 1929: Corrida 1929: Les mystères du château de Dé 1930: Autoportrait ou Ce qui manque à nous tous 1933: Poison 1935: Essai de simulation de délire cinématographique 1935: L’atelier du Val de Grâce 1937: Course landaise 1937: La Garoupe 1938: Ady 1938: Dance 1940: Juliet Rezeption Man Ray blieb vielen Menschen rätselhaft, schwer zugänglich und fand erst spät Beachtung. Allein der Umfang seines vielschichtigen Gesamtwerks erschwert eine formale Erschließung und somit die Kategorisierung in bestimmte Stile. Er vereinigte nahezu sämtliche Richtungen der modernen Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts, weshalb er oft verallgemeinernd als „Modernist“ oder „Erneuerer des Modernismus“ bezeichnet wurde. Man Ray war neben Marcel Duchamp und Francis Picabia zwar die treibende Kraft des New York Dada, stand aber schon dort deutlich an der Schwelle zum Surrealismus. André Breton bezeichnete Man Ray als einen „Prä-Surrealisten“, weil viele seiner Werke richtungsweisend für die spätere Bewegung waren. Obwohl Man Ray zeitlebens viele Schriftstücke mit kunsttheoretischen Ansätzen und Betrachtungen verfasste, war er selbst nie wirklich an einer Manifestation respektive am dogmatischen Überbau einer bestimmten Kunstrichtung interessiert oder beteiligt. Mit dieser teilweise aus der Not geborenen „Außenseiterposition“ und dem drängenden Wunsch, sich ständig neu zu erfinden, folgte er wahrscheinlich seinem Freund und Mentor Duchamp. Der französische Museumsdirektor und Ausstellungsmacher Jean-Hubert Martin skizzierte Man Ray als „einen unermüdlichen Wanderer im grenzenlosen Reich der Kreativität. […] In der Fotografie hat er alles ausprobiert ohne sich jemals in Konventionen einschließen zu lassen. Sein Werk ist unglaublich vielfältig und quantitativ bis heute nicht voll erfasst. […] Seine zahlreichen Objekt-Assemblagen, die aus allem möglichen zusammengesetzt sind, wirken anregend für die Phantasie.“ Typisch für Man Rays Werk ist die Idee der ständigen mechanischen Wiederholung und Reproduktion, auch in kommerzieller Hinsicht, womit er ein grundlegendes Prinzip Andy Warhols sowie der Pop Art im Allgemeinen vorwegnimmt. Mit Warhol hat Man Ray auch biographische Gemeinsamkeiten: beide stammten aus armen Immigrantenfamilien und verkehrten später in höheren Gesellschaftskreisen, von denen sie zumeist ihre Aufträge bezogen, waren aber im Wesentlichen Einzelgänger. Man Ray war einer von Warhols Helden, so dass Warhol, als er es sich leisten konnte, eine Reihe seiner Fotografien, Gemälde und frühen Bücher erwarb. Der Turiner Galerist Luciano Anselmino (1943-1979) vermittelte den Kontakt zwischen Man Ray und Andy Warhol. Seine „Galleria ll Fauno“ war auf Surrealismus und Pop Art spezialisiert und stellte Künstler wie Max Ernst, Marcel Duchamp, Man Ray und Andy Warhol aus. Am 30. November 1973 fotografierte Andy Warhol Man Ray in seinem Atelier in Paris. Man Ray war damals 83 Jahre alt. Laut Timothy Baum hatte Man Ray noch nie von Andy Warhol gehört. Luciano Anselmino beauftragte Andy Warhol zunächst mit einer Grafikserie mit dem Porträt von Man Ray, später mit drei verschiedenen Porträts von Man Ray auf drei verschiedenen großen Leinwänden in Acryl und Siebdruck. Die Werke wurden ab 1974 in der Galerie Il Fauno - Alexander Iolas in Mailand ausgestellt. Bedeutung für die Fotografie Man Ray kam von der Malerei zur Fotografie und hob dabei die Grenzen zwischen der „dokumentarisch-utilitaristischen“ und der „kreativen“ Fotografie auf: Zum einen lieferte er als Zeitzeuge wichtige Fotodokumente aus den „Kinderjahren“ der modernen zeitgenössischen Kunst des 20. Jahrhunderts, zum anderen erweiterte er durch seine Experimentierfreude das Spektrum der damaligen „Lichtbildnerei“, in einer Zeit, als man glaubte, „alles sei schon durchfotografiert worden.“ Er porträtierte fast sämtliche bedeutenden Personen des kulturellen Zeitgeschehens im kreativen Zenit des Paris der 1920er Jahre und schuf damit ein Œuvre wie vor ihm nur Nadar. Man Ray löste mit seiner Vielfalt der Techniken, der Fotocollage, dem Rayogramm – respektive der Solarisation – einen wichtigen Impuls für den Surrealismus aus. Indem er die gewöhnliche Bedeutung der Objekte aufhob und ihnen eine traumhaft-sinnliche, sogar erotische Komponente zukommen ließ, unterschied er sich von seinen europäischen Zeitgenossen wie Moholy-Nagy oder Lissitzky, die, ganz dem Gedanken des Bauhauses und des Konstruktivismus folgend, das nüchterne gegenstandslose Abbild suchten. Der Kunsttheoretiker Karel Teige bezeichnete ihn hingegen als „zweitrangigen kubistischen Maler, der dank der Mode jener Zeit zum Dadaisten wurde, aufhörte zu malen und begann, metamechanische Konstruktionen – den suprematischen Konstruktionen der Russen Rodtschenko und Lissitzky ähnlich – zu konstruieren um sie schließlich mit genauer Kenntnis des fotografischen Handwerks zu fotografieren.“. Womit Man Rays Dilemma, dass die Fotografie lange nicht als „Kunst“ angesehen wurde, deutlich wird: Die von Literaten beherrschten Dadaisten schätzen ihn als Freund und Dokumentaristen, die künstlerische Anerkennung als Maler und Fotograf verwehrten sie ihm jedoch. Während ihn die meisten zeitgenössischen amerikanischen Künstlerkollegen und Kritiker wie Thomas Hart Benton eher distanziert-abwertend als „Handwerker“ betrachteten – da ja die Fotografie „untrennbar“ mit der Mechanik verbunden sei und allenfalls Alfred Stieglitz, Paul Strand und Edward Steichen anerkannten – war einzig Georgia O’Keeffe, die sich selbst mit den Möglichkeiten der Fotografie befasste, bereit ihn als „jungen Maler mit ultramodernen Tendenzen“ hervorzuheben. Der Kritiker Henry McBride nannte ihn anlässlich einer Ausstellung in der Vallentine Gallery in New York „… einen Ursprungs-Dadaisten und den einzigen von Bedeutung, den Amerika produziert hat.“ Für viele Fotografen und Filmemacher war Man Ray Berater, Entdecker, Lehrmeister und spiritus rector zugleich: unter ihnen finden sich bekannte Namen wie Eugène Atget, Berenice Abbott, Bill Brandt oder Lee Miller. Bedeutung für den Film Man Ray produzierte nur vier kurze Filme in den 1920ern, die, neben Buñuels und Salvador Dalís Aufsehen erregenden Werken Ein andalusischer Hund (1928) und L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter), als Pionierarbeiten des poetisch-surrealistischen Experimentalfilms gelten. Darüber hinaus wirkte er zumeist beratend bei anderen Filmproduktionen mit. Durch seine Bekanntschaften mit René Clair, Jean Cocteau und anderen Filmschaffenden Anfang der 1930er Jahre hat sich Man Ray auch mit dem poetischen Realismus des französischen Films auseinandergesetzt. Der stilistische Einfluss Man Rays auf die Kinematographie findet sich in zahlreichen Kunstfilmen wieder; so unter anderem bei Marcel Carné, Jean Genet oder Jean Renoir oder in den Undergroundfilmen der Nachkriegszeit von beispielsweise Kenneth Anger, Jonas Mekas oder Andy Warhol. Bedeutung für die Malerei In der Malerei rekapitulierte und reproduzierte Man Ray innerhalb kürzester Zeit, explizit von 1911 bis 1917, fast sämtliche Stile seiner Zeitgenossen: Angefangen beim Impressionismus führte ihn die fast zwanghafte Suche nach einer eigenen Ikonografie zu futurokubistischen Stilelementen, die sich teilweise auch in Picabias Werken wiederfinden. Man Ray stand damit malerisch an einen Scheideweg, der kennzeichnend für den beginnenden Präzisionismus als erste „eigene“ amerikanische Kunstrichtung und als Trennung von der europäischen Moderne zugleich war. Man Ray beschritt jedoch nicht den tradierten Weg des Tafelbildes. Der Prozess seiner Bildfindung glich eher einem seriellen Prozess, der getrieben war von der Suche „nach einem System, das den Pinsel ersetzen, ihn sogar übertreffen könnte.“ Zwischen 1917 und 1919 führte Man Ray mit Hilfe von Spritzpistolen und Schablonen die von ihm weiterentwickelte Aerographie als „maschinelles“ multifunktionales Stilmittel in die Malerei ein. Damit nahm er das Konzept der Warholschen Serigrafien und ihrer beliebigen Reproduzierbarkeit vorweg. In dem lyrisch abstrahierten kubistischen Werk Revolving Doors (1916/17) zeigt Man Ray in Collagen aus transparenten Papieren chromatische Überlagerungen, die einem konstruktivistischen Prinzip folgen und scheinbare „Standbilder“ eines kinetischen Kunst-Apparates sind, wie er später, 1930, unabhängig von Man Ray im Bauhaus als „Licht-Raum-Modulator“ bei Moholy-Nagy zu finden ist. Die Revolving Doors legte Man Ray 1926 als Serie auf. Im Gegensatz zu seinen signifikanten Fotografien und Objekten wirkt Man Rays malerisches Werk weniger „verspielt“ und unzugänglicher und gipfelt letztlich in seinem surrealen Meisterstück A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux (1932–1934), von dem Man Ray so angetan war, dass er es selbst immer wieder rezipierte. Seine späteren Werke schöpfen aus dem synthetischen Kubismus, greifen Ideen seiner New Yorker Jahre auf oder lehnen sich in Bildern wie La Fortune II an René Magrittes verschlüsselte Tautologien und die bühnenhaften Kompositionen der Pittura metafisica an. An die malerischen Tendenzen der Moderne nach 1945 konnte Man Ray indes nicht anknüpfen. Kritiker wie der Surrealismusexperte René Passeron stuften Man Rays Bedeutung für die Malerei gleichwohl als weniger relevant ein: „Wäre Man Ray nur Maler gewesen, so würde er bestimmt nicht zu den wichtigsten bildenden Künstlern des Surrealismus gehören.“ Ehrungen 2017 wurde eine auf Kuba heimische Spinne nach ihm benannt: Spintharus manrayi. Literatur Schriften von Man Ray (Auswahl) Alphabet for Adults. Copley Gallery, Beverly Hills, 1948. Analphabet. Nadada Editions, New York, 1974. Les Champs délicieux. Société Generale d’Imprimerie, 1922. New York Dada. Im Eigenverlag mit Marcel Duchamp, New York, 1921. A Note on the Shakespearean Equations. Copley Gallery, Beverly Hills, 1948. La Photographie n’est pas l’art. GLM, Paris, 1937. Man Ray, Selbstportrait. Eine illustrierte Autobiographie. Neuauflage, Schirmer/Mosel, München 1998, ISBN 978-3-88814-149-2. Monografien Merry Foresta, Stephen C. Foster, Billy Klüver, Julie Martin, Francis Naumann, Sandra S. Phillips, Roger Shattuck und Elisabeth Hutton Turner: Man Ray 1890–1976. Sein Gesamtwerk. Edition Stemmle, Schaffhausen 1989, ISBN 978-3-7231-0388-3. Man Ray Photograph. Neuauflage, Schirmer/Mosel, München 1997, ISBN 978-3-88814-187-4. Arturo Schwarz: Man Ray: The Rigour of Imagination. Rizzoli International, New York 1977. Patterson Sims (Vorwort), Francis M. Naumann: Conversion to Modernism: The Early Works of Man Ray. Rutgers University Press, New Brunswick u. a. 2003, ISBN 978-0-8135-3148-9, . Herbert R. Lottman: Man Ray’s Montparnasse. Verlag Harry N. Abrams, New York 2001, ISBN 978-0-8109-4333-9, (englisch). Man Ray, Manfred Heiting, Emmanuelle de L’Écotais: Man Ray 1890–1976. Neuauflage, Taschen Verlag, Köln 2004, ISBN 978-3-8228-3483-1. Man Ray – Aus Fundstücken des Alltags. In: Markus Stegmann: Architektonische Skulptur im 20. Jahrhundert. Historische Aspekte und Werkstrukturen, Dissertation, Wasmuth, Tübingen 1995, ISBN 978-3-8030-3071-9, S. 69–73. stern Spezial Fotografie: Man Ray. teNeues Verlag, 2004, ISBN 978-3-570-19444-7. Arthur Lubow: Man Ray : the artist and his shadows, New Haven : Yale University Press, 2021, ISBN 978-0-300-23721-4 Film Liebe am Werk: Lee Miller & Man Ray. (OT: L’amour à l’œuvre – Lee Miller et Man Ray.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2019, 26:22 Min., Buch und Regie: Stéphanie Colaux und Agnès Jamonneau, Produktion: Bonne Compagnie, arte France, Reihe: Liebe am Werk (OT: L’amour à l’œuvre. Couples mythiques d’artistes), Erstsendung: 28. April 2019 bei arte, Inhaltsangabe von ARD. Weblinks Man Ray Trust – Official Site (englisch) Datenbanken Man Ray in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken Fotos Man Ray Photo (französisch, englisch) Verschiedenes Dada in New York (englisch) Man Ray – Filme auf ubu.com (englisch) Linksammlung. artcyclopedia.com Anmerkungen, Einzelnachweise und Quellen Soweit nicht anders vermerkt, basiert der Hauptartikel auf den chronologisch voneinander abweichenden Monografien und Werkbetrachtungen von Merry Foresta, Stephen C. Foster, Billy Klüver, Julie Martin, Francis Naumann, Sandra S. Phillips, Roger Shattuck und Elisabeth Hutton Turner, die teilweise in gekürzter Fassung in der englischsprachigen Originalausgabe Perpetual Motif: The Art of Man Ray erschienen sind (deutsche Ausgabe: Man Ray – Sein Gesamtwerk), Edition Stemmle, Zürich, 1989, ISBN 3-7231-0388-X. Anmerkungen zur Technik basieren auf Floris M. Neusüss: Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. DuMont, Köln 1990, ISBN 3-7701-1767-0. Fotokünstler Fotograf (Paris) Fotograf (Vereinigte Staaten) Fotograf (20. Jahrhundert) Aktfotograf Künstler des Dadaismus Surrealismus Maler des Surrealismus Maler (Paris) Maler (Vereinigte Staaten) Filmregisseur Person (Stummfilm) Siebdruckkünstler (Vereinigte Staaten) Künstler (documenta) Teilnehmer einer Biennale di Venezia Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“ ’Pataphysik US-Amerikaner Geboren 1890 Gestorben 1976 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Immunologie
Immunologie
Die Immunologie oder Immunbiologie ist die Lehre von den biologischen und biochemischen Grundlagen der körperlichen Abwehr von Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie anderen körperfremden Stoffen wie beispielsweise biologischen Toxinen und Umweltgiften, und darüber hinaus von Störungen und Fehlfunktionen dieser Abwehrmechanismen. Sie ist damit eine Teildisziplin der Biologie. Forschungsgegenstand ist das Immunsystem, ein System von zellulären und molekularen Prozessen, welche die Erkennung und Inaktivierung von Krankheitserregern und körperfremden Substanzen realisieren. Diese Prozesse werden unter dem Begriff Immunantwort zusammengefasst. Aufgrund der zentralen Rolle des menschlichen Immunsystems bei einer Vielzahl von Erkrankungen ist die Immunologie in der Medizin für das Verständnis, die Prävention, die Diagnostik und die Therapie von Krankheiten von großer Bedeutung. Es gibt verschiedene Teilgebiete der Immunologie. Die Immunchemie untersucht die Struktur von Antigenen, Antikörpern und die chemischen Grundlagen der Immunreaktionen. Die Immungenetik untersucht die genetische Variabilität von Immunreaktionen, bzw. die Mechanismen der Erzeugung von Antikörpern, T-Zell-Rezeptoren und antigenpräsentierenden Komplexen. Die Immunpathologie und die klinische Immunologie untersuchen Störungen des Immunsystems, die beispielsweise im Falle von Allergien, bei der Bildung von Tumoren und bei Autoimmunkrankheiten auftreten. Geschichte Frühe Beobachtungen Die ältesten bekannten Aufzeichnungen, die Hinweise auf immunologisch relevante Phänomene enthalten, stammen aus dem Jahr 430 vor Christus. Der Geschichtsschreiber Thukydides stellte damals während der sogenannten Attischen Seuche in Athen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges fest, dass nur Menschen für die Versorgung der Erkrankten in Frage kamen, welche die Krankheit selbst bereits durchgestanden und überlebt hatten. Aus der Zeit um das Jahr 100 vor Christus sind erste Berichte aus China zu einer gezielten Übertragung der Pocken auf gesunde Menschen zum Zweck der Vorbeugung bekannt. Weite Verbreitung erlangte dieses Verfahren, bei dem Eiter von leicht Erkrankten mit einer Nadel auf Gesunde übertragen wurde, unter der Bezeichnung „Variolation“ seit dem 15. Jahrhundert vor allem in China, Indien und der Türkei. Durch Mary Wortley Montagu, die Ehefrau des britischen Botschafters in Konstantinopel, die ihren Sohn auf diese Weise impfen ließ, gelangte die Variolation ab etwa 1722 nach England und verbreitete sich in den folgenden Jahren auch im Rest Europas. Zur gleichen Zeit erfuhr der englische Landarzt Edward Jenner von Ärzten, mit denen er in Kontakt stand, dass Personen anscheinend nicht auf eine Pocken-Variolation ansprachen, wenn sie vorher an Kuhpocken erkrankt waren. Nach intensiver Beobachtung dieses Phänomens impfte er am 14. Mai 1796 den gesunden achtjährigen Jungen James Phipps mit Gewebsflüssigkeit, die er einer Pustel von einer mit Kuhpocken infizierten Milchmagd entnommen hatte. Nachdem der Junge den leichten Verlauf der Kuhpocken überstanden hatte, unterzog ihn Jenner mit einer echten Pocken-Variolation. Er entwickelte keine Pockensymptome, auch gegen wiederholte Variolationen und Pockenausbrüchen erwies er sich als immun. Im Vergleich zur Variolation bot Jenners Verfahren ("Vakzination") einige entscheidende Vorteile: Die mit Kuhpocken geimpften Personen wiesen nicht die für Pocken typischen Pusteln und die daraus resultierenden Narben auf, es gab keinen tödlichen Verlauf der Impfung und die geimpften Personen stellten selbst kein Ansteckungsrisiko dar. Edward Jenner gilt deshalb heute als Begründer der Immunologie. Beginn immunologischer Forschung Ein Meilenstein in der Entwicklung der Immunologie, der den Beginn der gezielten Forschung markierte, war die Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Tollwut im Jahr 1885 durch Louis Pasteur. Am 6. Juli 1885 impfte er damit den neunjährigen Joseph Meister, der zwei Tage zuvor von einem tollwütigen Hund gebissen worden war. Joseph Meister wurde damit der erste Mensch in der Geschichte der Medizin, der eine Tollwutinfektion überlebte. Innerhalb eines Jahres wurde diese Impfung bei 350 weiteren infizierten Personen angewendet, von denen keiner an Tollwut verstarb. Bereits drei Jahre vorher entdeckte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose und kurze Zeit später die Tuberkulin-Reaktion, die auf der Basis der Immunantwort den Nachweis einer Tuberkulose-Infektion ermöglichte. 1888 entdeckten Pierre Paul Émile Roux und Alexandre Émile Jean Yersin das Diphtherie-Toxin. Zwei Jahre später konnten Emil Adolf von Behring und Shibasaburo Kitasato sogenannte Antitoxine im Serum von Patienten nachweisen, welche die Diphtherie überstanden hatten. Emil Adolf von Behring begann auch damit, diese Antiseren zur Behandlung von Diphtherie einzusetzen. Er erhielt für seine Forschungsergebnisse den 1901 erstmals verliehenen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Der belgische Bakteriologe Jules Baptiste Vincent Bordet entdeckte 1898, dass eine Erhitzung des Serums auf 55 Grad Celsius zwar kaum Auswirkungen auf die Eigenschaft des Serums hatte, an bestimmte chemische Stoffe zu binden, die bakterienzerstörende Wirkung des Serums ging jedoch verloren. Er postulierte aufgrund dieser Entdeckung die Existenz einer hitzeempfindlichen Komponente im Serum, die für die Wirkung des Serums auf Bakterien notwendig war, und nannte diese Komponente „Alexin“. Paul Ehrlich beschäftigte sich in den folgenden Jahren mit der Untersuchung dieser Komponente und führte den noch heute verwendeten Begriff „Komplement“ ein. Entstehung von zwei Denkrichtungen Zum Beginn des 20. Jahrhunderts teilte sich die immunologische Forschung in zwei Betrachtungsweisen. Die Humoralimmunologen, die prominentesten von ihnen Paul Ehrlich und Emil Adolf von Behring, vertraten die Ansicht, dass die Grundlagen der Infektionsabwehr in Substanzen im Blutserum, also den Antitoxinen zu suchen seien. Diese Theorie war um 1900 und in den folgenden Jahrzehnten die vorherrschende Auffassung. Daneben entwickelte sich die Ansicht der Zellularimmunologen, insbesondere basierend auf den Arbeiten von George Nuttall sowie Ilja Iljitsch Metschnikow ab etwa 1883/1884. Metschnikow konnte anhand von Untersuchungen zur Wirkung von weißen Blutkörperchen auf Bakterien die Bedeutung körpereigener zellulärer Prozesse für die Abwehr von Krankheitserregern nachweisen. Wie sich später zeigen sollte, sind beide Aspekte gleichermaßen am Wirken des Immunsystems und an der Immunantwort beteiligt. Es dauerte allerdings bis etwa 1940, bis die Auffassungen der Zellularimmunologen allgemeine Anerkennung fanden und die Annahme, dass Antikörper der Hauptmechanismus der Immunabwehr wären, aufgegeben wurde. Im Jahr 1901 entdeckte Karl Landsteiner das AB0-Blutgruppensystem und leistete damit einen weiteren wichtigen Beitrag zum Verständnis des Immunsystems. Clemens Peter Freiherr von Pirquet stellte 1906 fest, dass Patienten bei einer wiederholten Gabe von Pferdeserum eine heftige Reaktion auf die zweite Behandlung zeigten. Er prägte für diese Überempfindlichkeitsreaktion den Begriff „Allergie“. Emil von Dungern und Ludwik Hirszfeld veröffentlichten 1910 ihre Ergebnisse zur Vererbung der Blutgruppen und damit erstmals Ergebnisse zur Genetik von Komponenten des Immunsystems. In dieser Arbeit schlugen die beiden auch die Bezeichnung „AB0“ als neue Nomenklatur vor – international verbindlich wurde diese jedoch erst 1928 eingeführt. 1917 beschrieb Karl Landsteiner erstmals das Konzept der Haptene, kleiner Moleküle, die bei Kopplung an ein Protein eine Immunreaktion mit Bildung spezifischer Antikörper auslösen können. Lloyd Felton gelang 1926 die Aufreinigung von Antikörpern aus Serum. In den 1930er Jahren konnte dann Michael Heidelberger zeigen, dass es sich bei Antikörpern hinsichtlich ihrer chemischen Natur um Proteine handelt. Darüber hinaus gelang ihm gemeinsam mit Elvin A. Kabat der Nachweis, dass Antikörper der Gamma-Fraktion der im Serum vorhandenen Globuline entsprechen. Im gleichen Zeitraum entwickelte John Marrack erstmals eine Theorie zur spezifischen Erkennung von Antigenen durch Antikörper. Entwicklung der modernen Immunologie Peter Alfred Gorer entdeckte in den 1930er Jahren bei Studien mit Mäusen zur Abstoßung von transplantierten Tumoren die H-2-Antigene der Maus und damit den ersten Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC). Ebenfalls durch Untersuchungen zur Transplantatabstoßung konnten Peter Medawar und Thomas Gibson wichtige Funktionen von Immunzellen aufklären. Damit begann die endgültige Anerkennung der zellulären Immunologie. Im Jahr 1948 fand Astrid Fagraeus heraus, dass Antikörper durch die B-Zellen im Plasma produziert werden. Ein Jahr später veröffentlichten Frank Macfarlane Burnet und Frank Fenner ihre Hypothese der immunologischen Toleranz, die wenige Jahre später von Jacques Miller mit der Entdeckung der Elimination autoreaktiver T-Zellklone im Thymus bewiesen wurde. 1957 beschrieb Frank Macfarlane Burnet die Klon-Selektionstheorie als das zentrale Prinzip der adaptiven Immunität. Der Brite Alick Isaacs und der Schweizer Jean Lindenmann entdeckten 1957 bei der Untersuchung der Auswirkungen von Virusinfektionen auf Zellkulturen, dass die Zellen für die Dauer einer Virusinfektion weitestgehend resistent gegenüber einer zweiten Infektion durch ein anderes Virus waren. Sie isolierten aus den infizierten Zellkulturen ein Protein, das sie Interferon (IFN) nannten. Zum Ende der 1960er und zum Beginn der 1970er Jahre entdeckten dann John David und Barry Bloom unabhängig voneinander den Makrophagen migrationsinhibierenden Faktor (Macrophage migration inhibitory factor, MIF) und eine Reihe weiterer Substanzen, die von Lymphozyten abgegeben werden. Dudley Dumonde prägte für diese Substanzen den Begriff „Lymphokine“. Stanley Cohen, der 1986 für seine Entdeckung der Wachstumsfaktoren NGF und EGF den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin bekam, begann in den frühen 1970er Jahren zusammen mit Takeshi Yoshida, die Funktionen der als Lymphokine bezeichneten Faktoren zu untersuchen. Sie erkannten dabei, dass diese Substanzen zu einer Gruppe von hormon-ähnlichen Botenstoffen gehören, die von vielen verschiedenen Zellen des Immunsystems gebildet werden. Stanley Cohen schlug deshalb 1974 den Begriff „Zytokine“ vor, der sich mit der Entdeckung weiterer dieser Stoffe schnell durchsetzte. Mittlerweile sind neben den genannten Faktoren über 100 weitere Zytokine bekannt und in ihrer Struktur und Funktion detailliert untersucht. Die Zeit um 1960 wird allgemein als Beginn der modernen Immunologie angesehen. Rodney Porter gelang es zwischen 1959 und 1961, die Struktur von Antikörpern aufzuklären. Zur gleichen Zeit entdeckte Jean Dausset den Haupthistokompatibilitätskomplex des Menschen, den so genannten „Human Leukocyte Antigen“-Komplex (HLA-Komplex). Ab etwa 1960 wurden von einer Reihe von Wissenschaftlern auch die Grundlagen der zellulären Immunologie aufgeklärt, was unter anderem zur Differenzierung und Beschreibung der B- und T-Lymphozyten und der Entdeckung ihrer jeweiligen Funktionen durch Jacques Miller führte. Damit setzte sich die Einteilung der Immunabwehr in einen humoralen und einen zellulären Bereich durch. In den folgenden Jahrzehnten wurden unter anderem die verschiedenen Antikörper-Subtypen entdeckt und hinsichtlich ihrer Funktion untersucht. 1975 beschrieben Georges Köhler und César Milstein die Gewinnung monoklonaler Antikörper. Aufgrund der weitreichenden Folgen dieser Entdeckung für die Grundlagenforschung sowie die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen erhielten sie 1984 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Weitere wichtige Erkenntnisse betrafen die genetischen Grundlagen der Immunologie wie die Beschreibung der MHC-Restriktion durch Rolf Zinkernagel im Jahr 1974, die Identifizierung von Immunglobulin-Genen 1985 durch Susumu Tonegawa und von T-Zell-Rezeptor-Genen durch Leroy Hood ebenfalls ab etwa 1985. Seit 2002 besteht die European Autoimmunity Standardisation Initiative. In Deutschland gab es im Jahr 2019 in Deutschland nur sechs Fachärzte für Immunologie. Forschungsgegenstand Zentraler Forschungsgegenstand der Immunologie ist das Immunsystem der Säugetiere. Dabei handelt es sich um ein komplexes System von Molekülen und Zellen, durch das die Erkennung und Inaktivierung von körperfremden Strukturen realisiert wird. Die Reaktionen dieses Systems auf solche Strukturen werden unter dem Begriff Immunantwort zusammengefasst. Die Organe des Körpers, die für die Immunantwort zuständig sind, werden zusammen mit den Lymphgefäßen als lymphatisches System bezeichnet. Für das Funktionieren der Immunantwort ist darüber hinaus der Blutkreislauf von entscheidender Bedeutung. Die Forschung in der Immunologie befasst sich vorrangig mit medizinischen und klinischen Aspekten der Immunantwort, also beispielsweise ihrer Fehlregulation bei bestimmten Erkrankungen sowie ihrer gezielten Beeinflussung zur Behandlung von Krankheiten. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet ist die Anwendung von immunologischen Methoden für analytische und diagnostische Zwecke. Die Immunologie lässt sich nach dem untersuchten Teilaspekt, der verwendeten Methodik und der Betrachtungsebene in verschiedene Teildisziplinen untergliedern. Zelluläre Immunologie Die zelluläre Immunologie befasst sich mit den Zellen des Immunsystems und den von ihnen ausgehenden Reaktionen. Zu den Zellen des angeborenen Immunsystems gehören beispielsweise die Neutrophilen Granulozyten, die auch als Fresszellen bezeichneten Makrophagen, sowie die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen). Das adaptive Immunsystem umfasst auf zellulärer Ebene die B-Lymphozyten und die T-Lymphozyten. Im Gegensatz zum angeborenen Immunsystem kann das adaptive Immunsystem eine spezifische Reaktion gegen bestimmte körperfremde Strukturen ausbilden, allerdings erst nach einem erstmaligen Kontakt. Für das angeborene Immunsystem ist ein solcher Erstkontakt nicht notwendig. Humorale Immunologie Die humorale Immunologie beschäftigt sich mit den auf Proteinen basierenden Prozessen des Immunsystems. Zu diesen gehört, im Rahmen der angeborenen Immunantwort, das Komplementsystem. Im adaptiven Teil des Immunsystems sind Antikörper für die humorale Immunantwort zuständig. Ein weiteres wichtiges Forschungsthema der humoralen Immunologie sind die Zytokine. Dabei handelt es sich um Proteine, die die Regulation des Immunsystems und die Kommunikation seiner verschiedenen Komponenten steuern. Weitere Teildisziplinen Die Immunchemie untersucht die Struktur und Eigenschaften von Antigenen und Antikörpern sowie die chemischen Grundlagen der Immunantwort. Eine wichtige Anwendung der Immunchemie sind diagnostische und analytische Verfahren auf der Basis der Antigen-Antikörper-Reaktion, wie zum Beispiel die Immunhistochemie. Die Immungenetik beschäftigt sich mit den genetischen Grundlagen des Immunsystems, also beispielsweise der genetisch bedingten Variabilität von Immunreaktionen sowie den Mechanismen der Erzeugung von Antikörpern, T-Zell-Rezeptoren und antigenpräsentierenden Komplexen. Die Immunpathologie und die klinische Immunologie widmen sich den medizinischen Aspekten der Immunologie. Invertebratenimmunologie Aus historischen Gründen beschäftigt sich die Immunologie hauptsächlich mit dem Immunsystem von Wirbeltieren (Vertebraten), insbesondere dem der Säugetiere. Dies liegt vor allem an den medizinischen Ursprüngen der Immunologie und hat dazu geführt, dass auch in Lehrbüchern und anderen Veröffentlichungen die Immunologie oft nur mit der Immunabwehr bei Säugetieren als Forschungsgegenstand dargestellt wird. Ein Teilbereich der immunologischen Forschung widmet sich jedoch auch dem Immunsystem von wirbellosen Tieren (Invertebraten). Dieses ist im Vergleich zum Immunsystem der Wirbeltiere gekennzeichnet durch das Fehlen eines adaptiven Immunsystems und damit durch weitestgehend unspezifische Abwehrvorgänge, durch das Vorhandensein von differenzierten biochemischen Abwehrmechanismen in Form von antimikrobiellen Faktoren sowie durch ausgeprägte anatomische Strukturen zur mechanischen Verhinderung des Eindringens von Krankheitserregern und körperfremden Substanzen. Innerhalb des zellulären Immunsystems der wirbellosen Tiere nehmen phagozytierende Zellen eine zentrale Rolle ein. Ziel dieser Forschung ist es zum einen, die Evolution des Immunsystems und damit auch seine Funktionen besser zu verstehen. Durch den Vergleich der Abwehrmechanismen verschiedener Tiere ist es möglich zu erkennen, welche Teilaspekte ihnen gemeinsam sind und wie sich diese entwickelt haben. Man spricht deshalb auch von vergleichender Immunologie. Weitere Bereiche, auf die sich die Forschung zur Immunologie der Invertebraten auswirkt, sind die Ökotoxikologie sowie die Schädlingsbekämpfung und Hygiene. Innerhalb der biomedizinischen Forschung ermöglicht das Verständnis der Immunabwehr von wirbellosen Tieren, diese in Teilbereichen als Modellorganismen zu nutzen. Einzelne biochemische Komponenten des Immunsystems von Invertebraten lassen sich möglicherweise auch zu therapeutischen und diagnostischen Zwecken einsetzen. Pathophysiologische Aspekte Das Immunsystem ist an einer Vielzahl von Krankheiten und anderen klinisch bedeutsamen Vorgängen direkt oder indirekt beteiligt. Diese lassen sich anhand der zugrundeliegenden Mechanismen unterscheiden. Abwehr von Krankheitserregern Bei Infektionen mit Bakterien, Viren, Protozoen oder Pilzen erfolgt im Normalfall eine Abwehr des Eindringens und der Ausbreitung der Krankheitserreger durch das Immunsystem. Unter bestimmten Bedingungen kann die Immunreaktion jedoch versagen oder nur ungenügend sein, so dass sich eine Infektion ausbreitet und vom Immunsystem nicht mehr angemessen kontrolliert wird. Dies kann dazu führen, dass eine Infektion chronisch wird, die Krankheitserreger also ständig im Körper verbleiben und dauerhaft oder schubweise entsprechende Symptome verursachen. Eine schwere generalisierte Infektion, also die Ausbreitung von einem lokalen Infektionsort über die Blutbahn im gesamten Körper, wird als Sepsis bezeichnet. Aufgrund massiver Reaktionen des Körpers verläuft diese oft tödlich. Fehlgeleitete oder überschießende Immunantwort Den so genannten Autoimmunerkrankungen liegt eine fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems gegen körpereigene Strukturen zugrunde. Diese Reaktionen können entweder zur irreversiblen Zerstörung von körpereigenem Gewebe führen oder körpereigene Moleküle wie zum Beispiel Rezeptoren und Hormone in ihrer Funktion beeinträchtigen. Zu den Autoimmunerkrankungen zählen beispielsweise der Diabetes mellitus Typ 1, die Hashimoto-Thyreoiditis, die Myasthenia gravis, der Morbus Basedow sowie die meisten entzündlich-rheumatischen Krankheiten, unter anderem die Rheumatoide Arthritis. Bei Allergien, auch als Überempfindlichkeitsreaktion bezeichnet, kommt es zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems auf bestimmte körperfremde Strukturen. Voraussetzung für die Entstehung einer Allergie ist ein harmlos verlaufender Erstkontakt mit dem als Allergen bezeichneten Fremdstoff. Durch diesen Erstkontakt kommt es zur so genannten Sensibilisierung, das heißt der Ausprägung einer spezifischen Immunantwort. Jeder erneute Kontakt mit dem Allergen kann dann zu einer übermäßig starken Reaktion des Immunsystems führen. Allergien sind besonders häufig gegen pflanzliche Pollen, Tierhaare, Lebensmittelbestandteile und Medikamente. Eine Mischform aus Allergie und Autoimmunerkrankung ist die Zöliakie, bei der es zu einer Kreuzreaktion auf das in den meisten Getreidesorten enthaltene Kleber-Eiweiß Gluten und bestimmte Strukturen im Dünndarmgewebe kommt. Unzureichende Immunantwort und Immuninsuffizienz Zu den Erkrankungen, die durch eine ungenügende Immunabwehr (Immuninsuffizienz) gekennzeichnet sind, zählen beispielsweise das erworbene Immunschwäche-Syndrom AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome), das durch eine Infektion mit dem HI-Virus ausgelöst wird. Schwere angeborene Immunschwächeerkrankungen, bei denen gleichzeitig („kombiniert“) der humorale und der zelluläre Teil des adaptiven Immunsystems betroffen sind, werden unter der Bezeichnung Severe Combined Immunodeficiency (SCID) zusammengefasst. Patienten mit einer angeborenen oder erworbenen Immunschwäche besitzen eine hohe Anfälligkeit für Infektionserkrankungen, die mit fortschreitender Immunschwäche in der Regel auch zum Tod führen. Auch bei Krebserkrankungen spielt das Immunsystem eine wichtige Rolle. Patienten mit einer Immunschwäche, zum Beispiel durch eine immunsuppressive Behandlung nach einer Organtransplantation oder durch eine HIV-Infektion, zeigen eine deutlich erhöhte Häufigkeit bestimmter Krebserkrankungen. Das Immunsystem ist dabei für die Kontrolle entarteter Zellen verantwortlich, so dass diese inaktiviert werden, bevor ein manifester Tumor entstehen kann. Das Teilgebiet der Immunologie, das sich mit den immunologischen Vorgängen bei der Entstehung, dem Verlauf und der Bekämpfung von Tumoren befasst, ist die Tumorimmunologie. Die Krebsimmuntherapie umfasst eine Reihe immunologischer Therapieansätze. Immunantwort gegen Transplantate und Implantate Von entscheidender Relevanz sind immunologische Prozesse bei der Transplantation von Spenderorganen. Da transplantierte Organe vom Immunsystem als körperfremd erkannt werden, kommt es zu einer entsprechenden Immunantwort. Unbehandelt führt diese zur Abstoßung und damit dem Funktionsverlust des betreffenden Organs. Umgekehrt können aber auch, zum Beispiel bei einer Stammzelltransplantation, in einem Transplantat enthaltene Immunzellen eine Immunreaktion gegen den Empfängerorganismus verursachen, man spricht dann von der Graft-versus-Host-Reaktion. In der Folge ist zum Erhalt des Organs eine lebenslange Behandlung der betroffenen Patienten mit so genannten Immunsuppressiva notwendig, also Medikamenten, welche die kurz- und langfristig vorhandenen Immunreaktionen unterdrücken. Ähnlich wie bei der Transplantation von fremden Organen oder Geweben ist das Immunsystem auch an der Reaktion des Körpers gegen Implantate entscheidend beteiligt. Implantate bestehen beispielsweise aus Metallen oder Kunststoffen und werden für vielfältige Aufgaben eingesetzt, unter anderem zum vorübergehenden oder dauerhaften Ersatz von Knochen oder Blutgefäßen, als plastische Implantate zur Ausformung bestimmter Körperstrukturen und zum Zahnersatz, sowie zum Ersatz oder zur Unterstützung von körpereigenen Organen bei ihrer Funktion, wie zum Beispiel Cochleaimplantate oder Herzschrittmacher. Da Implantate aus körperfremdem Material bestehen, sind sie vielfältigen Prozessen der Immunabwehr ausgesetzt, insbesondere einer chronisch vorhandenen Entzündungsreaktion. Die immunologische Verträglichkeit dieser Materialien ist damit ein wichtiger Aspekt ihrer Biokompatibilität und trägt entscheidend zur dauerhaften Funktion des Implantats bei. Therapeutische Anwendungen Immunmodulation Eine Reihe von therapeutischen Anwendungen, die auf Erkenntnissen und Prinzipien der Immunologie beruhen, lassen sich unter dem Begriff Immunmodulation zusammenfassen. Dies betrifft alle Therapieansätze, die auf einer gezielten Beeinflussung von bestimmten Prozessen oder Komponenten des Immunsystems beruhen. Weit verbreitet sind beispielsweise Impfungen, bei denen durch die Gabe von Antigenen das Immunsystem zur Ausbildung einer Immunantwort gegen diese Antigene angeregt wird. Impfungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Prävention von Infektionskrankheiten. Darüber hinaus gibt es erste Erfolge hinsichtlich einer Impfung gegen krebsassoziierte Viren wie beispielsweise das humane Papillomvirus. Auf dem gleichen Prinzip wie Impfungen beruht die als Krebsimmuntherapie bezeichnete Sensibilisierung des Immunsystems auf tumorspezifische Strukturen bei Krebserkrankungen. Ein weiterer Ansatz aus dem Bereich der Immunmodulation wird mit den Begriffen Hyposensibilisierung beziehungsweise „Spezifische Immuntherapie (SIT)“ bezeichnet. Ziel dabei ist, eine so genannte Immuntoleranz des Körpers gegen bestimmte Antigene zu erreichen. Das bedeutet, dass vorhandene Abwehrreaktionen des Körpers gegen diese Antigene verringert werden. Erreicht werden soll dies durch die wiederholte Gabe der entsprechenden Antigene mit schrittweiser Steigerung der Dosis. Von therapeutischer Relevanz ist die Hyposensibilisierung bei allergischen Erkrankungen. Darüber hinaus gibt es Studien zur Anwendung bei Autoimmunkrankheiten. Unter dem Begriff Immunsuppression werden Therapien zusammengefasst, deren Ziel die Unterdrückung von unerwünschten immunologischen Prozessen ist. Möglich ist dies durch Medikamente, die in verschiedene Prozesse der Immunabwehr eingreifen. Angewandt werden diese Medikamente vor allem zur Verhinderung der Abstoßung von transplantierten Organen. Darüber werden immunsuppressive Therapien auch bei Autoimmunerkrankungen getestet. Eine Immunstimulation, also die Anregung des Immunsystems und die Verstärkung der Immunantwort, ist ebenfalls möglich. Dazu können beispielsweise bestimmte körpereigene Proteine therapeutisch eingesetzt werden, die eine Rolle bei der Regulation des Immunsystems spielen. Am häufigsten werden hierzu bestimmte Zytokine verwendet. Von Relevanz sind entsprechende Therapien insbesondere bei Virusinfektionen. Therapeutische Antikörper Eine weitere wichtige Anwendung immunologischer Prinzipien zur Behandlung von Krankheiten sind therapeutische Antikörper. Dabei handelt es sich um Antikörper, also Globulin-Proteine des Immunsystems, die biotechnologisch hergestellt werden und gezielt gegen bestimmte Strukturen im Körper gerichtet sind. Diese Strukturen, für die vorher eine Relevanz bei bestimmten Erkrankungen nachgewiesen wurde, werden durch die therapeutischen Antikörper in ihrer Wirkung blockiert oder neutralisiert. Oft handelt es sich bei diesen Zielstrukturen um Proteine auf der Oberfläche von Zellen, wie zum Beispiel Transportproteine, Signalproteine oder Rezeptoren, aber auch um lösliche Proteine im Serum wie Zytokine oder Hormone. Therapeutische Antikörper sind mittlerweile unter anderem zugelassen zur Behandlung von verschiedenen Krebserkrankungen, von Autoimmunerkrankungen, von Allergien sowie zur Verhinderung der Abstoßung von Transplantaten. Antiseren Antikörper werden darüber hinaus auch als Antiserum gegen bestimmte Giftstoffe eingesetzt. Zur Gewinnung dieser Antiseren werden Tieren wie beispielsweise Pferden kleine Mengen der entsprechenden Gifte injiziert. Diese Tiere entwickeln daraufhin spezifische Antikörper in ihrem Blut, welche die Giftstoffe in ihrer Wirkung neutralisieren. Nach der Gewinnung und Reinigung der entsprechenden Antikörper aus dem Blut dieser Tiere können diese zur akuten Behandlung von Vergiftungen, beispielsweise nach Schlangenbissen, eingesetzt werden. Entsprechend gewonnene Antiseren werden darüber hinaus auch zur sogenannten passiven Immunisierung gegen bestimmte Infektionskrankheiten verwendet, wenn für eine aktive Immunisierung durch eine reguläre Impfung nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht oder kein Impfstoff für eine aktive Immunisierung verfügbar ist. Tierische Antiseren rufen jedoch bei wiederholter Anwendung selbst eine Immunreaktion hervor. Aus diesem Grund wird in der Regel eine aktive Immunisierung bevorzugt, wenn diese möglich ist. Als Notfallmaßnahme erfolgt eine passive Immunisierung bei Verdacht auf eine Tollwutinfektion. Immunologische Diagnostik Immunologische Labormethoden spielen eine große Rolle bei der Diagnostik von Erkrankungen und in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Als Immunassays werden alle Verfahren bezeichnet, die zum qualitativen oder quantitativen Nachweis von bestimmten Strukturen in Flüssigkeiten die spezifische Erkennung von Antigenen durch Antikörper nutzen. Immunassays werden zur Identifikation von Krankheitserregern ebenso genutzt wie zur Untersuchung von Körperflüssigkeiten auf das Vorhandensein von bestimmten körpereigenen Proteinen, die bei Krankheiten als spezifische Biomarker gelten. Für eine Reihe von Erkrankungen, insbesondere Allergien, Autoimmunerkrankungen und Infektionen, ist als Teil der Diagnose und zur Verlaufskontrolle der Nachweis von spezifischen Antikörpern möglich. Immunassays werden aber beispielsweise auch als Schwangerschaftstests verwendet. Weitere Anwendungen in der Medizin sind die Identifizierung von Giftstoffen und Rauschdrogen, die Überwachung von Arzneistoffen im Körper (Drug monitoring), oder der Nachweis bestimmter Dopingsubstanzen in der Sportmedizin. Außerhalb der medizinischen Diagnostik werden Immunassays beispielsweise in der Umwelt-, Lebensmittel- und Agraranalytik eingesetzt, unter anderem zum Nachweis von Umweltgiften, von Allergenen in Lebensmitteln oder von genetisch veränderten Organismen. Bei Organtransplantationen, bei der Übertragung von Knochenmark und bei Blutspenden wird durch die molekulargenetische Charakterisierung bestimmter Histokompatibilitätsmarker eine möglichst große Übereinstimmung zwischen Spender und Empfänger sichergestellt. Die Immunhistochemie nutzt Antikörper zum Anfärben spezifischer Strukturen in mikroskopischen Präparaten und ist damit eine wichtige Anwendung immunologischer Prinzipien in der pathologischen Diagnostik. Bei der Durchflusszytometrie und der Magnetic Cell Separation (MACS) werden Antikörper verwendet, um auf Zellen bestimmte Oberflächenstrukturen nachzuweisen und dadurch Zellgemische aufzutrennen oder hinsichtlich ihrer Zusammensetzung zu analysieren. Für die klinische Diagnostik ist dies beispielsweise in der Hämatologie für die Untersuchung der Zellverteilung im Blut von Bedeutung. Literatur Lothar Rink, Andrea Kruse, Hajo Haase: Immunologie für Einsteiger. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-82-742439-6 Barbara Bröker, Christine Schütt, Bernhard Fleischer: Grundwissen Immunologie. Springer Spektrum, Berlin 2019, ISBN 978-3-662-58329-6 Charles Janeway, Paul Travers, Mark Walport, Mark Shlomchik: Immunologie. 5. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1079-7; Onlineversion, 5th edition, 2001, (englisch) Werner Luttmann, Kai Bratke, Michael Küpper, Daniel Myrtek: Der Experimentator: Immunologie. 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1730-9 Arnold Hilgers, Inge Hoffmann: Gesund oder krank. Das Immunsystem entscheidet. Springer, Berlin 1995, ISBN 3-540-59226-1 Ivan M. Roitt, Jonathan Brostoff, David K. Male: Kurzes Lehrbuch der Immunologie. 3. Auflage. Thieme, Stuttgart 1995, ISBN 3-13-702103-0 Abul K. Abbas, Andrew H. Lichtman: Cellular and Molecular Immunology. Saunders (W.B.) Company, Philadelphia 2005, ISBN 1-4160-2389-5 Hans Schadewaldt: Die Anfänge der Immunbiologie: Emil Behrings Serumtherapie. In: Heinz Schott (Hrsg.): Meilensteine der Medizin. Harenberg Verlag, Darmstadt 1996, S. 375–380, 597 f. und 660 f. David E. Normansell: The Principles and Practice of Diagnostic Immunology. Wiley-VCH, Weinheim 1994, ISBN 1-56081-534-5 Jules A. Hoffmann, Charles A. Janeway Jr., Shunji Natori: Phylogenetic Perspectives in Immunity, The Insect Host Defense. RG Landes Company, Austin TX 1994, ISBN 1-57059-043-5 Valerie J. Smith: Invertebrate Immunology: Phylogenetic, Ecotoxicological and Biomedical Implications. In: Comparative Haematology International. 1/1991. Springer London, S. 61–76, Weblinks Deutsche Gesellschaft für Immunologie (DGfI) Microbiology and Immunology On-line (englisch) NCBI Bookshelf: Immunobiology – The Immune System in Health and Disease (englisch) Einführung in die Immunologie Videoaufzeichnungen einer Vorlesung. Von TIMMS, Tübinger Internet Multimedia Server der Universität Tübingen. Einzelnachweise Medizinisches Fachgebiet
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erkelenz
Erkelenz
Erkelenz ist eine Stadt im Rheinland. Sie liegt rund 15 Kilometer südwestlich von Mönchengladbach am Nordrand der Kölner Bucht auf halbem Weg zwischen Niederrhein und Niedermaas. Sie ist eine mittlere kreisangehörige Stadt und die größte im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. Während die Stadt auf mehr als 1000 Jahre Geschichte und Tradition zurückblickt, werden seit 2006 bis in das Jahr 2030 die östlich gelegenen Teile des Stadtgebietes durch den Braunkohletagebau Garzweiler II der RWE Power AG zerstört. Über fünftausend Menschen aus zehn Ortschaften müssen deshalb umgesiedelt werden. Die Dörfer Pesch, Borschemich und Immerath wurden eingeebnet. Als Ersatz wurden Immerath (neu) bei Kückhoven, Pesch an einer Straße in Kückhoven und Borschemich (neu) an dem Stadtteil Erkelenz-Nord angelegt. Die Räumung des Weilers Lützerath wurde im Januar 2023 durch Klimaschutzaktivisten verzögert. Geographie Landschaft Das Landschaftsbild ist von der flachwelligen bis fast ebenen Jülich-Zülpicher Börde geprägt, deren fruchtbarer Lössboden überwiegend landwirtschaftlich genutzt wird. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche umfasst 20 Prozent des Stadtgebietes, 75 Prozent werden landwirtschaftlich genutzt und nur zwei Prozent sind bewaldet. Der Wahnenbusch, das größte zusammenhängende Waldgebiet, erstreckt sich südlich der Stadt bei Tenholt und umfasst 25 Hektar. Im Norden beginnt die wald- und wasserreiche Landschaft der Schwalm-Nette-Platte, eines Teilgebiets des Niederrheinischen Tieflandes. Im Westen, jenseits des Stadtgebietes, liegt 30 bis 60 Meter tiefer die Rurniederung. Der Übergang wird vom Baaler Riedelland eingenommen. Bäche haben hier eine abwechslungsreiche Landschaft von Berg und Tal geschaffen. Im Osten befindet sich das Niersquellgebiet bei Kuckum und Keyenberg. Südlich steigt die Landschaft zur Jackerather Lößschwelle hin an. Der niedrigste Punkt misst (Niersgebiet im Nordosten und Nähe Ophover Mühle im Südwesten) und der höchste Punkt (Stadtgrenze bei Holzweiler/Immerath im Süden). Klima Das Klima wird vom atlantischen Golfstrom im Übergang zwischen ozeanischem und kontinentalem Klima beeinflusst. Es herrschen Südwestwinde vor und Niederschläge gibt es zu allen Jahreszeiten. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt etwa 710 mm, wobei August der niederschlagsreichste und September der niederschlagsärmste Monat ist. Die Sommer sind warm und die Winter mild. Im Juli liegt die mittlere Temperatur bei 19 °C, im Januar bei 3 °C. Die Dauer der kalten Periode mit einem Temperatur-Minimum unter 0 °C beträgt im langjährigen Mittel 50 Tage, die Anzahl der Sommertage mit Temperaturen über 25 °C liegt bei 30 Tagen, wobei es zusätzlich acht Tropentage mit Tagestemperaturen von mehr als 30 °C und Nachttemperaturen über 20 °C geben kann und insgesamt an 20 Tagen mit Gewittern zu rechnen ist. Der Frühling, der nach der Blüte von Kirsche, Apfel, Birne bemessen wird, zieht zwischen dem 29. April und dem 5. Mai ein. Der Hochsommer, der mit der Ernte des Winterroggens einsetzt, beginnt zwischen dem 10. und 16. Juli. Geologie Die Erkelenzer Börde ist der nördliche Ausläufer der Jülicher Börde und wird aus einer Lößplatte gebildet, die hier im Durchschnitt eine Mächtigkeit von über elf Metern besitzt. Darunter stehen Kiese und Sande der eiszeitlichen Hauptterrasse an, angelagert von Rhein und Maas. Eingebettet in den Löß sind stellenweise Linsen aus Mergel, die bis in das 20. Jahrhundert hinein zur Kalk-Gewinnung zum Teil auch durch Anlegen von Schächten und Stollen unter Tage abgebaut wurden. Im Tertiär bildete sich entlang von Verwerfungslinien der Erkelenzer Horst. Östlich des Horstes verläuft die Venloer Scholle, westlich die Rurscholle, im Süden die Erftscholle und der Jackerather Horst. Ein kleinerer Abschnitt des Horstes wird vom Wassenberger Horst eingenommen. Mächtige Braunkohlenflöze aus dem Tertiär und Steinkohlenflöze aus dem Karbon befinden sich im Untergrund. Der Erkelenzer Horst gehört zum Erdbebengebiet Kölner Bucht. Stadtgebiet Das Stadtgebiet hat eine Ausdehnung in Ost-West-Richtung von 20 und in Nord-Süd-Richtung von elf Kilometern. Es grenzt an folgende Gemeinden: Stadt Wegberg (8 Kilometer nördlich, Kreis Heinsberg), kreisfreie Stadt Mönchengladbach (15 Kilometer nordöstlich), Stadt Jüchen (14 Kilometer östlich, Rhein-Kreis Neuss), Gemeinde Titz (zwölf Kilometer südöstlich, Kreis Düren), Stadt Linnich (elf Kilometer südwestlich, Kreis Düren), Stadt Hückelhoven (sieben Kilometer westlich, Kreis Heinsberg), Stadt Wassenberg (elf Kilometer nordwestlich, Kreis Heinsberg). Die Stadtgrenze zu den Städten Mönchengladbach und Jüchen ist auch zugleich die Grenze zwischen den Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf. Laut Hauptsatzung ist die Stadt Erkelenz in folgende neun Stadtbezirke mit insgesamt 46 Dörfern und Weilern eingeteilt (Einwohner: Stand 30. Juni 2017): Stadtbezirk 1: Erkelenz mit den in ihr aufgegangenen Orten Oestrich und Buscherhof sowie Borschemich, Borschemich (neu), Bellinghoven und Oerath, insgesamt 20.556 Einwohner Stadtbezirk 2: Gerderath mit Fronderath, Gerderhahn, Moorheide und Vossem, insgesamt 5198 Einwohner Stadtbezirk 3: Schwanenberg mit Geneiken, Genfeld, Genhof, Grambusch und Lentholt, insgesamt 2291 Einwohner Stadtbezirk 4: Golkrath mit Houverath, Houverather Heide, Hoven und Matzerath, insgesamt 2061 Einwohner Stadtbezirk 5: Granterath und Hetzerath mit Commerden, Genehen, Scheidt und Tenholt, insgesamt 3409 Einwohner Stadtbezirk 6: Lövenich mit Katzem und Kleinbouslar, insgesamt 4120 Einwohner Stadtbezirk 7: Kückhoven, insgesamt 2322 Einwohner Stadtbezirk 8: Keyenberg und Venrath mit Berverath, Etgenbusch, Kaulhausen, Kuckum, Mennekrath, Neuhaus, Oberwestrich, Terheeg, Unterwestrich und Wockerath, insgesamt 3884 Einwohner Stadtbezirk 9: Holzweiler und Immerath (neu) mit Lützerath und Pesch (2010 abgerissen), insgesamt 2245 Einwohner Geschichte Vor- und Frühgeschichte Aus dem gesamten heutigen Stadtgebiet liegen Funde von Feuersteinschlagplätzen der älteren bis jüngeren Steinzeit vor. Bei Gut Haberg, gelegen nördlich von Lövenich, existiert eine überregional bedeutende Fundstelle. In der Nähe von Kückhoven wurde 1990 ein Holzbrunnen entdeckt, der zu einer Siedlung der Bandkeramiker gehörte und um 5100 v. Chr. erbaut wurde. Damit stellt er eines der ältesten Holzbauwerke der Welt dar. Nördlich der alten Ortslage von Erkelenz, am heutigen Marienweg, lagen drei Brandgräber, nordwestlich bis südlich zahlreiche Trümmerstätten. Römische Ziegel, Hypokaustenziegel und Scherben stammen vom Markt südlich des Rathauses. Hier in der Südwestecke und östlich vom Chor der katholischen Pfarrkirche stieß man auf mit Feldsteinen eingefasste Urnengräber aus der frühen fränkischen Zeit von 300 bis 500 n. Chr. Am Süd- und Südostrand des Marktes fand man auch Kugeltöpfe im Stil der Badorfer Keramik aus karolingischer Zeit. 1906 entdeckte man in Kleinbouslar eine römische Jupitersäule aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Der Erkelenzer Chronist Mathias Baux schrieb im 16. Jahrhundert, dass „Die bussche sein in middelen tiden utgerodet und der boden to fruchtbarm lande gemacht, so dat uth der rouwer wildtnisse ein kornreicher gelends und overall ein lustig paradis woirden is.“ Aus der Sicht des Mathias Baux waren die mittleren Zeiten das 8. Jahrhundert, was sich mit der Entstehung des karolingischen Reiches deckt. Unter der heutigen katholischen Pfarrkirche lagen beigabenlose fränkische und mittelalterliche Gräber sowie Bruchstücke von Badorfer Keramik und römischen Ziegeln. Ortsname Eine fiktive Erka wurde von Mathias Baux in dessen frühneuzeitlicher Stadtchronik, als mythologische Gründerin und somit als Namensgeberin von Erkelenz ersonnen. Die heutige Ortsnamenforschung aber ordnet Erkelenz den für das linksrheinische Gebiet charakteristischen Ortsnamen mit dem galloromanischen Suffix -(i)acum zu. Der erstmals im Jahre 966 n. Chr. in einer von Otto dem Großen besiegelten, allerdings nur in einer Abschrift aus dem 11. Jahrhundert erhaltenen Urkunde als herklenze bezeugte Ortsname geht damit auf ein *fundus herculentiacus ‚herkulentisches Gut (Gut des Herculentius)‘ zurück. Aus dem adjektivischen Personennamen entwickelte sich der heutige Ortsname. Eine Siedlungskontinuität von der Römer- bis zur Frankenzeit ist archäologisch aber nicht nachweisbar. Daher wurde früher auch postuliert, dass der Name nicht römischen, sondern althochdeutschen Ursprungs sei und das Wort linta ‚Linde‘ enthalte. Grundherrschaft Am 17. Januar 966 erhielt das Marienstift zu Aachen durch Tausch mit dem lothringischen Grafen Immo unter anderen den im Mühlgau in der Grafschaft des Eremfred gelegenen Ort Erkelenz und den Nachbarort Oestrich. Kaiser Otto der Große bestätigte diesen Tausch in der genannten Urkunde bei einem Hoftag in Aachen. Das Stift war nunmehr Eigentümer des gesamten Grund und Bodens in Erkelenz und den umliegenden Dörfern mit der Besonderheit, dass die Landesherrschaft von den Grafen ausgeübt wurde. Später wurden die Güter innerhalb des Stiftes zwischen Propst und Kapitel aufgeteilt. Die Höfe wurden nicht selbst bewirtschaftet, sondern verpachtet. Erst 1803 verlor das Stift diese Eigentumsrechte, als Frankreich die Säkularisation im Rheinland durchführte. Stadtrecht Erkelenz hat im Jahr 1326 von Graf Rainald II. von Geldern das Stadtrecht erhalten, so ist es in der Stadtchronik des Mathias Baux nachzulesen. Eine Urkunde über die Stadtrechtsverleihung existiert aber nicht, weswegen zum Teil statt eines festen Datums ein langjähriger Stadtwerdungsprozess angenommen wird, der sich bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hingezogen haben soll. Dem steht aber entgegen, dass bereits für das Jahr 1331 ein Schöffensiegel genannt wird, und auch erscheint Erkelenz am 1. Dezember 1343 auf dem geldrischen Städtetag. Im Jahre 1359 wird Erkelenz dann in einer Urkunde als geldrische Stadt bezeichnet und führt den geldrischen Löwen und die geldrische Rose in Siegel und Wappen. Landesherrschaft Seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert hatten mit Gerhard III. von Wassenberg, der identisch ist mit Gerhard I. von Geldern, die Grafen von Geldern die Landesherrschaft auch in Erkelenz inne. Sie waren vom Reich bestellte Vögte und übten Gerichtsbarkeit, Marktschutz und Militärhoheit aus. Kaiser Ludwig der Bayer erhob Geldern 1339 unter Rainald II. dann zum Herzogtum, das in vier Quartiere aufgeteilt war. Erkelenz und seine umliegenden Dörfer gehörten zum Oberquartier Geldern mit dem Hauptort Roermond und war eine Exklave Gelderns im Herzogtum Jülich. Sie bildete mit den nicht isoliert gelegenen weiteren Dörfern Wegberg, Krüchten und Brempt das Amt Erkelenz, an dessen Spitze der Amtmann (Drossard) stand. Verwaltet wurde das Amt in Personalunion von dem Drosten des Amtes Krickenbeck, sein Stellvertreter in Erkelenz war ein Vogt. Die städtische Verfassungs- und Verwaltungsform stimmte mit der der anderen geldrischen Städte überein. Sieben Schöffen, die wie auch die Bürgermeister in Stadt oder Land begütert sein mussten, und zehn gemeine Ratsmitglieder stellten für die Amtsperiode von einem Jahr zwei Kandidaten für den Stadtbürgermeister und zwei Kandidaten für den Landbürgermeister zur Wahl, auserkoren wurden sie aber nur von den Schöffen, die somit eigentlich die Politik in der Stadt betrieben, während der Rat nur repräsentative Aufgaben erfüllte. Schon bald nach der Stadterhebung begann man mit der backsteinernen Befestigung der Stadt, die vermutlich bereits eine leichtere Umwallung besaß, wie sie seit unvordenklichen Zeiten zum Schutz der Siedlungen gebräuchlich und mit der im 11. Jahrhundert begonnen worden war. Zwar wird die Burg erst 1349 urkundlich genannt, die Stadt scheint sich aber aus dem Schutz der Burg heraus mit dem in unmittelbarer Nähe verlaufenden Pangel als ältestgenannter Straße („in deme Pandale“, 1398) entwickelt zu haben. Auch wird der nahegelegene Johannismarkt „alder mart“ (1420) und der entferntere, heute nur Markt genannte Platz „niewer mart“ (1480) genannt. Zudem ist die Burg offensichtlich in die nachfolgend errichteten Stadtmauern einbezogen worden, so dass sie schon bei der Stadtrechtsverleihung im Jahre 1326 vorhanden gewesen sein dürfte. Es ist auch kaum anzunehmen, dass ein unbefestigter Ort zur Stadt erhoben wurde. Letztlich ist 1355 als erstes und stärkstes das an der Kölner Heerbahn, die von Roermond kommend in Erkelenz über die Theodor-Körner-Straße, Mühlenstraße und Wockerath nach Köln führt, gelegene Brücktor (Brückstraße) unweit der Burg entstanden. In einer Fehde Eduards von Geldern, der ein Sohn Herzogs Rainald II. und Widersacher seines älteren Bruders Rainald III. war, eroberte Graf Engelbert III. von der Mark im Jahre 1371 die nur unzureichend befestigte Stadt und zerstörte sie teilweise. Der kinderlose Eduard fiel im selben Jahr auf dem Schlachtfeld zu Baesweiler im Kampf auf Seiten seines Schwagers, des Herzogs Wilhelm II. von Jülich, gegen Herzog Wenzel I. von Brabant. Als in diesem Jahr auch sein Bruder Rainald III. ohne Nachkommen starb, entwickelten sich um Erbe und Besitz des Herzogtums Geldern immer wieder neue kriegerische Auseinandersetzungen, unter denen Erkelenz als geldrische Exklave in Jülicher Land durch Kriegslasten, Einquartierungen, Raub und Plünderungen besonders zu leiden hatte. Entsprechend den strategischen Bedürfnissen der jeweiligen Landesherren wurde der Bau der Erkelenzer Festungswerke vorangebracht. Im Jahre 1416 entstand unter Rainald IV. von Geldern das dem Brücktor auf der anderen Seite der Stadt gegenüberliegende Maartor (Aachener Straße), das sich gegen das südlich der Stadt gelegene Jülich richtete. 1423 fiel das Herzogtum Geldern und damit auch die Stadt Erkelenz an Arnold von Egmond, 1425 an Adolf von Jülich-Berg. Nachdem dessen Neffe und Nachfolger, Gerhard II. von Jülich-Berg, in der Hubertusschlacht bei Linnich Arnold von Egmond besiegt hatte, wurde 1454 das Oerather Tor (Roermonder Straße) fertiggestellt, das gegen Roermond gerichtet war. Trotz laufender aufwendiger Arbeiten an den Befestigungswerken konnte die Stadt es sich leisten, 1458 sogleich mit dem Bau eines neuen, heute noch erhaltenen Kirchturmes zu beginnen, nachdem im Jahr zuvor der Turm der alten romanischen Kirche eingestürzt war. Im Jahre 1473 gelangte die Stadt an Karl den Kühnen von Burgund, der auf seinen Kriegszügen gegen Lothringen 1476 persönlich in Erkelenz die Huldigungen der Bürgerschaft entgegennahm. 1481 fiel die Stadt an Maximilian I. von Österreich, 1492 an den Sohn Arnolds von Egmond, Karl von Egmond, der sich im selben Jahr ebenfalls persönlich in Erkelenz einfand. Zu dieser Zeit war die Festung Erkelenz schon so stark, dass Maximilian I. seine ihm gegen Geldern verbündeten Herzöge von Jülich und Kleve anwies, sich nicht auf einen Beschuss der Stadt einzulassen, sondern sie mit Hilfe von Sturmbrücken zu nehmen. Ein Heer von Herzog Wilhelm IV. von Jülich, es bestand aus 3000 Fußknechten mit 1000 Pferden, nahm Erkelenz am 21. August 1498 auf diese Weise – ein Stadttor war heimlich geöffnet worden. 1500 fiel die Stadt wieder zurück an Karl von Egmont, so dass im Jahre 1514 das dem Oerather Tor gegenüberliegende Bellinghovener Tor (Kölner Straße) entstand, das eine Lücke gegen Jülich schloss. In die Stadtmauer mit ihren vier Torburgen waren 14 Wehrtürme eingelassen, und in ihrem Vorfeld lag noch ein doppelter, durch einen Wall getrennter Wassergraben. Sie galt als uneinnehmbar. Im Jahre 1538 fiel Geldern an Wilhelm von Jülich, Kleve und Berg. In diese Zeit fällt der große Stadtbrand von 1540, als am 21. Juni des Jahres in großer Sommerhitze ein Brand ausbrach, dem die Stadt bis auf wenige Häuser am Brücktor und in der Maarstraße fast vollständig zum Opfer fiel. Hilfe kam von den benachbarten geldrischen Städten Roermond und Venlo. Kaiser Karl V. der 1543 nach der Einnahme von Düren und Jülich auf seinem Zug mit einem 30.000 Mann starken Heer nach Roermond persönlich in Erkelenz weilte, beendete die geldrischen Erbfolgekriege im Frieden von Venlo. Die Stadt kam nun mit dem aufgelösten Herzogtum Geldern an das spanische Haus Habsburg und wurde Teil der spanischen Niederlande, dem damals reichsten Land Europas. So konnte, wie die Inschrift auf einem Stein neben dem Eingang bezeugt, bereits 1546 das bei dem Stadtbrand zerstörte Rathaus durch das heute noch erhaltene Bauwerk ersetzt werden. Dauerhafter Friede kehrte aber nicht in das Land ein und mehrmals suchten dazu noch Seuchen die Stadt heim. 1580 wurde sie durch die Pest fast entvölkert. Im Spanisch-Niederländischen Krieg nahmen im Jahre 1607 niederländische Truppen die Stadt ein und brandschatzten sie. Nachdem Erkelenz dann 1610 im Jülich-Klevischen Erbfolgekrieg erfolglos belagert worden war, vermochte im Französisch-Niederländischen Krieg schließlich das Heer des französischen Königs Ludwig XIV. zusammen mit den Truppen des Erzbischofs von Köln erst beim vierten Sturmangriff mit inzwischen erfundenen Kanonen die Stadt am Abend des 9. Mai 1674 einzunehmen, als zwei der vier Tore gefallen waren. An diesem Tag hörte sie auf, Festung zu sein. 400 Tote soll es bei den Angreifern gegeben haben, sechs bei den Verteidigern. Die Eroberer zwangen die Bürger, Breschen in die Mauern zu schlagen und sprengten das Bellinghovener und das Oerather Tor, die beide ihnen den freien Durchzug in die Niederlande versperrten. Im Spanischen Erbfolgekrieg wurde sie 1702 von preußischen Truppen besetzt, die sie erst 1713 wieder räumten. Im Frieden von Utrecht 1714 erhielt Herzog Johann Wilhelm von Jülich und Kurfürst von der Pfalz Erkelenz, dem es aber erst 1719 huldigte. Die Stadt verlor so ihre jahrhundertealte Zugehörigkeit zum Oberquartier Geldern. Von 1727 bis 1754 war die Herrlichkeit Erkelenz an den kurpfälzischen Geheimrat Freiherrn Johann Bernhard von Francken verpfändet, der sich auch zeitweise in der Stadt aufhielt. Von 1794 bis 1815 gehörte sie mit den linksrheinischen Ländern zu Frankreich und erhielt eine ständige französische Besatzungstruppe. Erkelenz bildete zunächst eine Munizipalität, ab 1800 eine Mairie (Bürgermeisterei) und war seit 1798 Sitz des Cantons Erkelenz im Arrondissement Crefeld, das Teil des Départements de la Roer war. Im Jahre 1815 wurde der König von Preußen neuer Landesherr. In den Jahren 1818/19 brach man die baufällig gewordene Stadtmauer und Stadttore ab. Anstelle der Stadtmauern entstanden die heutigen vier Promenadenstraßen, benannt nach den jeweiligen Himmelsrichtungen. Von 1816 bis zur Kommunalreform 1972 war Erkelenz Sitz des Landkreises Erkelenz. Industrialisierung Um 1825 ließ sich Andreas Polke aus Ratibor in der Stadt nieder und gründete eine Stecknadelfabrik. Der benachbarte Aachener Raum war zu damaliger Zeit in diesem Gewerbe führend. 1841 beschäftigte Polke in seiner Manufaktur 73 Arbeiter, darunter 35 Kinderarbeiter unter 14 Jahren; für die schulpflichtigen unter ihnen unterhielt er eine Fabrikschule. Stecknadeln wurden bis etwa 1870 in Erkelenz gefertigt. 1852 wurde Erkelenz an die Bahnstrecke Aachen–Mönchengladbach angeschlossen und erhielt außer einem Bahnhof für die Personenbeförderung einen Güterbahnhof mit Rangiergleisen, Ablaufberg und Drehscheibe. Das erhöhte Verkehrsaufkommen zum Bahnhof Erkelenz machte den chausseeartigen Ausbau der aus vier Himmelsrichtungen auf die Stadt zulaufenden Straßen erforderlich, und in den Jahrzehnten darauf erfolgte auch über die mittelalterlichen Stadtgrenzen hinaus die Bebauung entlang der heutigen Kölner Straße in Richtung Bahnhof. Im 19. Jahrhundert existierte vor allem in den umliegenden Dörfern die Handweberei an Webstühlen. Die industrielle Epoche begann in Erkelenz zunächst mit der Einführung mechanischer Webstühle für die Tuchfabrikation. Im Jahre 1854 gegründet und 1878 am heutigen Parkweg ansässig war die Rockstoff-Fabrik I. B. Oellers, eine mechanische Weberei, in der zeitweise 120 Arbeiter und 20 kaufmännische Angestellte tätig waren. Seit 1872 existierte die mechanische Plüschweberei Karl Müller (Ecke Kölner Straße – Heinrich Jansen Weg), die in Erkelenz 60 und im Bergischen und im Rhöngebiet weitere 400 Handweber für den Erkelenzer Hauptbetrieb beschäftigte. Im Jahre 1897 entstand an der Neußer Straße die Textilfabrik Halcour, die im Jahre 1911 67 männliche und 22 weibliche Mitglieder in ihrer betriebseigenen Krankenkasse führte. Der eigentliche Schritt in das Industriezeitalter fand 1897 statt, als der Industriepionier Anton Raky die Zentrale der von ihm gegründeten Internationalen Bohrgesellschaft nach Erkelenz verlegte, im lokalen Sprachgebrauch die Bohr genannt. Für den Standort war der günstige Bahnanschluss zum Ruhrgebiet und Aachener Revier entscheidend. In den folgenden Jahren zogen nun von außerhalb Industriearbeiter und Ingenieure nach Erkelenz, so dass sich Wohnungsnot entwickelte, die erst durch Gründung eines gemeinnützigen Bauvereins entschärft werden konnte. Zwischen Innenstadt und Eisenbahnlinie entstand ein neuer Stadtteil, im Volksmund wegen der fremd anmutenden Türmchen an manchen Häusern Kairo (sprich: Ka-i-ro) genannt. 1909 beschäftigte die Bohrgesellschaft 50 Angestellte und 460 Arbeiter, im Kriegsjahr 1916 bereits 1600 Mitarbeiter. Als die Stadt am 10. Mai 1898 auf dem Markt eine Bronzestatue des Kaisers Wilhelm I., ein Werk des Bildhauers Arnold Künne, aufstellte, wurde das Denkmal auf Initiative von Raky von Bogenlampen mit elektrischem Licht angestrahlt. Das markierte in Erkelenz die Einführung der Elektrizität im öffentlichen Raum. Im selben Jahr leuchteten in der Bahnhofstraße (heute Kölner Straße) die ersten elektrischen Straßenlampen und die ersten Hausanschlüsse wurden verlegt. Gründerzeitliche Hausfassaden sind Zeugnisse der Entwicklung der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In den beiden folgenden Jahrzehnten baute die Stadt an der heutigen Bernhard-Hahn-Straße das Wasserwerk mit dem weithin sichtbaren Wasserturm, das Elektrizitätswerk, den Schlachthof (Architekt Walter Frese) und die Badeanstalt. An der Südpromenade wurde ein großes Schulgebäude für das Gymnasium errichtet. Die Gründung einer Kornbrennerei, einer Brauerei, einer Mälzerei und einer Molkerei dienten als neuer Absatz für die Landwirtschaft. Im Jahre 1910 errichtete Arnold Koepe in der ehemaligen Plüschweberei Karl Müller eine mechanische Werkstatt zur Herstellung von Förderwagen im Bergbau. Im Jahre 1916 übernahm Ferdinand Clasen den Betrieb und gründete 1920 aus dieser Firma die Erkelenzer Maschinenfabrik an der Bernhard-Hahn-Straße, die zeitweise 200 Mitarbeiter hatte. Die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit Während des Ersten Weltkrieges geriet auch die örtliche Wirtschaft durch Einberufungen, Vorbehalt des Eisenbahnverkehrs für Truppentransport und Beförderung von Kriegsmaterial sowie den Marsch großer Truppenteile durch die Stadt und den damit verbundenen Lasten zum Erliegen. Zur Behebung des Arbeitskräftemangels wurden Kriegsgefangene, meist Russen, die in einem auf dem Gelände der Internationalen Bohrgesellschaft 1915 errichteten Kriegsgefangenenlager interniert waren, vorwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt. Um den Bedarf des Krieges an Metall zu decken, mussten die Bürger ihre diesbezüglichen Gerätschaften und die Kirchen einen Teil ihrer Glocken gegen geringe Entschädigung abliefern. Der verlorene Krieg kostete 142 zum Militärdienst eingezogenen Erkelenzer Bürgern das Leben, weitere 155 wurden zum Teil schwer verwundet. Nach diesem Krieg, der auch das Ende des Kaiserreiches brachte, waren zwischen 1918 und 1926 in Erkelenz 2000, bis zum 19. November 1919 französische und ab dem 1. Dezember 1919 belgische Besatzungssoldaten stationiert. An der Neusser und an der Tenholter Straße wurden Baracken als Mannschaftsquartiere erstellt und für die Unteroffiziere und Offiziere außer beschlagnahmten Quartieren auch Wohnungen am Freiheitsplatz, an der Graf-Reinald-Straße und in der Glück-auf-Straße gebaut. Da anfangs des Krieges auch Gold und Silber hergegeben werden mussten und die Goldwährung durch Papiergeld ersetzt worden war, verteuerten sich trotz Zwangswirtschaft alle Waren zu kaum erschwinglichen Papiergeldpreisen, so dass sich der Bestand an Papiergeld schließlich erschöpfte und den Kommunalbehörden gestattet wurde, eigenes Papiergeld zu drucken. 1921 ließ die Stadt als Notgeld Papiergeldscheine im Einzelwert von 50 und 75 Pfennig mit einem Gesamtwert von 70.000 Papiermark drucken. Dieses Notgeld wurde zum Teil in Umlauf gebracht und 1922 wieder eingelöst. Als Franzosen und Belgier im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten, um Kohle und Stahl in ihre Länder abzutransportieren, kam es in dem später als Ruhrkampf bekannt gewordenen Widerstand auch in Erkelenz zum passiven Widerstand, insbesondere der Eisenbahner, in dessen Verlauf die belgische Geheimpolizei 14 Männer mit ihren Familien auswies und zum Teil mit Gewalt bei Nacht und Nebel in nicht besetztem Gebiet aussetzte. Bereits zu Beginn der Besetzung hatten Frankreich und Belgien erfolglos versucht, das Rheinland für einen Anschluss an ihre Länder zu gewinnen, den nunmehr aufgeflammten Widerstand nahmen sie zum Anlass, es jetzt mit Gewalt zu versuchen. Separatistentrupps, die sich mit Waffengewalt in verschiedenen rheinischen Städten festgesetzt hatten, riefen in Aachen die Rheinische Republik aus. Am 21. Oktober 1923 erschien ein solcher Trupp auch in Erkelenz, hisste mit Waffengewalt unter dem Schutz der Belgier am Rathaus und auf dem Landratsamt die „rheinische Fahne“ und forderte die Gemeinde- und Staatsbeamten auf, nunmehr der Rheinischen Republik zu dienen. Beamte und Bürgerschaft aber lehnten ab und holten die Separatistenfahne am folgenden Tag wieder ein. Unter größtem Jubel der Bevölkerung rückten die Besatzungstruppen ein Jahr später als nach dem Versailler Vertrag vorgesehen am 31. Januar 1926 ab. Die Glocken aller Kirchen läuteten die mitternächtliche Befreiungsstunde ein und in diesem Jahr feierte Erkelenz auch die 600-jährige Verleihung seiner Stadtrechte. Nach Hitlers sogenannter Machtergreifung am 30. Januar 1933 und nach den Reichstags- und Kommunalwahlen im März 1933 beantragten die Nationalsozialisten in Erkelenz unter Führung des Kreisleiters NSDAP Kurt Horst zuerst wie fast überall in den neuen Gemeindeparlamenten, Straßen und Plätze nach ihnen genehmen Größen umzubenennen. So gab es in Erkelenz seit April 1933 einen Adolf-Hitler-Platz (Johannismarkt), einen Hermann-Göring-Platz (Martin-Luther-Platz) und eine Horst-Wessel-Straße (Brückstraße). Im Mai 1933 drängten sie den amtierenden demokratischen Bürgermeister Ernst de Werth unter Androhung von „Schutzhaft“ aus dem Amt, ernannten Adolf Hitler als Ehrenbürger und verfolgten politisch Andersdenkende, Gewerkschafter und Geistliche. Im Juli 1933 wurde am Amtsgericht Erkelenz wie an allen Amtsgerichten im Deutschen Reich ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht eingerichtet, dessen Aufgabe in der Zwangssterilisation körperlich und geistig Behinderter bestand. Ab 1941 wurde im Rahmen der später als Aktion T4 bekanntgewordenen Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus eine systematische „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durchgeführt, in die auch das Haus Nazareth in Immerath verstrickt war, wobei auch als „asozial“ oder „minderwertig“ bezeichnete Personen er